Teurer Zement: Vitalina Varela von Pedro Costa

Ewigkeiten, über dich
hinweggestorben,
ein Brief berührt
deine noch un-
verletzten Finger,
die erglänzende Stirn
turnt herbei
und bettet sich in
Gerüche, Geräusche
(Paul Celan)

Bei Pedro Costa spielt das große Drama, in den Häusern, die es nicht gibt. Den Lavahäusern, in denen man nicht wohnen kann, den vergilbten Träumen von einem gemeinsamen Leben, den Erinnerungen an eine Liebe. Sie sind das melodramatische Element seiner Arbeit. Ein Haus muss erbaut werden, mit Leben gefüllt, mit Leidenschaft und Zärtlichkeit bereichert. Dächer werden verfeinert, Flure geputzt, die schönsten Türen eingesetzt. Man bringt die Vorhänge der Vorfahren, ein erstes Kerzenlicht, einige Fotos und Musik. Man setzt sich an den Tisch, isst Schulter an Schulter. Bohnen, die nach einem Zuhause schmecken. Die Spuren im Lehm, im Putz an den Wänden erzählen von Arbeit und Hingabe. Doch immer zerbricht etwas. Es rumort im Gebälk, im Sturm fliegen Ziegel von den Dächern. Häuser werden verlassen, Träume vergessen. Stattdessen werden die Menschen in unpersönlichen Wohnungen untergebracht, eingepfercht auf ihren Betten, sie stoßen sich den Kopf an den niedrigen Türrahmen, vor den Fenstern hängen Gitter, es kracht und rattert die ganze Nacht. Der Zement ist zu teuer, die Farbe auch. Niemand hilft. Bagger rücken heran und zerstören die Fundamente, reißen alles nieder, sodass man besser vergisst als sich an die Wärme eines Kissens, eines Kusses im Haus aus Feuer zu erinnern. Doch wie bei den Gebrüdern Lumière, die einst zeigten wie das Kino den Abriss einer Mauer rückgängig machen kann, gibt es auch bei Costa einen beharrlichen Glauben an das Kino, daran, dass man im Kino eigene Häuser errichten, wieder aufbauen, renovieren, mit neuer Farbe versehen kann. Jeder Film von Costa ist der Versuch, ein Haus zu bauen. Einmal, um ein anderes zu vergessen, einmal um darin zu leben, zu lieben, zu träumen, zu sterben. Vor allem aber, um darin zu beichten, zu sprechen, zu weinen, zu verstehen, zu lernen. Es gibt eine Tür in diese Häuser. Sie ist nicht geöffnet. Aber es gibt sie. Dass was dahinter geschieht, passiert auch ohne Zuseher. Es ist nur so, dass Costa den Menschen, die er filmt und den Menschen, die seine Filme sehen, diese Tür zeigt. So zeigt sich, dass der Bau dieses Hauses die Arbeit am Kino ist und das Betreten des Hauses die Erfahrung des Kinos. Erst wenn beide zusammenkommen, kann man darin wohnen und zumindest für die Dauer eines Films durch andere Fenster die Welt betrachten.

Vitalina Varela arbeitet in einem Vakuum. So wie sich ein Raum mit unterschiedlichen Objekten füllen kann, kann sich ein leerer Raum mit verschiedenen Zuständen der Abwesenheit entleeren. Da ist zum einen der Ehemann der titelgebenden Vitalina. Er heißt Joaquim und ist verstorben. Bevor er starb, war er schon weggelaufen, verschwunden. Vitalina kommt nach Lissabon nachdem er gestorben ist und findet nur noch die Reste eines nicht wirklich gelebten Lebens. Ein unfertiges, beschädigtes Haus, das Begehren schluderig an die Wand geklebt, ein müdes, sich kaum erinnerndes Flüstern in den Gassen. Dann ist da die Sehnsucht nach dem Leben auf den Kap Verden, die sich in zwei erhabenen Flashbacks wortlos in die engen, lichtbrechenden Schattenschluchten der Cova da Moura Nachbarschaft fügt. Diese Abwesenheit ist Ausdruck und unmöglicher Ausweg einer Entfremdung. Das tiefe Loch einer entfernten Heimat, einer nicht mehr gesprochenen Sprache, eines vergessenen Winds vom brodelnden Pico do Fogo.

Des Weiteren spielt der Film an Orten, die es nicht wirklich gibt und in den Fällen, in denen es sie gibt, dann sind es – wie die Menschen, die darin leben – jene unsichtbaren Orte, von denen sich eine Stadt abkehrt wie der Kameramann von einer misslungenen Aufnahme. Die dunklen Ecken, aus denen gefährliche Augen blicken, in Mäntel gehüllte, wortlose Kartenspieler, ein Tunnel, durch den stumme Menschen schwanken. Costa zeigt uns viele Wege, aber sie führen an keine konkreten Orte. Menschen kommen aus der Dunkelheit, werden kurz vom Licht berührt und verschwinden wieder. In Weitwinkel-Aufnahmen erzählt die Kamera weniger einen Raum, als das, was es davon nicht mehr gibt. Verlorene Nachbarschaften, entrückte Wälder, in denen die Baumstämme nur als pechschwarzes Geäst den Horizont verdecken, beinahe alles in einer anhaltenden Dunkelheit, die an Edgar Degas erinnert, der einmal schrieb: „Das Tageslicht ist zu einfach.“ Auch hier eine Abwesenheit, jene der Sonne. Alles verharrt im Vorsichtigen der Nacht. Die Menschen verirren sich, suchen sich, finden sich nicht. Bei Costa schützt das Licht die Figuren, aber in Vitalina Varela lechzen sie nach den kleinen Wundern des Lichts, ein einzelner Sonnenstrahl, der die Finsternis durchdringt. Kurz nach ihrer Ankunft öffnet Vitalina die Tür zum Haus von Joaquim einen Spalt. Sie bekommen ihr Recht auf das Geheimnis, ihre ästhetische Würde geschenkt, aber Costa und sein Kameramann Leonardo Simões dimmen das Licht derart, dass die engen Räume und Gassen zu schwarzen Löchern werden. Es sind Seelenbilder, keine Bilder der äußeren Realität. Flackerndes Kerzenlicht beleuchtet die Bilder von Joaquim, durch die vielen Gitterfenster (Ausdruck einer Gefangenschaft) bricht das schwache Licht, das es ermöglicht, einen Brief zu lesen. Doch selbst die Briefe, flüstert Vitalina einmal, wurden alle weggeworfen. Ein Leben dort, wo nichts mehr bleibt.

Zum Teil drehte Costa mit seinem kleinen Team in einem zum Filmstudio umgebauten, leerstehenden Kino. Die Metapher drängt sich förmlich auf, wenn aus dem stillgelegten Ausstellungsraum eine Ort der Arbeit an neuen Werken wird. Das Kino (Licht) ist nicht mehr, aus der Obskurität einer Ruine muss neues Licht entstehen. Costa, der selbst nicht in Verdacht eines strengen Glaubens steht, lässt für seine Protagonisten wichtige Rituale in seinen Film. So sieht man einen Mann im Zimmer des verstorbenen Joaquim. Er pustet ein kleines Flämmchen auf einem Teller an, auf dass ein Rauch durch das Zimmer weht. Vitalina bindet sich ein weißes Seidenkopftuch um, um ihre Trauer zu bekunden. Später wickelt sie es um ein Kreuz auf dem Nachttisch und trägt stattdessen ein schwarzes Tuch. In kurzer Zeit vollzieht sie derart verschiedene Stufen der Trauer einer Witwe. Sie zeigt, dass es Bilder und Strategien für Verlust gibt. In seiner Betonung des Vakuums schafft Costa keineswegs ein Paradox, sondern bleibt ganz nah an den Körpern, die sich aus der Abwesenheit befreien wollen

Vitalina steht am Hinterausgang eines Flugzeugs. Man hört das schrille Atmen der Maschinen, ein regelmäßiges Piepsen, das an ein Herzschlagmessgerät erinnert. Im Lichtkegel des Ausgangs steht die Frau, die zum Film werden wird. Costa hat immer wieder über die Bedeutung einer ersten Szene einer Figur gesprochen. Wie führt man sie ein und wie verabschiedet man sich von ihr? Diese zwei Fragen durchziehen den ganzen Film, werden verschiedenartig beantwortet, aber nie endgültig. Vitalina Varela zeigt den Versuch abzuschließen und je länger der Film diesen Versuch begleitet, desto notwendiger und schwieriger wird es für ihn selbst abzuschließen. Vitalina muss nicht nur mit dem Tod ihres Mannes zurechtkommen, sondern auch mit ihrer Wut darüber, dass er gar nicht da war, dass er ihr gemeinsames Leben betrogen hat. Ein Entlaufener, ein Herumtreiber, ein Mann in einer Männerwelt.

Eine Gangway rollt heran. Über sie der Eintritt in eine neue, eine fremde, eine kalte Welt. Für den Rest des Films bleibt Vitalina auf dieser Gangway, ihr Leben ist eine Gangway, jeder Schritt führt hinüber und hinab, aber auch zurück und beschwerlich hinauf. In der Schifffahrt war eine solche Gangway ursprünglich ein Seil oder eine Strickleiter. Das beschreibt womöglich besser wie unsicher und mühsam jeder Schritt zwischen den Welten ist. Costa betont den Übergang, indem er Vitalina barfuss, mit nassen Tropfen auf den Zehen in Lissabon ankommen lässt. Von diesen Schritten wird sich der Film nicht mehr erholen. Sie sind Eintritt und Ausgang, Vergangenheit und Gegenwart zugleich.

Eine Kolonne aus Putzfrauen empfängt Vitalina. Es ist nicht das erste Mal, dass wir eine Gruppe merkwürdig unwirklicher Gestalten auf die Kamera zugehen sehen. Gleich zu Beginn des Films kommen Schattenmenschen auf einem schmalen Weg, von Asphalt und bedrohlich thronenden Kreuzen umrahmt, auf die Kamera zugelaufen. Diese Figuren passieren immer nur, niemals bleiben sie stehen, wenn dann, weil sie zusammenbrechen oder in sich gekehrt versinken wie ein Mann, der gegen eine der vielen türlosen Rahmen gelehnt steht und raucht während die Kolonne an ihm vorbeizieht. Wohin gehen sie, warum gehen sie? Es ist als würden sie zurückkehren in ihre eigene Abwesenheit.

Pedro Costa war immer ein Filmemacher des Übergangs. Sei es in seiner Erkundung künstlerischer Prozesse bei Danièle Huillet, Jean-Marie Straub und Jeanne Balibar oder in seinen mannigfachen Annäherungen an Menschen von den Kap Verden. Für ihn beginnt das Kino dort, wo man kein einfaches Bild machen kann, wo sich das feste Bild entzieht, wo sich etwas verändert, wo etwas entsteht oder verbrennt. Zu Cavalo Dinheiro sagte er, es wäre ein Film über das Vergessen. Es gehe darum, mit Hilfe des Kinos Dämonen auszutreiben, die sich in seiner Figur Ventura angestaut hätten. Vitalina Varela trägt diese Elemente auch in sich, aber nicht zuletzt aufgrund der Protagonistin gibt es auch ein Element der Erinnerung, des hoffnungsvolleren Abgleitens. Die beiden letzten Einstellungen der Filme, die Costa selbst als Zwillinge bezeichnet, könnten nicht unterschiedlicher sein. In Cavalo Dinheiro ist es ein brutaler Blick durch Glas auf einige Messer, in Vitalina Varela das harmonische Bild einer stillen Vergangenheit, in dem ein Haus erbaut wird.

Die Putzfrauen am Flughafen flüstern Vitalina eine Art Synopsis für den ganzen Film zu. Sie sei zu spät für die Beerdigung, in Portugal gäbe es nichts für sie, sie solle zurückkehren. Nicht nur wegen solcher Szenen liegen die emotionalen Konflikte des Films offener als in anderen Arbeiten von Costa. Es gibt eine große Selbstverständlichkeit, die sich spätestens mit der Ankunft von Vitalina durch den Film bewegt. Vitalina wird mehr und mehr zur Präsenz inmitten dieser Abwesenheiten. Der Film bietet ihr Gelegenheit. Er öffnet etwas. Sie bekommt Raum, um über ihre Gefühle zu sprechen, sie kann ausdrücken, was sie bedrückt. Das Kino wird zur Emanzipationsmaschine. Einmal sitzt Vitalina im Halbdunkel, die rechte Hand fest auf die Sitzfläche gedrückt, leicht schief, aber stabil, eindringlich und spricht direkt mit dem, der nicht da ist. Sie wehrt sich gegen das schwarze Loch. Hinter der Kamera, in der Kamera, jenseits dieses Films muss sie jemand hören. Die Kamera registriert, schweigt. Die Kamera von Costa ist wie eine Staatsbühne für die, denen sonst niemand zuhört. Es gibt wenig Licht, aber viel Raum und Zeit. Es gibt den Willen zuzuhören. Das ist das, was dieses Kino zu leisten im Stande ist. Vitalina bekommt eine Präsenz und sie darf trauern. Es gibt eine Messe und jene Rituale, die ihr im „echten Leben“ verwehrt blieben. Weniger geht es um das Abbild einer Wirklichkeit, als um die Auflehnung dagegen. Die Wirklichkeit wird gezeigt wie eine Notwendigkeit, in der das Kino existieren kann, in die das Kino eingreifen kann. Ob diese Worte von Vitalina wirklich selbstgewählt sind oder für sie geschrieben oder eine Mischung aus beiden ändert nicht die Wirkung, nicht die Moral, sondern nur das Genre des Films.

Costa hatte immer schon Portraits gedreht und am meisten hat Vitalina Varela vielleicht sogar mit Ne Change Rien gemeinsam, aber hier ändert der Portugiese trotz vieler Parallelen zu vorherigen Arbeiten doch entscheidend eine Richtung. In Filmen wie Cavalo Dinheiro, No Quarto da Vanda oder Juventude em Marcha hat man das Gefühl, dass Costa zwar nah mit den Menschen und ihren Geschichten zusammenarbeitet, dass er sie ihre Geschichten erzählen lässt, aber dass, was sie selbst von ihm bekommen, ist die Chance einer Illusion, Würde, Freiheit statt wie in Vitalina Varela die Möglichkeit, die inneren Dämonen selbst zu bekämpfen. Bei Vitalina wirkt es manchmal so, als würde sie selbst die Kamera auf sich richten. Das Kino ist hier mehr als reine Begegnung, es ist ein Austausch. Das Drama von Vitalina gegen die Kraft des Kinos, die Bildsprache von Costa gegen die Wut von Vitalina. Wobei das „gegen“ hier immer ein „zusammen“ ist. Mit Ne Change Rien teilt der Film vor allem seine Umarmung immenser Dunkelheit, aus der sich ein mondartiges Licht drückt, das zugleich eine Person ist. Hier die Bühnenpersona von Jeanne Balibar bei der Arbeit, dort das weiße Augenfleisch von Vitalina. In beiden Fällen tauchen die Filme auch in dezidiert weibliche Welten ein. Ein Kontrapunkt zu den jeweiligen Settings, in denen sie spielen (hinter den Kulissen der Theater- und Musikwelt beziehungsweise inmitten der Immigranten in Lissabon).

Eine weitere Justierung nimmt Costa mit seinem „Studioschauspieler“ Ventura vor. Dieser spielt einen Priester. Nicht wenige hatten die Rollen von Ventura, Vanda und Co in den Filmen von Costa bislang als fiktionale Variationen der jeweiligen Menschen betrachtet. Man konnte sich einig sein, dass die meisten eine Version ihrer selbst auf der Leinwand zum Besten gaben. Doch gerade im Fall von Vanda gab es bereits in früheren Arbeiten schon Rollenwechsel. So agierte sie bereits in Ossos als Clotilde und erst in No Quarto da Vanda wurde aus Vanda Vanda. Das Zittern der Hände ist das gleiche, aber die Rolle ist eine andere. Ventura ist Priester, torkelt durch Pfützen und engste Passagen, seine Hand greift an hölzerne Laternenmasten während er Sprachfetzen von sich gibt, ein Selbstgespräch als Klagelied. Mehrfach bricht er zusammen. Es ist eine Art Todeskampf.

Ventura spielt den Priester, der Joaquim beerdigt hat. Als Vitalina auf ihn trifft, sagt auch er ihr, dass es hier nichts für sie gäbe. Die Tür habe kein Schloss und er könne einen Mann die ganze Nacht weinen hören. Doch in seiner Figur spiegelt sich eine weitere Abwesenheit. Denn für ihn sind die Kap Verden keine sehnsuchtsvolle Erinnerung. Er erlebte auch dort Verzweiflung und Grausamkeit. Seine Leere hat einen Ursprung, zu dem er nicht zurückkehren kann. Jede Nacht sitzt er auf den leeren Stühlen seiner verwahrlosten Kirche und weint. Ein Priester, der den Glauben gegen Angst eingetauscht hat. Auch hier findet Vitalina kein Licht. Dennoch kennt er einen Weg aus der Ortlosigkeit, aus der inneren Fremde. Er verkündet ihn nur nicht, denn er glaubt nicht mehr wirklich daran als er sagt: Unser Land ist im Himmel. Dass Ventura nun nicht mehr Ventura ist, lässt das Ensemble von Costa mehr wie eine Stock Company erscheinen. Mehr noch ist es ein Spiel. Denn dort, wo Vitalina eine bestimmte Rolle einnahm, um Ventura in Cavalo Dinheiro zu helfen, ist es nun umgekehrt. Jemand spielt, damit ein anderer überleben kann. Vitalina und Ventura der Priester helfen sich gegenseitig. Der eine trauert um seinen verlorenen Glauben, die andere um ihren Mann.

Aber trauert Vitalina wirklich? Ist die Trauer für sie nicht nur Vorwand für eine Anklage. Es ist wahr, dass man sie einmal weinen sieht und dass sie die Rituale mit großem Respekt abhält. Aber aus ihrem Körper spricht eine gewisse Widerborstigkeit, eine Gleichgültigkeit. Unter ihrer Trauer verbirgt sich ein Schmerz, der größer ist. Es ist ein kollektiver Schmerz. Nicht unbedingt im abgenutzten Sinn einer metaphorischen Betrachtung Vitalinas als The Immigrant à la Chaplin, sondern im Sinn einer kollektiven Arbeit an einem individuellen Schmerz. Man teilt das Leid in diesem Kino. In Vitalina Varela geht Costa damit weiter als bisher. Trotzdem bleibt er ein Mann des Kinos. Nie fragt man sich, warum er diese Menschen überhaupt filmt und ihnen nicht einfach so hilft. Sein Kino ist durch und durch vom Kino angetrieben. Allerdings mit der entscheidenden Einschränkung, dass er nach einem größeren Sinn für diese künstlerische Arbeit sucht.

Costa arbeitet sehr stark in Sequenzen. Daran erkennt man am ehesten den Einfluss des klassischen Hollywoodkinos, von dem er gern spricht. So zieht sich das Ankommen von Vitalina über mehrere Szenen, in denen sie immer wieder eine Tür öffnet, eine Pforte durchschreitet oder einen Vorhang beiseite schiebt. Erst nach und nach wird der Blick für sie und auf sie frei. Auch die Erzählungen von Weggefährten Joaquims tauchen episodisch auf. Der Film ist bis ins kleinste Detail gebaut. Die Bilder folgen aufeinander wie die Ziegel eines Hauses. Motive wie die Gitterfenster, Menschengruppen, die auf der Schwelle zu Vitalinas Haus stehen oder das wiederkehrende Trauerbild der Kerzen und Fotografien auf dem Nachttisch ziehen sich durch den gesamten Film.

Wenn man sich nun im Haus von Vitalina Varela umblickt, ihr zusieht und zuhört, den Blick wagt, sich näher kommt, vertraut oder zweifelt, annimmt oder hinterfragt, dann spürt man Fragilität und Kraft zugleich. Die Bestimmtheit einer Nähe und Geduld, die man so kaum mehr kennt aus dem Kino, die Behutsamkeit, mit der ein Blick, ein Dialog, ein Monolog oder eine kleine Bewegung konstruiert wird, machen jedes Gefühl erkennbar, aber gleichzeitig so leicht vermeidbar. Wenn die Kinos so zerfallen wie die Kirchen und die Filmemacher wie Ventura durch die Dunkelheit stolpern, wenn es einen klischeebeladenen Diskurs um Immigration gibt, wenn Menschen in Nummern gemessen werden und man erwartet, dass ein Film zuerst erzählt und dann zeigt, dann gibt es eine letzte Abwesenheit, nämlich die des Kinos. Gegen diese stemmt Pedro Costa seine Arbeit, seine Wahrnehmung und sein Empfinden und wir tun gut daran, von ihm zu lernen.

Nachbemerkung

Das kritische Skelett, das sich über die Jahre, um den Corpus von Pedro Costa errichtet hat, verstellt mehr und mehr den Blick auf die eigentliche Arbeit des Portugiesen. Dort, wo große Teile der Filmkritik ihre Superlative in Worte kleidet, ihren großen Meister, ihre wichtigste Stimme erkennt und beinahe panisch mit all den Eingeweihten teilen möchte, entsteht zuerst einmal etwas Legendenhaftes, Auratisches, das vom eigentlichen Geschehen auf der Leinwand ablenkt: ein sich selbst und Costa beweihräuchernder Überdruss an Huldigungen, der all umfassende Versuch durch Worthülsen Ästhetik und widerständiges Auftreten des Auserwählten zu imitieren (im Eigentlichen der sehnliche Wunsch vieler Kritiker, ihrem Helden zu gefallen, d.h. keinen kritischen Diskurs auf Augenhöhe zu führen, sondern ganz so wie sein Blick auf die Menschen eher von unten zu kommen; ein Kniefall) und die Wichtigkeit, die all dem beigemessen wird. Ein Text über Costa, zig geplante Bücher über Costa, ein Gespräch mit Costa sind in gewissen Kreisen ein Statussymbol.

Man kramt die alte Tintenfeder aus der Schublade hervor. Publikationen verwechseln in der Folge ihre Texte mit den Filmen, sie stellen sie in den öffentlichen Raum als wären sie bereits die Kunst, die Zärtlichkeit, die Wut. Wenn nun aus diesen Reflexen auf ein Kino, das womöglich gegen die Modi der Wahrnehmung unserer Zeit rebelliert, außergewöhnliche, freie oder auch besonders raffinierte Texte entstünden, wäre nichts dagegen einzuwenden. Stattdessen aber liest man noch häufiger als sonst in pubertären Endgültigkeitsfloskeln, findet einen unersättlichen Drang ins Urteil, in eine Wertung (bester Film des Jahres, bester Filmemacher unserer Zeit) und eine leere Poetik der immergleichen Begriffe. Natürlich sei betont, dass eine Auseinandersetzung mit einem Filmemacher, der Philosophen wie Jacques Rancière vor ernsthafte Probleme stellt, keine Einfache ist und es auch genug Stimmen gibt, die sich gegen dieses Kino wehren. Aber das lässt dieses Skelett nicht zerbrechen oder auch nur in anderem Licht erscheinen. Eine direkte Beziehung zu Vitalina Varela wäre wahrscheinlich erst in einigen Jahren möglich, wenn sich das ganze Gewicht des durchaus elitären Diskurses (du gehörst dazu und du nicht!) in Luft aufgelöst hätte und man wirklich nur die Filme von Costa sehen würde und nicht diese Maschinerie der Anerkennung sowie seine kluge, verspielte, poetische, augenöffnende, widersprüchliche Art und Weise über sein (das) Kino zu sprechen. So ist auch dieser Text von Derartigem beeinflusst und kann am Ende nur ein weiterer Knochen im Skelett sein. Zumindest stand das aufrechte Bemühen niemanden zu gefallen und so gut es eben ging vom Film selbst auszugehen.