Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Windeseile

von Helena Wittmann

Eins.
Es ist sehr warm, es ist heiß. Mag sein, dass die Wolken von oben langsam zu drücken beginnen. Trotzdem scheint es mir unwahrscheinlich, dass es regnen wird. Der Boden ist trocken, rote Erde, roter Staub. Es gibt Pflanzen, aber die scheinen nicht viel Wasser zu brauchen. Wir sind an einem besonderen Ort, es war ein weiter Weg hierher. Die Brüder, die hier in der Nähe leben, als Einzige, drängen zur Eile. Wenn uns der Regen zuvorkommt, dann wird der Weg zum reißenden Schlammstrom. Dann kommen wir mit den Motorrädern nicht mehr zurück zum Haus.

Dort steht das Auto. Ich mache Filmaufnahmen und bin längst nicht fertig. Das macht mich zu derjenigen, die die verbleibende Zeitspanne so weit wie möglich auszudehnen versucht. Ein Ruf der Brüder, der Tonfall freundlich aber bestimmt, und alle springen auf die geliehenen Motorräder und dann über die Löcher und Felsen im Weg. Ich sitze hinten und vermutlich lache ich, weil es Spass macht. Es macht Spass, weil das Unterfangen nicht die volle Sicherheit verspricht, auf diesem alten Motorrad, auf diesem staubig holprigen Weg, in Eile und mit Respekt vor unerhörten Wassermassen, die sich nun auch für mich spürbar ankündigen. Die Motorräder sind laut. Doch um uns, über uns und unter uns ist es ruhig. Noch ruhiger als es ohne den gewohnten Menschenlärm ohnehin schon wäre. Nun scheint auch all das andere Leben verstummt zu sein. Der Wind verbirgt sich im Kostüm der Ruhe und entzieht sich unseren Sinnen. In dieser Stille feuchter, fester Luft schneiden die Maschinen scharfe Risse. Dazu unser Lachen, zwei warme Körper auf einem Dings aus Stahl und Öl.

Springen wir auf unsere Füße und laufen zum Haus, weil die ersten Tropfen bereits fallen? Oder bleibt uns noch Zeit, die zwanzig Meter in Ruhe zu durchschreiten? Sicher ist, dass uns die Frau des älteren Bruders auf der Veranda erwartet. Uns bleibt noch etwas Zeit. Wir nehmen Platz, es gibt Kaffee und selbstgemachten Käse. Wir schauen erwartungsvoll in die Landschaft.

Die ersten Blätter zittern, dann breitet sich der Wind aus. Es dauert nicht lange, da fegt er bereits irre durch die Landschaft. Die Bäume legen sich vor ihm auf die Seite, die Wasseroberflächen kräuseln sich, das Eisentor schwingt auf und zu und singt und wir sitzen auf der Veranda und schauen aufgeregt und ich staune nur, wie alles in Windeseile seine Erscheinung verändert. Und plötzlich umgibt uns ein lautes Rauschen und der Regen ist so dicht, dass der Hintergrund im Weiß verschwindet, es gibt jetzt nur noch Vordergrund und da ist keine Lücke, da scheint keine Luft mehr zu sein, da ist nur Wasser, das vom Himmel stürzt.

Zwei.
Es ist lange her. Und es wird das einzige Mal sein, dass ich mich ernsthaft in Wintersport versuche. An diesem Tag ist es sehr still. Ich bin allein und nehme den Lift nicht allzu weit nach oben. Je höher es geht, desto dichter der Nebel, desto stiller wird es. Das Klackern des Liftes, wenn er über die Träger gezogen wird, ist überdurchschnittlich laut. Aber das Geräusch hallt nicht in den Raum, es bleibt, wo es entstanden ist. Ein trockener Klang im matten Weiß. Weiß unten und Weiß überall. Ein kleiner Sprung in den knirschenden Schnee, dann auf das Brett, dann hinab. Ich höre meinen Atem und das Brett auf dem Schnee. Aber ich erinnere mich nun nicht mehr, wie das klingt. Ich erinnere, wie sich der Raum auflöst, denn ich bin dicht umgeben vom Weiß. Die Bewegung spüre ich nicht, keine Geschwindigkeit, keinerlei räumliche Anhaltspunkte. (Man sitzt im Zug und denkt, dass er langsam anfährt, um den Bahnhof zu verlassen. Und dann stellt man fest, dass es der Zug auf dem Nebengleis ist, der schließlich aus dem Blickfeld verschwindet und die Bewegungslosigkeit des eigenen Zuges offenbart. Umgekehrt.) Ich fliege? Durch eine dichte träge Wolke. Oder stehe ich doch still? Ich wundere mich, wie wenig eindeutig sich die Bewegung auf meinen Körper überträgt. Und kann es wirklich sein, dass ich hier ganz allein bin? Dass keine Geräusche zu mir durchdringen? Es passiert etwas mit dem Zeitgefühl, es löst sich auf, es kondensiert in den Nebel, es wird träges, leichtes, feuchtes Weiß, es hatte mit meinem Körper zu tun und nun nicht mehr.

Drei.
Wir sitzen zu dritt in einem Auto und folgen einem anderen über eine Landstraße in Norddeutschland. Es ist dieser heiße, trockene Sommer. Man sorgt sich. Aber heute kündigt sich eine Veränderung an. Mehrmals versuchen wir, die Wetter-App zu öffnen. Keine Internetverbindung, dann klingelt mein Telefon. Meine Mutter fragt, ob wir die Unwetterwarnung mitbekommen hätten und sagt, dass wir unter keinen Umständen nach draußen gehen sollten. Während ich noch darüber staune, wie passend ihr Anruf ist, schaue ich aus dem Fenster. Der Himmel hat sich giftig grün, ätzend gelb verfärbt und in nicht so großen Abständen wird es sekundenlang gleißend hell. Die Blitze zucken durch das drohende Gelbgrün. (Ich erinnere gerade ein andermal. Da liegen wir in einem Zelt am einsamen Ostseestrand und schauen aus der Öffnung. Es regnet in Strömen und wenn die Blitze in das Meer einschlagen, kann man für den Bruchteil einer Sekunde bis auf den Grund schauen. Das Wasser wird dann türkis.) Am Telefon erzähle ich meiner Mutter davon und sie besteht darauf, dass wir auf keinen Fall aussteigen sollten. Aber habe ich nicht meine Kamera im Kofferraum? Sind wir nicht im Rahmen eines Filmdrehs unterwegs? Unter dem Protest meiner Mutter lege ich auf und bitte den Fahrer aufgeregt, so schnell wie möglich anzuhalten. Irgendwann erreichen wir die Einfahrt zu einem Supermarktparkplatz. F und ich springen aus dem Wagen, bauen die Kamera auf und eigentlich schon währenddessen geht es los. Es wird dunkel, der Himmel bleigrau schwer, Leute rennen zu ihren Autos, manche mit Regenschirmen. Doch der Regen, er beginnt so plötzlich und so mächtig, begleitet von einem Sturm. Da klappen die Schirme um, der Parkplatz ist im Handumdrehen zu einem See geworden, die Lichter der Autos strahlen in das bedrohliche Tagesgrau, der Regen peitscht von allen Seiten, die Welt geht unter, ganz sicher. F und ich lachen, klitschnass, F stemmt den Schirm gegen den Wind, hält das Stativ mit ihrem ganzen leichte Körper, um die Kamera zu schützen.

Vier.
Wir sind achtzehn Jahre alt und fahren auf einer italienischen Autobahn in die Alpen hinein. Hinter uns liegt Venedig, hinter uns liegt der Sommer. Das Auto ist dunkelgrün und verglichen mit den heutigen Modellen ist es relativ klein. Damals kommt es uns groß vor. Die Straße schneidet gerade durch die Landschaft. Dann landen die ersten großen Tropfen auf der Windschutzscheibe und treiben im Fahrtwind auseinander. J stellt den Scheibenwischer auf die niedrigste Stufe, in einen langsamen Rhythmus. Es werden mehr Tropfen, die nächsthöhere Stufe wird eingestellt, noch mehr Tropfen, und dickere, der Scheibenwischer schlägt nun hektisch von rechts nach links und zurück, an den Seiten fließt das Wasser hinunter und über die Karosserie, vom Wind getrieben. Die Sicht verschwimmt, die Fahrbahn spiegelt die Lichter der Autos, die nun immer langsamer werden. Irgendwann sind wir eingeschlossen vom dichten Regen, ausgeschlossen von der näheren Umgebung. Es ist nichts mehr zu sehen. Wir werden langsamer, und langsam langsamer, immer langsamer auf der Autobahn, bis zum Stillstand. Nichts geschieht, kein anderes Auto fährt uns von hinten an, niemand fährt an uns vorbei, aber der Regen! Er donnert auf das Blechdach, trommelt auf die Scheiben, mit aller Wucht auf uns ein.

Eins.
Und uns bleibt nichts zu sagen. Im Stillen fragen wir uns, ob das wohl jemals wieder aufhören wird.
Zwei.
Ich atme ein, aus. Ohne Furcht.
Drei.
Dreißig Sekunden halten wir das aus. Dann wird es zu viel und wir rennen zurück ins Auto. Die aus dem anderen Auto rufen an und halten uns für ein bisschen verrückt.
Vier.
Und dann werden es weniger Tropfen, wird es nicht leise, aber leiser, können wir wieder weiter blicken und die anderen Autos sehen. Alle stehen sie still, in größeren Abständen, und es dauert noch einen Moment, bevor sich der Strom ganz vorsichtig wieder in Bewegung setzt und der Verkehr dann weiter fließt. Und schnell fließt er ganz normal, als wäre nichts geschehen.