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„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

The Thin Red Line als Oratorium

Ich mag keine Kriegsfilme. Ich weiß gar nicht genau, warum. Vielleicht ist es der historische oder geographische Abstand, der für mich als Zuschauer unüberbrückbar ist; vielleicht sind es die immer wieder gleichen Heldengeschichten oder Erzählung von Schrecken und Gewalt, die mich einfach nicht berühren wollen.

Nichtsdestotrotz wage ich mich immer wieder gerne an das Genre, denn es gibt so manche bekannte oder weniger bekannte Schätze zu entdecken. The Thin Red Line von Terrence Malick gehört für die meisten – und ich möchte mich da nicht ausschließen – zu diesen Schätzen. Der Film wurde bereits unzählige Male besprochen, analysiert und interpretiert, deshalb möchte ich mich an dieser Stelle nicht mit allgemeinen Aspekten des befassen, vielmehr möchte ich die Dramaturgie des Filmes in der Vordergrund meiner Besprechung stellen.

Zu meinem persönlichen Hintergrund möchte ich anmerken, dass ich mich neben Film vor allem mit („Kunst“)musik beschäftige und mir im Falle von The Thin Red Line auch ein „musikalischer“ Zugang als sinnvoll erscheint, um den Film in einem neuen Licht zu betrachten. Malicks Film weist in seiner Struktur und Dramaturgie einige Parallelen zu einer besonderen musikalischen Gattung auf: dem Oratorium, speziell in seiner barocken Form.

The Thin Red Line von Malick

Das Oratorium ist eine musikdramatische Form, die im 17. Jahrhundert entstanden ist. Seinen ursprünglichen Platz hat es im christlichen Gottesdienst. Vom groben Aufbau her orientiert es sich an der Form der Oper, gestaltet sich inhaltlich und musikalisch aber weniger pathetisch. Bis ins 19. Jahrhundert besteht ein Oratorium aus mehreren Sätzen, die klar voneinander getrennt sind: Die Handlung wird in den sogenannten Rezitativen erzählt, die von Arien, Chören und Chorälen unterbrochen werden.

In dieser groben Struktur von sich abwechselnden dramatisch-narrativen und lyrisch-kontemplativen Sätzen liegt die erste große Parallele zwischen The Thin Red Line und dem Oratorium. Malick unterbricht seine Erzählung immer wieder für Momente des Innehaltens, manchmal sogar des Gebets. Immer wieder schweift die Kamera vom eigentlichen Geschehen ab, widmet sich den überrankten Bäumen des Dschungels und den Sonnenstrahlen die grünlich durch das Blätterdach des Urwalds scheinen, während die Protagonisten des Films in langen Monologen über den Krieg und den Ursprung von Gewalt sinnieren. Diese Monologe werden als Voice Over abgesetzt von der Handlung präsentiert und spinnen, ausgehend vom Geschehen, zentrale Themen des Films weiter. Bestimmte Momente der Handlung werden auf diese Weise hervorgehoben und für den Zuschauer in ihrer Wirkung greifbarer. Zudem gelingt es Malick so eine zweite Erzählebene zu schaffen, die in ständiger Wechselwirkung mit der eigentlichen Handlung des Films treten und deren Ereignisse kommentieren und kontrastieren.

The Thin Red Line von Terrence Malick

Eine weitere Parallele zwischen Oratorium und Film lässt sich finden, wenn man die Funktion und Wirkung der nicht-narrativen Sätze im Oratorium untersucht. Im Oratorium werden die Arien normalerweise nicht von den handelnden Personen gesungen und geben deren Emotionen auch nicht direkt wieder. Vielmehr kommentiert die Arie die Handlung aus einer bestimmten (historischen) Entfernung heraus. So wird eine Brücke zwischen Handlung (die im Normalfall aus der Bibel entnommen ist) und den Zuhörern geschlagen.

Dieser kommentierende Abstand ist auch in den kontemplativen Momenten von The Thin Red Line deutlich zu spüren. Auch wenn die einzelnen Monologe eindeutig bestimmten Personen der Handlung zugeordnet werden können, so ist dies nicht von Belang. Die Kommentare stehen in solch großem Abstand zum Kriegsgeschehen, dass sie auch direkt aus dem Munde eines Zuschauers stammen könnten. Und so nehmen diese Kommentare in Malicks Film dieselbe Stellung ein, welche eine Arie in einem Oratorium innehat: das Verbindungsstück zwischen Handlung und dem Zuschauer, zwischen diegetischer und realer Welt.

Vergleicht man The Thin Red Line mit einer speziellen Ausprägung des Oratoriums, der oratorischen Passion, lässt sich eine Parallele auf inhaltlicher Ebene finden: die oratorische Passion ist eine sehr verbreitete Form des Oratoriums, in ihr wird die Leidensgeschichte Jesu Christi nacherzählt. In der oratorischen Passion stehen die Arien neben der formalen Abtrennung und dem kommentierenden Abstand auch in inhaltlichem Kontrast zur Passionserzählung. Schlüsselszenen der Passion sind zu großen Teilen Momente der physischen und psychischen Gewalt, denen in den Arien des Oratoriums Bilder von Menschlichkeit und Mitleid gegenübergestellt werden.

The Thin Red Line von Terrence Malick

Auch in Malicks Film wird die Handlung inhaltlich von den Monologen kontrastiert. Den Bildern des Krieges folgt das Bild der friedlichen Natur und es wird zurecht die Frage nach dem Ursprung der Gewalt gestellt. Den Generälen, die scheinbar emotionslos Entscheidungen fällen, wird ein Gefühl der Verantwortung und Schuld gegenübergestellt. Jede Szene wird so gewissermaßen von zwei Seiten gezeigt: als unmittelbar momentaner Eindruck und als kritischer Kommentar. So erschließt sich die Handlung dem Zuschauer in ihrer Gänze.

Malick schafft es den historischen Abstand zum Geschehen zu überbrücken und zugleich dem Krieg ein Bild von Menschlichkeit gegenüberzustellen. The Thin Red Line ist keine Geschichte von den Schrecken und den Helden des Krieges, sondern ein Kommentar darüber, was wir, heute, als Zuschauer, aus den Ereignissen mitnehmen können.