Warum ich bei Godard nicht weinen muss

Die Retrospektive zum Frühwerk von Jean-Luc Godard im Österreichischen Filmmuseum neigt sich langsam dem Ende (des Kinos?) entgegen, es dämmert schon länger über den Stätten des Kinos, aber wir dürfen nicht vergessen wie schön ein Dämmerlicht wirkt und dass nach der Dunkelheit wieder eine Dämmerung einsetzen wird. Die frühen Filme von Godard haben seinen Namen zu einer Marke gemacht, die er trotz aller Versuche nie wird abstreifen können. Es kann zwar nur bei einer Behauptung bleiben, aber ich würde vermuten, dass ihn das schmerzt, denn sein Kino besteht in jedem Bild aus dem zermürbenden Bewusstsein der eigenen Existenz, dem Spiegel, der das was er sieht immer wieder herausfordern will, damit er es nicht mehr erkennen muss. Filme, die eine Richtung einschlagen, um sie zu wechseln, es sei denn der Wechsel würde antizipiert werden. Dabei geht es immer gleichermaßen um JLG (den Menschen, den Künstler, die Marke) als auch um das Kino.

Das gleiche gilt in gewisser Weise für meine Tränen. Das mag jetzt erst mal überraschend kommen, aber meine Tränen fließen nicht, wenn sie wollen, weil ich sie dann spüre und etwas anderes machen möchte. Die Überwältigung kann nicht einsetzen, weil ich sie nicht zulasse. Genau wie Godard das Kino und dessen Überwältigung nicht zulässt, weil er es so sehr sucht. Dieses Gefühl, wenn man weinen will und nicht kann. Vielleicht ist es deshalb so eindeutig, wenn Godard seine damalige Frau Anna Karina in Vivre sa vie : film en douze tableaux gegen die Tränen von Maria Falconetti in Carl Theodor Dreyers La passion de Jeanne d’Arc schneidet, weil hier das Kino ein Spiegel voller Tränen ist und das Bild eine Sehnsucht nach eben diesen Tränen, die auf den Knopfdruck durch das Ebenbild fließen, durch das identifikatorische Leiden nicht an sich selbst, sondern am Kino, am Leben. Godard macht Kino wie auf einer Beerdigung und weil es ihm komisch vorkommt auf Knopfdruck zu weinen, denkt er lieber über das Weinen nach.  Ebenso wenig überraschend scheint es, dass JLG am meisten Überwältigung wohl in seinem Le mépris zulässt. Ein Film (wie die meisten dieser frühen und auch der späten Filme) über das Ende (des Kinos u.a.). Dort wo es nichts mehr gibt, darf es überwältigen. Vielleicht hätte er einen Film über die letzte Träne machen sollen. Vielleicht macht er ihn noch. Friedensreich Hundertwasser hat Tränen gemalt. Aber immer wieder hat er sie in Analogie zu Regentropfen gesetzt. Tränen, die am Fenster entlanglaufen, auf den Boden prasseln, was vor allem in Wasserfarben einen einzigartigen Effekt erzielt und darauf hinweist, dass ein ähnliches Begehren nach dem Weinen im Maler wie im Filmemacher lungerte. Denn wenn die Tränen auf dem Fenster entstehen statt in den Augen, dann ist da etwas dazwischen, die Leinwand, die Kamera, der Pinsel.

Godard Die Verachtung

Aber es besorgt mich, wenn ich nicht weinen kann, weil mich jemand daran erinnert, dass ich im Kino bin oder mich darauf aufmerksam macht, dass man jetzt weinen sollte. Ich will weinen können, gerade weil ich im Kino bin. Dieses Ausweichen des Offensichtlichen verkommt schnell zur Attitüde und oft kanalisiert sich dieses Abwehrverhalten dann so stark, dass man über Banalitäten und kleine Momente einen Ausbruch erleidet, den man sich selbst kaum erklären kann. Ein Blatt im Wind hat im Kino schon zu Tränen gerührt. Also sollte diese ewige Selbstreflexion, die natürlich auch zu formalen Höhen führt, eigentlich gar nicht den Tränen hinderlich sein. Es ist noch etwas anderes und ich glaube, dass es mit der fehlenden Konzentration von Godard zu tun hat. Da ein Bild nicht einfach nur ein Bild sein darf, aber durchaus ein Bild sein muss und da es immer eine neue Idee gibt, die einen Frame weiter lauert, bekommt man keine Zeit für das eigene Gefühl und jenes seiner Bilder. Stattdessen gibt es eine Überforderung, die durchaus sinnlich sein kann (man denke an Alphaville oder manches zerbrechliche Flüstern in Une femme mariée oder Bande à part), aber nie Reinheit zulassen möchte. Godard ist immer abwesend, aber nicht im Modus von Thom Yorke und seinem How to disappear completely zwischen Selbstauflösung und Beruhigungsmantra, sondern indem er aufmerksam ist. Diese Aufmerksamkeit für jedes Licht, jeden Gedanken und jedes Wort im Kino und in der Zukunft und Geschichte des Kinos verhindert letztlich den Blick in den eigenen Abgrund, obwohl man nichts anderes sieht als diesen Abgrund. Vielleicht muss ich dies an einem anderen Beispiel veranschaulichen. Eine junge Frau blickt jeden Morgen in den Spiegel und verliert sich in ihrem Bild. Sie entdeckt tausend kleine Details in ihrem Spiegelbild bis sie schließlich den Spiegel an sich untersucht, das Glas, die Herstellung von Spiegelglas, die symbolischen Funktionen von Spiegeln, Farbeffekte in ihren nassen Augen, das kleine Lämpchen, das sich im Spiegelhäuschen befindet, alles , was sich hinter ihr befindet, alles was der Spiegel verdeckt, Illusionen und fremde Welten, die Bewegungen ihres Spiegelbildes und irgendwann, ja irgendwann wird sie nicht nur zu ihrem eigenen Spiegelbild (JLG gebraucht die Geschichte des Doppelgängers in seinem Pierrot le Fou und reflektiert mehrmals die Poe-Frage Frage nach dem Verlieben in ein Bild, nach dem Lebendig-Werden dieses Bildes), sondern zum Diskurs und zum Gedanken über und mit dieses Bildes. Sie wird sich nicht mehr sehen und genau das droht mir bei jedem Kinobesuch, es droht wohl jedem Menschen, der lange Zeit und viel Aufmerksamkeit mit etwas verbringt. Er wird es nicht mehr wirklich sehen. Und das ist wirklich traurig und wäre dann vielleicht das Ende des Kinos, der Liebe und des Lebens.

Aus diesem Blickwinkel ist es absolut beruhigend, dass das Kino kein Spiegel ist.

Histoire de Cul: La maman et la putain von Jean Eustache

„Permets-moi, je t’en prie, Marie. Permets-moi pour une sombre histoire de cul…”

Bei Jean Eustache und seinem La maman et la putain besteht die Liebe aus Leid. Kaum ein lächelndes Gesicht über 3,5 Stunden. Mit Verachtung sprechen die Charaktere von Sex und Gefühlen; Mit blinder Leidenschaft folgen sie ihren Bedürfnissen fast wie Tiere. Es ist ein anti-romantischer Ansatz bei dem Körper mit Gartenanlagen verglichen werden und Betrug zum Alltag gehört. Es war, wie man hört, ein aufrichtiger und persönlicher Film, der den häufig übergangenen Filmemacher an seine persönlichen Grenzen brachte. Es ist, man mag mir diesen emotionalen Ausbruch verzeihen, einer der besten Filme, die je gedreht wurden. Das liegt in meinen Augen hauptsächlich an drei Dingen:
Aufrichtigkeit+Verortung+Alltäglichkeit 
Dabei soll nicht vergessen werden, dass der Film gewissermaßen ein reflektierender Höhepunkt der Nouvelle Vague ist, der sie zur gleichen Zeit denunziert und auf ein neues Level hebt, der sie vergöttert und ablehnt. Mit einem Cast bestehend aus Jean-Pierre Léaud, Isabelle Weingarten, der kürzlich verstorbenen Bernadette Lafont und Françoise Lebrun zeigt sich der Film in seiner schwarz-weißen, verrauchten, Paris-Atmosphäre schon oberflächlich als später Vertreter einer gewissen neuen Tendenz im französischen Kino der 50er, vor allem 60er und manchmal 70er Jahre. Jean Eustache, der sich im Alter von 42 Jahren erschoss, zählt nicht umsonst zu den ersten Vertretern einer neuen Generation im französischen Kino, der er zusammen mit Maurice Pialat die Krone aufsetzte, ohne jemals die Wertschätzung seiner Vorfahren zu erreichen. Es ist ein Kino, indem das Zitat zitiert wird, indem die Charaktere in einer Kinokultur und Popkultur leben. Es ist die Geschichte von Alexandre, der frisch von seiner Liebe Gilberte getrennt ist und mit Marie zusammenlebt. Alexandre ist finanziell von Marie abhängig und lebt bei ihr und mit ihr in einer offenen Beziehung. Er lernt jedoch in einem Café Veronika kennen und beginnt eine Affäre.  Das Wort „Liebe“ wird ähnlich wie bei Louis Malles Les amants oder ähnlich prekären Melodramen zu häufig benutzt, als das es wahr wäre. Aber von Gefühlen oder einem Melodram ist der Film trotz seiner Dreieckskonstellation himmelweit entfernt. Es ist vielmehr ein Portrait von narzisstischen Intellektuellen, die Zeichnung einer Generation, die man als 68er oder Post-68er bezeichnen könnte, die sich mit einer Geschlechterproblematik auseinandersetzt und daran zweifelt. Wer könnte da geeigneter sein als Jean-Pierre Léaud, jener von Truffaut geborene Antoine Doinel, den man kennt als einen jungen Mann, der vor dem Spiegel steht und seinen Namen wiederholt und wiederholt und wiederholt, der zwischen maskulin und feminin oszilliert und immer gleichzeitig für sich selbst, den Film, seine Schauspielpartnerin und den Zuseher zu spielen scheint. Er ist ein Vertreter der Nouvelle Vague, der sie gleichzeitig von außen ansieht. Wenn man sich fragt, ob Charaktere im Kino reflektieren sollten, dann kann man mit diesem Film-trotz seiner Romanhaftigkeit-mit einem klaren „Ja“ antworten. Romanhaft ist nicht nur das theatrale Spiel von Léaud (das würde ich sogar als unbedingt filmisch betrachten), sondern  auch die Künstlichkeit der Wörter; so verwendet Alexandre die Sie-Form bei seiner Geliebten.

Jean Eustache ist bekannt dafür, dass er seine Drehbücher und Dialoge wortwörtlich nahm. Schauspieler durften nicht ein Wort abändern, alles musste exakt so aufgesagt werden wie er es sich ausgedacht hatte. Dabei erreichen seine Dialoge, trotz aller artifiziellen Tendenzen manchmal die Echtheit und Direktheit einer Improvisation. Damit ähnelt er John Cassavetes, der zum Beispiel in A woman under the influence einen ähnlichen Effekt erzielte. Eustache thematisiert nicht nur inhaltlich immer wieder das Kino selbst und macht sich damit-insbesondere, weil er viel amerikanisches Kino zitiert- zu einem Teil der Nouvelle Vague, gleichzeitig aber scheint ein kritisches Bewusstsein des jüngeren französischen Kinos in seinem Werk mitzuschwingen.

Trotz der durchgehenden Reflektion, der Länge und der Wortbezogenheit des Films, die in Cannes seinerzeit zur wütenden Nachfrage auf der Pressekonferenz führte, warum Eustache denn nicht ein Buch geschrieben habe, ist La maman et la putain ein zutiefst filmisches Werk. Einer der Gründe dafür ist, dass die Worte und das Denken im Film nur Vorwand vor dem Gefühl sind. Hinter dieser Anti-Romantik, die in offenen Beziehung Affären als normal tituliert und sie in den Alltag einbindet, die keine Lüge und keine großen Geheimnisse kennt, sondern einfach nur bloße Existenz schwingen eben doch auch gefühlsbetonte Abhängigkeiten, ja ein Drang zur Selbstzerstörung mit. Einmal visualisiert Eustache das fast schon plakativ, als Alexandre mit einem Buch im Café sitzt und liest, aber kaum damit beginnt, weil er ständig eifersüchtig zu Veronika sieht, die sich mit zwei Männern unterhält. Was in diesem Film passiert, wird eben kaum ausgesprochen. In den langen und häufigen Schwarzblenden gewährt Eustache einen Nachdenkprozess. Im Dunkel des Kinosaals kann man wirklicher nachdenken, als im philosophischen Diskurs von Alexandre, der Teil einer vom Existenzialismus getränkten Café-Gesellschaft ist, die aus Mücken Elefanten macht, aber aus Elefanten auch Mücken.
“Pour moi, il n’y a pas de putes. Pour moi, une fille qui se fait baiser par n’importe qui, qui se fait baiser n’importe comment, n’est pas une pute. Pour moi il n’y a pas de putes, c’est tout. Tu peux sucer n’importe qui, tu peux te faire baiser par n’importe qui, tu n’est pas une pute.”
1.Aufrichtigkeit
Viel kann man lesen über die autobiografischen Bezüge des Films. Eustache, der eine ähnlich fatale Dreiecksbeziehung führte, seine Beziehung zu Françoise Lebrun im echten Leben, der Selbstmord jener Frau, auf der der Charakter von Bernadette Lafont basierte, die Thematisierung von Selbstmord, den auch Eustache mit 42 Jahren beging. François Truffaut hat einmal gesagt, dass er nur deshalb Filme über Kinder gemacht habe, weil er sonst nichts gekannt habe außer dem Kino. Und man müsse Filme über Dinge machen, die man aus dem Leben kenne. Dies ist schließlich auch der Grund, warum viele Ausbildungsstätten für Filmschaffende ein besonderes Augenmerk auf den Lebenslauf der potenziellen Studenten legen. Was daran fatal und falsch sein könnte, zeigen eben Truffaut und Eustache. Persönliche und echte Geschichten zu erzählen ist nämlich keine Sache des besonderen Lebenslaufs, sondern der Fähigkeit das Besondere im eigenen Lebenslauf verarbeiten zu können. Denn im Kern ist jedes Leben voller Filme. Was La maman et la putain also zu einem so aufrichtigen Film macht, sind nicht zwangsläufig die autobiografischen Bezüge, sondern vielmehr die Offenheit, Ehrlichkeit und Schlichtheit, in der sie Eustache sicht- und hörbar macht. Seine Auflösung ist einfach, statisch und auf den Kern fokussiert. Er hat die Rolle mit Léaud im Kopf geschrieben, aber er hat sie mit seinen Gedanken und seinem Leben gefüllt. Mehr braucht der Film nicht. Hier wird keine kinoästhetische Schlacht im Stil von Jean-Luc Godard geschlagen, keine kinematographische Entfremdung in architektonischen Formen wie bei Michelangelo Antonioni aufgebaut, sondern die Wahrheit und die Fixierung der Zeit liegen bei Eustache im Vergehen von jener Zeit und in den Dialogen/Monologen. Die Konsequenz der Länge des Films ist pure Logik. Ähnlich wie beim diesjährigen Cannes-Gewinner La vie d’Adèle kommt erst dadurch das Leben hinter den Figuren zum Vorschein. Man scheint etwas nur lange genug betrachten zu müssen, um tiefer einzutauchen. Alleine das würde schon das filmische Potenzial von La maman et la putain rechtfertigen, aber die Verortung im Kino ist auch deshalb notwendig, weil die Charaktere in einer Kinowelt leben. Immer wieder macht Alexandre Querverweise auf Filme von Chaplin, über Elio Petri bis zu Bresson; ein großes Thema im Film ist das Rollenspiel. Alexandre ist damit beschäftig so zu sprechen wie andere sprechen, die Stimmungen schwingen unheimlich schnell um. Es geht darum, dass jeder eine Rolle spielen will, aber die Kamera ist unerbittlich und weil sie einfach nicht weggehen will, kann der Zuseher irgendwann tatsächlich hinter die Masken blicken. Eustache bleibt so lange auf der Falschheit bis sie echt wird. Er ist ein großer Künstler des Kinos. Die Rolle einer aufgeklärten und sexuell befreiten Kultur? Nicht umsonst löste der Film einen Skandal in Frankreich aus, denn die Gesellschaft, die er zeigt, ist kaputt. In welchem anderen Medium hätte Eustache seine Idee vom Leben zeigen können? In keinem, weil er ein Kind des Kinos ist und weil Kino durch jedes seiner Bilder und Worte spricht. Wenn man in einem Roman wie High Fidelity das Gefühl hat, dass das Buch eigentlich besser eine Schallplatte wäre, dann macht das Spaß, führt aber zu keinem tieferen Erlebnis. Bei Eustache sind Künstler und Medium eine Einheit und das sollte man dann auch nicht vergessen, wenn Lebensläufe in Filmschulen wichtiger zu sein scheinen, als die Beziehung zum Kino. Denn auch bei Truffaut sind Kinder nur ein Mittel, um seine Liebe zum Medium auszudrücken. Bei Eustache ist diese Liebe aber Leid.
Et je me fais baiser par n’importe qui et on me baise et je prends mon pied.
2.Verortung
La maman et la putain ist derart fest an einem Ort und vor allem in einer Zeit verortet, dass er tatsächlich als Portrait einer Generation verstanden werden kann und zwar im dokumentarischen Sinne. Wie kann ein Filmemacher nur sowas erreichen? Das hat sich auch Olivier Assayas gefragt:
„Je n’aurais pas imaginé ne pas citer La Maman et la Putain. J’ai l’impression de vivre avec ce film depuis qu’il existe. Je me pose, comme beaucoup de gens dans le cinéma, la question de savoir comment on peut refaire quelque chose comme cela, comment on peut atteindre ce qu’Eustache a atteint. Je crois que la réponse est qu’on ne peut pas. Eustache a dans ce film résumé et accompli une idée qui était celle de la Nouvelle Vague. Il a fait le film qui avait été théorisé par la Nouvelle Vague.”
Assayas selbst scheint mir zumindest manchmal eine modernere Version von Jean Eustache mit einer guten Prise Hongkong-Kino und einer sich ständig bewegenden Kamera zu sein. Es geht hier um nichts geringeres, als Leben auf die Leinwand zu bannen, das etwas über das eigene Leben aussagt. Und zwar individuell und auf die Gesellschaft bezogen. Die On-Location Drehs der Nouvelle Vague helfen da natürlich ungemein. Die Cafés und Wohnungen atmen den Geruch von Paris um 1970. (Ich war nicht da, ich kenne ihn nur aus Filmen, darüber könnte man einen weiteren Blogeintrag verfassen…) Die Themen sind von Film- und Popkultur durchdrungen; Kostüm, Frisuren, Komparsen. Da ist nicht viel gestellt, da wurde nicht viel konstruiert. Film als Zeitdokument. Heutzutage werden diese Zeitdokumente anderes hergestellt, sie scheinen konstruiert werden zu müssen, wie in Fight Club von David Fincher oder kürzlich in Spring Breakers von Harmony Korine. Der Entwurf und das nicht zu Ende Denken, ja nicht zu Ende schauen sind hier Teil einer Generation, die es zu portraitieren gilt. Das sind schon fast keine Filme mehr, sondern montierte Eindrücke, die sich nicht an Charakteren festhalten, deren Charaktere sich sogar auflösen. Doch kommt da Film nicht an eine merkwürdige Grenze? Wenn man die Stimmung einer Generation nur mit MTV-Ästhetik einfangen kann, kann man sie dann noch mit Filmen einfangen? Oder wäre die Rolle von Filmen nicht eine gänzlich andere, eine die nach Wahrheit unter der Oberfläche sucht, statt die Oberfläche zur Wahrheit zu verklären? Was sowohl Korine als auch Fincher versäumt haben im Vergleich zu Eustache ist einen echten, glaubhaften Charakter ins Zentrum ihrer Gesellschaftsanalysen zu stellen. Denn genau dieser Alexandre, der in seinem Macho-Narzissmus versucht ein mondänes Intellekt erscheinen zu lassen, ist der Grund warum der Film auch 2013 noch genau so funktioniert wie vor 40 Jahren.  Vor kurzem habe ich mir über ein Kino der Deformation Gedanken gemacht. Auch bei Eustache gibt es diese Deformation, die das Filmsetting zu einem echten Setting macht und einen verzerrten Spiegel vor das Gesicht des Zusehers hält: Sie liegt im Verhalten der Charaktere, im Humor des Films, in den Stimmungswechseln. Die Verortung könnte naturalistischer nicht sein und die Deformation bei Eustache ist eine naturalistische, denn sie obliegt nicht einer bewussten Veränderung des Alltäglichen, sondern dessen messerscharfen Analyse.
Il ne faut baiser que quand on s’aime vraiment.
3.Alltäglichkeit
Was ist Alltäglichkeit eigentlich im Kino oder was kann es sein? Eine genau so vager Begriff wie Realismus, vielleicht ist Alltäglichkeit der irrelevante Bruder von Realismus? In erster Linie mag man, gerade im Bezug auf La maman et la putain denken, dass es mit dem Verstreichen von Zeit zu tun hat. Oft bleibt die Kamera von Eustache lange Zeit auf den Charakteren, obwohl scheinbar nichts passiert. Die Abwesenheit von Handlung oder einer motorischen Umsetzung des Denkens liegt auf der Hand. Oft scheinen Alexandre und vor allem auch Veronika beziehungsweise Marie genau das zu tun, was sie nicht tun wollen. So versucht Marie Alexandre zärtlich zu berühren, als dieser mit Veronika schläft, aber ihre Hand wird von Veronika immer wieder weggeschlagen.  Mehr noch scheint mir Alltäglichkeit aber eine Frage des Rhythmus zu sein.  Von der ersten Einstellung an wird Zeit nicht manipuliert bei Eustache sondern abgebildet. Selbst die Schnitte entstehen in Form einer Blende daher langsam. La maman et la putain als Denkprozess, der Vivre sa vie nochmal entschleunigt und vor allem sich die Zeit nimmt lose Teile zu verbinden. Entfremdung entsteht hier nicht durch Lücken, sondern durch deren Betonung. Alltäglichkeit ist immer auch einer Auswahl unterzogen. Es geht darum, nicht immer die scheinbar entscheidende Handlung zu zeigen, sondern den Moment der Zeit im Bild einzufangen. Nachdem Alexandre und Veronika Marie verlassen, bleibt die Kamera gegen den Impuls der Handlung, die eigentlich Alexandre folgt bei Marie. Sie legt eine Platte auf und man betrachtet sie das ganze Lied ohne sie wirklich zu sehen, weil sie sich von der Kamera abwendet. Hier ist also ein entscheidender Moment, der aber alltäglich ist. Es geht nicht darum etwas Besonderes zu zeigen, sondern darum, dass aus dem Banalen etwas Besonderes entsteht. Natürlich gehört das Understatement in der Kameraarbeit auch dazu. Kaum eine Einstellung würde man als speziell schön oder ästhetisch bezeichnen, immer steht die Kamera dort wo sie steht. Meist effektiv, aber nicht zwangsläufig. Das erinnert dann an Cassavetes, der Figuren unscharf hatte oder aus dem Bildkader verschwinden ließ, oder eben modernere Fassungen eines solchen Kinos der Alltäglichkeit wie die Gebrüder Dardenne oder den unglaublichen Cristi Puiu.  Puiu ist deswegen unglaublich, weil er wie ein Musterbeispiel dienen kann, um Alltäglichkeit im Kino zu erklären oder sich dem anzunähern, was es sein kann. In seinem Marfa și banii folgt er einer Gruppe von Jugendlichen, die Drogen transportieren auf ihrer Fahrt nach Bukarest. In Jump-Cuts drängt sich der Film mit langen Einstellungen in Richtung der rumänischen Hauptstadt und immer schein Puiu sich für die unbedeutenden Ereignisse zu interessieren. Damit erschafft er eine Echtheit, die das Kino zu seiner immer noch wahrsten Form führen können: Realität. Selbst wenn dramatisches passiert, sind nicht alle Weichen auf Drama gestellt bei Puiu und auch bei Eustache. Lachen und Weinen, Zuneigung und Ablehnung, Liebe und Ekel wechseln sich ab. Ein absurd-existenzialistisches Element schwingt dabei mit. Diese Filme fragen sich was es heißt zu leben und damit fragen sie auch automatisch das Kino nach seinen Fähigkeiten. Es passiert unheimlich viel, aber die Bewegung muss nicht immer linear sein. Kino hat die Möglichkeit ein Bild und mehrere Bilder quer zu lesen, es stehen zu lassen, in der Zeit aufgehen zu lassen. Der einzelne Moment kann an Bedeutung gewinnen und sich in der Zeit entfalten. Die scheinbare Willkür offenbart sich sowohl bei Eustache als auch bei Puiu und allen anderen genannten Filmemachern als präzises Auge und Ohr. In den leeren Momenten liegt oft mehr Gehalt als in den handlungsdominierten. Leben muss ja nicht unbedingt heißen etwas zu tun. Gerade Kinogänger, die während sie den Film sehen, sitzen und schauen, sollten wissen, was möglich ist, in einem solchen „leeren“ Moment, der mir in der aktuellen, von Bildschirmen und Passivität beherrschte Gesellschaft umso wichtiger erscheint.  In der Alltäglichkeit entsteht dann das, was Deleuze ein Zeit-Bild nannte. Er hat das verbunden mit einer Überwältigung, einer Machtlosigkeit der Protagonisten, die selbst zu Zusehern werden. In La maman et la putain werden die Protagonisten sogar zu Zusehern ihrer eigenen Handlungen. Einmal spricht Alexandre davon, dass er sich nicht von Menschen trennen kann, weil das die Zeit sowieso regeln wird. Er wolle nicht den Job der Zeit übernehmen. Grausam und wunderschön daran ist, dass die Zeit diese Dinge wirklich regelt.
Im Leben, im Film.