A Butterfly and the Smiling Martyr

There’s a butterfly winging into the image in Vittorio De Sica’s La ciociara as Jean-Paul Belmondo and Sophia Loren are hiding behind the stone wall of a bridge. A German sidecar is racing towards them on the road, but they promptly fade into the shadow of the barrier. The butterfly doesn’t take the risk, it quickly changes direction and drifts away before the car appears. The butterfly doesn’t share the image with the military vehicle. A tender, heart-warming coincidence, coming and going with the wind, a coincidence that can only happen in cinema. Later, Belmondo and Loren get lucky again and survive a bombing; this time, the camera intentionally catches a ladybug climbing through the grass. The tranquillity of insects only draws our attention for brief seconds: the film is loud, robust and hopeless, depicting the last years of World War II in Italy through the story of a widowed mother, Cesira – played by the high-spirited and constantly grimacing Loren – and her daughter, Rosetta, who try to find shelter in Cesira’s native village after the bombing of Rome.

There, they meet Michele, a young man characterized by his burning faith in literature and the peasantry, his reverence for sincerity and the Bible and his unrelenting criticism of both his own community and the world he would never see. His dignity and moral concerns are not taken seriously by his environment, which regards his youthful temperament with impatience. His eyesight is so weak that when he accidentally sees Rosetta naked, Cesira comforts her daughter by saying that Michele can barely see anyway. He is played by Belmondo, who hadn’t interiorized his persona yet and was able to nuance Michele’s explosive, insecure and profusely kind movements and gestures. He stands with his back to Cesira, whom he secretly adores and looks far away while contemplating his past vocation of becoming a priest. Maybe it was indeed my vocation and that’s why I shouldn’t do it, Michelle adds. He is anxiously crumpling Rosetta’s history book that he took from her to make a speech about the ignorance of schools. When Cesira asks him about girls, he gets uncomfortable and painfully giggles. Two fascists turn up, they tell Michele about the arrest of Mussolini and threaten to kill him. He only smiles at them, standing in a truly priest-like posture. If it’s true, I can die happy. When a group of German soldiers take him to show them the quickest way through the mountains he also smiles. Everyone around him seems to understand what will follow.

Michele is neither a holy fool, nor a consequent ideologist. In his hasty arguments, overt generosity, his prudent reading from the Bible, his clumsy romantic attempts and faraway moments of staring at flowers and ladybugs, Michele incorporates that transitional state between a child and an adult, between self-imposed austerity and the desire to live. He doesn’t know when to change directions as routinely as the butterfly, but they’re similar in their delicacy.

Jean-Paul Belmondo became a little too cool, virile and muscular for Michele over the decades. Yet, with different motivations and in different clothes, he kept looking for the truth in idiosyncratic ways; he was even a priest once. The innocent smile had also altered over time but he continued to preserve his pride whenever he would walk towards death again.

De Sica-Retro: Vittorio, Schauspieler

Vittorio De Sica

Wenn eine Retrospektive zu Vittorio De Sica eines zeigt, dann, dass er keinesfalls auf seine neorealistischen Filme zu reduzieren ist – zu vielseitig und unstet ist sein Schaffen. Was ihn wirklich ausmacht, ist schwer zu sagen, außer einem Hang zu eleganter Inszenierung (so wenig das heißen mag) und wiederkehrender Motive, findet sich kaum ein roter Faden in seinem Oeuvre. Hier, am Blog haben wir uns schon ein wenig mit De Sicas Talent in der Auswahl seiner Darsteller beschäftigt, ich will im folgenden Beitrag aber quasi vor die Kamera wechseln und mich mit De Sicas Schauspielkarriere befassen.

Meint man, der Regisseur De Sica sei nur wenig oder ungenügend erforscht, so sieht man sich in einer Auseinandersetzung mit seinem schauspielerischen Lebenswerk mit noch marginaleren Aufzeichnungen und Analysen konfrontiert. Der Schauspieler De Sica, obwohl über rund drei Jahrzehnte einer der prägenden leading men der italienischen Filmindustrie, und bis heute dem (italienischen) Publikum noch gut im Gedächtnis, hat es nie geschafft das Interesse der Akademiker und Kritiker auf sich zu zehen. Verkompliziert wurden meine Recherchen noch durch den Umstand, dass meine Italienischkenntnisse für eine Auseinandersetzung mit einschlägiger Literatur in De Sicas Muttersprache unzureichend sind. Schließt man diese Quellen aus, so sieht die Sache noch prekärer aus.

Vittorio De Sica

De Sicas Schauspielkarriere ist eng mit seinem Lebenslauf verknüpft, ich wage zu behaupten enger als seine Arbeiten als Regisseur. Geboren 1901 in Sora im Latium, auf halbem Weg zwischen Rom und Neapel, komm er aus bescheidenen Verhältnissen. Er selbst bezeichnete sich als aus einer armen Familie stammend und obwohl viele hungrige Mäuler zu versorgen waren, lässt die väterliche Erwerbsbiografie darauf schließen, dass die Familie eher der unteren Mittelschicht zuzurechnen ist. Der Vater Umberto war Bankangestellter und wurde mehrere Male versetzt, was die ursprünglich neapolitanische Familie erst nach Sora gebracht hatte, und später nach Florenz weiterziehen ließ. Die verschiedenen Aspekte der italienischen Kultur mit denen er durch die häufigen Umzüge konfrontiert wurde, verarbeitete er später in seinen Regiearbeiten; selbst sah er sich aber in erster Linie als Neapolitaner.

Durchaus kurios dann seine Jugendjahre. Während er selbst eine sichere Position in einer Bank oder ähnliches anstrebte, also seinem Vater nacheiferte, sah dieser für seinen Sohn eine Zukunft im Showbusiness. Durch Bekannte sicherte Umberto dem jungen Vittorio erste Filmrollen in den Jahren 1917 und 1918, die Vittorio nur annahm um damit seine Schulgebühr bezahlen zu können – fürs Schauspielen begeistern konnte er sich noch immer nicht so recht.

Seine Meinung sollte sich erst in den 20er Jahren enden, als er nach Beendigung seines Militärdiensts in die Theatertruppe von Tatjana Pawlowa eintrat. Zuerst spielte er alte Männer und Clowns, wurde aber bald durch sein gutes Aussehen und sein elegantes Auftreten als Hauptdarsteller in diversen Romantikkomödien eingesetzt. Die gleichen Eigenschaften sollten ihn rund zehn Jahre später zum matinee idol der telefoni bianchi-Ära werden lassen. Nebenher verfeinerte De Sica seine Technik, entledigte sich seines neapolitanischen Dialekts und knüpfte Verbindungen zu den Almirante-Brüdern, zu Mario Mattòli und schließlich auch zu Mario Camerini – unweigerlich führten ihn diese Kreise in die Welt des Films.

Dort machte man sich seine Popularität als Theaterdarsteller zunutze und besetzte ihn zunächst in ähnlichen Rollen. 1932 gelang ihm mit Mario Camerinis Gli uomini, che mascalzoni! der Durchbruch und er wurde vom bekannten Theaterschauspieler zum Filmstar. Über die nächsten sieben Jahre folgten vier weitere Filme unter der Regie Camerinis und an der Seite der Aktrice Assia Norris, die er ebenfalls schon aus seiner Zeit am Theater kannte (durch die Mitarbeit an diesen Filmen lernte er auch Cesare Zavattini kennen, der seine Regiearbeiten entscheidend prägen sollte). Diese Filme waren es vor allem, die De Sicas Ruf als „Italian Chevalier“ bzw. „Italian Cary Grant“ festigten (auch wenn Grant wohl nie Chauffeure und Mechaniker gespielt hätte). Anders als ein Chevalier, konnte er jedoch in Hollywood nie richtig Fuß fassen, und trotz einer Oscar-Nominierung für Charles Vidors Hemingway-Adaption A Farewell to Arms, mag das mit ein Grund sein, weshalb sein schauspielerisches Oeuvre im Diskurs heute weitestgehend ausgeklammert wird.

Neben diesen filmischen Erfolgen spielte De Sica aber auch weiterhin am Theater. Mehrmals betonte er, dass er sich dort viel wohler fühle. Insgesamt schaffte er es in seiner Karriere auf rund 125 Theaterproduktionen und 160 Filmrollen. De Sica war also ein Vielarbeiter, denn nebenher inszenierte er ja auch immer wieder Bühnenstücke und eigene Filme (in sieben seiner Filme besetzte er sich selbst – teils aber nur in winzigen Nebenrollen). Dieses Arbeitspensum hat mehrere Gründe, aber vor allem mit seinem Privatleben zu tun. De Sica war notorischer Spieler (ein Faktum, das in Filmen wie Il generale della Rovere und L’oro di Napoli aufgegriffen wird) und hatte mehrere Familien zu versorgen. Für seine zweite Ehe mit der spanischen Schauspielerin María Mercader (Fun-Fact: Schwester des Trotzki-Attentäters Ramón Mercader), nahm er sogar eigens die französische Staatsbürgerschaft an, da Scheidungen zu dieser Zeit in Italien gesetzlich nicht vorgesehen waren. Darüber hinaus finanzierte er mit seinen Schauspielergagen zum Teil auch seine Regieprojekte (soweit diese nicht ebenfalls als Auftragsarbeiten aus finanzieller Not heraus entstanden).

Vittorio De Sica in Il signor Max

Aber wieder zurück in die 30er Jahre als De Sica als junger Feschak Frauenherzen höher schlagen ließ. Gutes Aussehen allein reichte dafür natürlich nicht, De Sicas Screen Persona war nicht bloß jugendlicher Liebhaber, sondern schelmischer Herzbube, ein ausgefuchster Herzensbrecher, dem man so einige Eskapaden verzieh, solange er sich am Ende nur doch für das richtige Mädchen entschied (wiederum, biographische Gemeinsamkeiten). Mit den Jahren musste sich dieses Scharlatanentum natürlich verändern, dabei kam De Sica sein Genpool zugute, denn als Italiener alterte er in Würde und mit den ersten grauen Haaren erlangte er gleichsam darstellerische Erhabenheit. Wie von Geisterhand verschwand die jugendliche Leichtigkeit und der Mechaniker der unteren Mittelschicht entwickelte sich zum italienischen Baron, zu Carabinieri-Offizier, zum Weltmann. Sein Lächeln ist geblieben, doch sein Rollenfach hat sich je gewandelt.

Diesen Umstand machte sich ein ganz großer des italienischen Kinos zunutze. Roberto Rossellini, selbst etwas in der Kritik und in der Krise besetzte De Sica 1959 als Hauptdarsteller in Il generale della Rovere, einem Film über einen Hochstapler in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs, der von einem gewieften Nazi-Offizier in ein Gefängnis eingeschleust wird, um dort als Partisanengeneral della Rovere an strategische Geheimnisse zu kommen. Rossellini macht sich De Sicas etablierte Screen Persona zunutze, passt seine Rolle an De Sicas Biografie an (Spielsucht, Vorname, Geburtsort – das volle Programm) und lässt schließlich die frivole Leichtigkeit und die schelmische Unschuld im Angesicht von Kriegswirren und Gestapofolter zu grauenvollem Horror umschlagen. Ein unglaublicher Bruch, der einen Schock auslöst, der diesen Film umso mächtiger wirken lässt.

Ein Höhepunkt seiner Karriere, auf den wenig weitere folgen sollten. Frustriert stellte er in einem Interview mit Charles Thomas Samuels gegen Ende seines Lebens fest, dass immerzu seine schlechten Filme mehr Geld verdienten, als jene, die er für gut erachtete. Wegen seiner finanziellen Misere konnte er es sich aber schlicht nicht leisten viele Rollen abzulehnen. Eine Karriere, die ihn unter anderem für Vittorio Cottafavi, Alessandro Blasetti, Augusto Genina, Dino Risi, Luigi Comencini, Mario Monicelli, Antonio Pietrangeli, Alberto Cavalcanti, Roberto Rossellini, Charles Vidor, Max Ophüls, Abel Gance, Anthony Asquith, Joseph Losey und Terence Young vor der Kamera stehen ließ endete schließlich in einem kurzen Cameo-Auftritt als verarmter italienischer Baron in der Warhol-Produktion Blood for Dracula. Ein Filmauftritt, symptomatisch für die Pragmatik in De Sicas Rollenauswahl, außergewöhnlich weil er sich selbst auf Englisch spricht, und vielleicht auch deshalb ganz kurios, absurd, befremdend überspitzt gespielt (an der Seite von Udo Kier fällt das aber kaum auf). 1974 trat Vittorio De Sica von der Bühne des Lebens ab.

 John Darretta über De Sicas Kino: „Life, at times, may be a Neapolitan festival, but it is always at the mercy of the gambler’s companion: Fate.“


Musica italiana: Alessandro Cicogninis Kompositionen für Vittorio de Sica

Wenn ich über Vittorio de Sicas Filme und ihre Besonderheiten nachdenke, ist die Musik sicherlich nicht das erste, was mir einfällt. Vielmehr hat sich die Musik in seinen Filmen der 40er und 50er-Jahre in mein Gedächtnis als sehr klassisch eingeprägt; ich hatte jedoch zugegebenermaßen niemals Zeit und Muße mich näher damit zu beschäftigen. Deshalb habe ich unsere De Sica-Retrospektive genutzt, um mich näher mit diesem Thema zu befassen.

Betrachtet man De Sicas umfangreiches Werk fällt auf, dass er mit zahlreichen Komponisten zusammengearbeitet hat, besonders sticht allerdings der Name Alessandro Cicognini hervor, der sich für die Musik von insgesamt acht Filmen unter der Regie von De Sica verantwortlich zeigt (sieben davon im Zeitraum zwischen 1946 und 1956). Es handelt sich also um eine Zusammenarbeit in eben jener neorealistischen Schaffensphase, die das Bild, das wir heute von De Sica haben, maßgeblich geprägt hat. Eine Unzahl von Texten cinephiler und filmwissenschaftlicher Autoren setzt sich mit dem Thema des Neorealismus auseinander, dabei wird oft sehr wenig auf die Musik dieser Filme eingegangen. Das mag wohl größtenteils daran liegen, dass die Musik (so wie es auch mir ergangen ist) beim ersten Hinhören kaum Besonderheiten aufweist, die sich in Zusammenhang mit der neorealistischen Ausprägung des Films sehen lässt. Cicogninis Kompositionen bilden da keine Ausnahmen; zwar wurde seine Musik von Kritikern meist positiv kommentiert und er wurde 1949 für seine Arbeit an Ladri di Biciclette mit dem Nastro d’Argento ausgezeichnet, doch sind umfangreichere Auseinandersetzungen mit seiner Musik sehr rar.

Dabei lohnt sich eine genauere Betrachtung seiner Kompositionen und deren Einsatz in den Filmen De Sicas; so fallen sein ökonomischer Einsatz von musikalischem Material und viele Feinheiten bei der Orchestrierung auf, die sich teilweise stark von scheinbar ähnlichen Kompositionstechniken aus Hollywood unterscheiden.

Schon bei seiner ersten Zusammenarbeit mit De Sica für den Film Sciuscià (1946) entscheidet sich Cicognini dafür, ein einziges dominantes musikalisches Thema als Grundlage für die gesamte Musik zu komponieren: eine fröhliche Melodie in den Holzbläsern, die Assoziationen zur kindlichen Verspieltheit der Protagonisten Pasquale und Giuseppe weckt. Dieses Thema wird in einer Art kurzen Ouvertüre zu Beginn des Films exponiert und von schweren Akkorden in den Blechbläsern kontrastiert, die später die Machenschaften der kriminellen Gesellschaft, in welche die beiden Jungen hineingezogen werden, symbolisiert. Cicognini gelingt es nicht nur mit dem kurzen Hauptthema die beiden Protagonisten zu charakterisieren, sondern er passt das Thema durch kleine Veränderungen in der Instrumentierung und Tonlage an die verschiedensten Situationen an, die während der Handlung durchlaufen werden. Die Methode, mit der Cicognini arbeitet unterscheidet sich dabei gar nicht von seinen Kollegen, die in den 30er und 40er-Jahren in Amerika die bekannten Melodien der großen Hollywood-Klassiker komponieren, schließlich greift er, ebenso wie z. B. Max Steiner und Erich Korngold, auf Praktiken zurück, die sich in der Oper des frühen 19. Jahrhunderts ausbildeten und von den klassisch ausgebildeten Filmkomponisten in ihr musikalisches Schaffen übernommen wurde. Cicognini bevorzugt es allerdings mit kleinen Ensembles oder Kammerorchestern zu arbeiten (im Gegensatz zu den großen, symphonischen Orchestern, die vielfach in amerikanischen Filmen dieser Zeit zu hören sind). Es gelingt ihm dadurch eine melodiöse Leichtigkeit zu schaffen, die bisweilen an die tänzerischen Momente bei Verdi oder Puccini, sodass die Musik sofort als „italienisch“ erkennbar ist. Ebenso wie De Sicas Themen örtlich und zeitlich fest an das Italien der 40er und 50er Jahre gebunden ist, so zeigt auch Cicogninis Musik eine Welt, in der italienische Opernklassiker sich im Bewusstsein der Gesellschaft mit zeitgenössischen Gassenhauern vermischen.

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Auch in Ladri di Biciclette (1948) und Umberto D. (1952) arbeitet Cicognini mit sehr spärlichem musikalischem Material, um die grundsätzlichen Konflikte der Handlung offenzulegen. Die unerträgliche Stagnation im Hauptthema von Ladri di Biciclette, in dem zunächst nur ein Ton umspielt wird, bevor sich die Melodie sehr langsam nach unten bewegt, steht auch für eben jenen Teufelskreis, in dem sich der Protagonist Antonio Ricci wiederfindet: seines eigenen Fahrrads beraubt, wird er selbst zum (erfolglosen) Fahrraddieb. Neben diesem Hauptthema setzt Cicognini zu mehrt auf imitatorische Mittel und spiegelt in seiner Musik z. B. Regen und Fahrradklingeln wider.

In Umberto D. verfeinert Cicognini seine Arbeit noch weiter und stellt zwei kontrastierende Hauptthemen nebeneinander: ein leichtes, walzerartiges Thema für Umberto und eine zerbrechlich-kindliche Melodie für Maria. Die Musik legt durch den Kontrast der beiden Themen zueinander nicht nur den äußeren Konflikt der Handlung offen, sondern weist auch durch die Wahl der einzelnen Themen auf die inneren Konflikte der Figuren hin. Umberto ist ein Mann, der in der Vergangenheit lebt: trotz seiner Armut würde er es nie wagen, ohne Anzug aus dem Haus zu gehen oder in der Öffentlichkeit von seinen Schulden zu reden. Er ist unfähig sich mit seiner Situation abzufinden und bringt es nicht übers Herz, die nötigen Wege zur Besserung seiner Situation einzuleiten. Das Walzerthema, das Cicognini für ihn komponiert ist eben jene Verweigerung der Erkenntnis, dass sich seine Lebensumstände geändert haben; es wird so zu einem tragikomischen Thema, das oftmals der Situation gar nicht angepasst scheint. Nur in kurzen Momenten der Klarheit rutscht der Walzer in dunkle, impressionistisch haltlose Gefilde ab und öffnet einen Blick auf das Unglück des Umberto D. Maria hingegen hat selbst nie eine andere Welt erlebt, als die, in der sie sich jetzt befindet. Sie ist jung, lebt in ärmlichen Verhältnissen und erwartet ein Kind von einem unbekannten Vater. Die Musik, die sie begleitet kennzeichnet sie jedoch selbst noch als kindlich und zerbrechlich – ist sie bereit, die Verantwortung für ihr eigenes Kind zu übernehmen? Diese Frage lassen De Sica und Cicognini unbeantwortet. Im Kontrast zwischen den in seiner Vergangenheit gefangenen Umberto und der in der Gegenwart gefangenen Maria liegt ein zentraler Konflikt der Handlung, der in der Musik sichtbar wird. Cicognini gelingt es dennoch niemals plakativ zu werden, seine Themen bleiben in Umberto D. stets ambivalent und behalten es sich vor, nicht alle Fragen beantworten zu müssen.

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1953 wagte sich De Sica mit Stazione Termini an einen Film, der im Vergleich zu Umberto D. und Ladri die Biciclette sehr amerikanisiert und kommerzialisiert wirkt. Wieder schrieb Cicognini die Musik. Es handelt sich dabei um einen Umbruch in der Zusammenarbeit der beiden, schließlich ist es der erste nicht-neorealistische Film, an dem sie gemeinsam arbeiten. Gleich zu Beginn fällt die Verwendung eines großen Orchesters auf, das mit reich besetzten Streichern das sequenzierende musikalische Hauptthema vorstellt. Auch wenn dieses Thema dramatisch-effektreich und eingängig ist und im Film immer wieder zur Verwendung kommt, so vermag es nur einen blassen Eindruck der Situation und der Protagonisten zu vermitteln. Das Hauptthema wird von Cicognini nicht mit solcher Konsequenz verwendet, wie er es in den vorangegangenen Filmen getan hat, er reichert die Musik immer wieder mit rein spannungserzeugenden Passagen an, die thematisch nicht zuordenbar sind. Zudem fällt auf, dass die Musik im Film zu mehrt melodramatisch (im eigentlichen Sinne des Wortes) verwendet wird. Dies ist eine Technik, die man im klassischen Hollywood-Kino sehr häufig, in De Sicas neorealistischen Filmen allerdings nur vereinzelt vorfindet. In solch einem Verfahren tritt die Musik stark in den Hintergrund und wird fast vollständig von einer kommentierenden oder kontrastierenden Funktion befreit. Zwar schafft Cicognini spannungsgeladene Momente, doch weiß die Musik weder auf intellektueller noch auf emotionaler Ebene so zu berühren, wie sie es in seinen früheren Arbeiten für De Sica tut.

Dass das Konzept eines kommerziellen Films unter Zusammenarbeit von De Sica und Cicognini (zumindest aus musikalischer Sicht) funktionieren kann, zeigt L’Oro di Napoli (1954). In der Tragikomödie, die aus insgesamt sechs Episoden besteht, greift Cicognini wieder auf eine konsequent thematisch arbeitende Technik zurück. Dabei entwickelt der Komponist für jede der einzelnen Episoden (außer die dritte, welche völlig ohne musikalische Untermalung auskommt) ein einzelnes passendes Thema und zudem ein einheitliches Einleitungsthema für alle Episoden. In der etwa fünf Minuten langen Ouvertüre werden, angeführt vom Einleitungsthema, alle Themen vorgestellt. In den ersten beiden Episoden wird Cicogninis Musik zwar über weite Strecken eingesetzt, doch bleibt die thematische Arbeit zu vage und wenig charakteristisch, um sich wirklich im Gedächtnis des Zuschauers verankern zu können. Erst das Thema des Comte Prosperi (Rolle gespielt von De Sica selbst) vermag mit seiner komischen Oboenmelodie und zeitweise eingesetztes Mickey-Mousing den Film maßgeblich zu bereichern und den Zuschauer zum Schmunzeln zu bringen. In der fünften Episode greift Cicognini auf dramatische Effekte ähnlich der Musik in Stazione Termini zurück, doch durch Simplizität des Themas und dessen konsequenter Verarbeitung erweist sich die Musik als viel wirkungsvoller; der erste Auftritt des Don Nicola, dessen melancholisch-mystische Streicherbegleitung mit der ersten Sekunde einen tiefen Blick in die Seele dieses gebrochenen Mannes erlaubt ohne zu viel zu verraten, gehört – dank der Musik Cicogninis – zu den besten Momenten des ganzen Films.

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Dies ist eben die Qualität von Alessandro Concigninis Musik: sie ist simpel und lässt tief blicken ohne etwas Konkretes zu erzählen. Sie deckt Konflikte auf ohne sie zu simplifizieren. Sie drängt sich nicht in den Vordergrund, aber versucht sich nicht zu verstecken. Sie ist „italienisch“ wie De Sicas Filme. Sie ist ambivalent, lebendig und niemals in sich geschlossen und bleibt so zeitlos. Sie bereichert die Filme De Sicas um einen weiteren Aspekt, den es sich lohnt genauer zu betrachten.

De Sica-Retro: Sequenzanalyse zu I Sequestrati di Altona

I Sequestrati di Altona von Vittorio De Sica

Anfang der 60er Jahre machte sich Vittorio De Sica daran, Jean-Paul Sartres Theaterstück Les Séquestrés d’Altona zu verfilmen. Sartre lässt darin den halbverrückten Spross einer reichen Industriellenfamilie aus Altona auf dem Dachboden des herrschaftlichen Familienanwesens die Psyche der janusköpfigen Gesellschaft der Nachkriegszeit aufdecken. Im Film übernimmt diese Rolle Maximilian Schell, den De Sica gekonnt durch das existenzialistische Kammerspiel Sartres peitscht. Diese Szenen in Schells Refugium, die vor allem auf psychologisch tiefe Dialoge setzen, bricht De Sica allerdings immer wieder mit Ausblicken in die „echte Welt“ auf. Das heißt, er begibt sich auf die Straßen Hamburgs, die Reeperbahn, in die monumentalen Werften des Hafens, und stellt so einen sehr viel eindeutigeren Bezug zur Bundesrepublik her, als Sartre – die Bühnenfassung hat eindeutig universelleren Charakter. Neben dieser allegorischen Funktion dienen diese Szenen natürlich auch der Auflockerung des Rhythmus und bieten De Sica Gelegenheit seine souverän-eleganten Kamerafahrten für sich sprechen zu lassen und die räumliche Beengtheit der Kammer zu verlassen.

Im Folgenden widme ich mich nun einer Sequenz zu Beginn des Films, in der De Sica seine inszenatorische Finesse dazu einsetzt, mit Hilfe des besonderen Charakters der Stadt einen Protagonisten einzuführen und die Stimmung für den ganzen restlichen Film festzulegen. Dies tut er zugegebenermaßen nicht auf allzu subtile Weise, aber keineswegs aufdringlich oder brachial. Ich denke, das Besondere an seinem Regiestil ist die Eleganz und Souveränität, mit der er die (zu) eindeutigen Gesten in seiner Bildersprache verschleiert.

Zu Beginn der Sequenz befinden wir uns kurz nach Minute fünf im Film. In der Vorspannsequenz sah man deutsche Soldaten an der verschneiten Ostfront russische Partisanen foltern, in der darauffolgenden Szene erfährt ein alter Mann, gespielt vom amerikanischen Hollywoodveteranen Frederic March, dass er an Kehlkopfkrebs erkrankt ist, und nur mehr sechs Monate zu leben hat. Der Mann scheint sich mit diesem Urteil abzufinden – sechs Monate reichen ihm, sagt er – trotzdem wirkt er bei Verlassen der Praxis wie ein geknickter, sterbender, alter Mann. March wird zunächst als brüchiger Charakter dargestellt, zwar wirkt er gefasst, doch lernt ihn das Publikum in einem Moment der Schwäche kennen.

I Sequestrati di Altona von Vittorio De SicaI Sequestrati di Altona von Vittorio De SicaI Sequestrati di Altona von Vittorio De Sica

Frederic March verlässt also die Arztpraxis, marschiert gefasst, wie nach jedem anderen Termin in Richtung seines Wagens. Dort wartet bereits ein Chauffeur, der die Autotüre öffnet und dabei artig die Kappe abnimmt. Der alte Mann strahlt ohne Zweifel Respekt aus, der Umgangston der 60er Jahre war noch weitaus förmlicher als heute; aber dennoch – dieser Mann ist kein Umberto und schon gar kein armer Schlucker. Mit entschlossenem Blick stiert er schließlich aus dem Fenster, während der Wagen sich in Bewegung setzt. Wer ist dieser alte Mann? Wer ist dieser Mann, der einen noblen Wagen samt Chauffeur vorzuweisen hat?

I Sequestrati di Altona von Vittorio De Sica I Sequestrati di Altona von Vittorio De SicaNächster Schauplatz: der Hamburger Hafen. Mächtige Schiffe zeichnen sich vor dem nebelverhangenen Horizont ab. Es regnet nicht, doch wirkt es unangenehm kalt. Passend zum Wetter kommt der alte Mann mit säuerlichem Blick wieder ins Bild. Nun kaum mehr geknickt, aber noch immer mit seinen Röntgenunterlagen unter dem Arm, steht er wie eine Statue vor dem Hamburger Hafenpanorama – hinter ihm weht gar eine Flagge im Wind. Kurz ist man räumlich desorientiert – der Alte scheint über dem Hafen zu schweben, bis sich herausstellt, dass er an Bord eines kleinen Bootes das Hafenbecken durchquert. Dieses Boot ist keine Fähre, sondern scheinbar nur für den alten Mann allein gedacht; nach einem Luxuswagen nun also ein ebenso exklusives Fortbewegungsmittel zu Wasser. Noch mehr als diese Tatsache, fällt aber De Sicas Inszenierungsweise ins Auge; wie eine griechische Statue wird der Alte an Bord seines Schiffes in majestätischer Pose abfotografiert und verzieht dabei keine Miene, sondern trotzt dem Wetter, als könne es ihm gar nichts anhaben. Der Eindruck verstärkt sich, dass dieser Mann mehr auf dem Kasten hat, als man es beim Verlassen der Arztpraxis womöglich erwartet hätte.

I Sequestrati di Altona von Vittorio De Sica I Sequestrati di Altona von Vittorio De Sica I Sequestrati di Altona von Vittorio De SicaEine Schleuse tut sich auf, das Boot mit dem alten Mann an Bord begibt sich in das Innere eines größeren Werftgeländes. Dort begegnen ihm mehrere Boote ähnlicher Größe, die als Fähren für Werftarbeiter dienen. Der Alte überblickt das Geschehen und verzieht weiterhin keine Miene, während die Mannschaften an Bord der entgegenkommenden Schoners dem Alten respektvoll zujubeln. Ist das der Triumphzug Cäsars? Doch was ist das für ein eigenartiger Pyrrhussieg, den der alte Mann erfochten hat; sechs Monate verbleiben ihm in diesem Leben noch – was für ein Reich hinterlässt dieser Feldherr? Und welche Schlachten sind noch ausständig, um es zu konsolidieren?

I Sequestrati di Altona von Vittorio De Sica I Sequestrati di Altona von Vittorio De SicaIn einer letzten Einstellung im Hafen blickt die Kamera auf ein riesiges, in Bau befindliches Schiff, auf den das kleine Boot zusteuert. Von der Schiffsschraube aufwärts beginnt die Kamera hochzuschwenken, ganz oben über der Werft prangt der Schriftzug „GERLACH“, der schon zuvor auf dem Tor der Schleuse zu lesen war. Gerlach heißt also das Reich, in das der Mann einzieht, dem soviel Respekt entgegengebracht wird. Wer aber ist nun dieser Feldherr, und welche Funktion nimmt er im Reiche Gerlach ein?

I Sequestrati di Altona von Vittorio De Sica I Sequestrati di Altona von Vittorio De Sica I Sequestrati di Altona von Vittorio De Sica I Sequestrati di Altona von Vittorio De SicaEin Schnitt später und die Kamera hat den Hafen verlassen. Ein Meer von gezogenen Hüten empfängt Frederic March, als er ins Gewusel des Bürogebäudes eintaucht, wo er nun als solitäre Majestät durch die Masse der Untertanen schreitet. In nur wenigen Einstellungen vermag es De Sica, noch deutlicher, als in den Szenen mit den Fährschiffen zuvor, das Charisma dieses Mannes herauszukehren. Selbst als dieser im Paternoster nach oben fährt, folgen ihm die Blicke und die Menschen erweisen ihm ihren Respekt, während er weiter stoisch, maximal mit einem leichten Nicken, deren Gesten erwidert. Aus dem Paternoster schließlich der erste echte POV-Shot in dieser Sequenz: der Mann blickt herab auf die Angestellten und Arbeiter und die abgenommenen Hüte. Das ist Macht.

I Sequestrati di Altona von Vittorio De Sica I Sequestrati di Altona von Vittorio De Sica I Sequestrati di Altona von Vittorio De SicaSchließlich betritt der alte Mann ein großes Büro. Ein Kameraschwenk folgt ihm, während er an einem Besprechungstisch vorbeigeht; im Hintergrund die Kranlandschaft des Hamburger Hafens. Das Büro thront augenscheinlich über dem Hafen. Ein großer Bürotisch kommt ins Blickfeld, zu diesem Zeitpunkt vermuten wir schon, dass der Alte nicht für eine Besprechung hier ist, sondern hinter dem Tisch Platz nehmen wird. Der Tisch ist ein Thron, ein angemessener Platz, nicht bloß für einen Feldherren, sondern für einen Cäsaren erster Güte. Frederic March ist Gerlach.

Der Kameraschwenk stoppt, als der Mann den Tisch erreicht. In einem kurzen Moment der Ambivalenz wirft er seine Krankenunterlagen auf den Tisch und ruft wieder das Phantombild des gebrochenen, alten Mannes vom Anfang zurück ins Gedächtnis. Im nächsten Augenblick sammelt er sich, macht es sich auf seinem Sessel bequem und verstaut die Unterlagen in einer Schublade – aus den Augen, aus dem Sinn.

I Sequestrati di Altona von Vittorio De Sica I Sequestrati di Altona von Vittorio De Sica

Nach nunmehr drei Minuten Laufzeit wird der Alte erstmals in dieser Sequenz von einer anderen Figur in eine Konversation verwickelt. Ganz ohne gesprochene Worte hat De Sica bis dahin Frederic March als den Industriellen Gerlach präsentiert. Gerlachs rechte Hand Gelbert betritt nun das Büro, um seinem Chef die neuste Ausgabe des Spiegels vorzulegen; Gerlach ist am Cover – ein echter „Gigant von Deutschland“. Nun sind alle Zweifel beseitigt – dieser Mann hat Macht. Die Analogie von der griechischen Statue, die über dem Hamburger Hafen thront, hat im Nachhinein Berechtigung erfahren.

Doch irgendetwas stimmt nicht. Gerlach scheint über Gelberts Bericht verstört zu sein. Ist das bloß eine Nachwirkung der soeben vernommenen Nachricht über seinen baldigen Tod? Oder ist der Artikel im Spiegel womöglich weniger schmeichelhaft, als es das Titelbild suggeriert?

I Sequestrati di Altona von Vittorio De Sica I Sequestrati di Altona von Vittorio De Sica I Sequestrati di Altona von Vittorio De SicaGelbert schlägt die Zeitschrift auf und spricht über einen Mann namens „Franz“. Eine Fotografie eines jungen Mannes in deutscher Uniform ist zu sehen – „Franz Gerlach“ die Bildüberschrift, „Heldentod bei Smolensk“ die Bildunterschrift. Dieser Mann war bereits unscharf im russischen Schneegestöber der Vorspannsequenz zu sehen. Abermals schwenkt die Kamera hoch, und über der Fotografie aus der Zeitung wird dieselbe Fotografie eingerahmt am Tisch des alten Gerlachs gezeigt. Der Alte wirkt wieder gefasst und sogar ein leichtes, wenn auch müdes Lächeln zeichnet sich auf seinem Gesicht ab. Ein weiterer Krieger, einer, der den verlustreichen Kampf nicht überstanden hat. Nun wird die wahre Drastik der Situation deutlich. Der Erbe des sterbenden Herrschers weilt selbst nicht mehr unter den Lebenden. Warum wirkt der Alte dann aber so gefasst angesichts seines eigenen Endes? Wie bewahrt er seine innere Ruhe, und was entlockt ihm sogar ein Lächeln in Anbetracht dieser ungünstigen Situation?

Diese und weitere Fragen klärt der weitere Verlauf des Films, in der der Mann am Foto eine gewichtigere Rolle einnimmt, als der sterbende Patriarch. Trotz dieser qualitativen Verschiebung bleiben diese anfänglichen Fragen nach dem Verhältnis zwischen Mann und Firma, Vater und Sohn relevant.

Die Art und Weise, in der De Sica diese gebrochene Figur Stück für Stück zur majestätischen Führungspersönlichkeit aufbaut, beruht auf den eingangs erwähnten Eigenschaft des ihm eigenen Regiestils. Eindeutig, aber nicht aufdringlich, setzt De Sica Symbolik ein, gibt genug Informationen frei um die Ausgangslage zu beschreiben, verkauft sein Publikum aber nicht für dumm, sondern vertraut fast ausschließlich auf visuelle Elemente, um den Charakter und seine Position einzuführen. De Sica mag nicht zu den ganz großen Autorenfilmern gehören, aber ohne Zweifel verfügt er über beträchtliche handwerkliche Qualitäten und einen Sinn für visuelles Erzählen, und über die gleiche Noblesse und Leichtfüßigkeit, die ihn auch als Schauspieler auszeichnen.

Lose Räder: Zur Frage des Realismus in Ladri di biciclette

Eines vorab: Die Stellung der Fahrraddiebe als Zentralmassiv im Pantheon der Filmgeschichte ist mir bewusst – es wurde schon so vieles über diesen Film gesagt und geschrieben; Cinephile, Filmemacher, Kritiker und Künstler, Zeitgenossen und Nachgeborene haben ihn mit Lob überhäuft, akribisch analysiert und unwiderruflich dem Kanon überantwortet. Diese Heiligsprechung hat vielleicht sogar den Blick auf das übrige Schaffen seiner Urheber verstellt, insbesondere jenes Vittorio De Sicas, der oft darauf reduziert wird, mit diesem Film dem Neorealismus die Krone aufgesetzt zu haben, obwohl sein Oeuvre als Schauspieler und Regisseur eine weitaus größere Bandbreite an Genres, Stilen und Stimmungen bereithält. Und es wäre doch wohl die Aufgabe einer engagierten Cinephilie, mit solchen Gemeinplätzen aufzuräumen, eine Gegenhistorie zu proponieren, ein Schlaglicht auf vernachlässigte Facetten ikonischer Figuren und Strömungen zu werfen, um das eindimensionale, harmonische Filmgeschichts-Bild, das unser Kollektivbewusstsein besetzt hält, aufzubrechen und auszuweiten. Im Übrigen ist es müßig, sich weiter mit Ladri di biciclette zu beschäftigen.

Sprechen wir also über Ladri di biciclette.

Man stelle sich vor, man erkundigt sich als ahnungsloser Außenstehender bei einem Kinokenner, was es denn nun eigentlich mit diesem „Neorealismus“ auf sich habe, und er zeigt einem als Antwort diesen Film. Welche Schlüsse könnte man daraus ziehen, was würde einem auffallen im Vergleich zu gewohntem Gegenwartskino, was steckt hinter den Floskeln von den „echten Menschen“, die man „draußen auf den Straßen“ gefilmt hat, was ist damit gemeint?

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Tatsächlich zeigt die erste Einstellung des Films eine Straße, genauer gesagt einen Linienbus, der langsam ein leichtes Gefälle heruntertuckert und an einer Haltestelle abbremst. Die Passagiere steigen aus, einer von ihnen wird von einer größeren Gruppe Umstehender bedrängt, ein Pulk entsteht und setzt sich in Richtung eines noch unbestimmten Ziels in Bewegung. Die Kamera bleibt in der Totale, schwenkt erst mit dem Bus mit und folgt dann der Menschenmenge, alldieweil läuft der Vorspann unbekümmert über das Geschehen. Es ist eine Szene, wie sie gewöhnlicher nicht sein könnte, aufgenommen aus der Perspektive eines teilnahmslosen Beobachters, der etwas abseits seine Zeit vertrödelt. Noch deutet abgesehen vom wehmütigen Soundtrack Alessandro Cicogninis nichts auf eine Inszenierung hin, so oder so ähnlich könnten sich vergleichbare Non-Ereignisse auch vor unseren eigenen halb-interessierten Augen abspielen, wären wir vor Ort zugegen. Und es ist ein richtiger Ort, der auch ohne Film einer wäre: Im Hintergrund weisen Häuserblöcke in die Tiefe, aus manchen Fenstern lugen Laken und flattern im Wind, das Mauerwerk wirkt alt und mitgenommen. Das relativ tiefenscharfe Bild wird von peripher aufgepflanzten Figuren punktiert, vereinzelte Passanten laufen umher. Überdies ist nicht nur an den Schatten klar erkennbar, dass die Sonne für Beleuchtung sorgt und nicht etwa ein Scheinwerfer. Für eine derart unscheinbare Aufnahme wäre dies ein enorm aufwändiges Studio-Set. Man ist bereits in dieser ersten Minute geneigt, von einer „realistischen“ Atmosphäre zu sprechen, und zwar in dem Sinne, dass hier gewisse Dinge vor der Linse existieren und passieren, die sich nicht um selbige scheren, sich in ihrem Wesen und in ihrer Erscheinung nicht erst für das Kino herausbilden – oder zumindest den Eindruck erwecken, als ob es so wäre, indem sie besagten Dingen ähneln, die im Regelfall keiner Aufmerksamkeit für würdig erachtet werden, da sie zu trivial anmuten: Ansichten und Vorgänge, die gerade ihre Alltäglichkeit, ihre Verankerung in einer geteilten und vermeintlich vertrauten Realität einer Wahrnehmungs-Inflation unterwirft.

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Oberflächlich verbleibt Ladri di biciclette seine gesamte Spielzeit über in diesem dokumentarischen Modus. Oberflächlich, weil es um die Oberflächen geht: Die Straßen (die zwar einen zentralen, aber keineswegs den exklusiven Schauplatz des Films bilden), die Gebäude, die Interieurs, das Mobiliar, die Kleidung, die Körper, die Gesichter, und bis zu einem gewissen Grad auch die Situationen sind darauf geeicht, den genannten Realitätseffekt zu erzeugen. Es geht nicht nur um die Anhäufung von Details, sondern wesentlich auch um deren Beschaffenheit. Sie sind so geartet, dass man sie als Zuschauer (vorausgesetzt, man wäre 1948 in Rom ansässig gewesen) wiedererkennt: So oder so ähnlich hat man diese Dinge auch schon außerhalb des Kinos gesehen und erlebt, im Alltag, und diese Verwandtschaft ist ein entscheidendes Wahrheitsattest der Bilder. Das zweite, nicht minder bedeutende ist der Umstand, dass man sie oft auch auf diese Weise gesehen hat: Im Hintergrund, im Vorbeilaufen, aus dem Augenwinkel. Wenn die von Lamberto Maggiorani gespielte Hauptfigur Antonio mit Freund und Sohn im Schlepptau durch einen Fahrradmarkt schlendert, um sein gestohlenes Gefährt ausfindig zu machen, schweift die Kamera im Gegenschuss die Läden entlang wie ein suchender, flüchtiger Blick, und was wir sehen, ist viel zu überbordend, um es auf einmal zu erfassen und verarbeiten, auch weil uns niemand sagt, was davon wichtig ist. Sind es die Menschentrauben im Vordergrund, die Handwerker weiter hinten, die aufgehängten Reifen und Felgen, oder doch die kulissenhaften Säulenreihen, die sich über die Szenerie recken? Die Fülle, ihre Unbewältigbarkeit durch Film und Betrachter kündet von der Wirklichkeit des Blicks.

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Interessant ist aber, dass diese Wirklichkeit der Überfülle, die einen Großteil der Einstellungen von Ladri di biciclette im Wortsinne belebt, oftmals hochgradig künstlich ist. Die Rede vom Einlass unerheblicher Nebensächlichkeiten in hermetische Kinokonstruktionen gehört zu den Schibboleths neorealistischer Historiografie. Mark Cousins etwa kommentiert in seinem Bildungs-TV-Monumentalwerk „The Story of Film“ die Szene, in welcher der kleine Bruno gegen Ende des Films seinem komatös durch die Straßen hatschenden Vater hinterherhechelt und dabei beinahe von zwei Autos überfahren wird, folgendermaßen:

„In a Hollywood film the dad would have seen this and grabbed the boy and scolded him or comforted him, but also realized how much he loved him. But in Italian neorealism such moments just happened, without cause or effect. It was a loose end. It didn’t play back into the plot.”

Dies ist eine bestenfalls blauäugige Behauptung. Es gibt in den Filmen, die landläufig dem Neorealismus zugerechnet werden – ebenso wie anderswo – zweifellos Beispiele für das, was Cousins hier beschreibt, aber sein Exempel hält der Erhebung zum Zufallshund oder „losen Ende“ nicht stand. Das der Augenblick offenkundig inszeniert ist (nicht einmal der extremste Neorealist würde ein Kind für seine Kunst solcher Gefahr aussetzen), sollte einem schon Aufschluss darüber geben, dass er eine verhältnismäßig klare Funktion erfüllt, die sich durchaus über den Plot definiert: Er vermittelt beispielsweise die totale Hoffnungslosigkeit Antonios, der von der Erkenntnis der Fruchtlosigkeit seiner beschwerlichen Suche in einen kummervollen Trance-Zustand versetzt worden ist und darob kurzzeitig sogar seinen Sohn vergisst, um dessentwillen er sich die ganze Zeit über abgemüht hat; oder den Mangel an Solidarität und Barmherzigkeit, der den Film durchdringt und hier in den rücksichtslos am Jungen vorbeirasenden PKWs ein unaufdringliches Sinnbild findet. Zwar wahrt De Sica Distanz mit der Kamera und schlachtet die Szene, die das sprechende Ereignis auch fokussieren und akzentuieren hätte können, emotional nicht aus (das erledigt in diesem Fall ohnehin die Musik), aber es ist immer noch alles andere als ein beiläufiges, ephemeres Blätterrascheln ohne poetischen Sinn und Zweck. Der sprichwörtliche Einbruch der Realität muss also anderswo von statten gehen.

Vielleicht würde eine Marginalie aus De Sicas I bambini ci guardano ein besseres Beispiel abgeben: Die Kernfamilie des Films posiert für ein idyllisches Strandporträt, das Oberhaupt betätigt den Selbstauslöser seiner Kamera; ein frecher Bengel nutzt die Chance für eine Fotobombe und mischt sich unbemerkt ins Bild. Auf den ersten Blick ist dieser anekdotische Einschub nichts weiter als ein unbedarfter Ulk, dessen Albernheit sich mit der doch eher melancholischen Grundstimmung des Films schneidet und diese temporär für die Möglichkeiten anderer Timbres und Texturen öffnet, der also nichts anderes im Sinn hat als die Ausstellung der widersprüchlichen, disharmonischen Parallelität disperser Existenzen und Atmosphären, die einen das Dasein immerzu spüren lässt. Doch die Inszenierung gestaltet sich hier noch augenfälliger als in Cousins‘ Exempel – jenes war ein Rechtsschwenk aus der Totale, hier haben wir eine mehrstufige Auflösung – was wiederum die Vermutung nahelegt, der Moment habe narrativen Gehalt; und tatsächlich kommt man nicht umhin, ihn als ironischen Kommentar auf das Selbstbild der Familie zu lesen, die ein einträchtiges Außen kultiviert, während das innere Gefüge kurz vor dem Zusammenbruch steht.

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Zurück zu den Fahrraddieben: Dort gibt es eine Randnotiz, die Cousins‘ Ansprüchen schon eher gerecht wird. Bruno und Antonio stellen sich circa auf halber Strecke ihrer Odyssee wegen strömenden Schauern bei einer Häuserfront unter (eingequetscht zwischen frappierten österreichischen Ordensbrüdern, die sich gut hörbar und vergleichsweise glaubhaft auf Deutsch über „den Salzburger Schnürlregen“ unterhalten – noch so ein lustvoll überflüssiger Realitäts-Marker). Als der Niederschlag versiegt, erspäht Antonio den Dieb schräg gegenüber und nimmt die Beine in die Hand, sein überraschter Sohn folgt ihm auf dem Fuße. Am rechten Rand des Kaders – wieder handelt es sich um eine Totale – passiert zugleich etwas völlig Nebensächliches: Ein alter Händler kippt im Sitzen seinen kleinen Stand, um das angesammelte Regenwasser abfließen zu lassen. Das ist nun wirklich ein loses Ende – solch eine verhaltene Feinheit dient ausschließlich dem Realismus und nichts anderem. Die Handlung des Mannes drängt sich dem Zuschauer nicht auf, sie steht für sich und ist in sich geschlossen, die Erzählung wird nicht davon affiziert, ob man sie zur Kenntnis nimmt oder nicht. Aber wie bereits beschrieben erzeugt sie, gerade weil sie jeglicher Notwendigkeit entbehrt, ein Gefühl von Wirklichkeitsnähe. Denn Wirklichkeit ist paradoxerweise nicht das, was passieren muss, es ist das, was passieren könnte. Das Kino selbst bezieht seine eigentümliche Kraft schon seit seiner Geburt aus dem Spannungsverhältnis zwischen Kontrolle und Kontingenz, die ihm von Natur aus innewohnt; daraus nämlich, dass jede noch so luftdichte Mise en Scène von so etwas wie Zufall, und sei es nur das unwillkürliche Zucken im Gesicht eines Schauspielers, infiltriert werden kann. Kino bleibt immer verwundbar.

Doch auch das eben gebrachte Beispiel erweist sich wenig überraschend als kalkulierte Kontingenz, zumal der Regenguss ein falscher war, den De Sica angeblich mit Hilfe der örtlichen Feuerwehr arrangierte. Je näher man sich mit Ladri di biciclette auseinandersetzt, desto augenscheinlicher wird, dass sein Realismus eine sorgfältige, fast schon pedantische Konstruktion darstellt. Sehen wir dem Film, der mit Großaufnahmen nicht geizt, ins Gesicht:

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Sind das die Gesichter „echter“ Menschen? Ich weiß es nicht; Menschen sind es auf alle Fälle, und Starvisagen sehen anders aus. Aber banal und ausdruckslos kann man diese Antlitze auch nicht nennen, im Gegenteil: Ihnen eignet allen eine bemerkenswerte Expressivität, die zwischen dem Typenhaften und dem Natürlichen oszilliert. Sie sind markant und zeigen alle etwas an, das über das bloße Mensch-sein hinausgeht, ohne restlos in diesen Ideen aufzugehen: brüchige Würde, schwindende Unschuld, ruppige Wut. Jeden dieser Laiendarsteller könnte man sich in einer Paralleldimension als character actor denken. Sie wurden mit Bedacht für ihre Rollen ausgewählt, womöglich auch, weil ihre Physiognomien eine imaginierte Quersumme der Gesichter bestimmter italieneischer Milieus ihrer Zeit bilden (Milieus, die im Grunde erst durch solche Imaginationen generiert werden), aber definitiv nicht, weil sie so „echt“ sind, dass sie im Alltag niemals jemandem auffallen würden. Ihr Alleinstellungsmerkmal ist nicht die Abwesenheit von Besonderheiten, sondern die Deutlichkeit ihrer Authentizität, die widersprüchliche Selbstverständlichkeit, mit der man bei ihrem Anblick sagen würde: „Das ist ein Mensch, das ist eine/r von uns.“ Wo bleibt nun der wahre Zufall, das Ver-Sehen, das sich dem Zugriff des Regisseurs entzieht? Möglicherweise findet es sich nur im grellen Licht, das in den Außenaufnahmen auf den Gesichtern flirrt und das Pflaster küsst.

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Oder kann man Neorealismus narrativ verstehen, über die im entsprechenden Diskurs vielbeschworene Schonungslosigkeit, mit der die Zeitgeschichte in diesen Filmen porträtiert wird? Es lässt sich nicht leugnen, dass Ladri di biciclette, namentlich Cesare Zavattinis Drehbuch, sein Augenmerk auf gesellschaftliche Gegebenheiten legt, deren Bewusstsein nicht angenehm ist, und auch davon absieht, diesen ihren Stachel zu stutzen. Es ist ein Wirklichkeitsverständnis, das äußerst flapsig formuliert wie folgt funktioniert: „Ihr glaubt vielleicht, bei uns ist alles eitel Wonne, aber im Leben gibt’s für viele oft kein Happy End. In Wirklichkeit vertschüssen sich die Probleme unserer Mitmenschen nicht wie von Zauberhand – Probleme, an denen ihr alle einen Anteil und womöglich sogar Mitschuld habt – und das Erzählkino darf die Augen nicht vor diesen Missständen verschließen!“ Der Realitätsbegriff wird hierbei in Differenz zum Bild des Kinos als blendender Lustmaschine ausgeprägt. Doch der Gegenentwurf ist der eines Kinos als (unmöglicher) Unlustmaschine, die ebenso weit entfernt ist von jeder gelebten Wirklichkeit. „Realität“ bedeutet in diesem Kontext schlichtweg den berechtigten Widerstand gegen die Realität der Mehrheit. Dieser Gestus der Gegenwehr tritt im Manifestcharakter der letzten Einstellung von Ladri di biciclette unmissverständlich zutage. Eigentlich ist es kein „schlechter“ Ausgang, nur ein offener, der die Protagonisten an einer ungünstigen Stelle verlässt. Aber die Art, wie sie mit der Masse verschmelzen, zwei Schicksale unter Tausenden, schreit das Publikum förmlich an: Ihr habt dieses Ende zu verantworten! Wollt ihr wirklich damit leben?

Eines sollte wohl jedem klar sein: Alle bisher genannten Methoden, Ansätze und Eigenschaften finden sich hier weder zum ersten noch zum letzten Mal in der Geschichte des Kinos, nicht einmal in jener des italienischen. Es gibt unzählige Vorläufer, Vordenker, Vorarbeiter, und bestimmt auch den einen oder anderen Solitär, der schon viel früher wesentlich radikalere Visionen vergleichbarer Stoßrichtung verwirklicht hat – denn diese gibt es immer, selbst wenn man es nicht für möglich hält. Und das führt uns wieder zur Frage des Kanons.

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Es darf wohl ohne weiteres behauptet werden, dass Ladri di biciclette außerhalb von cinephilen Kreisen als das Vorzeigewerk des Neorealismus gilt. Aber warum gerade dieser Film, wenn wir doch soeben gezeigt haben, dass es bei all seinen unleugbaren Qualitäten bestimmt bessere Beispiele für die rückhaltlose Hingabe an eine Wirklichkeit gibt, die also in höherem Maße zugelassen haben, dass diese sich selbst inszeniert – etwa die Arbeiten des kaum weniger renommierten Roberto Rossellini oder Luchino Viscontis La terra trema. Eine mögliche Antwort liegt in seiner Rundheit. Damit ist kein Mangel an Komplexität gemeint, sondern eine Ganzheit und Vollständigkeit selbst innerhalb dieser Komplexität – der Eindruck, dass alles „passt“, jede künstlerische Entscheidung mit jeder anderen verknüpft ist und sich alle miteinander gegenseitig bedingen, so dass selbst die Elemente, die wirklich dem Zufall entsprungen sind, absichtsvoll erscheinen. Beim überwiegenden Teil des Kanons (der zugegebenermaßen immer schon eine außerordentlich diffuse Konzeption war und sukzessive schwieriger zu fassen wird – als mustergültige Spitze des Eisbergs fungieren oft die Top 10 der berühmten Sight-&-Sound-Bestenliste) handelt es sich um Filme, die eben keine „losen Enden“ haben, sondern wirken wie aus einem Guss: Buchstäbliche Geniestreiche, virtuos und auf eine Pointe hin ausgeführt, die mit aller Kraft ins Schwarze trifft. Man kann sich darauf einigen, weil es innerhalb ihres jeweiligen künstlerischen Gefüges nichts gibt, was prinzipiell Wohlgesonnene entzweien könnte. Es geht um Einheit, Einheitlichkeit und die Einsichtigkeit von Ursache und Wirkung, aber auch um inhaltliche Universalität, um allgemein Menschliches trotz aller Spezifizität im Detail. So ist auch die Geschichte um Bruno und Antonio ungeachtet der essentiellen Funktion ihrer historischen Verortung und ihres Lokalkolorits ein stromlinienförmiges Gebilde mit straffem Spannungsbogen, das auch unter veränderten Vorzeichen nichts von seiner emotionalen Wucht verlieren würde, eine in ihren Kernaspekten klassische Heldenreise mit Figuren, deren Aktionen man durchwegs nachvollziehen kann, auch wenn man nicht mit ihnen einverstanden ist. Darauf fußt zu einem nicht unbeträchtlichen Teil auch der Erfolg von Gegenwartsrealisten wie den Dardenne-Brüdern, deren jüngere Arbeiten eher an De Sica anschließen als an Rossellini. Der Motor ist hier wie dort jene humanistischen Kapitalweisheit, aus der ein anderer kanonischer Film ein prägnantes Zitat geschnitzt hat: „You see, in this world there is one awful thing, and that is that everyone has his reasons.“ Aber was ist mit den Filmen, deren Gründe unergründlich sind?

De Sica-Retro: Gesichter oder Geschichten

Nach der Sichtung und meinem Text zu Miracolo a Milano gab es bei uns in der Redaktion eine intensive Debatte, um die Frage nach den „echten Menschen“ bei De Sica. Es scheint als würden die humanistischen Geschichten und die dafür gefilmten Gesichter nicht unbedingt zueinander passen. Oder doch? Wählt De Sica Figuren aus, die individuell sind oder die einem bestimmten Klischee entsprechen? Im Folgenden möchte ich die an unserer Facebook-Pinnwand geführte Diskussion zwischen Andrey Arnold und mir unkommentiert und an unwichtigen Stellen etwas abgeschliffen abtippen und mit entsprechenden Bildern aus dem Film kombinieren. So kann für beide Meinungen nochmal eine neue Sicht auf das Thema gewonnen werden.

Andrey : Das mit den wahren Gesichtern ist auch so eine Sache: wenn De Sica einen alten, verhutzelten Mann castet, den man sofort als „alten, verhutzelten Mann“ erkennt, und diesen dann auch nichts anderes darstellen lässt als einen alten, verhutzelten Mann, dann weint man, wenn man weint, zwar mit allen alten, verhutzelten Männern dieser Welt, aber sicher nicht mehr mit DIESEM alten, verhutzelten Mann, den es eigentlich gar nicht gibt. Irgendwo steckt da die ganze Crux des Humanismus drin.

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Patrick: Ich glaube, dass zum Thema alter Mann hier eine Unterscheidung getroffen werden muss. Ich finde, dass das was Andrey sagt, durchaus auf die Narration von Zavattini zutrifft, also jenes Nicht-Individuelle, das Metaphorische…aber die Gesichter für sich stehend sind individuell, sie erzählen Geschichten und sind nicht einfach nur Ideen, wie sonst so vieles in dem Film. Natürlich ist es schwer die Gesichter von ihren Geschichten zu trennen, aber wenn ich mich alleine auf das Casting beziehe, dann finde ich das durchaus bemerkenswert. Das sind (egal ob Schauspieler oder nicht) echte Menschen.

Das Wunder von Mailand

Andrey: Bemerkenswert (im Wortsinne) ist das Casting auf jeden Fall, aber ich muss dennoch ganz böse nachhaken: Was wären denn „falsche“ Menschen im Film?

Das Wunder von Mailand

Patrick: Das typische Schauspielgesicht für den alten Mann…Menschen, die mit gepflegten Gesichtern auf ungepflegt geschminkt werden, um so etwas wie Armut zu repräsentieren, Menschen, die zu genährt aussehen, Menschen, die irgendwelchen klassischen Schönheitsidealen entsprechen, Menschen, die nichts Markantes an sich haben, denen alles fehlt, an dem man sich stoßen kann, die rund und klar sind (wie der Film das ja oft ist)…ansonsten sind Gesichter zu wertvoll und zu sehr das Kino, um hier zu erklären, weshalb sie einem in der Wahrnehmung als wahr erscheinen.

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Andrey: Ich verstehe, aber das grausame Problem ist, dass jenes Gesicht, das „echt“ arm aussieht, dies eben auch nur tut, weil sich seine Züge mit denen eines medialisierten Idealbilds von Armut decken (wofür es natürlich nichts kann). Und die wirklich „wahren“ Gesichter des Kinos wären für mich jene, die weder in die eine noch in die andere Kategorie passen. Den alten, verhutzelten Mann unter Anführungszeichen sollte man indes besser zur Hauptfigur eines Films machen, oder von mir aus so inszenieren, wie es Albert Serra mit seinen Laien macht.

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Patrick: Aber Albert Serra nimmt ja nicht Personen, die das spielen, was sie sind (ist auch schwer bei den Heiligen 3 Königen, Casanova, Dracula und Don Quixote…)…stattdessen verweigert er einfach das Schauspiel mit interessanten Körpern und Gesichtern (eine grobe Vereinfachung) De Sica hat in seiner neorealistischen Phase oft Laien genommen aus dem jeweiligen Milieu…Ich gebe dir nicht recht, da ich glaube, dass De Sica insbesondere dadurch gewinnt, dass bei ihm bis in die kleinste Nebenrolle das Milieu stimmt, der Gestus, alles. Was daran falsch oder unwahr sein könnte, verstehe ich nicht. Nur weil die Darstellung einem Klischee entspricht, muss man sie nicht brechen…und ich glaube nicht mal, dass die Gesichter überhaupt einem Klischee entsprechen können…nur die Geschichten können es und sie sind ein Klischee, das 1951 sicher noch keines war. Die Inszenierung eines Gesichts scheint mir überdies etwas anderes zu sein als seine Auswahl.

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Andrey: Bei Serra lobe ich genau das: Dass die Menschen nicht das spielen, was sie sind. Und was die Unwahrheit einer Milieuzeichnung angeht: In jedem Milieu finden sich allerlei verschiedene Gesichter, würde ich meinen, und wenn man da gezielt die „typischen“ – die Mehrheit – herausfiltert, um sein Porträt mit dem Klischee zur Deckung zu bringen, mag das gut gemeint sein im Sinne von Authentizität, und womöglich kann man sogar etwas darauf aufbauen, aber letztlich spielt man dabei immer dem Klischee in die Hände, man nobilitiert es sogar, indem man es im Namen eines rechtschaffenen Realismus zur Wahrheit erklärt. Es ist gerade die „Stimmigkeit“, die man anprangern kann. Aber vielleicht hast du recht, wenn du sagst, dass es am Ende nur um die Geschichten geht, in die die Gesichter eingebettet sind, vielleicht ist das der Knackpunkt.

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Patrick: Aber so stimmig ist es ja nicht, wenn weniger Gedanken und mehr Realismus in die Auswahl eines Darstellers gehen? Ist es nicht etwas Wertvolles, wenn ein Filmemacher sich entscheidet die Realität, das Dokument, in seine Illusionen zu lassen? Und selbst wenn es das nicht ist, ist das dann etwas Falsches oder Uninteressantes? Serra ist ja kein Vergleich, weil der keinen zeitgenössischen, demokratischen Drang in seinen Film hat…dieses: Wir geben den „normalen“ Menschen eine Stimme im Kino, das hat doch etwas schönes…und Serra besetzt ja nach Aussehen, also doch nach genau denselben Prinzipien…ah, dieser Mann sieht aus wie Casanova, Peranson sieht aus wie Joseph usw. Dann bricht er sie in der Darstellung, er will das Andere, das Ungewöhnliche, das Unschuldige, das Unreflektierte, Unbemerkte…aber das hat nichts mehr mit seinem Casting zu tun. Ich glaube es ist eher dein zweites Problem, also jenes der Narration und das Absurde an unserer Diskussion ist dann, dass ich derselben Meinung bin und das hier und im Text so formuliert habe. Ich verstehe dieses „Typische“ anhand der Inszenierung und Narration, nicht aber anhand der Gesichter, denn ich wüsste nicht, was dort typisch ist oder war, ich weiß überhaupt gar nicht, was ein typischer Mensch ist. Ich kann nur in ein Gesicht sehen und diesem Gesicht glauben oder nicht. Mehr kann ich nicht. Im Fall von Miracolo a Milano glaube ich den Gesichtern mehr als ihren Geschichten, ich lese sie- wenn du magst- gegen den Strom. Ja, es gibt idealisierte Bilder, von den Medien vorgekaute, aber das kann ich einem Film nur schwer vorwerfen.

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Andrey: Aber wenn du nicht weißt, was ein „typischer“ Mensch ist, warum glaubst du dann einem Gesicht und einem anderen nicht? Woran erkennst du den Realismus? Das ist wie Stephen Colbert, wenn er ironisch behauptet: „I don’t see race. People tell me I’m white and I believe them.“ Es gibt doch immer soziale und politische Determinanten, die unsere Wahrnehmung mitbestimmen, und gerade wenn es um die Herstellung von Normalität geht, werden diese besonders wirksam. Wie sieht das Gesicht aus, dem du – ganz unabhängig von Geschichte, Inszenierung, Herrichtung – nicht glaubst? Ist es ein falsches Lächeln, was du meinst?

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Patrick: Ich kann eine typische Darstellung erkennen, nicht aber das typische Gesicht. Ich kann filmische Methoden zur Herstellung von Realismus erkennen, nicht aber die Realität. Ich kann erkennen, wenn jemand Bruchstellen in seiner Fiktion zulässt, um die Realität hereinzulassen ohne, dass ich mich anmaßen würde zu wissen, was die Realität ist. Ich behaupte, dass De Sica für diesen Film Darsteller gefunden hat, die in ihren Körpern/Gesichtern von individuellen Geschichten erzählen, die vom Film so nicht benutzt werden, die aber durch das Casting schon in den Film Einlass gefunden haben und die ich dadurch wahrnehmen kann. Ich nehme Gesichter oft stärker wahr, als Geschichten im Kino, daher ist mir dieser Punkt wichtig. Zu den falschen Gesichtern habe ich schon einiges gesagt weiter oben. Bresson hat dazu mehr und besseres gesagt, Serra auch. Ich gebe dir aber insofern Recht, dass bei De Sica manche Nebenrolle etwas zu forciert gecastet wurde. Trotzdem ist ein solches Casting in einem Märchen interessant.

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De Sica-Retro: Wunder

Vittorio De Sica stellt ans Ende seiner Filme gerne ein Wunder. Damit löst er nicht immer im Sinn eines Deus Ex Machina alle Konflikte, aber er bringt Elemente in den Film, die von Werten jenseits dieser Konflikte handeln. Unabhängig davon, ob man diesen religiösen Tendenzen seines Oeuvres folgen mag, wirken diese Wunder niemals aufgesetzt, da die Filme durchgehend von der Hoffnung auf diese Wunder ausgehen. Sie äußern sich manchmal in kleinen Gesten, oft in großen Inszenierungen und werden vor allem von den Augenblicken nach dem eigentlichen Geschehen interessant. Zudem hängt auch der Zweifel am Wunder mit in den Bildern.

La porta del cielo

Das Tor zum Himmel De Sica

Im Nebel ausdrucksloser Mienen geschieht ein Wunder, das man Glauben kann oder dessen Inszenierung man durschauen kann. Es passiert nicht direkt im Herz der Protagonisten, aber so, dass sie es sehen können, dass man weiter glauben kann oder weiter zweifeln kann. In einer katholischen funkelnden Symmetrie wird das Wunder so ans Ende von La porta del cielo gesetzt, dass wir all das Leid vergessen könnten. Oh ja, dieses Wunder, dieses Wunder. In La porta del cielo folgt De Sica einem Zug zum Wunder, einer organisierten Pilgerfahrt von Kranken und Armen nach Loreto. Verschiedene Teilnehmer dieser Reise werden genauer vorgestellt und mit Flashbacks erfahren wir von ihren Geschichten. Besonders bemerkenswert dabei ist, dass zwei der Rückblenden sich mit offensichtlich nicht besonders gläubigen Männern beschäftigen. Einer von ihnen ist ein Pianist, dessen Hand den Dienst verweigert, ein anderer ist ein Arbeiter, der sich in Liebeleien mit einer jungen Frau verstrickt, bevor er diese zusammen mit der ganzen Belegschaft in einem Aufzug mit seinem Freund erwischt. Daraufhin verbrennt er sich die Augen im Hitzedunst und erblindet. Bislang habe ich keinen besseren Film von De Sica gesehen. Er berührt seine Leidenden hier mit gefühlvoll überlegten Bildern und einem ruhigen Verständnis für den Mythos und die Notwendigkeit des Glaubens für seine Figuren. Licht und Schatten erzeugen kantige Gesichter, die nach einer Heilung lechzen, aber wissen, dass sie diese nicht verlangen können. In einer wiederkehrenden Einstellung verbindet ein Schienenarbeiter zwei Wagons. Er steht dabei auf den Gleisen und wird zwischen den beiden Wägen eingezwängt, man glaubt immer, dass er gleich erdrückt wird, aber die Wägen docken so aneinander, dass er genau zwischen ihnen genug Platz vorfindet. Dies ist keine metaphorische sondern eine dokumentarische Szene, aber sie gibt wunderbar das Gefühl des Gefangenseins und der Verbindung wieder, die im Film eine dominante Rolle spielt. Es ist ein bitterer Film, am Ende des Krieges mythenumrankt gedreht. Angeblich verhinderte der Film den Abtransport vieler Filmschaffender in das neue faschistische Filmzentrum Italiens in Venedig. Das Wunder am Ende besticht durch seinen schieren Bliss, seine Länge und dadurch, dass es eben keinem der vorgestellten Protagonisten widerfährt. In Totalen von der singend marschierenden Gemeinde evoziert De Sica jenen Rausch der Gemeinsamkeit, der auch einen seiner anderen christlichen Wunderfilme Miracolo a Milano befeuchtet. Jedoch schneidet De Sica oft genug und zeigt das Geschehen aus unterschiedlichsten Perspektiven, sodass sich in Verbindung mit den nicht befreiten sondern nach wie vor fügsamen Gesichtern, ein Zweifel zwischen den Zeilen offenbart, der unser Augenmerk mehr auf die katholische Inszenierung legt, als das Wunder selbst. Vielleicht ist dies aber auch nur ein moderner, kirchenkritischer Blick auf die Bilder von meiner Seite. Die Konflikte im Film sind jene des Glaubens und auch die Inszenierung haucht Größenwahn und Bescheidenheit aus den Prinzipien der Religion. (Wie tot ist der spirituelle Filmemacher? )

Un garibaldino al convento

Un garibaldino al convento

Auch am Ende von Un garibaldino al convento steht ein Wunder. Allerdings ist dies ein völlig anderer Film. Eingebettet in eine Rahmenhandlung erzählt De Sica hier im beschwipst-schelmischen Ton vom Aufwachsen junger Damen und Rebellinnen in einem Kloster-Internat. Die Geschichte ist gegen den Hintergrund des Risorgimento gesetzt und eines Nachts rettet sich ein schwerverletzter, für Garibaldi kämpfender Soldat ins Kloster. Unsere zwei Hauptfiguren kennen ihn bereits, denn eine hat ein Auge auf ihn geworfen und eine andere ist bereits mit ihm verlobt. Zunächst verbleibt der Ton jener einer lieblichen Komödie, dann aber wechselt De Sica das Fach und hetzt mit (zugegeben aufgelockerten) Parallelmontagen in einen Kriegsfilm, indem Menschen erschossen werden. Am Ende verteidigen sich drei Eingesperrte in einer Hütte auf dem Kloster gegen die angreifenden Beamten, die mit Gewalt versuchen in die Hütte einzudringen. In einer bemerkenswerten Einstellung wechselt De Sica die Perspektive und wir folgen dem Gewehr eines Soldaten aus der ersten Person. Wir schießen auf die Protagonisten, die sich hinter einem aufgestellten Tisch verstecken. Als alle Hoffnung verloren scheint, kommt eine Statue der heiligen Jungfrau Maria ins Bild. Sie wird aus einer extremen Untersicht gefilmt während im Hintergrund die letzten Verzweiflungsschüsse in die Freiheit abgefeuert werden. Doch wie wir aufgrund der Parallelmontage bereits ahnen, kommt Rettung. Nino Bixio, italienischer Freiheitskämpfer verkörpert von einem betont lässigen, zwiebelschneidenden Vittorio De Sica eilt mit seiner Truppe vorbei und befreit die Eingeschlossenen. Die Vögel piepsen die italienische Nationalhymne, aber die Liebe wird für immer getrennt. Sie schreien: „Bis bald!“, aber werden sich nie wieder sehen. Es ist ein wilder Film, der mehrmals auf absurde Weise fast lächerlich wirkt, um im nächsten Moment auf noch absurdere Weise wieder zu funktionieren. Gerettet wird das Unterfangen wohl vom Geschick De Sicas in der Herstellung eines leichten Tons, der das Menschliche umarmt. Das ist per se kein Qualitätsmerkmal, aber in Verbindung mit den ernsten politischen und melodramatischen Untertönen durchaus interessant.

Umberto D.

Umberto D. De SicaAuch Umberto D. endet mit einem Wunder. Es geht vom kleinen Hund aus, der Umberto das Leben rettet als dieser sich vor einen Zug schmeißen will. (Immer wieder ist es der Zug, der das Leben der Figuren bei De Sica beenden oder neu-beginnen soll) Doch hier erarbeitet De Sica die volle Ambivalenz des Wunders, die in allen anderen Filmen nur eine Frage der Interpretation sein mag. Denn das Wunder führt wohin? Das Leben von Umberto hat und wird sich nicht verändern, er flaniert einsam mit seinem Hund davon. Er wird weder in den Himmel aufgenommen, noch darf er auf eine Befreiung Italiens hoffen, noch wird er von seinen Leiden befreit. Hier liegt das Wunder im Leben selbst und darin mag man keinen wirklichen Trost finden. Mit Umberto D. lassen sich auch die unbeeindruckten Gesichter in La porta del cielo oder der schmerzvolle Blick auf die Kette des verstorbenen Verlobten am Ende von Un garibaldino al convento verstehen. In gewisser Weise ist Umberto D. damit das Gegenstück zu Miracolo a Milano, denn in Letzterem ist kein Platz mehr auf der Erde und deshalb fliegen die Benachteiligten ins Himmelreich während der Benachteiligte in Umberto D. dazu verdammt ist, auf der Erde zu bleiben. Dennoch wird dieses Verbleiben auch wie ein Wunder, eine Rettung inszeniert. Damit ist Umberto D. wohl der katholischste Wunderfilm von De Sica. Er handelt von Genügsamkeit und von einer Liebe des Lebens. Aber – und das ist entscheidend – darin liegt keine Hoffnung sondern nur Existenz. Ein Wunder bei De Sica erzählt also immer mehr von Werten, die über das eigentliche Leben der Figuren hinausreichen. Es sind Wunder, die den emotionalen und existentiellen Sorgen der Figuren nicht wirklich helfen. Sie bleiben unglücklich verliebt oder im Rollstuhl, aber sie haben etwas verstanden, was größer und wichtiger scheint. Damit ist De Sica zur gleichen Zeit ein Idealist als auch völlig aus der Mode gekommen. Wertevermittlung, moralische und politische Botschaften in einer derartigen Direktheit ins Herz seiner Filme zu stellen, ist aus heutiger Sicht kaum mehr nachvollziehbar. Jedoch lohnt sich ein zweiter Blick, denn die Tatsache, dass De Sica diese Werte in Form von Wundern inszeniert, mag auch als gesellschaftskritische Verbitterung verstanden werden. Denn wenn wir die Wunder als solche entlarven, dann mögen wir auch verstehen, dass die Realität anders ist.

De Sica-Retro: I Bambini Ci Guardano

Das große Problem in Vittorio De Sicas I Bambini Ci Guardano ist jenes der Erzählperspektive. Und dieses Problem ist ein Doppeltes. Ganz oberflächlich betrachtet gliedert sich der Film in jene Geschichten ein, die ein Problem der Erwachsenenwelt aus Sicht von Kindern schildern. Dabei gibt es ganz grob zwei dominante Erzählmodelle in der Filmgeschichte. Der eine Strang ist jener, dem François Truffaut in seinem Les 400 Coups folgt und den man mit einem Coming-of-Age-Charakterporträt des Kindes vor dem Unverständnis einer Erwachsenenwelt beschreiben könnte. Der andere ist jener, der aus Sicht eines Kindes die Welt der Erwachsenen schildert wie etwa im Frühwerk von Hou Hsiao-Hsien oder in zahlreichen Disney- und Steven-Spielberg-Produktionen. Es gibt also die Möglichkeit auf das Kind in der Erwachsenwelt zu blicken oder auf die Erwachsenenwelt mit den Augen eines Kindes. In I Bambini Ci Guardano macht De Sica gewissermaßen beides und nichts davon. Der Film handelt von Pricò, einem kleinen Jungen, der erleben muss, wie seine Mutter ihn und seinen Vater verlässt und wie sein Vater ihn daraufhin in ein Internat schickt, um sich umzubringen. In emotionalen und melodramatischen Wachrüttlern wird der kleine Junge dabei mehrmals von seiner Mutter alleine gelassen, um dieser am Ende in einem dieser abgründigen neorealistischen Schlussbilder die kalte Schulter zu zeigen.

De Sica The Children are watching us

Nun wird der Junge bei De Sica, wie auch seine Quasi-Verwandten in Ladri di biciclette und Sciuscià nicht wirklich als eine individuelle Person gezeigt im Film. Vielmehr steht das runde, makellose Gesicht für das Klischee eines Kindes, für eine normierte Vorstellung aller Reaktionen, Blicke und Emotionen eines Jungen im Angesicht seiner zerbrechenden Familie. Natürlich kann es auf dieser Erde nicht mehrere Jungdarsteller mit dem Namen Jean-Pierre Léaud geben, aber aus den Kindern bei De Sica lässt sich nur schwer etwas anderes als eine intellektuelle Idee filtern. Bei De Sica ist das Kind ein Heiliger. Das wäre an sich kein Problem, wenn der Film dann konsequent die Perspektive dieses Kindes einnehmen würde. Aber auch damit geht De Sica äußerst locker um und so gibt es zum einen mehrere Szenen, in denen die Erwachsenen ohne den Jungen zu sehen sind und zum anderen hat man nie das Gefühl einer Unverständlichkeit oder einer verzerrten Wahrnehmung wie dies beispielsweise in Hous A Summer at Grandpa’s oder gar Spielbergs Empire of the Sun geschieht. Die Folge dieser fehlenden Konsequenz ist Belanglosigkeit. Denn so erzählt sich eine Geschichte, deren Moralkeule und melodramatische Intentionen man in jeder Sekunde spürt. Das ist insbesondere deshalb schade, da der Ehekonflikt durchaus einige schockierende und tiefgehende Augenblicke bereithält. Sowohl die Mutter als auch der Vater sind äußerst komplexe Figuren, deren Motivationen zwischen Leidenschaft und Trott durchaus bemerkenswert sind und nicht so viel mit der faschistischen Sentimentalität zu tun haben wie behauptet wird.

I Bambini Ci Guardano stellt in vielerlei Hinsicht auch den Beginn der großen Kollaboration von Cesare Zavattini und Vittorio de Sica dar. Viele der Themen, die beide in ihrem gemeinsamen Schaffen angehen sollten, sind hier schon da: Die Machtlosigkeit eines Weglaufens, die Opfer von Ungerechtigkeiten am Rand der Geschichte und das überspitzte Porträtieren einer gehobenen Klasse, das sich vor allem in einigen herausragenden Szenen am Badestrand zeigt. Musikalisch begleitet wird der Film wie oft bei de Sica von einem kaum auszuhaltenden melodramatischen Gedudel, das auch einen der stärksten Momente des Films entkräftet. Als Pricò aus dem gemeinsamen Urlaub mit seiner Mutter davonläuft, nachdem er diese mit ihrem Liebhaber am Strand erwischt hat, sitzt er seinem Vater gegenüber. Der Vater möchte die Wahrheit erfahren, aber Pricò kann seine Mutter nicht verraten. In einer gewaltvollen Schuss-Gegenschuss Montage landet de Sica schließlich in zwei extremen Nahaufnahmen der Augen der Darsteller und in diesem Bild findet sich eine Wahrheit, die niemand aussprechen muss. Es ist ein Erkennen zwischen Vater und Sohn. Es braucht keine Worte mehr, und De Sica macht diesen Augenblick zu einem filmischen Spektakel. Solche Momente gibt es immer wieder im Film und vor allem die kleinen Details am Rand der Geschichte verraten eine kritische Haltung gegenüber dem zeitgenössischen Italien, die zu einem festen Bestandteil jener als Neorealismus in die Geschichte eingegangen Bewegung wurde.

De Sica-Retro: Miracolo a Milano

Die Vittorio De Sica-Retrospektive im Österreichischen Filmmuseum ist bereits im vollen Gange und wir werden bei Jugend ohne Film wieder ein genaueres Auge darauf werfen. Es wird nicht nur eine Auswahl der Regiearbeiten des italienischen Filmemachers, sondern auch viele seiner Schauspielauftritte gezeigt. Denn in erster Linie war De Sica ein Schauspieler, eine Kultfigur, der als oberflächlich charmanter, augenzwinkernder Taugenichts die Herzen der Frauen eroberte. Miracolo a Milano ist jedoch einer seiner großen, wenn auch (wie vieles von De Sica) etwas vergessenen Filme. Ein Film, der ziemlich deutlich zeigt, dass man De Sica mit dem einfachen Label des Neorealismus nicht besonders nahekommen wird. Denn der Film ist ein katholisches Fantasymärchen, eine humanistisch-linke Metapher für einen Klassenkampf, ein Experiment bezüglich der Ästhetisierung von Armut, ein Unterhaltungsfilm und ein sozialrealistisches Drama.

Miracolo in Milano De Sica

Der Film basiert auf Totò il Buono, einem Roman des langjährigen Kollaborateurs von De Sica, Cesare Zavattini, der selbstverständlich auch das Drehbuch schrieb. Im Kern schlägt derart heftig der Humanismus, dass man ihn manchmal mit einer verklärten Puderzuckerhaltung verwechseln könnte. Es geht um Totò, der als kleiner Junge in einem Salatfeld gefunden wird und nach dem Tod seiner Ziehmutter in ein Waisenhaus gebracht wird. Als er dieses verlässt, besteht für ihn das ganze Leben aus Fröhlichkeit. Wie ein unter Drogen stehender Engel läuft er durch die verdreckte Wohnungsknappheit seines Landes. Trotz des betont metaphorisch, lockeren Tons erinnert hier noch vieles an den Neorealismus seines Ladri di biciclette oder Sciuscià. Es sind Schwenks und Parallelfahrten durch die Armut hindurch. Das Casting ist außerordentlich, denn all diese Gesichter sind wahre Gesichter, sie erzählen zwischen all der Lockerheit von existenziellen Dramen. Ihr Lächeln weint, ihre Körper schreien und ihre Augen beten. Mit Totalen fängt De Sica immer wieder den Menschen vor seinem sozialen Hintergrund ein. Doch schon bald setzen immer mehr Fantasyelemente in die Handlung ein. Totò landet mit all seinem Optimismus in einer Barackensiedlung vor Mailand. Er freundet sich mit all den Vergessenen und Verlorenen an und strukturiert das Leben dort, sodass die Heimat der Armut sich in ein rauschendes Fest des Glücks verwandelt. Zunächst sind die Fantasyelemente subtil, ein magischer Realismus, der sich in kurzen Augenblicken offenbart. Er findet sich in Sonnenstrahlen, die nur an bestimmten Stellen Wärme spenden, an einem zu dünnen Mann, der von Luftballons weggetragen wird und immer wieder auch in der Haltung von Totò selbst, der mehr ein biblischer Heiliger ist als eine realistische Figur. Dann wird auch noch Öl unter der Erde gefunden.

Dieses Öl sprießt wie Fontänen des fließenden Glücks in den Rausch der Bewohner der Vorstadt. Doch ein gieriger Politiker stellt sich in den Weg der Bewohner, die immer wieder betonen, dass sie eigentlich nur einen Ort zum Wohnen brauchen. Denken sie überhaupt an das Geld und die Bedeutung des Öls? Er kommt mit einem großen Aufgebot und profitiert auch von einem Verräter in den Reihen der Barackensiedlung. Es beginnt ein absurder Krieg, der an die Asterix-Comics erinnert, denn in Form einer magischen Taube, die Totò von seiner Großmutter aus dem Himmel bekommt, verfügen die Armen über ihren ganz eigenen Zaubertrank, der es dem Staat lange Zeit unmöglich macht, in die Siedlung einzudringen. Der Film geht sehr weit in seiner Metaphorik, die De Sica kaum versteckt. Ganz im Gegenteil, er kann seine Botschaften gar nicht deutlich genug loswerden. Er selbst hat geäußert, dass der Film für ihn ein bloßes humanistisches Märchen gewesen sei, ohne jegliche politische Haltung oder Botschaft. Das mag man ihm sogar glauben, aber so sehr er sich bemühen würde, auch er könnte keinen nicht-politischen Film drehen. Zudem gibt es auch humanistische Botschaften, die man subtiler und filmischer erzählen kann als dadurch, dass die Hauptfigur die Schwächen der Kranken oder Kleinen imitiert, um ihnen zu sagen, dass sie alle gleich sind. Der Kollektivgedanke, der vom Film nur an zwei Stellen durchbrochen wird, wirkt zudem aus heutiger Sicht überholt. Einzig in einem weinenden Polizisten und dem einen und wie so oft bei De Sica exemplarischen Verräter finden sich gegen den Strom schwimmende Geister, die es dort viel häufiger geben müsste, um etwas vom Leben zu erzählen. Nun wollte De Sica nicht unbedingt einen realistischen Film machen, aber er hat den Realismus nicht genug aus seiner Sentimentalität entfernt, um Miracolo a Milano als reine Fantasie zu sehen.

De Sica Miracle

Zu den besonderen Momenten im Film gehören neben der äußerst präzisen und manchmal extravaganten Inszenierung jene kleinen Beobachtungen am Rand, wie ein älterer Mann, der sich nicht eingestehen kann, dass er in der Lotterie gewonnen hat oder ein kleines Kind, das an einem Seil befestigt, als Türglocke herhalten muss. Die Lebendigkeit und die Aufbruchsstimmung, die De Sica durch seinen Wechsel aus schnellen Fahrten und Bewegung im Bild herstellt, sind beeindruckend. Dabei bleibt die Kamera immer ganz nah an den Bewegungen der Figuren. Sie bewegt sich nie von sich aus und dadurch entsteht ein Gefühl, das uns in das Geschehen mitnimmt statt darauf zu blicken, Dadurch fehlt natürlich auch eine Distanz, die uns diesen illusionierenden Blick als solchen offenbart. Stattdessen geht es um das reine Spektakel, das sich zwischen der Realität und der Fantasie bewegt. Neben Jean Vigo, René Clair, Jia Zhang-ke und Charlie Chaplin gibt es wenige Regisseure, die sich derart mutig in diese Ästhetik einer Dazwischenheit gewagt haben. Allerdings fehlt De Sica zu den genannten Vorbildern Bescheidenheit. Bei ihm entstehen die Fantasie und der Humanismus nicht aus der filmischen Realität. Vielmehr drückt er ihn auf und durch jede Szene hindurch, damit jeder versteht, was er da macht. So vermag Miracolo a Milano uns kaum zu berühren. De Sica bewegt sich hier in einer abstrakten Welt, die viele mit der Realität verwechseln und in einer realen Welt, die völlig abstrakt scheint.