Diagonale 2015: Wie die anderen von Constantin Wulff

Wie die anderen von Constantin Wulff

Tulln ist eine unscheinbare Kleinstadt an der Donau, rund dreißig Minuten von Wien entfernt. Diese geographische Lage macht Tulln zu einer klassischen Pendlerstadt, aber auch zu einem regionalen Knotenpunkt für die landwirtschaftlich geprägten Gebiete des Tullnerfelds und des Wagrams. Die relativ dezentralisierte Aufteilung der Verwaltungsinstitutionen Niederösterreichs hat zur Folge, dass dieses unscheinbare Städtchen mehrere interessante Institutionen beherbergt: die niederösterreichische Landesfeuerwehrschule, die Landesstelle des Roten Kreuzes und ein vergleichsweise großes Krankenhaus. Neben jenem in der Landeshauptstadt Sankt Pölten, das im Moment zum zweitgrößten Krankenhaus Österreichs ausgebaut wird, sind die Landeskliniken in Niederösterreich auf verschiedene Fachabteilungen spezialisiert. Der Schwerpunkt des Landesklinikums Tulln ist die Psychiatrie.

Diesem Krankenhaust stattet Constantin Wulff in seinem neuesten Film Wie die anderen einen Besuch ab. Doch eine Besprechung dieses Films wäre unvollständig ohne einige autobiographische Notizen, denn Tulln ist zugleich meine Geburtsstadt, in der ich zwanzig Jahre gelebt habe. Als einer der ersten Jahrgänge wurde ich in diesem Krankenhaus zur Welt gebracht, das erst kurz zuvor aus Platzgründen übersiedelt worden war (meine um drei Jahre ältere Schwester wurde noch im Alten Krankenhaus geboren, wo sich heute eine Wohnungsanlage samt Kindergarten und römischen Ausgrabungen befindet). Der konkrete Flügel, in dem heute die Psychiatrie untergebracht ist, entstand jedoch erst im Zuge der Umsiedelung der Nervenheilanstalt Maria Gugging, Ende der 2000er. Diese Erweiterung kam einer Entmystifizierung gleich, denn „Gugging“ war für die Tullner Jugend eine Chimäre, ein geheimnisumwobener Ort, im hügeligen Wienerwald, in dem ein Haufen Halbverrückter von der Zivilisation ferngehalten wurde. In der kindlichen Vorstellung war diese Anstalt gleichbedeutend mit jenen Orten, in denen gruselige Horrorfilme spielen und sabbernde, lobotomisierte Zombies herumlaufen. Die Auflassung der Nervenheilanstalt, an deren Stelle sich heute ein Forschungsinstitut befindet (eine zugegeben ironische Entwicklung), hatte also zur Folge, dass das Gedankenkonstrukt „Gugging“ zu einem realen Ort in der Nachbarschaft wurde, an dem natürlich keine lobotomisierten Zombies ein- und ausgingen. Eine nähere Auseinandersetzung mit den Aufgaben der Institution blieb von meiner Seite aus, ein letzter Hauch von mysteriöser Romantik angesichts dieses unbekannten Ortes hinter der eintönigen Krankenhausfassade blieb bestehen.

Wie die anderen vollendete nun den Vorgang der Entmystifizierung, denn erstmals wagte ich mich hinein in diese Abteilung des Krankenhauses, von Angesicht zu Angesicht mit den Patienten und zuständigen Ärzten. Ganz im Stile eines Frederick Wiseman nähert sich Constantin Wulff der Kinder- und Jugendpsychiatrie und den Protagonisten, die er dort vorfindet stumm und sachlich, seine Kamera stellt nicht aus, respektiert die Privatsphäre der Menschen. Wie die großen Meister des dokumentarischen Fachs, findet auch Wulff die richtige emotionale Distanz zum Geschehen, so ist sein Blick weder aufdringlich oder aufgezwungen intim, noch zu kühl und distanziert. Was Wulff interessiert, und da wird die Ähnlichkeit mit Wiseman besonders deutlich, sind weniger Einzelschicksale, sondern Arbeitsabläufe. Wie funktioniert diese Abteilung? Was gehört neben der Betreuung der Patienten noch zum Krankenhausalltag? Welche bürokratischen Hürden muss das Personal jeden Tag bewältigen, wie sind die Arbeitsumstände, wieviel muss improvisiert werden um ein reibungsloses Funktionieren zu gewährleisten? Die richtige Balance zu finden war dementsprechend eine heroische Aufgabe, die Wulff eindrucksvoll meistert. Immer wieder widmet er sich den Krankheitsbildern der jungen Patienten und ihrem Behandlungsvorgang, lässt jedoch auch nie die Ärzte außer Acht, auf denen ungemeine Verantwortung lastet, die sich in den Bildern materialisiert. Dieser psychische Druck, der beide Seiten betrifft wird in den intimen Gesprächssituationen spürbar, in denen der Blick der Kamera schonungslos die teils unschönen Lebensumstände der Protagonisten festhält und kein Abwenden zulässt. Diese intensiven Momente werden durch Perspektivenwechsel aufgelockert. Dieser Blick von außen auf die Therapiesituation wechselt sich mit einem Blick von innen ab, der die Vorgänge hinter den Kulissen beleuchtet, wenn im Kreise der Kollegen über Fortschritte und Rückschläge der Patienten diskutiert wird und immer auch die Entwicklungen in der Außenwelt thematisiert werden, die deutlich machen, dass man sich hier nicht in einem hermetisch abgeriegelten Paralleluniversum befindet.

Diese Erkenntnis wiegt schwer, denn bis zu diesem Zeitpunkt habe ich diese psychiatrische Abteilung, dieses „Gugging“, als ein Paralleluniversum wahrgenommen. Der Einblick in den Krankenhausmoloch zeigt eine ganz andere Realität. Eine Realität, die erschreckend viel mit meinem eigenen Leben gemein hat. Diese Kinder und Jugendlichen sind keine Verrückten; noch mehr, für die meiste Zeit, wirken sie vollkommen normal, erst wenn sie zu sprechen beginnen und erzählen, wie ihr Leben von der Normalität abweicht, entpuppen sie sich als krank. Die meisten von ihnen, wollen bloß „wie die anderen“ sein und diese Feststellung zeigt, dass sie sich anders fühlen als „die anderen“. Wer sind diese „anderen“? Sind wir das, die wir den Film sehen und uns dabei unwohl fühlen? Es fällt mir schwer diese Trennung vorzunehmen, denn in zu vielen Momenten fühle ich mich an meine eigene Kindheit zurückerinnert. Ich stelle mir also die Frage wer ich eigentlich bin. Bin ich einer von „denen“ oder einer von den „anderen“? Bin ich nur knapp vorbeigeschrammt an einer solchen Therapie, was hat mich davor bewahrt? Überinterpretiere ich diese Gemeinsamkeiten oder hatte ich Glück, dass sich meine Ticks in weniger selbstzerstörerische Bahnen gelenkt haben?

In dieser Hinsicht ist Wie die anderen ein harter und unangenehmer Film für mich, denn verborgen hinter dem forschenden Blick im Direct-Cinema-Gestus steckt die Frage nach Identität; Identität im Verhältnis zu anderen, Identität durch Ausschluss. Nach nur fünfundneunzig Minuten ist der Film zu Ende, in der Laufzeit des Films enden die Gemeinsamkeiten mit Frederick Wiseman, das Publikumsgespräch mache ich nicht mehr mit, obwohl ich noch sehr viele Fragen habe, denn ich fühle mich erstickt und brauche Luft. Um ehrlich zu sein habe ich auch etwas Angst vor den Antworten.

Diagonale-Dialog 2: Why does it hurt so much?

Wie die anderen von Constantin Wulff

Nachdem wir uns am ersten Tag gar nicht über den Weg gelaufen sind, gibt es mittlerweile einige Filme, die wir beide gesehen haben. Mehr noch als die Filme stehen heute aber die Besonderheiten eines Festivals zur Diskussion; Anlass dazu zwei kuriose Publikumsgespräche und Patricks wiederkehrendes Gefühl, dass die Sichtung so vieler Filme hintereinander womöglich den einzelnen Filmen schadet.

Patrick: Rainer, why does it hurt so much?

Rainer: [lacht] Eine Frage die zweifelsfrei öfter in Publikumsgesprächen gestellt werden sollte. Leider bin ich ratlos, wie man auf so etwas kommt.

Patrick: Gestern war für mich ein Tag der Publikumsgespräche. Peter Kerns Der letzte Sommer der Reichen wurde als Wichsvorlage beschimpft und am Ende wurde Randy Sterling Hunter gefragt, warum es so wehtue seine Bilder zu sehen. Man beachte: Aufgrund ihrer Farben. Mal abgesehen davon, dass diese Bilder überhaupt nicht unangenehm waren, fragt man sich schon, wer sich da um 23 Uhr ins Innovative Kino verirrt. Auf der anderen Seite ist das aber vielleicht sogar eine gute, philosophische Frage. Ich befürchte nur, dass sie nicht so gemeint war. Hat dir irgendwas wehgetan gestern?

Rainer: Ich bin mir nicht ganz sicher was du damit meinst, aber in gewisser Weise, ja. Wie die Anderen war einer der unangenehmsten Filme, die ich in letzter Zeit gesehen habe – im positiven Sinne. Der Film porträtiert Vorgänge in der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie im Krankenhaus Tulln. Ehrlich gesagt, habe ich mir den Film in erster Linie deshalb angesehen, weil ich als gebürtiger Tullner unbedingt einen Film sehen wollte, der dort entstanden ist, aber persönlich berührt hat er mich schließlich aus ganz anderen Gründen.

Patrick: Welche Gründe?

Rainer: Da bin ich mir im Moment noch nicht ganz sicher, und ich denke, dazu wird noch ein längerer Text von mir entstehen, aber in manchen Szenen kam es mir vor, als wäre ich als Kind nur haarscharf an solchen Momenten vorbeigeschrammt. So ein Gefühl ist natürlich nur möglich, weil Regisseur Constantin Wulff einen objektiven, aber empathischen Blick auf das Geschehen wirft.

Patrick: Objektive Empathie hat immer etwas mit dem Abstand zu tun finde ich. Den Abstand, den man zwischen Kamera und Geschehen hat. In dem Zusammenhang hat Victor Kossakovsky ja von seiner Magnettheorie gesprochen. Also jenen Abstand, wo zwei Magnete genau in der Schwebe sind. Diese Distanz sollte man mit Filmen anstreben. Nikolaus Geyrhalter schafft damit auch große Momente. Ich habe immer das Gefühl, dass man auf einem Festival irgendwann deutlich zu wenig Abstand zu den Filmen hat als Zuseher.

Rainer: Die Distanz trifft Constantin Wulff in Wie die anderen auf den Punkt! Über Festivals kann ich mich nicht beschweren: ich mag die fragwürdige Lebensweise und Ernährung, die man dort an den Tag legt und nicht zuletzt den Trott, der sich nach ein paar Filmen ergibt, und der mich mit seinem Sog mehr hineinzieht, wie du oben beschreibst. Der Abstand zwischen Kamera bzw. Filmemacher und dem Gefilmten leuchtet mir ein, aber die Distanz des Zusehers zum Film würde ich als eine Frage des individuellen Zugangs nicht von vornherein festlegen wollen. Ich habe oft das Gefühl, dass ich sehr viel weiter von den Filmen entfernt bin als zum Beispiel du, wenn ich im Kino bin, da finde ich es sehr interessant und spannend mal weiter einzudringen.

Patrick: Ja, ich wollte damit nicht sagen, dass das irgendwas Festgelegtes ist. Ist auch nicht beim Filmen so, sondern auch da kommt es auf den individuellen Zugang und vor allem die beobachtete Realität an. Mit dieser Nähe meine ich, dass ich mich oft wundere, was mir auf Festival zu Filmen durch den Kopf geht, was ich über sie denke (im Vergleich zu danach) und so weiter. Ich frage mich halt immer ein bisschen wie man einen Film anschauen sollte. Das ist vielleicht eine anmaßende Frage. Aber wenn ich viele Filme hintereinander am Tag sehe, dann leidet das einzelne Werk manchmal daran, oder nicht? Natürlich gibt das auch eine neue Sicht, eine Erfahrung an sich, aber ich glaube irgendwie noch an das einzelne Werk. Niemand dreht ja einen Film und hat dabei im Kopf, dass der dann mit fünf anderen Filmen an einem Tag gesehen wird.

Rainer: Ja, aber da ziehe ich die Vorteile eines Festivals diesen Nachteilen vor. Im Zweifelsfall hast du immer die Möglichkeit den nächsten Film auszulassen, wenn du das Gefühl hast, dass du eine Pause brauchst (auch wenn Leute wie wir diese Möglichkeit wohl nicht nutzen würden).

Der letzte Sommer der Reichen von Peter Kern

Der letzte Sommer der Reichen von Peter Kern

Patrick: Findest du es berechtigt, wenn jemand Der letzte Sommer der Reichen als Wichsvorlage beschimpft?

Rainer: Mir gefallen die Frauen in dem Film nicht besonders… aber Geschmäcker sind ja bekanntlich verschieden. Aber mal im Ernst, dieser Vorwurf impliziert doch, dass der Film pornographisch ist, und dafür gibt es da viel zu wenig Sex zu sehen. Wenn Kern wirklich hart gewesen wäre, hätte er die Vergewaltigung des jungen Models in Großaufnahme gezeigt oder bei den Sexszenen etwas länger draufgehalten. So wird meines Empfindens die sexuelle Thematik ohnehin bloß gestreift und lässt sich ins gesellschaftliche Gesamtbild einordnen.

Patrick: Ich glaube es ist eine Mischung aus Provokation und einer klassischen Kapitalismuskritik, die ja oft über pervertierte Sexualität funktioniert. Der Provokationsteil daran löst halt solche Reaktionen aus.Ich finde eher bedenklich, dass diese Ideen hier als etwas besonderes verkauft werden und so unfassbar ausgelutscht sind. Wow, der Kunstmarkt ist korrupt, der Medienmarkt auch, die Politik und die Bänker, alle sind gierig und so weiter. Ich sehe mir das an und irgendwie habe ich dann das Gefühl, dass die Welt ja in ordnung ist, weil es schon immer so war und auch so thematisiert wurde. Also geht er mir vielleicht nicht zu weit der Film.

Rainer: Ich stoße mich eher daran, dass der Film mir so ins Gesicht brüllt was er zu sagen hat. Das ist zwar einerseits erfrischend, weil immerhin die Position nicht unter Symbolik o.ä. begraben wird, andererseits wirkt es an vielen Stellen ungemein hölzern und aufgesetzt.

Patrick: Ja das sowieso. Der Film ist wie ein dauernder Hammerschlag und das tut dann nicht mehr weh, sondern man hört es schlicht nicht mehr nach einer gewissen Zeit. Why doesn’t it hurt more?