Tsai Ming-liang Retro: All the Corners of the World

Ein womöglich unvergessliches Screening. Zu Beginn-der draußen peitschende Regen lärmt auf dem Dach des Kinosaals, als würde Tsai Ming-liang dieses Geräusch selbst veranlassen-tritt der Geschäftsführer des Stadtkinos, Claus Philipp vor das vereinzelte Publikum und kündigt an, dass wir etwas sehen werden, was man so nicht zeigen dürfte: Eine völlig zerstörte Kopie, die dann tatsächlich so aussieht als wäre jemand mit einem Magnetbandbügeleisen drübergefahren, ein alter Videorekorder mit einer zerfetzten Kassette provoziert vielleicht solche Bilder…jedenfalls habe man die Kopie erst am Vortag erhalten und sei selbst böse überrascht worden. Aus historischen Gründen (man könne diesen Film vielleicht nie wieder sehen) und auch weil der Regisseur diese frühe TV-Arbeit unbedingt als Teil seiner Retrospektive haben wollte, würde man ihn trotzdem zeigen.

Es kommt dann auch genauso, nur schlimmer. In den Nachtszenen ist schlicht nichts zu erkennen, der Ton ist verzerrt und man liest oft nur die Untertitel, um sich noch halbwegs über Wasser zu halten. Was man sieht, erinnert an die frühen, vom Neorealismus beeinflussten Arbeiten eines Abbas Kiarostami, manchmal drückt sich ein wenig Truffaut zwischen den Streifen auf der Leinwand hervor. Erschreckend kitschig scheint die Geschichte, um ein Geschwisterpaar. Der Junge nimmt auf eigene Faust an einem Schreibwettbewerb teil nachdem ihn sein Lehrer davon ausschließt und gewinnt. Die Tochter lässt sich auf der Suche nach körperlicher Nähe auf einen One-Night Stand im Prostituiertenmilieu ein, um sich im letzten Moment anders zu entscheiden. Als der Mann versucht, sie zu vergewaltigen, tötet sie ihn. Allerdings erzählt sie niemandem davon und so wird sie verhaftet und blickt (entweder traurig oder fröhlich, man sieht es nicht; ich glaube, dass sie weint…) aus dem Polizeiwagen, denn hinterher fährt verzweifelt schreiend ihr junger Bruder, der ihr zuvor nicht verzeihen konnte. Hier lässt sich durchaus das erste Bild eines ming-liangschen Scooterboys finden, aufgewühlt in einer entfremdeten Sehnsucht, einsam und neurotisch. Allerdings entsteht dieses Bild nur als ein Blick auf die Zukunft. Vielleicht ist „All the Corners of the World“ ein Prolog, zu dem was Tsai Ming-liang folgen ließ.

Tsai Ming-liang

Tsai Ming-liang

Um sich etwas Geld zu verdienen, verkaufen die beiden Geschwister Schwarzkarten am Kino. Natürlich für Filme von Hou Hsiao-Hsien. Eine Handlung, die durchaus an die Fake-Fotografien des kleinen Jungen in Kiarostamis „The Traveller“ oder so manche Idee des jungen Antoine Doinel erinnert. Das konventionelle Strickmuster erhält nur einmal einen Bruch als Tsai Ming-laing die Kurzgeschichte des Jungen filmisch zeigt: Darin betrachtet er eine Gruppe von Kindern am Strand. Diese sehen eine Leiche, die im Wasser treibt. Ein halbseitig-gelähmter Strandpolizist wird zur Hilfe gerufen. Trotz seiner Behinderung schwimmt er wagemutig zur Leiche, um festzustellen, dass es sich dabei nur um eine Puppe handelt. Wütend beschimpft er die Kinder. Vom Jungen, der als Ich-Erzähler in der Geschichte auftritt, wird die Tat des Mannes bewundert. Der Lehrer unterstützt die Geschichte des Jungen nicht, da sie seiner Fantasie entsprang. Man müsse seine Geschichten leben und erlebt haben. Tsai Ming-liang macht ein Statement für das und vor allem für sein Kino, wenn er den Jungen auf eigene Faust teilnehmen lässt und gewinnen lässt. Ein Statement, das auch die Frage stellt, wie sich Persönlichkeit im Kino überhaupt ausdrückt. Wie das eigene Leben seinen Weg ins Kino findet. Und wie wichtig Fantasie selbst in naturalistischen Szenarios sein kann.

Bleibt die Frage, ob der Regisseur von dieser Projektion seines „All the Corners of the World“ wusste. Hoffen wir es, weil trotz des kostenlosen Eintritts, der den wenigen Zusehern gestattet wurde, diese Projektion einer Verfremdung des Werkes, nicht seiner Ausstellung glich.

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