Wehe denen, die in den Bäumen sitzen: Rūgštus miškas von Rugilė Barzdžiukaitė

Wie kann man die Idee des Fliegens, oder überhaupt eines Lebens, das sich in der Luft, sehr weit über unseren Köpfen abspielt, filmisch zum Ausdruck bringen? Genügen mit Drohnen aufgenommene Einstellungen, wie sie gerade häufig in Dokumentarfilmen vorkommen, um diese uns fremde Gabe der Vögel filmisch zu gestalten, oder ist dieses Stilmittel nicht bereits veraltet, in unserer Gegenwart, wo die neuesten Kameras theoretisch die Bewegungsweisen aller lebendigen Wesen nachzuahmen imstande sind?

In ihrem Debütfilm Rūgštus miškas, der im Sommer in Locarno seine Premiere feierte, schlägt die litauische Filmemacherin Rugilė Barzdžiukaitė ziemlich unerwartete Wege ein, der nebeligen Welt der Vögel Leben einzuhauchen. Und selbst wenn sie an manchen Stellen der Verführung der Drohnen-Aufnahmen anheimzufallen scheint, dann nur flüchtig und möglicherweise steckt dahinter nur eine trügerische Strategie, um zu betonen, dass es hier nicht darum gehen wird, durch eine über den Wald treibende Kamera ein künstliches Fluggefühl herzustellen.

Ein vorübergehender Verdacht, der sich durch einen übrigens sehr schönen Cut gegen Beginn des Films erledigt; in der ersten Einstellung sieht man einen auf einem Baumgipfel sitzenden Kormoran, der dabei ist, seine Flügel auszustrecken, um Schwung zu holen; gleich darauf folgt eine Drohnen-Einstellung des Waldes, die im Off vom Geräusch des Flügelschlags des Kormorans begleitet wird – ein Sound-Design, das eine gewisse Verfremdung erzeugt. Die Kamera – die Drohne – wird zum tierischen Wesen, der Kormoran verwandelt sich in ein mechanisches Auge, das über den weiten Wald verfügt. Denn diese schwarzen, schmalen und doch teilweise unheimlich wirkenden Meeresvögel sind es, die im Zentrum des Filmes stehen, ohne jedoch an ihnen zu kleben, wie es in einer Tierdoku der Fall wäre.

Rūgštus miškas von Rugilė Barzdžiukaitė

Irgendwo in der 2000 von der UNESCO zum Weltkulturerbe ernannten Kurischen Nehrung, an der Grenze zwischen Litauen und Russland, hat eine Gruppe von Kormoranen eine breite Waldfläche erobert. Die übersäuerten Fische, die im naheliegenden Meer leben, dienen den fliegenden Tieren als Hauptnahrungsquelle – was dazu führt, dass auch der Vogelkot voller Säure ist. Daraus hat sich ergeben, dass diese Waldfläche dem Zerfall preisgegeben ist. Auf den meisten Bäumen wachsen keine Blätter mehr; wie man in raschen Nahaufnahmen zu sehen bekommt, sind manche von ihnen knapp davor, einfach umzufallen. Die Stämme sind aufgeplatzt; der obere Teil mancher Bäume schwankt knacksend in der Luft und droht jeden Augenblick die Kamera durch plötzliches Umkippen zu zerschlagen. Ein Gedanke, der nicht nur durch die Nahaufnahmen der Äste entsteht, sondern weil Rugilė Barzdžiukaitė sehr bewusst – ab und zu sogar etwas zu stark – mit der von der Kamera angenommenen Position spielt.

Kurz gesagt besteht der Film aus einer (etwas zu) regelmäßigen Abwechslung von drei Hauptarten von Aufnahmen: von seltenen Einstellungen der Kormorane; von näheren, auf Augenhöhe gefilmten Aufnahmen der Bäume; vor allem aber von Aufnahmen, die aus der Perspektive der Bäume gefilmt sind und auf eine Touristen-Plattform ausgerichtet sind. Diese letzteren Aufnahmen übernehmen den von der Filmemacherin den Kormoranen zugewiesenen Standpunkt. Auf den Baumwipfeln stehend, beobachten sie die sonderbaren Besucher, die sich immerzu erlauben, allerlei Urteile über die Vögel zu fällen; die sich etwa wünschen, eine aus dem Nichts kommende Naturgewalt würde dafür sorgen, dass der Wald von der schädlichen Anwesenheit der Kormorane gereinigt wäre. An einer anderen Stelle, erzählt ein Mann aus Osteuropa eine verwirrende Geschichte, die erfunden klingt – es wird von einem Bunker geredet, in dem Hitler sich während des Zweiten Weltkriegs versteckt habe. Am Lustigsten sind wahrscheinlich die Franzosen, die sich im Off über die Überfülle an Kormoranen beschweren; „dreißig, vierzig von ihnen wären schon ok, sowie es gerade aussieht ist es ja zu viel“, kann man da zum Beispiel hören.

Zwei- oder dreimal im Film werden die Kormorane von den Touristen und ihren Führern mit den Vögeln aus Alfred Hitchcocks The Birds verglichen, und gerade solche Aussagen unterstreichen die Tatsache, dass der Film hierbei an seine Grenzen stößt: Der Filmemacherin gelingt es zwar, diese nie sehr lange auf der Plattform verbleibenden Menschen zu lächerlichen Insekten zu machen und damit eine bedeutungsvolle Entfremdung zu schaffen, die den Zuschauer weder auf die Seite der Tiere noch auf die der Touristen bringt, doch beim Hinweis auf eine stumme, zunächst unsichtbare oder als solche unerkannte Drohung, die an den Film von Hitchcock erinnern würde, scheitert sie – womöglich, weil diese Art der Inszenierung zu schnell zum System wird. Hierin erinnert der Film leicht an Sergei Loznitsas Austerlitz, in dem es darum ging, den pathetischen Walz der Touristen in den Vernichtungslagern überspitzt bis zum Unerträglichen zu zeigen – was aber dank feiner Kadrierungsentscheidungen sehr stark und vollendet wirkte.

Nicht alle Orte taugen jedoch für scharfe, geometrische Inszenierungsentscheidungen innerhalb eines offeneren dokumentarischen Ansatzes – wo die von Sergei Loznitsa gezeigten Lager der Kamera allerlei Gitter, Fenster, Türe und andere geometrische Motive anbieten, Möglichkeiten also, mit der Art, in der die Räume geometrisch eingerichtet werden, zu spielen und dabei das Einstellungssystem von Aufnahme zu Aufnahme leicht zu ändern, entbehrt der Wald von Rūgštus miškas jeglicher strengen räumlichen Einteilung, was die Aufgabe umso schwieriger macht, und die Filmemacherin offenbar dazu trieb, eine manchmal sehr hemmende Systematik aufzubauen.

 

Alles in allem ist eine entschiedene Bereitschaft zum Kontrollverlust das, was Barzdžiukaitės Film vielleicht am meisten fehlt, als hätte sich die verfaulte Luft des Waldes stufenweise in die Übergänge zwischen den Einstellungen hineingeschlichen. Nach diesem versprechenden Debütfilm hegt man die Hoffnung, dass ihre überzeugende Kunst der zurückhaltenden Beobachtung künftig an Vielfältigkeit und an Verwandlungskraft gewinnen könnte.

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