Viennale 2021: Bilder vom Rand des Vorstellbaren. Über die Filme von Fabrizio Ferraro

Einen Film könne man nicht frei von Erwartungen sehen, meinte Fabrizio Ferraro, dem die Viennale dieses Jahr eine Retrospektive widmete. Auch wenn sich ein innerer Widerstand aufbaut, bleibt nichts anderes übrig, als ihm zuzustimmen. Es fühlt sich an wie eine Kränkung, wenn die eigenen Träume im Kino plötzlich auf die der anderen treffen. Ferraros Arbeitsweise fordert die Begegnung zwischen Publikum und Leinwand immer wieder auf Neue heraus. Sieben seiner Arbeiten aus den letzten elf Jahren wurden von der Viennale ausgewählt und an vier aufeinander folgenden Tagen mit anschließenden Publikumsgesprächen gezeigt. Erst seit wenigen Jahren haben diese Filme internationale Aufmerksamkeit erreicht. Entgegen der üblichen Vorgehensweise zeigte man sie nicht in ihrer chronologischen Reihenfolge, womit eine klare Richtung in ihnen bestimmt worden wäre. Stattdessen verhalten sie sich zueinander wie schwingende Pendel, zusammengeschnürt mit seidenem Faden. In dieser Weise einem unbekanntes Werk zu begegnen, versetzt auch die Gedanken in einen webenden, wellenartig-wechselnden Zustand. Mit jedem gesehenen Film verändert sich die Sichtweise auf die anderen Filme. Eine gefunden Spur kann sich in jedem Moment wieder verlieren, verknüpfen oder zerteilen. Neugier wird zur Sucht und im selben Moment zur Skepsis. So lässt sich kaum sagen, am Ende einen klaren Eindruck von den Filmen erhalten zu haben. Eher besitzt man unscharfe, dunkle Umrisse, die vielleicht einigen seiner Bilder ähneln.

Wie und wo anfangen, sind Fragen, denen man sich oft, vielleicht sogar alltäglich, ausgeliefert sieht. Etwa beim Schreiben eines Textes. Jedes Wort erhält auf einmal unermessliche Bedeutung. Krampfhaft muss man an ihnen festhalten, als könnten sie die Bewegung der eigenen Gedanken bestimmen. Das Ergebnis ist nichts außer einer Lähmung, die sich nur zögerlich aufzuheben scheint. Nie verschwindet sie zur Gänze. Ich frage mich, ob es sich mit Filmen nicht ähnlich verhält, nur in umgekehrter Weise. Hinter gewissen „blinden Flecken“ steckt oft Starrsinn, der bis in alle Ewigkeit auf den richtigen Moment wartet, Erfahrung mit dem Unbekannten zu machen. Doch die Hoffnung darauf ist meist schöner, als es eine mögliche Einlösung wäre. Mit den Filmen von Fabrizio Ferraro konfrontiert zu werden, ist eine zweischneidige Erfahrung. Man begreift seine Bilder und stellt gleichzeitig die eigene Wahrnehmung infrage. Hinter der scheinbaren Unzugänglichkeit seiner Filme liegt ein Weg zu einem Ort, der bei den eigenen Erwartungen und Vorstellungen beginnt. Aber wo führt er hin?

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Durch die Bilder seiner Filme ziehen sich immer wieder Wege. Manchmal menschenleer bis zum Horizont, ein andermal undeutlich und nur durch die Bewegung seiner Protagonisten zu erkennen. Ferraro zeigt malerische Feldwege, steinige Fluchtrouten, endlose Tunnel, Wege durch Wälder, überlaufene Straßen in Rom, Wege, die einen Kreis beschreiben und immer wieder Autobahnen. Vereinzelt haben diese Pfade ein Ende, meist führen sie ins Nichts. Der Weg beschreibt jenen schwebenden Zustand zwischen zwei Welten – einer Bekannten und einer Kommenden, den Ferraro durch permanente Wiederholung bis an die äußerste Grenze ausreizt. Hoffnung liegt stets nah bei der Verzweiflung.

Schon der erste Film des Programms Sebastian0 zeigt dieses Motiv mit aller Deutlichkeit. Zunächst folgt der Film zwei Touristen, die durch die Ruinen des antiken Roms schlendern. Spürbar belastet von der sengenden Hitze werden sie immer wieder zum Pausieren gezwungen. Die Kamera zeigt ihre Bewegung isoliert von den strömenden Massen um sie herum. Unverständliche Worte werden ausgetauscht – versteinerte Geschichte stumm betrachtet. Irgendwann gehen die Personen dem Blick der Kamera verloren, nur die überwucherte Monumentalität der Architektur bleibt zurück. So bildet sich für Ferraro eine Brücke zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Für sich betrachtet, ließen sich Filme wie diese vielleicht als Historienfilme begreifen. Allerdings neigen sie in keiner Weise dazu, historische Stoffe bloß nachzuahmen. Stattdessen glaubt man, dass jeder gefilmte Schritt bereits den Stoff als seinen Untergrund vorwegnimmt. Die strenge, eigenwillige Form, welche an Filme von Straub/Huillet erinnert, ist dabei notwendig, um zu einem Punkt vorzustoßen, wo die Erzählung des Vergangenen auf die Gegenwart zurückblickt. Wir sehen nun drei Männer, gekleidet im antiken Gewand des alten Roms, wovon einer in Fesseln gelegt wurde. Es handelt sich um den heiligen Sebastian, den man zum Ort seiner Hinrichtung begleitet. Die zermürbende Tortur zwischen Licht und Schatten endet nach seiner Rettung und seiner erneuten Tötung zwischen den Höhlen abseits der Stadt. Als würde sein Seele aus dem Unterholz zum Himmel emporsteigen können, gleitet die Kamera schließlich zwischen sonnendurchflutetem Geäst hindurch. Das Bild scheint wie in Checkpoint Berlin auf der Suche nach dem erlösenden Lichtstrahl zu sein. Auch hier besinnt sich Ferraro mit Thomas dem Zweifler auf eine heilige Figur. Der Film spaltet sich dabei in zwei ineinander verschlungene Bestandteile, worin die Trennung Berlins zum materiellen Ort der historischen Gegensätze wird. Wir folgen verschiedenen Spuren: Einerseits historischen Dokumenten, andererseits der Erzählung eines getrennten Paares beim Bau der Berliner Mauer. Beide Stränge winden sich umeinander, jedoch ohne eine konkrete, narrative Einheit zu spinnen. Stattdessen erscheint plötzlich ein trostloser Engel, der den geheimen Weg kennt, um das Land zu verlassen. Er begleitet ein Paar durch einen schier endlosen Tunnel unter dem Todesstreifen hinweg. Bald ist die permanent wiederholte Bewegung nicht mehr von ihrer unwirklichen Umgebung zu trennen. Als hätte die Leinwand ihre Bilder aufgesogen, drängt sich ein mulmiges Gefühl der Verlorenheit auf. Es stellt sich die Frage, wie viel dieser Erfahrung noch als filmisch zu begreifen ist. Im Moment, als sie überwältigt das Licht auf der anderen Seite erreichen, bleibt der Engel zurück und verschwindet wieder im Dunkeln. Die Wege, die Ferraro mit seinen Filmen beschreibt, beinhalten so gleichermaßen ein rettendes wie schicksalhaftes Moment. Dabei führt er sein Publikum in eine halbseidene Welt, welche die Bedingungslosigkeit einfordert, bis zum Abgrund zugehen. Es lässt sich so hinter dem idiosynkratrischen Formwillen eine gewisse Brutalität in seinen Bildern erkennen.

Der Film La veduta luminosa, der erst dieses Jahr seine Premiere feierte, ließe sich in dieser Hinsicht als einen vorläufiger Höhepunkt verstehen. So beginnt der Film mit klaren Linien, die sich zunehmend verflüssigen. Eine Assistentin – Catarina – und der eigensinniger Regisseur – Emmer – begeben sich gemeinsam auf eine tagelange Autofahrt aus Italien in Richtung Tübingen. Der konkrete Grund der Reise, abseits vom abstrakten Interesse an Hölderlin, der dort sein Leben bis zu seinem Tod in einem Turm, isoliert von der Gesellschaft, verbrachte, wird nie deutlich benannt. Das Ziel der Reise gerät allmählich aus dem Blick, während Emmer den Bezug zu seiner gesellschaftlichen Umgebung zu verlieren scheint. Er ist kindlich fasziniert von der unberührten Natur, als würde er sie zum ersten Mal erfahren. Beide verirren sich immer tiefer im Wald. Catarina, die ihm still und verzweifelt zwei Tage lang an den Rand ihres Verstandes beisteht, überlässt Emmer schließlich sich selbst. Minuten lang folgen die schummrigen Bilder der Kamera nur noch ihm, wie er, bewegt von einer unbegreiflichen Suche, wispernd, tranceartig zwischen Bäumen und Bildern herum wandelt – halb wach, halb im Schlaf. Endlos reihen sich so Eindrücke aneinander, die darauf drängen, die Grenze zwischen dem Bild und dessen Wahrnehmung zu verwischen. Die früheste Arbeit Ferraros dieser Reihe Piano sul pianeta (Malgrado tutto, coraggio Francesco!) spielt mit einem ähnlichen gearteten Zustand. Namenlose Menschen sind eingesperrt auf dem Gelände einer verlassenen psychiatrischen Anstalt in Rom. Auch wenn deren Tore offen stehen, befinden sie sich gegen ihren Willen verloren auf dem Gelände, stehen am Zaun, sitzen auf Bäumen. Unruhig und doch unbeweglich harren sie aus, als seien sie gelähmt. Auf den asphaltierten Wegen zwischen ihnen gehen Bewohner der Stadt spazieren oder treiben Sport. Am Gebäude macht sich Verfall bemerkbar, aber seine verhängnisvolle Bedeutung scheint für die Menschen nicht zu verschwinden. Es ließe sich denken, sie würden auf etwas Unbestimmtes warten, ja hoffen. Je länger der Film allerdings andauert, umso mehr lässt sich erkennen, dass es sich hier vor allem um den Zustand des Aushaltens handelt. Formal arbeitet Ferraro dabei konventioneller. Das Interesse des Film heftet sich vor allem an die Inszenierung der Darsteller, die oft an eine schaubildartige Bühneninszenierung erinnert. Schon hier wird greifbar, wie Ferraro danach sucht, einen Zustand menschlicher Erfahrung mit seinen Mitteln beschreiben zu können. Gerade ein Film wie Les unwanted des Europa, der schon eine gewisse Aufmerksamkeit in den vergangenen Jahren erhalten hat, erfüllt dies in virtuoser Weise. Ferraro zeigt die Fluchtgeschichte Walter Benjamins, der geplagt von einem Herzleiden Mühe hat, die Pyrenäen zu überqueren. Der Weg ist beschwerlich und nur durch die Hilfe Ortskundiger zu bewältigen. Während Benjamin gemeinsam mit einer weiteren Frau, ihrem Kind und Lisa Fittko vor den Nationalsozialisten von Frankreich nach Spanien ins rettende Portugal flieht, zeigt der Film eine Gruppe dreier Männer der Internationalen Brigade, die ebenso, nur in die entgegengesetzte Richtung, über die Grenze vor dem spanischen Faschismus flüchten. Ferraro beschreibt filmisch gewissermaßen eine Kreuzung, auf der sich Geschichten überqueren. Ihre Wege überlagern sich unabhängig von der Zeit. Als würde sich der Film unentwegt fragen, wer diesen Weg vor uns schon begangen haben könnte, verschränkt Ferraro Vergangenheit und Gegenwart in eindringlichen Bildern, welche die Verzweiflung nur erahnen lassen. Benjamin fällt es zunehmend schwerer, der Gruppe zu folgen. Schließlich legt er sich verloren abseits des Weges im Unterholz schlafen, um zu Kräften zu kommen. Das Ende ist, wie so oft, ungewiss.

Deutlich anders konzipiert, weisen die beiden verbliebenen Filme Quando dal cielo und Colossale sentimento dennoch ähnliche Merkmale auf. Auch in ihnen lassen sich Wege nachzeichnen, nur schlagen sich diese wesentlich abstrakter durch das dokumentarischen Material hindurch. Einerseits begleitet Ferraro aus beobachtender Distanz die Arbeit eines Jazz-Duos, immer wieder durchbrochen von Aufnahmen einer Kreuzfahrt. Andererseits folgen wir dem Weg einer ehemals verbannten Statue aus dem römischen Barock hin zu ihrem ursprünglichen Bestimmungsort. Beide Filme bilden einen Prozess ab, dessen Arbeiter so sehr in ihre Arbeit vertieft sind, als wären sie bereits selbst ein Teil davon. Mag sich die Akribie äußerlich unterscheiden, gleichen sich doch in beiden Fällen die Anstrengungen und das erlösende Ende. Dies scheint in der Musik versinnbildlicht, welche die Bilder der Filme schweben lässt, als würde sie die Gesetze der Gravitation aushebeln. Die improvisierten, vielschichtigen Melodien des Duos erfüllen, ausgehend vom Mittelpunkt, die Tiefen des unbeschreibbaren Raums und unterscheiden sich darin kaum von der barocken Formstrenge Corellis. Die Einfachheit beider Filme führt dabei die Schwere von Ferraros Kino an die Grenze des Vorstellbaren. Wo die Musik über eine Sprache zu verfügen scheint, muss das Bild immer wieder nach neuen Formen, nach neuen Wegen suchen.

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Man sollte sich in jeder Hinsicht die Frage stellen, was die Auseinandersetzung mit Filmen wie diesen notwendig macht. An vielen Stellen dringt eine charakteristische Kompromisslosigkeit heraus, die sich gar nicht für das zu interessieren scheint, was sich außerhalb davon befindet. Das gefährlich-leichtsinnig gebrauchte Wort: „prätentiös“, mag dabei vielleicht einigen geholfen haben, für das Gesehene eine Kategorie zu finden und darüber hinweg zu kommen. Insofern ließe sich Ferraro unterstellen, er benutze Figuren wie Hölderlin oder Benjamin als seine ästhetischen Gewährsmänner für einen intellektuellen Spleen. So eine Vermutung würde sich allerdings schnell in einer gewissen Ideenlosigkeit oder Beliebigkeit zu erkennen geben. Im Gegenteil sehen wir  eine Arbeitsweise, die von unerschöpflicher Besonnenheit erfüllt ist und der Formen von Improvisation fernliegen. Seine Filme tendieren auch nicht dazu, das theoretische Denken nur zu verkörpern, was ihnen jedoch zweifellos zugrunde liegt. Sie sind das Produkt eines unabgeschlossenen Reflexionsprozesses. Wo sich in seinen Filmen eine handhabbare Unmittelbarkeit einstellt, kippt das Bild augenblicklich um und flüchtet sich in transzendentale Welten. Damit ist Ferraro weder Hölderlin noch Benjamin unähnlich. So zeigt sich ein konkretes Interesse an der materiellen Welt der Dinge und gleichzeitig die verzweifelte Suche nach einem Ausweg. Man könnte vielleicht behaupten, der Film erhält dafür die Funktion einer möglichen Rettung, indem sich Erfahrung vermitteln lässt. Ist es die des Regisseurs oder doch des Publikums?

Kennzeichnend für Ferraros Filme ist ihre fast erschlagende Komplexität. Nichts, was er in ihnen verhandelt, wird dem Zufall überlassen. Dennoch vermag man sich an keinem greifbaren Gegenstand festhalten. Vielmehr verstehen sich die Filme als Andeutungen oder Annäherungen, die von einem historischen Strom, angefangen von römischer Antike, dem Barock, der deutsche Romantik bis hin zur Moderne mitgerissen werden. Die Arbeitsweise könnte so als ein Akt der Vergegenwärtigung verstanden werden, allerdings fehlt dafür ein konkretes Anliegen, das über das Kino hinaus weist. Jeder Film konzentriert sich stattdessen auf sich selbst und die Mittel, die ihm für seine Darstellung zur Verfügung stehen. Ferraro übt sich so besonders in der Reduktion seiner Inszenierungen, wodurch das Material offen sichtbar wird. Diese Wendung nach Innen ließe sich zunächst als ein verkopfter Standpunkt verstehen, worin der Zugriff auf den Stoff stets nur um sich selbst kreist. Immer wieder gelingt es allerdings den Filmen, diese empfindsame Verkapselung aufzubrechen. Nämlich dann, wenn ein gespannter, narrativer Bogen inmitten der Handlung zerrissen wird und die Bilder nur noch aus sich selbst sprechen.

Oft hat man es so bei Ferraros Filmen mit einer Zweiteilung zu tun, etwa bei der Gegenüberstellung von Vergangenheit und Gegenwart, Bewegungsrichtungen, Menschen oder einfach Orten, die sich in den Bildern annähern oder entfernen. Mögen diese Antagonismen auch noch so unversöhnlich sein, sieht man sich dennoch in der mimetischen Weise filmischen Denkens dazu veranlasst, einen Zusammenhang zu konstruieren. Wie in einem Organismus scheinen die Dinge ineinander überzugehen. Doch dieser Eindruck täuscht. Die Bilder verhalten sich zum gezeigten in vermittelter Form: Erfahrung, die durch Sprache lesbar wird. Gleichermaßen kann die Erfahrung, die einer fiktionalen, historischen oder realen Person sein. Sie braucht jedoch das Bild, um sich dieser zu vergewissern. So stellt die Bildsprache permanent ein Verhältnis zwischen Innen und Außen her. Die Grenze, die dazwischen verläuft, trennt das Publikum vom gezeigten Geschehen. Gerade die letzten beiden Arbeiten Ferraros spielen mit der Tendenz, Bild und Gegenstand – Subjekt und Objekt – miteinander ident zu machen, ohne dies tatsächlich zu verwirklichen. Die Bilder tasten sich an die Szenen heran, als wären sie blind und müssten beschreiben, was sie mit dem Gefühl ihrer Fingerspitzen erkennen. Beim Zusehen dieser Filme neigt man dazu, diesen Spalt zwischen Bild und seinem Inhalt überschreiten zu können, worin die eigenen Gedanken drohen von der strudelnden Bewegung des Erfahrungsstroms erfasst zu werden. Sobald sich jedoch dieser Zustand einstellt, scheint die Verbindung zertrennt zu sein. Das gewonnene Vertrauen in die Bildsprache Ferraros führt letztlich dazu, sich in ihr zu verirren. So wie seine Filme enden, wird deutlich, dass das gesuchte Ziel nie zu erreichen ist. Daraus entsteht ein Moment des Unbehagens. Der Weg führt am Ende ins Nichts.

Wieder sieht man sich mit den eigenen Erwartungen konfrontiert, nur ist man diesmal um die eigene Seherfahrung reicher. Aber was heißt Erfahrung in diesem Zusammenhang? Es liegt nahe, den Bildern dieser Filme, eine bestimmte Verdopplung ihrer Inhalte zuzuschreiben. Oft heißt es, ohne sich der Bedeutung gewahr zu werden, ein Bild könnte das, was es zeigt, verkörpern. Sie versuchen aber nichts anderes, als den Inhalt mittels ihrer Sprache zu beschreiben. Auch Ferraros Arbeiten tun dies, jedoch in so radikaler Form, dass es ihnen möglich wird, einen reflektierten, äußerlichen Blick auf sie zu werfen. Das wird besonders deutlich, wenn Bilder wiederholt werden. Es scheint zwar, als würden sie um sich selbst kreisen, aber mit jeder Wendung betrachten sie sich von Neuem. Von Erfahrung zu sprechen, könnte in dieser Weise nur noch eine spezifisch Filmische bezeichnen. Weniger ist es die des Publikums, als vor allem die des Regisseurs sowie seiner Mitstreiter, nähergebracht durch die verwendeten Werkzeuge. Gleichzeitig ist es jedoch kaum vorstellbar, das von der eigenen Erfahrung mit diesen Bildern klar zu trennen. Immer wieder hat man den Eindruck, die Bilder würden vor den eigenen Augen verschwimmen. So lassen sich noch für einzelne Momente Worte finden, was allerdings für eine ganzheitliche Betrachtung zunehmend schwerer fällt. Sich der Filme durch den Versuch einer Beschreibung zu vergewissern, unterläuft gerade das Verhältnis, dem Gesehenen nur als ausgesetzt gegenüberzutreten. Allen Widerständen zum Trotz darüber zu sprechen oder zu schreiben, heißt erst, die Erfahrung konkret zu machen.

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In der Verschrobenheit der Perspektive könnte man meinen, gegenüber dem konfektionierten Erzählkino, das ‚eigentliche Sehen‘ – etwas vermeintlich allgemein menschliches – entdeckt zu haben, so jedenfalls sinngemäß Bruno Roberti im Katalog-Text zum Programm. Ja, vieles in Ferraros Filmen trägt einen schleierhaften, mythischen Schein mit sich, der sich wohl auch als natürliche Ursprünglichkeit oder filmische Sinnsuche begreifen ließe. Das macht aber notwendig, Film in vitalistischer Weise eins mit dem Publikum werden zu lassen. Auffällig an Formulierungen, wie denen von Roberti, ist hinter den allfälligen Handlungsbeschreibungen, wie wenig indessen über das eigene Sehen gesprochen werden kann. Stattdessen der zwanghafte Versuch, Kategorien und Erklärungen zu finden. All das ist allerdings eher einschüchternd, als darstellend. Die eigenen Erwartungen bemessen sich unweigerlich daran, bis sie sich schließlich darunter in Deckung flüchten. Wie verhält sich das Programm dazu? Kinematografie heißt für die Viennale, einer Person eine Retrospektive zu widmen, ohne sie dem Dogma einer historischen Musealisierung oder Kanonisierung auszusetzen. Vielmehr scheint es darum zu gehen, außergewöhnliche Arbeiten zu zeigen, die sich gerade normativen Zuschreibungen entziehen. So handelt es sich um Programmpunkte, die zu einem gewissen Teil, konträr zur Viennale als Ganzes stehen. Gerade Fabrizio Ferraros Programm veranschaulicht Möglichkeiten, was Kino sein kann, die man mit einem Hang zum Pessimismus immer nur in der Vergangenheit sucht. Schnell kommt man in die Verlegenheit, alles, was nicht diesem Anspruch gerecht wird, abzulehnen. Es gibt sich in dieser Weise eine Selbstbezüglichkeit zu erkennen, die dem Sprechen, Schreiben, Kuratieren und vielleicht auch jenen Filmen selbst gemein ist. Aber was bedeutet das für das Sehen? Dem Konzept der Kinematografie gelingt es in dieser Hinsicht, vor allem den prozessualen Charakter filmischer Arbeiten zu vermitteln und sie als unabgeschlossen zu begreifen. Nicht selten stellen sich künstlerische Form nach außen hin als offen und durchlässig dar, um dann darin die spröde gewordene Reflexion des Immergleichen zu entbergen, worin man selbst nie erscheint. Gleichzeitig bildet der fragwürdige Ruf nach Tiefgründigkeit davon lediglich eine Kehrseite ab. Die Werkschau von Ferraros Filmen hat nicht nur den Prozess seiner Arbeit gezeigt, sondern auch den des Sehens. Nach und nach, je mehr man die Verschlossenheit dieser Filme aufbricht und sich auf die Offenheit zu bewegt, betrachtet man sich selbst beim Sehen. Es stellt sich so aber keine abschließende Erkenntnis ein, was es heißt Filme zu sehen, sondern die Frage, was dort möglich sein kann. Nach dem Anfang zu suchen, kommt mir rückblickend ziellos vor.

Nachdenken über Fluchtweg nach Marseille

Ingemo Engströms und Gerhard Theurings Film ist vielleicht einer dieser Filme, der immer nur einem kleinen vertrauten Kreis Menschen wirklich ein Begriff ist. Sie teilen die Erfahrung, diesen einen Film gemeinsam in der Vergangenheit gesehen zu haben, der sich so sehr mit ihrer damaligen eigenen Gegenwart verknüpft hat, dass er nun nur noch eine Erinnerung darstellt. Irgendwann verblasst diese jedoch, weil sie von neuen prägenden Ereignissen überlagert wird – wie auch dieser Film. So verstauben die Erinnerungen, rücken aus dem Horizont der eigenen Wahrnehmung und werden schließlich zu romantischen Erzählungen, womit ihnen ihr gegenwärtig-aufblitzender Kern verloren geht. Mich beschäftigt nun seit einiger Zeit der Gedanke, was es bedeutet, einen Film wieder zu entdecken und zu restaurieren – sowohl für mich als auch für andere. Es drängt sich bei mir der Eindruck auf, die Suche speise sich aus Märchen der vergangenen Zeit und die Entdeckung sei dann nur doch  Bestätigung, ein Teil dieser fortgeschriebenen Erzählung gewesen zu sein. Die Frage, warum wir danach suchen, wird dabei unbewusst unterdrückt, denn Vergegenwärtigung ist in erster Linie mühsam. Der Film Fluchtweg nach Marseille nimmt sich diesem Gedanken an und macht ihn zu seinem eigenen.

Mit einer brüchigen Stimme referieren Engström und Theuring bei der Präsentation der restaurierten, digitalen Fassung bei der diesjährigen 35. Ausgabe von Il Cinema Ritrovato. Sie lesen vom Blatt in einem Duktus, der in seiner Stringenz und Klarheit, wie aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Während der Restaurator Martin Koerber die Einmaligkeit aufgrund der raren Zeitzeuginnen dieses Dokuments hervorhebt, schmunzeln Engström und Theuring still und verlegen, als würden sie für einen Moment einen Gedanken teilen. Sie sind selbst Zeugin und Zeuge einer vergangenen Zeit, doch anstatt dies herauszustellen, sprechen sie lieber von Anna Seghers und Walter Benjamin. Noch einmal zitiert Theuring die Sätze aus Benjamins letzter Arbeit „Über den Begriff der Geschichte“, die er unvollendet hinterließ, als er sich auf der Flucht vor der Verfolgung durch die Gestapo im spanischen Portbou an der französischen Grenze das Leben nahm. Dann verdunkelt sich der Raum, der eher Konferenzsaal als einem Kino ähnelt und der Film nimmt seine Bewegung auf.

Diese Bewegung nimmt allerdings ihr baldiges Ende, als die englischen Untertitel stoppen. Murmelnde Aufregung verteilt sich zwischen den Reihen. Der Film muss angehalten werden, der Projektor neugestartet. Eine Pause, sengende Hitze und einen Kaffee später, beginnt der Film von Neuem. Das unausgesprochene Einverständnis mit dem Kino, das in diesen Tagen in Bologna wie ein Ritual zelebriert wird, ist verloren gegangen – ist gebrochen, ebenso wie die raunende Ahnung, die diesen Film umgibt. Das Publikum verhält sich jetzt anders, es ist vielleicht pikiert, aber auch desillusioniert, was die Erfahrung von Geschichte im Kino als eine Geschlossene betrifft, gerade an dem Punkt, an dem die Vorrede des Films endet.

Schnell gerät die Unterbrechung unter dem dicken Mantel der Erzählung allerdings wieder in Vergessenheit. Der Erzählung, die eher dem Anhäufen von Gedanken entspricht und von der suchenden Bewegung durchkreuzt wird. Wiederholende Fragen in leichten Variationen treiben die Bewegung an. Wo sind wir? Der Film versucht sich so, Orientierung im Dickicht unbeschreiblicher Erfahrungen zu verschaffen. Darin sucht er nicht nach einem Bild, sondern vor allem nach Sprache. Die Bilder, die der Film zeigt, besitzen dahingehend keinen Ausdruck. Eher ließe sich sagen, sie materialisieren die Suche: Meist in Fahrten direkt aus dem Auto aufgenommen oder in Panoramaschwenks, tastet die Kamera eine Landschaft nach hinterlassenen Spuren ab. So sehen wir Flüsse, die von Brücken überquert werden, Ruinen zerstörter Städte, deren Bewohner ermordet wurden und immer wieder Straßen, die sich durch die Umgebung schlängeln. Der Film nähert sich so allmählich der titelgebenden Chiffre des Romans von Anna Seghers Transit an, jedoch ohne dies für sich zu beanspruchen. Wie Engström und Theuring zu Beginn klarstellen, handelt es sich nicht um eine Adaption, sondern um ein Leitmotiv. Das könnte so viel heißen, dass sie allenfalls Seghers Schriften verwenden, um sich an etwas anzunähern, das dem zwar abstrakt erfahrbar vorhanden ist, aber sich ebenso von seiner Konkretisierung distanziert. Auf einmal erscheinen die Namen des Regiepaars und der erste Teil des Films nimmt sein Ende.

Überwältigt und desorientiert von den Fragen sitzt man nun im Dunkeln, als unvermittelt der zweite Teil beginnt. Die Bilder des Jahres 1977 haben keine Geschichte, heißt es. Wir sind nun angekommen in Marseille, aber der Film setzt erneut eine Suche an. Eine Suche in der Stadt des Exils, die keinen Abschluss liefern wird, weil sie es nicht kann. Es läuft geradezu dem Exil zuwider, das nur am Anfang sein Ende nehmen kann. Für einen Moment folgen wir der Geschichte Walter Benjamins bis auf den Friedhof Portbous. Der Blick richtet sich auf einen Güterbahnhof und dann auf das schweigende Meer. Die ausweglose Situation, von der Benjamin in seinem letzten Brief schwermütig berichtete, prallt auf die trügerische Weite. Zwei Jahre nachdem sich Benjamin das Leben nahm, stößt die Wehrmacht an die französische Mittelmeerküste vor. In solchen Augenblicken wird sich der Film seiner eigenen Sprachlosigkeit wieder bewusst. In dem uraltem Hafengeschwätz Marseilles scheint diese unbegreifliche Geschichte verborgen zu liegen, aber sie verliert sich im Gewirr der Stimmen. Ein letztes mal stellt sich der Film die Frage: „Wo wir sind wir?“. Wir sind am Ende des Films und befinden uns im Jetzt, dem Jetzt des Jahres 1977 wie auch dem des Jahres 2021. Die Frage des Ortes ist nun eine der Zeit.

In ähnlicher Weise wie der Film um eine (seine?) Sprache ringt, geht es auch mir. Zu vieles blieb hier unerwähnt, was die Eigensinnigkeit dieses dreistündigen Werks ausmacht. Ich glaube aber, dass sich darüber hinweg sehen lässt. Dieser Film liegt seitab von jenem totalitären Anspruch, alles in ihm enthaltene aufsaugen und wiedergeben zu müssen. Fluchtweg nach Marseille verstehe ich so eher in der Form des Umgangs mit einer Landkarte. Wir sind daran gewöhnt, sie zu öffnen und uns einen groben Überblick zu verschaffen. Sich zu orientieren, sie zu lesen oder sie zu verschließen, stellt die größere Herausforderung dar, vor allem dann, wenn Wege verschwinden und neue entstehen. Ich frage mich, wie es vorstellbar ist, diesen Film zu restaurieren. Versucht sich der Film nicht vehement davon loszusagen, nur eine Zeile in der Chronologie eines Geschichtsbuch, nur eine weiterer Beitrag zum gegenwärtigen Bewusstsein zu werden? Notwendigerweise müssen Restauration und Gegenwart zueinander Distanz wahren, um für sich begreifbar, also unterscheidbar zu bleiben. Aber bei diesem Film bin ich mir nicht sicher. Kein anderer ist geeigneter und ungeeigneter dafür zugleich.

Das Untertitel-Problem hat in seiner häretischen Weise verdeutlicht, dass der Film nicht nur einfach an der Sprache operiert, sondern ebenso eine Übersetzungsarbeit leisten muss, übersetzen zwischen Sprachen wie zwischen den Zeiten. Der Film nimmt sich am Ende des zweiten Teils Walter Benjamins Gedanken zum „Autor als Produzent“ an. Er entwickelt damit rückblickend seine eigene Denkform. Es wäre in dieser Hinsicht eine Überlegung wert, der Arbeit des Restaurierens, Benjamins Überlegungen über „die Aufgabe des Übersetzers“ beizulegen. Das hieße, den Film ins Jetzt zu retten, ohne ihm ein mythisches Denkmal zu setzen. Wahrscheinlich müsse die Restauration dazu zur Sprache des Films durchdringen und diese bewahren.

Viennale 2018: Îmi este indiferent daca în istorie vom intra ca barbari von Radu Jude

Îmi este indiferent daca în istorie vom intra ca barbari von Radu Jude

In der Wohnung der Theaterregisseurin Mariana Marin in Radu Judes Îmi este indiferent daca în istorie vom intra ca barbari steht das Buch The Crime and the Silence von Anna Bikont recht prominent platziert auf einem Tisch. Darin geht es um das polnische Massaker an Juden in Jedwabne 1941, das die Autorin mit einer Mischung aus historischen Berichten und einem Recherchejournal vergegenwärtigt. Um eine ganz ähnliche, auch strukturell verwandte Vergegenwärtigung geht es auch in Radu Judes neuem Film. Der Titel geht zurück auf ein Zitat von Ion Antonescu aus dem Jahr 1941. Der „Staatsführer“ Rumäniens während des Zweiten Weltkriegs war einer der Hauptverantwortlichen für die ethnischen Säuberungen und Massaker an Juden in Rumänien. Es ist ein Kapitel der Geschichte, über dem lange Zeit ein Mantel des Schweigens hing, auch weil Antonescu eine postsozialistische Rehabilitierung erfuhr. Jude filmt in mal scheinbar dokumentarischen und mal hochfiktionalen Sequenzen den Versuch von Mariana subversiv die Verbrechen an den Juden in eine Performance zu integrieren, die sich mit Hilfe des Bukarester Rathauses auf einem Stadtplatz mit der rumänischen Geschichte auseinandersetzen soll.

Doch Radu Jude, der sich in den letzten Jahren als Autor und Chronist einer verdrängten und bisweilen schamvollen Geschichte seines Landes etabliert hat, gibt sich genauso wenig wie seine Protagonistin mit einer bloßen Wiedergabe dieser unter den Teppich gekehrten Realitäten zufrieden. Schließlich hängt unweit des Tisches mit dem Buch in der Wohnung Marianas auch Paul Klees Angelus Novus an der Wand, über den der ehemalige Besitzer des Buches Walter Benjamin in seinem berühmten Text Über den Begriff der Geschichte schrieb:

„Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“

Îmi este indiferent daca în istorie vom intra ca barbari von Radu Jude

Judes Film ist eine Referenzkammer. Immer wieder führt ein Zitat, eine filmische oder fotografische Quelle, eine Überlegung, ein Dialog in einen neuen Konflikt. Beispiele dafür sind heroisch-nationale Bilder der Befreiung Odessas (dort, wo das Massaker an Juden stattgefunden hat), ein Film von Sergiu Nicolaescu, antisemitische Sprüche auf Plakaten oder Texte von Giorgio Agamben, Isaac Babel sowie von Antonescu selbst. Dieses Vorgehen macht immer wieder bewusst, dass Geschichte nicht gegeben, sondern konstruiert ist. Bereits in seinem Aferim! hat der Filmemacher vermittelt, dass die Wahrnehmung von Geschichte immer gelenkt ist. Der Film bestand zu größten Teilen aus Zitaten aus der rumänischen Literatur. Geschichte als Konstrukt, Geschichte als Fiktion; in Îmi este indiferent daca în istorie vom intra ca barbari geht er noch einen Schritt weiter. Dabei verheddert sich Jude weder im Diskurs noch in der Realität, sondern balanciert mit erstaunlicher Leichtigkeit dazwischen.

Es geht Jude um die Arbeit an der Vergegenwärtigung. Darin findet dann sowohl die Repräsentation statt als auch deren Brechung in ein Jetzt. Beim Abarbeiten an der Geschichte fallen Späne auf den Boden, die von der Gegenwart in der Geschichte erzählen. Dass der Film dafür hier und da beinahe didaktisch daherkommt, ist notwendig. Es gibt hier eine Warnung, eine Verzweiflung und eine dringliche Souveränität der Argumente. Wenn jemand mit dem Zeigefinger auf etwas zeigt, was jeder sehen sollte, ist das immer bestimmend. In der Begegnung mit der Geschichte gibt es eine oberflächliche Ebene, jene der Nostalgie, der Klischees, der Ästhetik, der vorgeschobenen Genauigkeit, des beiläufigen Humors und sich zunickenden Konsens, und sie trifft in diesem Film auf eine aufrichtige Ebene, eine des Nachfragens, des Nicht-Glaubens, der Neugier, des Wissens, des Aufzeigens. Im Kino wird dieser Konflikt oft im Gegenüber aus „authentischer“ Repräsentation und analytischer Brechung verhandelt. Dieser so relevante Konflikt schlägt im Herzen von Îmi este indiferent daca în istorie vom intra ca barbari und entfesselt anhand der jungen Theaterregisseurin Mariana eine Kaleidoskop aus Verklärung, Aufklärung, Ignoranz und Idealismus. Wie in diesem Jahr vielleicht sonst nur Ruth Beckermanns Waldheims Walzer legt der Film ganz offen seinen Finger in die Wunden und Fragen unserer Zeit: Wie sich mit Geschichte befassen? Wie halten wir bestimmte Verbrechen im Bewusstseins? Wie stark wiederholen sich die geschichtlichen Muster und wie kann man als Künstler oder Künstlerin damit arbeiten? Am Ende des Films zeigt Jude Menschen, die dem hochkritischen Theaterstück folgen und sich dennoch beinahe blind in eine Nostalgie begeben. In Interviews äußerte der Filmemacher, dass es ihm mit seinem Aferim! ganz ähnlich ergangen wäre. Auch in Österreich erlebten ich einen zumindest für mich etwas merkwürdigen Nostalgieschub in den Publikumsgesprächen nach Waldheims Walzer. Selbst in einem so klar nicht-illusionistischen Film gibt es scheinbar einen Raum, der durch das Kino in Zeiten transportiert und Gefahr läuft notwendige Distanzen zu überbrücken.

In bisweilen komischen und schockierenden Szenen trifft die in ihrer trotzigen Lässigkeit bewundernswerte Regisseurin früher im Film auf Zweifelnde, Kritisierende und Rückgratlose. Sie hat eine idealistische, moralische, nach Wahrheit suchende Ausrichtung, aber die Mitarbeiter wollen nur ein bisschen Geld verdienen. Selten hat man die Farce und das Loch, das sich zwischen einem relevanten Vorhaben und der Rezeption beziehungsweise Arbeit daran auftut so schmerzvoll gesehen. Mit welchen Hindernissen und Widersprüchen sich die Regisseurin auseinandersetzen muss, ist bisweilen absurd, manchmal traurige Wahrheit. Jedoch geht es hier niemals um ein allwissendes Gegenüberstellen von Richtig und Falsch. Stattdessen etabliert Jude mit der erstaunlichen Figur Movila, einem Beamten des Bukarester Rathauses, eine philosophische Ebene, die festgezurrte Wahrheiten ins Wanken bringt. Er vertritt in brillanter Eloquenz die dominante Stimme der Kulturindustrie, des Anti-Subversiven, funkelnd und mit widerwärtiger Selbstgerechtigkeit changieren seine Argumente in den spektakulären Dialogen mit Mariana zwischen Verblendung und Wahrheit. Man hat das Gefühl, dass Jude hier auch immer wieder auf Diskurse aus der rumänischen Öffentlichkeit zurückgreift, die einem internationalen Publikum entgehen. Das wirkt aber nicht weiter schlimm, weil die Diskussionen zwischen moderner Zensur, öffentlichen Geldern, Geschichtsaufarbeitung, Kritik und Ideologie wohl überall mehr oder weniger große Rollen spielen.

Îmi este indiferent daca în istorie vom intra ca barbari von Radu Jude

Der Film bricht seine eigene Illusion, schafft aber wiederum eine Illusion, die politische Intervention attraktiv erscheinen lässt bis sie schließlich in trauriger Wirkungslosigkeit verpufft. Es geht hier nicht um einen brecht’schen Ansatz, sondern darum den Fokus von der Repräsentation auf die Repräsentierenden zu legen. Die Energie der Kamera und der Protagonisten zwischen Büchern, Inszenierungen und Streitereien erinnert wie Veronica Lazăr und Andrei Gorzo richtig bemerkten an den politischen Modernismus von Miklós Jancsó bis Jean-Luc Godard. Das zeigt sich zum Beispiel darin, dass von Anfang an klar ist, dass man einem Film zusieht. Hauptdarstellerin Ioana Iacob sagt uns, nachdem wir die Klappe, den Tonmann und weitere Elemente des Drehs erblicken, dass sie Mariana Marin spielen würde. Diese wäre im Gegensatz zu ihr eine Atheistin. Mariana Marin ist auch der Name einer rumänischen Poetin, die in einem ihrer Gedichte schrieb, dass sie durch ihr Heimatland eile, als wäre morgen bereits gewesen. Obwohl sich Iacob traurig darüber zeigt, dass sie nicht die Poetin spielen würde, scheint ihre Kampf zwischen Enthusiasmus und dem Druck des Schweigens durchaus gewisse Verwandtschaften mit dem Leben und Werk der Poetin im Ceauşescu-Regime zu haben.

Bleibt noch etwas über die Freude zu schreiben mit der sich der Film all dieser Heftigkeit widmet. Jude zelebriert sein Kino hier mit einer schwebenden Wucht, die nichts mit der bemühten Intellektualität zu tun hat, mit der man über den Film schreiben muss. Immer wieder rutschen Szenen ins Komische oder Absurde und bis zum Ende gibt es einen gewissen Schauwert, der mit großer Farbenpracht und Schauspielermomenten zu tun hat. Am Ende dann findet man sich in einer Präsenz, die es so sehr selten gibt in historischen Filmen. Mit offensichtlich niedrigerer Bildqualität filmt Jude die Performance am Stadtplatz. Es wirkt so, als wäre es eine Live-Mitfilmung. Die Kamera zeigt die Gesichter der Zusehenden und man ist sich nicht sicher, ob es sich um Statisten handelt oder Menschen, die tatsächlich dem historischen Schauspiel beiwohnten. Durch diese Unsicherheit und das plötzliche stilistische Einbrechen einer sogenannten „dokumentarischen“ Ebene wird einem ähnlich wie am Ende von Inimi cicatrizate die Vergegenwärtigung in Bildern gezeigt. Jude findet dadurch einen Weg die Denkprozesse zu einem puren Filmerlebnis werden zu lassen, seinen Film denken zu lassen.

Was also haben wir hier? Eine Ohnmacht vor der Geschichte? Oder doch ihre gelungene Neu-Verhandlung, ihre Vergegenwärtigung? Es ist ambivalent und wirkt sehr verletzlich in der offensiven und doch ambivalenten Art, in der Jude seine Protagonistin auf Realitäten prallen lässt. In Wien wird derzeit jeden Donnerstag gegen die Regierung demonstriert. Ob in dieser notwendigen Erhebung einer demokratischen, nicht-einverstandenen Stimme jedoch ein Optimismus vernehmbar ist, ob es sich um zielgerichtete, geteilte Aktionen handelt oder letztlich nur um hoffnungslose Wiederholungen bekannter Demonstrationsformen sei dahingestellt. Wie sehen die Bilder aus, die wir von diesen Ereignissen machen? Wie kann sich ein Protest in künstlerischer oder gesellschaftlicher Form manifestieren, der mit den Mitteln seiner Zeit arbeitet und nicht Modi der 68er übernimmt? Die Bedeutung von Îmi este indiferent daca în istorie vom intra ca barbari liegt genau in diesen Fragen, die auf der einen Seite klar in rumänischen Konflikten (etwa argumentative Annäherungen zwischen Kommunismus und Faschismus, die in Deutschland schwer denkbar wären) verhandelt werden, aber auch – das zeigen auch die Zitate des Films – universell relevant sind.

A Spoonful of Sugar: Fuocoammare von Gianfranco Rosi

Fuocoammare von Gianfranco Rosi

Im letzten Drittel von Gianfranco Rosis Fuocoammare wird in einer langen Sequenz gezeigt, wie ein im Meer treibendes Flüchtlingsboot evakuiert wird. Die Kamera befindet sich dabei zunächst auf einem der Beiboote, das von den größeren Schiffen der italienischen Küstenwache zu Wasser gelassen wurde. Die entkräfteten Menschen werden von den Helfern aus dem überfüllten Boot geborgen und mit den Beibooten zum Schiff gebracht. Später sieht man, wie die Flüchtlinge medizinisch erstversorgt und amtlich registriert werden. Nach endlosem hin und her zwischen Flüchtlingsboot und Rettungsschiff ist die Evakuierung abgeschlossen und nur mehr die Leichen jener, die die Tortur im stickigen Laderaum nicht überstanden haben, sind zurückgeblieben. Dann ist die Zeit gekommen und Rosi steigt mit seiner Kamera selbst in den Rumpf der schwimmenden Todesfalle hinab. Für diese Sequenz hat Rosi einen idealen Drehtag ausgesucht: das Boot in seiner ganzen farbenfrohen Pracht liegt bei Sonnenschein auf stiller See, im Laderaum werden die Leichen von gedimmten Licht ins ästhetisch rechte Licht gerückt.

Es ist vermutlich falsch, eine bestimmte Inszenierungsweise allzu schnell aufgrund ethischer Überlegungen zu kritisieren. Kritik in dieser Form endet oft in reaktionären normativen Zuschreibungen, darüber „was Kunst darf“ bzw. was sie nach Ansicht des Kritikers „nicht darf“. Im Fall von Fuocoammare ist es jedoch angebracht näher zu betrachten, wie sich der Anspruch von Weltbezug und die Verliebtheit in die eigenen Bilder (man könnte auch sagen der Ästhetizismus) zueinander verhalten. Fuocoammare entstand als Versuch einer Gegenüberstellung vom Leben einiger Bewohner Lampedusas, deren Leben kaum von der humanitären Tragödie in ihrer unmittelbaren Nähe beeinträchtigt wird, und dem Schicksal der Flüchtlinge, die Stunden und Tage in Lebensgefahr verbracht haben, um in ein Europa zu gelangen, das nicht so recht weiß, wie es mit ihnen verfahren soll. In der Theorie scheint das ein innovativer Weg zu sein neue Perspektiven auf die Welt zu gewinnen, um besser verstehen zu können, was die Flüchtlinge dazu bewegt unendliche Strapazen auf sich zu nehmen, im Wissen ihr Ziel womöglich nie zu erreichen, aber auch um Einblick zu bekommen in dieses wenig bekannte Randgebiet der Europäischen Union, wo Idealismus und Bürokratie einen unerbittlichen Zweikampf austragen. Leider bleibt der Film ein großes Versprechen, das nie eingelöst wird und das liegt zum größten Teil daran, dass Rosi augenscheinlich kein Interesse an der Welt hat, sondern narzisstisch an seinen Bildern hängt. Diese Diagnose trifft gleichermaßen auf beide Erzählebenen zu.

Fuocoammare von Gianfranco Rosi

Gleich zu Beginn des Films wird der neunjährige Samuele eingeführt, wie er sich eine Steinschleuder bastelt. Er ist die zentrale Figur des Films, ein durchschnittlicher, aufgeweckter und leicht exzentrischer Junge. Die Kamera folgt ihm als er mit seiner Schleuder Jagd auf Vögel macht, Kakteen zu Zielscheiben zurechtschnitzt und seinen Vater beim Fischen begleitet. Als Erwachsener möchte Samuele selbst einmal zu See fahren, weshalb er im Hafen das Rudern übt. Auf einer seiner Übungsfahrten mit dem Ruderboot wird er von Rosis Kamera begleitet. Unter Aufsicht eines älteren Schulkollegen zeigt er sich zwar bemüht, stellt sich aber nicht allzu geschickt mit dem Ruder an. Es folgt ein harter Cut und man sieht Samuele, wie er zwischen zwei der Schiffe der italienischen Küstenwache gelangt ist, die tagtäglich auf der Suche nach Flüchtlingsbooten das Meer um Lampedusa durchkreuzen und hier im Hafen vor Anker liegen. Mithilfe des Freundes kann er sich aus seiner misslichen Lage befreien, doch es bleibt unklar, wie er überhaupt in die Nähe dieser Schiffe gelangen konnte, um so plakativ das Verhältnis von Zivilbevölkerung und Flüchtlingshilfe, von Land und Meer zu veranschaulichen. Der dokumentarische Realitätseindruck, der vom Film angestrebt wird, um ein Gefühl der Unmittelbarkeit zu erzeugen, wird wiederholt durch solche grobschlächtig inszenierten Einschübe unterbrochen. Ein anderes Mal zeigt der Film einen Harpunenfischer, der eine Steilküste überwinden muss, um zum Meer zu gelangen. Die Kamera ist ihm dabei immer schon voraus (selbst als er ins Wasser eintaucht), der Taucher folgt quasi den Bedürfnissen der mise-en-scène, die Welt ordnet sich dem Bild unter. Es scheint, als traue Rosi der Welt nicht zu für sich selbst zu sprechen (oder er misstraut seinen eigenen Fähigkeiten als Beobachter), weshalb er sich genötigt fühlt, immerzu Pointierungen einzufügen, um seinen Punkt klar zu machen. Das Potenzial „dokumentarischer Unmittelbarkeit“ Raum für Ambivalenzen offen zu lassen und die Deutungshoheit an den Zuschauer abzugeben wird durch solche Pointierungen freilich zunichtegemacht, das bildgestalterische Streben nach unmittelbarer Welterfahrung entpuppt sich als leere Geste.

Fuocoammare von Gianfranco Rosi

Mit der Inszenierung der Flüchtlinge verhält es sich nicht anders. Wie schon Mary Poppins wusste, hilft ein Löffel Zucker, um bittere Medizin zu schlucken, folgerichtig wird jeder Einbruch der Realität, jeder Hammerschlag des Schicksals durch Ästhetisierung abgeschwächt: im überfüllten Flüchtlingslager wird Fußball gespielt und gesungen, das im Meer treibende Flüchtlingsboot schillert in prächtigen Farben, die Leichen werden in samtenes Dämmerlicht gehüllt. Die unendliche Ungerechtigkeit, das unfassbare Elend dieser Menschen geht in dieser Weichzeichnung ebenso verloren wie die unbändige Macht des Realen – alles wirkt stattdessen „wie im Film“. Fuocoammare formuliert den Anspruch „die Welt zu zeigen“, indem er bewusst den Alltag von Bewohnern Lampedusas und den Alltag der Flüchtlinge, wenn man ihn so nennen kann, gegenüberstellt. Der Film möchte durch diese Konfrontation eine emotionale Reaktion hervorrufen und setzt dabei auf Mittel der Fokalisierung und Narrativisierung, die schlussendlich die Bilder und deren Weltbezug ersticken: wo ist der Unterschied zwischen der Bergung des Flüchtlingsboots wie Rosi sie inszeniert und einer ähnlichen Szene in einem Spielfilm? Jede Form von Unmittelbarkeit wird hier durch inszenatorische Kunstgriffe abgeschwächt, die Farben, das Licht, die Kadrierung, der Schnittrhythmus zwischen Szenen aus dem Beiboot und Szenen der Erstversorgung auf dem großen Schiff – das alles sind bewusste Entscheidungen, um das Material in formelhafte Schablonen zu pressen und an medial eingeübte Muster anzuschließen. Das soll nicht heißen, dass Fiktionalisierung, Fokalisierung und Narrativisierung in einem Film mit dokumentarischem Anspruch keinen Platz haben (ganz im Gegenteil), die Frage ist nur auf welche Art und Weise man diese Mittel einsetzt. Bevor die Kinovorführung losging habe ich Einbahnstraße von Walter Benjamin gelesen. Benjamin ist ein meisterhafter Beobachter, der im Stande ist seine Beobachtungen in poetischen Allegorien und Metaphern auszudrücken, in Einbahnstraße oder auch in seinen Städtebildern wird das besonders deutlich. Diese Transferleistung gelingt Fuocoammare nicht, der Film formuliert seine politische/humanistische/künstlerische Botschaft nicht aus dem Material heraus, sondern zwingt sie ihm auf, die Beobachtung dient nur mehr als Mittel zum Zweck (mit größerem Budget könnte sie durch sorgsam orchestrierte Sets, Kostüme und Statisten ersetzt werden). Es ist also symptomatisch, dass ein Film wie Fuocoammare den Hauptpreis eines Festivals (der Berlinale) gewinnt, dass nicht verstanden hat, dass das (politische) Potenzial von Film nicht darin liegt eine Idee filmisch zu illustrieren, sondern vielmehr darin filmisch eine (politische) Position zu formulieren.

Trouble Features – Schwitzkästen des Politischen im Kino

Dieser Text erschien erstmals im Syn – Magazin für Theater-, Film- und Medienwissenschaft (#8, 2014). Er bildet die theoretische Grundlage für eine vom Autor mitgestaltete, experimentelle Vorführungsreihe im Wiener Schikaneder-Kino, bei der Filme gegeneinander programmiert werden, die ästhetisch, thematisch oder anderswie im Clinch miteinander liegen – ohne dass dem Publikum im Vorfeld verraten wird, was es zu sehen gibt.

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Eine Reihe jüngerer politischer Theorien, deren Politikverständnis unter dem Begriff der radikalen Demokratie gefasst werden könnte, betrachtet das Politische in Differenz zur regulativen Politik als das Moment, in dem anerkannte Ordnungsstrukturen in Frage bzw. in ihrer Zufälligkeit, Unvollkommenheit und Veränderbarkeit bloßgestellt werden(1). Für Chantal Mouffe etwa ist „jede Gesellschaft das Produkt einer Reihe von Verfahrensweisen, die in einem Kontext von Kontingenz Ordnung herzustellen versuchen“(2) und basiert folglich auf einer „Form von Ausschließung. Es gibt immer andere unterdrückte Möglichkeiten, die aber reaktiviert werden können“(3). Die Reduktion auf eine total inklusive Hegemonie und die restlose Tilgung von Antagonismen, wie sie der Liberalismus anstrebt, ist daher illusionär und würde einer Eliminierung des Politischen gleichkommen. Es geht im Gegenteil um die Anerkennung der Tatsache, dass Politik eben kein bloßer „Austausch von Meinungen [ist], sondern ein Streit um Macht“(4), weshalb eine wahrhaft pluralistische Gesellschaft im Bewusstsein der Unhintergehbarkeit dieses Streits nach Wegen suchen sollte, auf Auslöschung von Feind_innen ausgerichtete ‚Antagonismen‘ in ‚Agonismen‘ zu überführen, die auf ein legitimes wie regelhaftes Kräftemessen zwischen Gegner_innen orientiert sind. In Mouffes Vorstellung einer radikalen Demokratie kommt es nie zu einer restlosen Verwirklichung derselben, bloß zur instabilen, vorübergehenden Verfestigung ‚hegemonialer Formationen‘ – rudimentäre Fixierungen bestimmter Ordnungen, Diskurse und artikulatorischer Praxen – für deren agonistische Gegenüber- und Infragestellung es Orte geben muss.

Theoretisch wäre das Kino nun ein ebensolcher Ort: Jeder Einzelfllm bildet, zählt man ihn als ästhetische Einheit(5), einen diskursiven Vorschlag, der in seiner speziflschen künstlerischen Ausgestaltung den Betrachter_innen eine bestimmte Weltsicht oder gar eine eigene Welt präsentiert, die beurteilt und mit anderen Vorschlägen oder der individuellen Subjektpositionierung verglichen werden kann. Es ermöglicht den Zuschauer_innen, die hegemoniale Formation, deren Teil sie sind, für die Dauer des Films zu einer anderen, utopischen, streitbaren in Bezug zu setzen, oder ihren Blick schlicht auf Unversöhnlichkeiten zu lenken, die an den Rand der öffentlichen Wahrnehmung gedrängt worden sind. Demnach wäre das politische Kino nicht die Friedenspfeife einer Konsensgesellschaft, sondern ein Podium für Konflikte, Widersprüche und Aporien aller Art – trouble im besten Sinne. Die Möglichkeiten des fllmischen Mediums, solche Reibereien anzuzetteln und ins Bild zu rücken, sind mannigfaltig und können in Form und Inhalt zur Geltung kommen. Dabei kann es sich schlicht um die narrative Darlegung eines alternativen Gesellschaftsmodells handeln, wie man sie oft in Science-Fiction-Filmen antrifft, das thematische Aufgreifen und künstlerische Aufarbeiten eines verdrängten Streitpunkts der Zeitgeschichte, oder aber die Konfrontation mit einer Ästhetik, deren Gestaltung und Wirkungsweise von der herrschenden Norm abweicht und damit deren Willkürlichkeit kenntlich macht. Überdies hat die Kinoerfahrung trotz aller Entwertungen, denen sie im Wandel der Zeit unterworfen war, als Vermittlungsinstanz immer noch einen Sonderstatus innerhalb der zeitgenössischen Medienlandschaft inne, wenn es um die Verbindlichkeit seiner Rezeption geht. Das Kino macht es einer_einem schwerer als gewohnt, sich abzuwenden und dem Streit mit dem Bild, dem Streit im Bild oder dem Streit der Bilder untereinander aus dem Weg zu gehen. Während die meisten technologisch fundierten Kommunikationskanäle der Gegenwart den Rezipient_innen in der einen oder anderen Form die Zügel in die Hand gegeben haben, behält es sich weiterhin ein minimales Maß an Autonomie ein. Jede_r Kinobesucher_in begibt sich gewissermaßen in die Obhut eines räumlichen Dispositivs, sie_er überantwortet einen Anteil ihrer_seiner Entscheidungs- und Handlungsmacht der Projektion, und obwohl sie_ihn niemand dazu zwingen kann, bis zum Abspann sitzen zu bleiben, ist der physische wie psychische Aufwand, aus der Schauanordnung herauszutreten, wesentlich höher als im Privaten, wo meist ein Mausklick reicht. Dies ist einerseits bedingt durch den psychologischen Einsatz, den man durch den bewussten Aufbruch ins Kino und üblicherweise auch den Kauf eines Tickets erbringt, aber ebenso wichtig ist der teilöffentliche Charakter einer Filmvorführung, die eine_n im Publikumspanoptikum unter permanente Selbstbeobachtung stellt. Hinzu kommt die symbolische Beschlagnahmung des sensorischen Apparats durch Raum und Technik: die Fixierung des Körpers, die Fokussierung des Blicks, die Orientierung der Aufmerksamkeit auf das Leuchten der Leinwand im Dunkeln. Insofern geht die_der Kinobesucher_in stets ein Risiko ein, das letztlich trotz mannigfaltiger Absicherungsoptionen unabweislich bleibt: die Gefahr der Konfrontation mit dem Unerwarteten oder Unangemessenen und daraus resultierenden kognitiven Dissonanzen, deren Bereinigung oder Verarbeitung eine physische (das Verlassen des Kinosaals) oder psychische (die Auseinandersetzung mit dem Gesehenen) Leistung erfordert(6). In dieser Hinsicht ist das Guckkastenbühnen− und Musiktheater als bindende Schau−Stellung zwar vergleichbar, seinen populären Charakter hat es aber längst an das Kino verloren, das sich seit seiner Geburt an alle wendet, die sehen wollen. Dass das Politische im Kino zum Ausdruck kommen kann, will ich also nicht in Abrede stellen. Aber die kulturellen Verhältnisse liberaler Gesellschaften wirken wie Prellböcke für seine Wirkung, was ich im Weiteren etwas ausführen möchte.

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Um mit Jacques Rancière zu sprechen: Ein zentrales Problem des Kinos liegt darin, dass es nicht imstande ist, die Einbringung der Voraussetzung der Gleichheit eines jeden ästhetischen Vorschlags mit jedem anderen ästhetischen Vorschlag zu gewährleisten, weil es selbst innerhalb einer größeren kulturellen Formation operiert(7). Der Kampf der Bilder ist geschoben, die Verteilung der Wertigkeiten bereits vollzogen, bevor man überhaupt in den Ring steigen kann, denn ‚das Kino‘ als egalitäre Agora, in der alle Hierarchien fallen und die Parteien sich auf Augenhöhe begegnen, gibt es nicht. Statt dessen gibt es strikt voneinander getrennte, ökonomisch determinierte Kinodomänen mit ihren jeweiligen Funktionen, die innere Geschlossenheit vortäuschen: Das Multiplex ist für Unterhaltung zuständig, das Arthaus- und Programmkino für Kunst und sozial relevante Themen, das Filmarchiv und -museum für Filmgeschichte, d. h. alte Filme, und das Festival dient als Auffangbecken für nicht marktgängige Nischenproduktionen. Dies sind nicht nur die begriffiich diffusen Zuschreibungen, von denen die Erwartungshaltung geprägt ist, die Vorzeichen, unter denen die Wahrnehmung beim Betreten der Säle steht. Es sind auch die Kategorien, nach denen der Weltkinopool parzelliert wird: Jeder Film kommt seiner Beschaffenheit entsprechend in ein Becken mit seinesgleichen, so dass Konflikte oder Überraschungen ausgeschlossen werden – jedem Tierchen sein Pläsierchen. Innerhalb dieser Kategorien regiert in der Regel durchaus Gleichheit, aber als Gleichmacherei, die jeglichen Dissens zu vermeiden sucht; Gleichheit im Sinne Rancières ist aber etwas, das nie erreicht werden kann. Sie ist nicht das Ziel, sondern wie schon gesagt eine Voraussetzung, der abwesende, imaginäre Ausgangspunkt politischer Auseinandersetzungen, aus denen etwas Neues entstehen kann.

Kommt es doch zu Überschneidungen und Verschränkungen zwischen den Domänen, wenn ein Film also seinen ihm zugewiesenen Platz verlässt und aus irgendwelchen Gründen an einen Ort kommt, an den er nicht gehört, sind Konflikte vorprogrammiert und können zu bezeichnenden Gegenstrategien seitens der Ordnungshüter_innen führen. Ein schönes Beispiel hierfür wäre Terrence MaliKs von klassischer Narration drastisch abweichender Tree of Life(8), der kraft seiner Starbesetzung in vielen Multiplex- und Programmkinos anlief und dort reihenweise für Empörung sorgte, sodass ein Betreiber in Connecticut sich genötigt fühlte, an der Kassa einen Warnhinweis zu affichieren(9). Man könnte den Spieß auch umdrehen: Die Kür eines Blockbusters zum Eröffnungsfllm eines kleineren Filmfestivals würde zweifellos Unkenrufe ernten. Solche Transplantationen sind im Sinne des radikalen Demokratiekonzepts durchaus politisch, aber ihr Zustandekommen ist in der zeitgenössischen Vertriebslandschaft zumeist von einer wenig wahrscheinlichen Verkettung glücklicher Umstände abhängig und daher eine Seltenheit. Man muss außerdem davon ausgehen, dass die polizeiliche Logik in der Terminologie von Rancière, also jene „strenge Konflguration des Verhältnisses zwischen der Ordnung des Diskurses und der Ordnung der Körper […], die verschiedenen Wesen [und Ästhetiken, Anm.] verschiedene Räume anweist“(10), im Kinosaal weiterwirkt und sich womöglich gerade dort, entgegen etwaigen Eskapismustheorien, am Stärksten entfalten kann. Die_der Zuschauer_in wird im Falle einer Konfrontation mit einer ästhetischen Formation, die für sie_ihn „das als Diskurs hörbar macht, was nur als Lärm vernommen wurde“(11), – oder auch nur kraft ihrer Andersartigkeit auf die Kontingenz ästhetischer Hegemonien verweist – zwar provoziert, kann die Provokation aber in Folge ohne viel Auhebens ausblenden, da eine grundlegende Trennung aufrecht erhalten bleibt: die Trennung der Kinovorstellungen untereinander. Zwar kann es irritieren, wenn man ins Multiplex geht und dort einen Avantegardefllm vorgesetzt bekommt, und selbstverständlich will ich nicht behaupten, dass diese oder eine ähnliche Irritation für die_den Rezipient_in folgenlos bleiben muss, aber es gibt, und das ist das Entscheidende, keinerlei eindeutigen Ansporn, sie als etwas anderes zu registrieren als eine Anomalie, eine regelbestätigende Ausnahme, einen verschmerzbaren Systemfehler. Man sieht etwas, das eine andere Position einnimmt, als jene, die man gewohnt ist, aber der resultierende Skandal ist hintergehbar. Zum einen, weil man sich letztlich selbst die Schuld dafür gibt: Das Kino wird in Verleugnung der „entscheidenden Rolle der ökonomischen Macht bei der Strukturierung einer hegemonialen Ordnung“(12) als Instanz mit beschränkter Intentionalität begriffen, als Warenhaus mit Produkten zur freien Auswahl, wo man auch mal danebengreifen kann, eine offene Passage unterschiedlicher, vorgeblich gleichberechtigter Visionen der Wirklichkeit „auf neutralem Terrain“(13), die nicht miteinander konkurrieren und sich somit auch nicht in Frage stellen. Alle Angebote sind unverbindlich. Zum anderen, weil das Reglement der ästhetischen Domänen im Gesamten unangetastet bleibt. So lässt sich die Konfrontation mit einer innerhalb eines bestimmten Rahmens widersetzlichen ästhetischen Artikulation leicht rationalisieren: Man dünkt sich als Fehladressat_in im ‚falschen Film‘ und ist damit einverstanden, nicht einverstanden zu sein – im Saal nebenan läuft bestimmt der richtige(14). Der Konflikt wird also nicht explizit gemacht und Lärm bleibt Lärm. Im Englischen ist diese Idee in einem Alltagsidiom prägnant auf den Punkt gebracht, das für gewöhnlich ins Feld geführt wird, wenn sich in einer Diskussion kein Konsens herstellen lässt: ‚Let’s agree to disagree.‘ Der Zwist wird zur Grundlage einer scheinbar respektvollen Übereinkunft erklärt, die jeder_jedem ihre_seine Meinung lässt. Gemeint ist aber: ‚Let’s stop arguing and politely ignore each other because actual conflict would endanger our respective identities, and we all agree that that is not an option.‘ Die Bedrohung des Konflikts kann so stets auf die lange Bank geschoben, die ideologische Erschütterung abgefedert werden.

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Damit will ich keinesfalls das politische Potential des Kinos an sich in Zweifel ziehen; im Gegenteil sehe ich dieses immer noch als außerordentlich an, in all seinen Spielarten. Aber es soll auf die Relativierung seines Status als ideologische Konfliktzone hingewiesen werden, die über seine marktlogische Unterteilung in maximal halbdurchlässige Gehege für widersprüchliche Formen und Erzählungen mit jeweils klar deflnierten Zielgruppen zurückzuführen ist. Soll das Politische im Kino wieder stärker zum Tragen kommen, geht es folglich weniger um eine Politisierung der Filme selbst als um die Wiederherstellung der Unhintergehbarkeit der Konflikte zwischen den Filmen als Weltsichten, die Fokussierung ihres Kampfes um diskursive Hegemonie. Damit zwei fllmische ‚Gegner‘ aber in ein agonistisches Streitgespräch treten können – eines, das öffentlich ausgetragen wird und damit für jede_n ZusKauer_in als solches erkennbar ist – ist „das Bestehen eines gemeinsamen symbolischen Raumes notwendig“(15), und genau das ist der Fall beim double feature, eine Rezeptionsform, die ich hiermit als Vorschlag einer Methode der Herstellung produktiven Konflikts im Rahmen einer fllmkuratorischen Praxis zur Debatte stellen möchte. Ich meine hierbei weniger das klassische US-Modell. Dieses war ökonomisch determiniert und die Filme entstammten weitestgehend ein und derselben Industrie, was sie einander anglich und das Konfliktpotential schmälerte (was natürlich nicht heißen soll, dass es darin nicht trotdem zu widersprüchlichen Kombinationen kommen konnte)(16). Ich beziehe mich vielmehr auf die zeitgenössische Form, wie man sie zuweilen bei Festivals und in Cinematheken zu sehen bekommt: bewusst kuratierte Zusammenführungen verschiedener fllmischer Positionen, die relative ästhetische Freiheit genießen in der Selektion einzelner Beiträge und mit entsprechenden Absichten zur Erregung öffentlichen Ärgernisses genutzt werden können. Meine Grundthese ist einfach: Die Vorführung zweier Filme innerhalb einer Vorstellung nötigt die Zuschauer_innen dazu, diese Filme in Beziehung zu setzen. Wenn diese Gegenüberstellung darüber hinaus in irgendeiner Weise Widersprüche offenlegt, wenn die Filme also auf einer oder mehreren Ebenen miteinander streiten, entsteht durch diesen Konflikt ein Riss in der hegemonialen Formation, die eine Kinovorstellung üblicherweise ästhetisch konstituiert und eröffnet einen Raum des Politischen. Dieser Riss wird als solcher wahrgenommen, weil es in diesem Kontext ausgeschlossen ist, dass es sich dabei um ein Versehen handelt: Das double feature der Gegenwart impliziert Intentionalität, indem es die Wahlfreiheit der Betrachter_innen unterminiert. Es ist klar, dass jemand will, dass genau diese beiden Filme zusammen gesehen und zueinander in Bezug gesetzt werden, sonst gäbe es zwei separate Vorstellungen. Die rezeptionsseitige Unterteilung in einen ‚richtigen‘ und einen ‚falschen‘ Film wird hier zunächst auf Schwierigkeiten stoßen, sofern es keine hierarchisierenden Kennzeichnungen wie A- und B-Picture oder Haupt- und Vorfllm gibt. Ein double feature ist also nicht die Anerbietung einer diskursiven Formation, sondern die Anregung, einen Schritt zurückzutreten und sich den Dialog oder Widerstreit der Diskurse, den oben erläuterten Kampf um die Vormachtstellung, zu vergegenwärtigen(17). Einen theoretischen Vorläufer dieser Konzeption findet man im dialektischen Montageprinzip, wie es von Bertolt Brecht und Walter Benjamin ventiliert wurde. Die Hervorkehrung von Kor- relationen und Gegensätzlichkeiten ist ein Eckpfeiler des brechtschen Realismusbegriffs, denn „ein Ding wird real erst, wenn es in seiner Beziehung zu einem anderen erscheint, und um so realer, je mehr Dinge zu ihm in Beziehung treten. Die Wahrheit ist nie in einem Satze zu sagen“(18). Benjamins Kommentare zur Praxis des epischen Theaters führen dieser Methodik das Wort. Erkenntnisgewinn in der Kunst sei nur möglich, wenn man fließende Handlungen in abgeschlossene Gesten unterteilt und gegeneinander montiert, denn „die Entdeckung der Zustände vollzieht sich mittels der Unterbrechung von Abläufen. […] Sie bringt die Handlung im Verlauf zum Stehen und zwingt damit den Hörer zur Stellungnahme zum Vorgang“(19). Das double feature mit seiner unübersehbaren Vorführungszäsur macht nun aus der ungebrochenen Handlung einer Kinovorstellung ein konfligierendes Gefüge, indem es die Filme selbst zu Gesten macht.

Doch selbstverständlich reicht die unreflektierte Parallelisierung zweier beliebiger Filme nicht aus, um Dissens zu schüren. Zwar beinhaltet Benjamins „Verständnis von produktiver Montage […] die fragmentierte Integration disparaten Materials. Allerdings wird es nicht willkürlich aneinandergereiht, sondern zusammengehalten durch ein Formgesetz“(20). Damit ein double feature zum trouble feature werden kann, muss dieses Formgesetz ein agitatorisches sein: Die Aufgabe der_des Kuratorin_Kurators ist dabei die Identifizierung des Konfliktpotentials zwischen zwei Filmen. Der Konflikt kann sich auf zweierlei Weise äußern. Am deutlichsten tritt er wohl zutage, wenn man Filme in eine Vorstellung packt – und so an einen gemeinsamen Ort bringt -, die ansonsten nicht miteinander in Berührung kommen würden, da das kulturelle Reglement ihre Trennung vorschreibt und sie in abgeschlossene Domänen verbannt, etwa die ungebrochene Projektion eines ‚alten‘ Films mit einem ‚aktuellen‘, eines verleihtechnischen Blockbusters mit einer verleihtechnischen Arthausproduktion, einer Industrieschöpfung mit dem Werk einer unabhängigen Einzelperson. Die Aporie liegt hier schlicht in der Unvereinbarkeit dieser Kulturprodukte innerhalb der gegebenen Ordnung im Sinne Mouffes. Der Blockbuster verlässt seinen Block ebenso wenig wie der Museumsfllm seine Ausstellung. In ihrer mutwilligen Verlagerung auf eine geteilte Leinwand liegt bereits eine grundlegende Transgression, und es ist klar, dass jeder Film, der in seiner Gestaltung eine gewisse Regelhaftigkeit aufweist – wie es bei nahezu allen Spielfllmen seit den Anfängen des Mediums der Fall ist, auch wenn diese Re- geln subtile Mutationen durchlaufen -, sich mit einem Film in die Haare geraten wird, der besagter Regelhaftigkeit eine klare Absage erteilt oder sein eigenes Regelsystem etabliert; thematisch erfordert es da kaum Überschneidungen. Die zweite Strategie, eine metatextuelle Verkoppelung über diametrale Positionierungen, geht tiefer und erfordert bereits mehr kuratorisches Feingefühl. In diesem Fall ist die „Tätigkeit […], die einen Körper von dem ihm angewiesenen Ort anderswohin versetzt“(21), immer noch förderlich, aber zweitrangig. Streit kann es hier nur geben, wenn es einen Gegenstand gibt, um den gestritten werden kann, wenn also Filme kollidieren, die auf ähnliche Fragen verschiedene Antworten flnden oder ideologisch unverträglich sind(22). Dies kann auf einer narrativen Ebene stattflnden, aber genauso produktiv wäre die Gegenüberstellung zweier widersprüchlicher Ideen von Kino, z.B. der opulenten Studiowelten eines Josef von Sternberg mit den Arbeiten des italienischen Neorealismus. Um zu verdeutlichen, wie derartige trouble features aussehen könnten, möchte ich nun zwei exemplarische Montagen unterbreiten.

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Come and See(23) beschreibt mit einer enorm intensiven Filmsprache (lang anhaltende tracking shots, verstörende Soundkulissen, ikonische Großaufnahmen, Betonung von Körperlichkeit und Materialität, Leidenspathos, desorientierende Ansichten von ausuferndem Chaos und Pandämonium) die Passionsgesschichte eines Jugendlichen im Weißrussland unter nationalsozialistischer Besatzung. Nachdem er sich anfangs voller Begeisterung den Partisanen anschließt, wird er beim ersten Bombenangriff von seiner Kompanie getrennt und stolpert im weiteren Verlauf buchstäblich von einem Höllenkreis in den nächsten, bis alle seine Illusionen über die Natur des Krieges abgeschabt sind. In der letzten Szene des Films sieht er, nun wieder Teil einer sowjetischen Kohorte, ein Hitler-Porträt im Dreck liegen, und seine aufgestaute Wut entlädt sich: Während er hasserfüllt sein Gewehr auf das Bild feuert, montiert Klimov Archivmaterial im Rückwärtsgang, als würde jeder Schuss ein Stück der faschistischen Verheerungen ungeschehen machen. Nach etlichen Salven erstarrt die Auhebung und Hitler blickt uns als Baby aus den Armen seiner Mutter an. In diesem Augenblick hält auch die Hauptfigur entgeistert inne. In Anlehnung an Emmanuel Lévinas könnte man sagen: Die ethische Anrufung durch das exponierte Antlitz des Anderen(24) verbietet ihm, abzudrücken und den Widerruf zu vollenden, ungeachtet des entsetzlichen Preises. Quentin Tarantinos Inglourious Basterds(25) hingegen drückt ab, ohne zu zögern: Eine aus jüdischen Soldaten rekrutierte ‚Nazijäger‘-Spezialeinheit plant ein Attentat auf Hitler und seine Junta, das am Ende des Films – gegen die historischen Tatsachen – erfolgreich in die Tat umgesetzt wird. Im unmittelbaren Anschluss an Come and See muss das wirken wie ein direkter Vergeltungsschlag (jener spielt 1943, dieser ein Jahr später), auch weil sich die dramatischen Höhepunkte der Filme in vielerlei Hinsicht spiegelbildlich verhalten. Ersterer stellt das Massaker von Chatyn nach, bei dem ein SS-Sonderkommando sämtliche Einwohner_innen eines weißrussischen Dorfes in eine Scheune sperrte und diese in Brand setzte. Inglourious Basterds imaginiert eine Rachephantasie, bei der die NS-Elite in ein Kino gepfercht und dem Feuer überantwortet wird. Beides wird inszeniert als delirierender Todesrausch, in deren dröhnender Horrorkakophonie das Hohngelächter der Peiniger_innen mit den Todesschreien der Opfer verschmilzt. Dennoch erweist sich Tarantinos Postulat des Rechts auf alttestamentarische Vergeltung im Freiraum des Kinos als Antithese zu Come and See, der solche Rachegelüste anzufachen scheint und sich trotzdem verbittet, ihnen vollends anheimzufallen. Sein Epilog setzt ebenso dazu an, die Historie mit den Mitteln des Films zurechtzurücken, insinuiert dann aber, dass das fünfte Gebot trotz allem intakt bleiben muss, wenn die Welt nicht im Chaos versinken soll – selbst das Kino mit seinen uneingeschränkten Möglichkeiten trägt für Klimov ethische Verantwortung. Das immense Pathos dieser finalen Momente verdankt sich der Evokation einer moralischen Selbständigkeit im Leiden, der Selbstbeherrschung im Zustand äußerster affektiver Angespanntheit. Inglourious Basterds dagegen gewinnt sein nicht minder beträchtliches Pathos aus der bedingungslosen Hingabe an den Affekt – der explosiven Entladung des Zorns, der sich aus historischem Bewusstsein speist. Auch hier flndet sich im Übrigen die Montage des fratzenhaft verzerrten Gesichts eines wutentbrannten Basterd-Rächers mit einer Ansicht seines Hassobjekts – Hitler als ultimativer Signiflkant des absolut Bösen – doch in diesem Fall gibt es keine Gnade. Durchsiebt wird allerdings eine in ihrer Billigkeit offenkundig und wohl bewusst als fllmisches Requisit erkennbare Atrappe, während bei Come and See ein photographisches Dokument Einhalt gebietet. Auch das bezeugt die getrennten Agenden der beiden Filme: Klimov ist letztlich der Wirklichkeit verpflichtet, Tarantino der Phantasie. Und obwohl man bei keinem der beiden Filme von einer eindeutigen Botschaft sprechen kann, werden hier doch die Grenzen des Ethischen auf unvereinbare Weise ausgelotet – sie flnden konträre Antworten auf dieselbe Frage – und diese Unvereinbarkeit fordert die Stellungnahme der Zuschauer_innen stärker, als es einer von ihnen allein getan hätte. Der Widerspruch liegt dabei auf der Erzählebene – das Extrembeispiel eines formal-ideologischen Clashs wäre hingegen die Gegenüberstellung von 300(26) und LanceIot du Lac(27). Beides sind Filmfassungen von Heldenmythen (im ersten Fall der Schlacht bei den Thermopylen, im zweiten eines Abschnitts der Artussage), aber sie negieren sich in jedem Kader. Snyder ist in seiner Adaption eines Comics von Frank Miller darum bemüht, dessen Schicksals- und Kriegspathos ungebrochen auf die_den Zuschau- er_in zu übertragen und bedient sich dafür aller ihm zur Verfügung stehenden Mittel. Zwar ist die Mär vom Stoßtrupp, der unter der Leitung des Königs Leonidas gegen den Willen der Diplomaten loszieht, um „for sparta, for freedom“ den persischen Horden die Stirn zu bieten, durch eine erzählerische Rahmung samt Voice-Over als Legende gekennzeichnet, aber der Film ist mehr als gewillt, sie zu drucken. Die Bilder eifern der Vision vom ehrenhaben Heldentod und der schrecklichen Schönheit des Krieges, die vom Narrativ aufgetischt wird, in jeder Hinsicht nach. Lancelot du Lac hingegen reißt schon zu Beginn eine ironische Kluft auf zwischen Ereignis und Überlieferung. Nachdem die eröffnende Einstellungsfolge in knapp fragmentierter und unglamouröser Manier Szenen namen- und gesichtsloser Ritter beim Morden und Plündern aneinanderreiht, ist im auktorialen Prolog von den „fabelhaften Abenteuern unserer Helden“ die Rede. Unmittelbar ersichtlich ist auch, dass sich Bressons Verhältnis zu fllmischer Wahrheit und Wirklichkeit drastisch von der Snyders unterscheidet. Bresson ist einem radikalen Materialismus verpflichtet: Seine reduktionistische Stilistik – die nahezu vollständige Abwesenheit nondiegetischer Musik, die vorwiegend statische Kamera, das Anti-Schauspiel seiner ‚Modelle‘, die naturalistisch-karge Ausstattung – sperrt sich gegen konventionelle Pathosformeln. Seine Welt und seine Figuren haben das Gewicht des Realen, und ein Bild bedeutet nie mehr als das, was es zeigt. 300 macht die Realität seiner Fabel untertan. Seine hermetische Digitalästhetik ermöglicht maßgeschneiderte Bild- und Tongestaltung, die bis ins letzte Detail den atmosphärischen wie ideologischen Anforderungen der Handlung entspricht und einer symbolisch aufgeladenen Mise en Scène Vorschub leistet. Die einheitlich athletischen Männerkörper des Films überwinden im Dienste einer pathetischen Gewaltchoreographie wiederholt die Gesetze der Schwerkraft oder dehnen den Ablauf der Zeit, und seine mit treibender Musik untermalten Schlachtgemälde transportieren stets etwas über das Schlachten hinaus, und sei es auch nur die erhabene Anmut disziplinierten Kriegshandwerks. Eine Enthauptung ist hier ein dramatischer Höhepunkt. Im Vergleich dazu wirken die Kampfszenen in Lancelot du Lac völlig sinnentleert, nahezu lächerlich: schlaksige Ritter in unentwegt scheppernden Rüstungen, die bei natürlichem Licht irgendwo im Wald ungelenk und mechanisch aufeinander einschlagen, bis einer in sich zusammenklappt. Eine Enthauptung ist eine Enthauptung. Ebenso wenig wie einen heiligen Gral scheint es hier einen Gott zu geben, der der Handlung über die Form eine höhere Bedeutung zugestehen würde, während bei den griechischen Kriegern hinter jedem Hieb ein Ideal steht, das diesen unterschwellig legitimiert. 300 peitscht die_den Zuschauer_in auf, wie die Perser ihre monströsen Elefanten, er will ihn für seine Sache gewinnen. Entsprechend häuflg lässt er seinen Heldenkönig Brandreden schwingen, die in Aufbau und Lautstärke auf maximale rhetorische Überzeugungskraft getrimmt sind. Der apathisch-monotone Duktus aller Sprechenden bei Bresson erzeugt dagegen eine Art kommunikatives Vakuum. Faszinierend ist auch, dass die beiden Filme aus verschiedenen Gründen auf sehr ähnliche Schlusssequenzen hinauslaufen, die ihre konträren Haltungen auf den Punkt bringen. Snyder porträtiert stolze Krieger, die ihr intaktes Wertesystem zum Wohle der Nachwelt unter Einsatz ihres Lebens vor den illegitimen Angriffen einer externen Macht schützen. Die Gemahlin Leonidas‘ trennt sich nur ungern von ihm, fügt sich aber stoisch der Notwendigkeit seines Opfers, das hier seine überdeutliche Affirmation über die Form erfährt: Nachdem der Heros standhaft einer Übermacht getrotzt hat, geht er von Pfeilen durchbohrt zu Boden und erstarrt in einer Pose, die christlichen Märtyrerbildern nachempfunden ist. Seine letzten Worte – „my queen, my wife, my love“ – klingen wie eine todeskitschige Grußbotschaft. Ein Epilog versichert dem Publikum, dass seine Taten nicht vergebens waren; die Nachwelt wird sich tatsächlich erinnern, wofür er gestorben ist. In Lancelot du Lac zerrüttet ein durch verfehltes Ehrgefühl und Bigotterie befeuerter interner Zwist eine Rittergemeinschaft, deren Spitzen am Ende gegeneinander ins Feld ziehen. Guinevere versteht nicht, warum ihr Geliebter Lancelot gegen Artus kämpfen muss, und er scheint es selbst nicht zu verstehen. Der Determinismus der Bilder kommt im Finale unmissverständliK zum AusdruK, das den Heldentod buchstäblich als folgenlosen Sturz ins Nichts inszeniert: Nach einem kurzen Geplänkel, dessen Verlauf sich der_dem Zuschauer_in kaum erschließt, fällt Lancelot tödlich verletzt zu Boden und der Film reißt abrupt ab. Sein letztes Wort, „Guinevere“, klingt wie eine verzweifelte Erkenntnis, die zu spät kommt – eine Nachwelt gibt es nicht. Bresson entwickelt hier durchaus seine eigene Form von Pathos, die man existentialistisch nennen könnte; mit jener Snyders ist sie aber durchweg inkompatibel und muss auf deren Affektballon im direkten Anschluss wie eine Nadel wirken.

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Anschließend sei nochmals gesagt: Das Trouble-Feature-Konzept, wie ich es ausgeführt habe, ist der Vorschlag einer Methode der fllmkuratorischen Praxis. Ein Beispiel dafür, wie dessen Umsetzung aussehen könnte, wäre etwa der Programmzyklus Was ist Film, den das Österreichische Filmmuseum seit 1996 zeigt. Dieser wurde von Peter Kubelka als kuratorischer Versuch einer empirisch erfahrbaren Deflnition der Essenz des Mediums als originäre Kunstgattung konzipiert. Er umfasst 63 Programme, welche ihrerseits überwiegend aus mehreren aufeinanderfolgenden Einzelfllmen bestehen, die bis auf kurze Lichtpausen ohne Unterbrechung projiziert werden. Die Kontextualisierung der Vorführungen und ihrer Bausteine beschränkt sich auf basale Eckdaten im Programmkatalog. Dabei stehen oftmals „Dokumente, die nicht auf ein und dasselbe hinauslaufen, neben- oder gegeneinander“(28). Kubelka selbst bezeichnet „Filmmontage“(29) als das Modell für seine Programmreihe: „Es bedarf immer der Verbindung zweier Teile, um etwas auszudrücken: Zweier Wörter, zweier Noten, zweier Linien, zweier Meinungen, zweier Einzelbilder – oder eben zweier Filme“(30). Die Kombinationen sind „genau beabsichtigt. In der Zusammenstellung liegt immer auch eine Aussage“(31), deren konkreten Gehalt sich die_der ZusKauer_in allerdings selbst zusammenreimen muss. So wirft der dritte Teil der Serie mit der Kontrastierung unterschiedlicher Formen fllmischer Dokumentation und Wahrheitsfindung – Nanook of the North(32), Auszügen aus Kinopravda(33) und Window Water Baby Moving(34) – die Frage auf: „Welcher dieser drei Filme stellt nun die sogenannte ‚wirkliche Welt‘ dar“(35)? Die Verschränkung von Katzelmacher(36) und Outer Space(37) im 34. Kapitel wiederum bezeichnet der Filmkritiker Stefan Grissemann als „Konfrontationsprogramm“(38), dessen Bestandteile „ästhetische Endpunkte [und] Extrempositionen“(39) markieren. Dennoch ist das Zyklische Programm klar als fllmpädagogischer Erfahrungsraum kodifiziert. Wenn die cinephile Vermittlung ihre politische Sprengkraft wiederbeleben will, sollte sie dem ZusKauer solche und ähnliche Zumutungen auch außerhalb der geschützten Hallen eines Filmmuseums zutrauen.

1. Vgl. Thomas Bedorf, „Das Politische und die Politik. Konturen einer Differenz“, Das Politische und die Politik, hg. v. Thomas Bedorf/Kurt Röttgers, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 13–37, hier S. 13ff.
2. Chantal Mouffe, Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, Frankf. a. M.: Suhrkamp 2007, S. 25.
3. Ebd., S. 27.
4. Ebd., S. 68.
5. Hierfür muss man ästhetische Entwürfe außen vor lassen, die den Konflikt zum Teil ihrer Struktur machen,
z. B. Lucía (1968) von Humberto Solás, der aus drei klar voneinander getrennten Episoden besteht, die sich verschiedenen Geschichtsperioden Kubas auf formal unterschiedliche Weise widmen.
6. Auch eine Verweigerung des Gesehenen kann in diesem Kontext als Leistung bezeichnet werden.
7. Vgl. Jacques Rancière, „Gibt es eine politische Philosophie?“, Politik der Wahrheit, hg. v. Rado Riha, Wien: Turia + Kant 1997, S. 64–93, hier S. 67f.
8. The Tree of Life, Regie: Terrence Malick, US 2011.
9. Der Hinweistext lautet: „In response to some customer feedback and a polarized response from last weekend we would like to take this opportunity to remind patrons that The Tree of Life is a uniquely visionary and deeply philosophical film from an auteur director. It does not follow a traditional, linear narrative approach to storytelling. We encourage patrons to read up on the film before choosing to see it, and for those electing to attend, please go in with an open mind and know that the Avon has a No-Refund policy once you have purchased a ticket to see one of our films. The Avon stands behind this ambitious work of art and other challenging films, which define us as a true art house cinema, and we hope you will expand your horizons with us“; Eugene Hernandez, „Movie Theater to ,Tree of Life‘ Customers: Enter At Your Own Risk!“, Indiewire, 2011, http://blogs.indiewire.com/eug/movie_theater_to_tree_of_life_customers_enter_at_ your_own_risk, 18. 12. 2013.
10. Rancière, „Gibt es eine politische Philosophie?“, S. 68.
11. Ebd., S. 67.
12. Mouffe, Über das Politische, S. 72.
13. Ebd., S. 70.
14. Dies gilt auch für das Modell zeitgenössischer Filmfestivals. Marijke de Valck bezeichnet diese am Beispiel des Internationalen Filmfestivals Rotterdam als ‚cinephile Multiplexkinos‘, die zwar der Sichtbarkeit marginalisierter Formen Sorge tragen, sich in ihren Programmstrukturen aber unweigerlich von marktlogischen Überlegungen leiten lassen und kaum Engführungen widersprüchlicher Formen bemühen; vgl. Marijke de Valck, „Drowning in Popcorn at the International Film Festival Rotterdam? The Festival as a Multiplex of Cinema“, Cinephilia. Movies, Love and Memory, hg. v. Marijke de Valck/Malte Hagener, Amsterdam: Amsterdam Univ. Press 2005, S. 97–110.
15. Mouffe, Über das Politische, S. 158.
16. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass dieses Modell oftmals produktive Antagonismen auf der Produktionsseite zuspitzte: Der japanische Regisseur Seijun Suzuki etwa hat immer wieder betont, dass das Kastensystem im Nikkatsu-Studio der 60er-Jahre – also die verschiedenen Handlungsspielräume
und Statusdifferenzen seiner A- und B-Abteilungen – ihn erst zu den Grenzüberschreitungen und formalen Wagnissen seiner B-Filme anspornte; vgl. Tony Rayns, „Branded to Kill. Reductio Ad Absurdum“, The Criterion Collection, 2011, http://www.criterion.com/current/posts/2096-branded-to-kill-reductio-ad-absurdum, 12. 12. 2013.
17. Dieses Konzept ist nur insofern dem Grad didaktisch, als jede Form von Filmvermittlung in ihren Grundzügen didaktisch ist. Sie geht bloß einen Schritt weiter als die Praktik, zwei Filme, die die_der Kurator_in in Bezug setzen will, hintereinander in getrennten Vorstellungen zu programmieren. Die Einladung zur Gegenüberstellung ist deutlicher hervorgekehrt. Darin liegt die (milde) Anmaßung und das politische Potential (denn das Politische und die Anmaßung liegen in der radikalen Demokratietheorie eng beieinander). Ob und inwieweit die_der Zuschauer_in darauf eingeht, ist aber weiterhin ihr_ihm überlassen.
18. Bertolt Brecht, „Wahrheit (2)“, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 21: Schriften l. l9l4–l933, hg. v. Werner Hecht et al., Berlin/Frankf. a. M.: Aufbau/Suhrkamp 2003, S. 428.
19. Walter Benjamin, „Der Autor als Produzent“, Gesammelte Werke. Bd. 2: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit und andere Schriften, Frankf. a. M.: Zweitausendeins 2011, S. 513–527, hier S. 525.
20. Sven Kramer, „Montierte Bilder. Zur Bedeutung der filmischen Montage für Walter Benjamins Denken und Schreiben“,
‚In die Höhe fallen‘. Grenzgänge zwischen Literatur und Philosophie, hg. v. Anja Lemke/Ulrich Wergen, Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, S. 195–212, hier S. 200.
21. Rancière, „Gibt es eine politische Philosophie?“, S. 67.
22. Es soll aber nicht darum gehen, ideologisch ‚gute‘ Filme auf die Schultern von ‚bösen‘ zu stellen. Es ist z. B. wesentlich einfacher, den ,guten‘ Autorenfilm gegen das ,böse‘ Hollywood ins Rennen zu schicken, als Positionen auf beiden Seiten zu finden, die ihre divergierenden Standpunkte in Grundsatzfragen zum Medium (oder zum Leben) auf überzeugende Weise vertreten.
23. Come and See, Regie: Elem Klimov, UdSSR 1985.
24. Vgl. Emmanuel Lévinas, Ethik und Unendliches. Gespräche mit Philippe Nemo, Wien: Passagen 2008, S. 64.
25. Inglourious Basterds, Regie: Quentin Tarantino, US 2009.
26. 300, Regie: Zack Snyder, US 2006.
27. Lancelot du Lac, Regie: Robert Bresson, FR/IT 1974.
28. Stefan Grissemann/Alexander Horwath/Regina Schlagnitweit, „Vorwort“, Was ist Film. Peter Kubelkas Zyklisches Programm im Österreichischen Filmmuseum, hg. v. Stefan Grissemann et al., Wien: Synema 2010, S. 4–5, hier S. 4.
29. Stefan Grissemann/Peter Kubelka, „‚Keinesfalls durch das Sieb der Sprache‘. Was soll ‚Was ist Film‘ sein? Zur Konzeption des Zyklischen Programms. Peter Kubelka im Gespräch mit Stefan Grissemann“, Was ist Film, hg. v. Grissemann et al., 2010, S. 7–26, hier S. 8.
30. Ebd.
31. Ebd., S. 24.
32. Nanook of the North, Regie: Robert J. Flaherty, US 1922.
33. Kinopravda, Regie: Dziga Vertov, UdSSR 1922–1925.
34. Window Water Baby Moving, Regie: Stan Brakhage, US 1959.
35. Vgl. Ebd., S. 19.
36. Katzelmacher, Regie: Rainer Werner Fassbinder, BRD 1969.
37. Outer Space, Regie: Peter Tscherkassky, AT 1999.
38. Stefan Grissemann, „Programm Nr. 34“, Was ist Film, hg. v. Grissemann et al., 2010, S. 109–111, hier S. 109.
39. Ebd.

A wie Aura, A wie Anger: Notizen aus dem Kino

Kenneth Anger

Notiz 1:

Stürme der Leidenschaft

Seit Walter Benjamin wissen wir, dass die technische reproduzierte Fotografie und dessen bewegter Verwandter, der Film, durch ihre Wesensbestimmung – es gibt kein Original sondern nur mehrere gleichwertige Kopien, Abzüge, etc. – ihren Kultwert verloren haben und anders als die Kunstwerke vergangener Jahrhunderte eine Dasein ohne sogenannte „Aura“ friste. Dieses inhärente Potential der Vervielfältigung ist unbestritten und bis heute unverändert. Anlass für diese Notiz war, wie so oft hier am Blog, ein Screening im Österreichischen Filmmuseum, ein Screening eines ganz besonderen Films: Stürme der Leidenschaft von Robert Siodmak. Stürme der Leidenschaft ist eine Krimi-Romanze, die in vielerlei Hinsicht den Film Noir vorwegnimmt, dem sich Siodmak zwanzig Jahre später in seiner Hollywoodkarriere widmen sollte. Das Besondere an diesem Screening waren aber weniger die künstlerischen Qualitäten des Films, sondern der Umstand, dass dieser Film jahrzehntelang als verschollen galt – das Screening, dem ich beiwohnen durfte war das erst zweite in ganz Europa seit seinem ursprünglichen Erscheinen.

Die gezeigte Kopie hatte sich in einem japanischen Archiv erhalten und dort die Jahre überdauert. Das National Film Center in Tokio ist somit die einzige Institution, die über eine Kopie des Films verfügt. Potentielle Vervielfältigung hin oder her, in einer Zeit, wo ich bloß zu googlen brauche um hunderte, wenn nicht tausende von Faksimiles der Mona Lisas in Sekundenschnelle auf den Bildschirm zu zaubern und selbst das Original im Louvre seinen „Kultwert“ (um Benjamin’sches Vokabular zu bemühen), schon längst gegen „Ausstellungswert“ eingetauscht hat, empfinde ich das „Ausstellen“ einer einzigartigen Filmkopie auf der Leinwand als auratisch.

Ein Film, eines durchaus namhaften Regisseurs, der weder auf Amazon, auf Youtube, noch auf Piratebay zu finden ist. Das breite Masse, für die die ständige Verfügbarkeit von jedweder Form von audiovisuellen und anderen Bildmedien mittlerweile zum Selbstverständnis geworden ist, kann hier grob als Maßstab hinzugezogen werden. Für solch ein Verständnis existiert dieser Film tatsächlich nur in Form dieser einen Kopie, während ein populäres Werk der bildenden Kunst, wie zum Beispiel die bereits oben ins Feld geführte Mona Lisa allgegenwärtig und jederzeit zugänglich ist.

Ich vergleiche hier womöglich Äpfel mit Birnen und ich habe auch keine vollständige Revision von Benjamins Aufsatz im Auge, aber der Kultwert des magischen Flimmern dieser Archivkopie auf der heiligen Leinwand des unsichtbaren Kinos kann nicht bestritten werden.

Notiz 2:

Scorpio Rising

Ebenfalls magisch, kultisch und rituell ist das Werk Kenneth Angers, aber eigentlich steht diese zweite Notiz in keinem Zusammenhang mit der obigen. Anger gehört zu meinen Favoriten unter den Protagonisten des New American Cinema, für den Moment würde ich ihn gleich hinter Jonas Mekas und Robert Breer an die dritte Stelle meiner persönlichen Rangliste setzen. Anders als die intellektuelle Verzückung bei Mekas und das pure, kinetische Sehvergnügen bei Breer, ist die Wirkung von Angers Filmen auf mich weitaus intelligibler. Grob gesagt, mag ich ganz einfach, was so ein Anger-Film mit mir macht. Der „weichgewaschene“ Look seiner Filme in Kombination mit dominanten Soundtracks und okkulter Symbolik macht mich frei und versetzt mich in einen luziden Zustand. Wobei luzide eigentlich nicht das richtige Wort ist, denn von Traum- oder Trancezuständen kann nicht die Rede sein; zu frei sind meine Gedanken, schwirren im Raum umher, schweifen ab um immer wieder auf die Leinwand und in die Immersion zurückzukehren. Kann man diese Filme auch auf einer intellektuellen Ebene betrachten, versuchen die Rätsel und Symbole zu entschlüsseln? Ganz bestimmt, ich ziehe jedoch den Modus der „spazierenden Rezeption“ vor. Wie ein morgendliches Schlendern durch einen sonnigen Park, bei dem ich mal die Passanten, mal die Wolken betrachte und mir Gedanken über mein Leben mache. Das machen Angers Filme mit mir und dafür schätze ich sie. Mir ist durchaus bewusst, dass das ein zutiefst persönlicher Zugang ist, aber es ist denke ich die Qualität Angers genau solche persönlichen Zugänge zu provozieren. Leere. Freiheit. Ende.

Adieu, verlorene Zeit – ‚Abschied‘ von Ludwig Wüst

Abschied von Ludwig Wüst

Wer einmal den Fächer der Erinnerung aufzuklappen begonnen hat, der findet immer neue Glieder, neue Stäbe, kein Bild genügt ihm, denn er hat erkannt: es ließe sich entfalten, in den Falten erst sitzt das Eigentliche: Jenes Bild, jener Geschmack, jenes Tasten um dessentwillen wir dies alles aufgespaltet, entfaltet haben; und nun geht die Erinnerung vom Kleinen ins Kleinste, vom Kleinsten ins Winzigste und immer gewaltiger wird, was ihr in diesen Mikrokosmen entgegentritt.

Walter Benjamin, Berliner Chronik

Ludwig Wüst macht Filme über Zeit. Verlorene Zeit, wiedergefundene Zeit, Zeit die kommt, Zeit die geht, Zeit die gibt, Zeit die nimmt, Zeit, die uns in Abgründe stürzt und wieder aus der Taufe hebt, Zeit die wirkt und waltet und immer währt: Das Allseiende, das Allbestimmende. Sein stetig wachsender Werkkorpus ist durchzogen von Vanitas-Motiven und Menschen, die mit Verlust konfrontiert sind – diesem ultimativen Index von Zeit- und Sterblichkeit – aber ebenso vom Glauben an die restaurative Kraft von Erinnerung und Eingedenken. Immer ist es eine Abwesenheit – oft ein traumatisches Ereignis – die den Kern der Erzählungen bildet und die Figuren in Gemütsbewegung versetzt. Vergebung (Zwei Frauen, 2006), Versöhnung (Koma, 2009), Verderben (TAPEEND, 2011), Vergessen (Pasolinicode, 2011), Versäumnis (Das Haus meines Vaters, 2012): Vergangenheit und Zukunft sind die Gegenwart dieser Filme, Dauer ihr Formprinzip.

Wüst kam von der Malerei zum Theater zum Kino, und man merkt es seiner Kunst an. Das Theatralische droht manchmal, ihre Wirkung zu unterlaufen – der einen Deut zu präzise Naturalismus in Schauspiel und Dialog, die Grad-halt-kein-Guckkasten-Kadrage, die Neigung zum Melodramatischen – doch das scharfe Bewusstsein für die Eigenarten der filmischen Form und die bedingungslose Bekenntnis zum Material transzendieren solche Schwächen (er sagt, er sei vom Theater zum Kino gewechselt, weil im Theater von der Aufführung nichts bleibt als eine schöne Erinnerung und ein schlechtes Video). Seine jüngste Arbeit mit dem programmatischen Titel Abschied hatte vor kurzem ihre Wien-Premiere im Österreichischen Filmmuseum und ist das vielleicht schönste, intensivste und formal gewagteste Zeit-Bild des konsequent unabhängigen Regisseurs.

Abschied von Ludwig Wüst

Für den Plot reicht ein Satz: Eine Frau erhält Besuch von ihrer Freundin, und die beiden kommen ins Gespräch. Gefilmt ist dieses Treffen in einer ungebrochenen Einstellung, die sich im Verlauf des Films schleichend per Zoom von der Totale zur Nahen verengt und schließlich wieder öffnet, während der emotionale Tonus der Unterhaltung fließende Phasenverschiebungen durchläuft und gleichsam mit den Sprechenden durch die Zeit reist. Abschied vereint so das Echtzeit-Experiment von TAPEEND mit den Gedächtniserkundungen in Das Haus meines Vaters, übertrifft aber beide in der Ökonomie seiner Mittel und dem erzielten Effekt. Der ungefähr dreiviertelstündige, digitale Zoom stellt die konzeptuelle Methodik von Michael Snows Avantgarde-Klassiker Wavelength in den Dienst eines präzisen psychologischen Realismus: Er definiert den filmischen Raum, konzentriert das Bild, bestimmt über Off und On, macht Zeit sichtbar und schraubt an der Spannung, wenn er sich wie eine Schlinge zuzieht, aber alles im Einvernehmen mit dem affektiven Auf und Ab der Erzählung. Unser Gefühl ist eine Funktion seiner Bewegung, und die Schauspielführung ist vorbildlich auf ihn abgestimmt.

Mittel- und Schwerpunkt des Kaders ist ein unauffälliger Stuhl, der von den beiden Frauen abwechselnd besetzt wird und dem aufgrund seiner Positionierung eine Aura zuteilwird, die man besonders dann spürt, wenn niemand im Bild ist. Er scheint auf seine Besetzung zu warten und verfügt als eine Art hot seat über das Recht auf Aufmerksamkeit: Nur wer dieses in Anspruch nimmt, darf wirklich sprechen. So ist wie bei Wavelength zu Beginn keineswegs klar, wer oder was im Zentrum des Films stehen und ob dieser überhaupt ein Zentrum haben wird. Vorerst bekommen wir einen Eindruck von der Gastgeberin Helene (Martina Spitzer), die sich und ihre Wohnung überhastet auf den anstehenden Besuch vorbereitet, und die subtile Skizzierung ihres missmutig-nervösen Charakters, der etwas zu verbergen scheint – zusammen mit dem schlichten Umstand, dass sie als Erste die Szene betritt – unterbreitet sie als Hauptfigur. Das erste Viertel hindurch sitzt sie am Schicksalsstuhl, und man wähnt sich bestätigt, doch kurz darauf befördert eine Rauchpause eine beiläufige Rochade, und schon findet sie sich hors-champ, indes ihre Freundin Johanna (Claudia Martini) ins Fadenkreuz der Kamera gerät. Die scheinbar zufällige Neuverteilung der Plätze führt unmerklich zu einer totalen Verlagerung des narrativen und emotionalen Fokus sowie zur Ahnung einer anderen Geschichte, die uns entgangen ist, die wir an die filmische Zeit verloren haben (wobei ein Rest von Unentschiedenheit bleibt: Helene reklamiert die Diegese mit vielsagenden Randbemerkungen und der eigentümlich kühlen Distanz, die sie ihrem Gast bis zum Schluss entgegenbringt, stellenweise wieder für sich).

abschied08

Das eigentliche Spektakel spinnt sich unscheinbar an: Eine im Vorbeigehen entdeckte DVD des Claude-Sautet-Films Les choses de la vie ruft bei Johanna die mémoire involontaire auf den Plan, und wir sehen ihr dabei zu, wie sie sukzessive den Untiefen der Erinnerung anheimfällt, sich unwillkürlich von einem Trigger-Moment zum nächsten hangelnd, bis man gewahr wird, dass man soeben einer rückhaltlosen seelischen Entblößung beigewohnt hat, die ebenso sachte und unerbittlich von statten ging wie der sie begleitende Zoom. Ein altes Lied führt zur verschämten Bekenntnis einer Jugendliebe, die sich dann doch als mehr herausstellt als nur das. Stück für Stück werden Tiefenschichten aufgebrochen, die Minuten zuvor noch im Dunkeln waren. Das anfängliche Geplänkel wird zu einer veritablen Beichte, und die vom Off verschluckte Helene nimmt die Rolle des Pastors/Therapeuten ein, der nahezu anteillos als akusmatische Stimme Beistand leistet. Als sich der Würgegriff des Bildausschnitts schließlich lockert, uns den Raum wiedergibt und neuerlich trügerische Ruhe einkehren lässt, muss man aufatmen.

Doch in einer überraschenden Volte überspannt Abschied nun seinen eigenen Bogen und sprengt dessen Rahmen. Nach einem kurzen Schwarzbild, das Credits verheißt, löst der Film Hauptfigur und Kamera aus ihren Fixierungen und lässt sie ins Freie fleuchen, wo Johanna einen nachträglichen Polterabend begeht: Sie kauft sich ein rotes Kleid, streift durch die Straßen, taucht in ein Kino (hier hat Wüst einen persönlichen Abschied eingearbeitet – es ist die letzte Aufnahme des Zuschauersaals seines geliebten Wiener Stadtkinos kurz vor dessen Räumung), geht auf Zechtour, flirtet umher und legt sich schlussendlich in einer peripheren Zone zum Schlafen in ein Betonrohr, für eine einzige Nacht ihrem Leben und der Welt entstiegen. Wüst und sein Stammkameramann Klemens Koscher filmen diese Fluchtbewegung zunächst aus großer Distanz und unmöglichen Perspektiven, in seltsam verwaschenen Weitwinkeltotalen, wie von Überwachungskameras oder Geisteraugen beobachtet. Es ist das Gegenteil der Hermetik des ersten Teils.

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Am Ende kehrt Johanna in ihr Heim zurück, sie scheint ihren Abschied genommen und ihren Frieden gemacht zu haben mit dem, was war. Doch hier erfasst den Zuschauer selbst ein retroaktiver Impuls: Der Anblick ihres eindrucksvollen Bungalows wirft uns zurück an den Anfang, man besinnt sich der sozialen Kluft und unterschwelligen Spannung, die sich in flüchtigen Gesten und allfälligen Dialogzeilen zwischen ihr und Helene aufgetan haben, und wieder wittert man eine Gedächtnisspur, der nachzugehen keine Zeit bleibt. Der Film hat inzwischen einen weiteren Sprung gemacht, erneut begibt er sich an Johannas verwahrloste Schlafstätte des vergangenen Abends, um dort ihre Abwesenheit aufzuzeichnen. Es gibt nichts zu sehen, und doch sieht man deutlich jenen Teil von ihr, den sie hier abgelegt hat wie eine Traumhaut. Und unversehens strahlt der ganze verstreute Plunder ringsum mit der Kraft unzähliger Zeiten und Erzählungen, die sich immer noch kreuzen an diesem abgeschiedenen Ort. Mit einem Schlag hört man das Lied in allen Dingen und spitzt gebannt die Ohren.