Viennale 2017: Unsere hohen Lichter

Patrick Holzapfel

Vai e Vem

Das vom Moos überwucherte Haus von Percy Smith, in dem der britische Dokumentarist und Filmpionier sich mit Pflanzen und Tieren umgab, um Erziehungsfilme zu realisieren, um zu forschen, allein mit seiner Leidenschaft zu arbeiten, ist nicht nur die Grundlage für die musikalischen Abstraktionen des schönen Minute Bodies: The Intimate World Of F. Percy Smith von Stuart A. Staples, sondern auch ein Bild für das Haus von Hans Hurch, die Viennale, die möglicherweise abrissbereit, möglicherweise renovierungsbedürftig, als Denkmal, als pure Gegenwärtigkeit oder als Erinnerung in Wien zur Begehung einer trauernden, ignoranten oder in die Zukunft blickenden Gemeinde aufgesucht wurde. Es war wie erwartet schwer, die Härte und gefährlich weit ins politisch Manipulative sowie unterdrückend Dominante reichende Präsenz des verstorbenen Festivaldirektors mit der Zärtlichkeit, Liebe fürs Kino und Traurigkeit zu verbinden, die sein Fehlen im Kino auslösen muss. Denn diese verschiedene Stränge eines Widerstands im Festivalbetrieb vereinte Herr Hurch wie kein Zweiter.

Die Viennale 2017, ein Haus aus Moos. Manche brachte Geschenke, die sanft von Trennungen erzählten (Vai-e-Vem, The Big Sky), andere zeigten, wo Herr Hurch ihnen die Augen öffnete und andere fragten sich, ob Festivals wirklich einen Geist besitzen, ob in ihnen das Leben eines Kurators fortbesteht oder ob das eine romantische Idee ist, die von den Realitäten der Kinomaschine und der fortschreitenden Zeit hinweggespült wird. Man muss nur auf die Cahiers du Cinéma heute blicken, um nicht an diese Geister zu glauben. Die diesjährige Viennale war wie eine langgezogene Kurve um einen Friedhof herum. Man hat viel Zeit, in andere Richtungen zu blicken, aber man spürt jederzeit eine Gravitation, die auch ein Versprechen sein könnte, aber vor allem eine Frage: Was jetzt? Eine der wichtigsten Prinzipien der filmkuratorischen Arbeit in Wien ist immer schon die persönliche Handschrift des Kurators. Das diesjährige Festival war wie ein Manifest dafür, weil sie sich unrealisiert realisieren musste, weil niemand mehr den Stift halten konnte, mit dem geschrieben wurde. Im Kino jedoch verschwindet alles hinter der Gegenwärtigkeit der Filme. Und diese gilt es zu würdigen, wenn sie es verdient haben. Dann gibt es Geister.

Texte:
Barbara von Mathieu Amalric
La nuit où j'ai nagé von Kohei Igarashi & Damien Manivel
Western von Valeska Grisebach
On the Beach at Night Alone von Hong Sang-soo
Farpões, Baldios von Marta Mateus
Țara moartă von Radu Jude
A fábrica de nada von Pedro Pinho
Abschied von den Eltern von Astrid Johanna Ofner
Nothingwood von Sonia Kronlund
Becoming Cary Grant von Mark Kidel
Ex Libris: New York Public Library von Frederick Wiseman

Rainer Kienböck

Antigone

Jeweils in alphabetischer Reihenfolge.

Favoriten

von Johann Lurf (Rainers Text)

12 Jours von Raymond Depardon

Antigone von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet

Barbara von Mathieu Amalric

Cosmic Ray von Bruce Conner

Dillinger è morto von Marco Ferreri

Ex Libris von Frederick Wiseman

Urgences von Raymond Depardon

Vai-e-vem von João César Monteiro

Filmliebe

A Movie von Bruce Conner

Beregis‘ avtomobilja von Ėl’dar Rjazanov

Farpões Baldios von Marta Mateus

Jeannette, l’enfance de Jeanne d’Arc von Bruno Dumont (Rainers Text)

Karnaval’naja noč‘ von Ėl’dar Rjazanov

L’Amant d’un jour von Philippe Garrel

La nuit où j’ai nagé von Damien Manivel und Kohei Igarashi

Licht von Barbara Albert (Rainers Text)

Mongoloid von Bruce Conner

Phantom Ride Phantom von Siegfried A. Fruhauf

Šestaja čast‘ mira von Dziga Vertov

Ta peau si lisse von Denis Côté (Rainers Text)

Țara moartă von Radu Jude

The Big Sky von Howard Hawks

Geu-hu von Hong Sang-soo

Vremja, vpered von Michail Švejcer und Sof’ja Mil’kina

Weitere Texte
L'Atelier von Laurent Cantet
Golden Exits von Alex Ross Perry

Andrey Arnold

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Einige Texte

Zur Retrospektive im Österreichischen Filmmuseum
Interview mit Barbara Albert
Good Time von Ben und Josh Safdie
Zum Besuch von Christoph Waltz

Ivana Miloš

der

San ClementeUrgences12 Jours (Raymond Depardon)
Watching people light up in hidden places, remembering them though we’ve never met, moving through corridors step by lagging step, seeing the sky in the courtyard, only in the courtyard.

The Big Sky (Howard Hawks)
What a great big sky it in this dancer on the landscape, as the band of not-quite-brigands turned frontiersmen picks their way across branches and logs, over riverbends and fires, strung and tied together like a whiff of true companionship.

The Day After (Hong Sang-soo)
And then they fell apart, companions and lack thereof, with embarrassment worn on their sleeves, all the embarrassment of attempting, not knowing, lacking, sorely lacking the path to an embrace.

L’Amant d’un jour (Philippe Garrel)
Yes, there might have been a touch, but it was pushed against the wall and faded away, unfurled and faint, barely visible in the night walks on Parisian streets. But the lingering aftertaste of violets and freckles chases the screen away.

Ex Libris (Frederick Wiseman)
If we could look behind the scenes, we would surely land on the planet of dream libraries, its stages deployed like paintings of a utopian project, its petals open in the flattering light of the human ambition to know, together.

Quei loro incontri (Jean-Marie Straub, Danièle Huillet)
Unrooting, uncovering, unveiling, letting speak, finding a voice, finding the voice buried under moss, lychen and the green streams littered on the shores, sitting on a rock with all of sunlight on your face, opening shadows.

La nuit où j’ai nagé (Damien Manivel, Kohei Igarashi)
A wanderer with a face full of the clarity of white, all white, a lost mitten and shoulders deep in snow, a quest to deliver dream messages to those we meet among sea creatures of the deep, a mountain to cross in silence.

Barbara (Mathieu Amalric)
Sea of music carrying away, bringing into existence, awash with life and the currents of grief, all stirred into fireworks, a myriad of colors and a blister of a smile. Oh, how beautiful it is to dive in!

 

Valerie Dirk

Grace Jones

2 Fragen:

Kann man Bruno Dumonts Jeannette auch politisch lesen?

Herausgefordert wurde diese Lesart durch die penetranten Wiederholungen in den Gesängen der französischen Nationalheldin: Frankreich, Glaube, Christentum, Judentum, Kampf. Die Bewegungen dazu bestanden (unter anderen) aus exzessivem Headbangen. Das Peitschen von Frauenhaaren auf Sand. Welch Metapher, gerade jetzt.
Auf meine Frage, ob der Film, abseits der innovativen ästhetischen und formalen Spielereien, auch ein politischer Kommentar sei, reagierte Dumont ausweichend. Alles sei ambivalent: Péguy, la France, Jeanne, la foi.
Und doch, trotz ihrer ungelenken Direktheit, trotz der Gefahr, alles andere unterzuordnen, scheint mir die Frage relevant, auch wenn ich sie immer mit einer gewissen Beschämung stelle.

Is Grace Jones human, and if so, why?

Bloodlight and Bami von Sophie Fiennes arbeitet dualistisch. Zum einen sieht man perfekt inszenierte Bühnenauftritte der Musikerin, während welchen sie aliengleich und dominant das Scheinwerferlicht beherrscht; zum anderen sucht eine verwaschene Digitalkamera-Ästhetik danach, Graces Menschlichkeit zu dokumentieren: auf Jamaika im Kreise der Familie, kehlig lachend, fluchend, sich sorgend, essend (Meeresfrüchte), trinkend (Wein), badend. An einem neuem Album arbeitend. Sich schminkend, sich selbst analysierend: I’m human.

Viktor Sommerfeld

La Telenovela Errante

La Telenovela Errante von Raul Ruiz – Die Soap als Bildgefängnis

Ein Film bleibt noch lange nach meiner kurzen Viennale. Neben vielem erwartbar Guten war La Telenovela Errante von Raúl Ruiz der unerwartete Fund meiner vier vollen Tage. Zurück in Berlin, als ich Freunden Bericht erstatte, erwische ich mich immer wieder bei dem Versuch diese fremdartigen Fragmente eines unfertig gebliebenen Filmes zu beschreiben. Erst hier lese ich Wikipedia über Ruiz und werde direkt belohnt mit Ruiz über Ruiz: „Der Barock … ist eine Art zu sparen und keine Ausgabe. Man darf Barock und Rokoko nicht vermengen, sondern muss Ersteren mit einem Restaurant zur Mittagszeit vergleichen: es gibt sehr wenig Platz, man versucht so viele Leute wie möglich unterzubringen, um die größtmögliche Anzahl an Kunden zu haben.“ Diese eigenwillige und gewiss enigmatische Definition seines Barocks erhellt sich in La Telenovela Errante, welcher den Kitsch der südamerikanischen Soapbilder in mehr oder weniger zusammenhängenden Episoden schonungslos auswalzt und zeigt, wie die Bilder des zwischenmenschlichen Pathos, der schmalzigen Romanze und der raunenden Dramatik selbst aktiv werden, um die Menschen noch in den alltäglichsten Situationen zu überwältigen. Die Telenovela, das ist das Bildgefängnis, aus dem es für die sozialen Formen kein Entrinnen gibt. Bei der Suche nach einer Straße namens ‚La Concepción‘ in der gleichnamigen Episode treffen drei Männer an einer Kreuzung aufeinander. Während eines endlos kreisenden Dialog verlieren sie sich immer tiefer in den symbolischen Abgründen des Wortes ‚Concepción‘. Ausgehend von der Freundin des einen Mannes, die zufälligerweise wie die Straße heißt, tun sich immer neue Bedeutungen auf. Es gibt keinen Ausweg aus dem Netz der Verweise, in schleichender Hysterie steigert man sich immer weiter hinein in dieses wichtigste aller Gespräche, schon bald scheint Alles in diesem einen Wort bedeutet. Ruiz‘ muss keinen Widerspruch von außen einführen um die Absurdität dieser Szene zu zeigen. Er lädt einfach immer weiter generös Bedeutungen ein, gibt allen Möglichkeiten einen Tisch, bis der Laden implodiert und als leere Hülle vor uns steht. Der Barock wird hier zu klarsten Form, die sehr präzise auf die Strukturen zeigt, in denen Bilder unsere Lebenswelt gestalten. Und dafür muss man nie eine chilenische Telenovela gesehen haben.

Weiterer Text
I am not Madame Bovary von Feng Xiaogang

Eine Politik der Lebensführung: Le Pornographe von Bertrand Bonello

Trotz vieler Stunden Arbeit mit Le Pornographe (2001) ist dieser Text einfach nicht zu kontrollieren. Unkontrollierbar die Sprache, die keinen Halt findet, die Begriffe, die zu groß, zu unklar oder einfach falsch erscheinen, die Struktur der Argumentation und also letztendlich Bonellos Film, der auf diesen Seiten ein großes Durcheinander an unzusammenhängenden Notizen angerichtet hat. Aber einfach über etwas anderes schreiben geht nicht. Weil das dringlich ist, was man meint, für einen Augenblick klar gesehen zu haben, man aber partout nicht mehr weiß, wie genau es aussah. Insofern ist Denken Erinnerungsarbeit und Schreiben der Versuch zu zeigen, was man da gesehen hat. Eigentlich ganz einfach, das kann jedes Kind: Zeigefinger raus und da! schreien.

Da, fast am Ende von Le Pornographe, ich erinnere mich noch gut, als Jacques Laurent (Jean-Pierre Léaud), der Pornograph, zu der Journalistin, die ihn gerade interviewt, sagt: „Sie sprechen über die Karriere und ich spreche über mein Leben. Deshalb sind ihre Fragen obszön. Deshalb sind sie obszön und nicht ich.“ Ich meine, hier versprachlicht sich, was schon von Anfang des Films in der Art und Weise sichtbar ist, wie Bonellos Kamera auf die Welt blickt. Dieser Text sollte vielleicht ein Versuch sein, das zu zeigen.

Also, einmal ganz an den Anfang: Wir sehen konzentrierte Gesichter verschiedensten Alters im Dunkel eines Kinosaals. Die Tonspur macht uns klar, dass die Quelle des Widerscheins, der diese Gesichter erhellt, die Projektion eines Pornofilms ist. Der Blick wird hier verkehrt, von der Leinwand aus schaut er ins Leben rein. Kurz darauf sehen wir das erste Mal Jaques, der die langsame Sanftheit des Parks, durch den er schlendert, in seine eigenen bedachten Bewegungen aufgenommen zu haben scheint. Die Kamera folgt ihm auf dem Weg zurück zum großbürgerlichen Landhaus der Freunde. Hier lauscht man der Barockmusik und steht sinnend am Fenster oder blättert – wie Jaques vorsichtig eines der vielen Bücher auf. Am nächsten Tag wird dieser, durch finanzielle Schwierigkeiten gezwungen, seinen ersten Pornofilm seit langer Zeit drehen. In einem Haus, das von dem hier kaum zu unterscheiden ist. Dort lauscht man dem Electro-Soul und hat Sex vor der Kamera.

Bertrand Bonello - Le Pornographe

In Le Pornographe produzieren die Protagonisten und ihre Lebensverhältnisse ständig Widersprüche und Kontraste. Jacques‘ bourgeoiser Wunsch nach einem eigenen Landhaus und sein Leben als ehemals antibürgerlicher Pornoregisseur stehen einander scheinbar unvereinbar gegenüber. Und doch findet Bonellos Blick eine Ebene, die diesen Widersprüchen vorgängig ist ohne sie zu negieren. Le Pornographe ist ein Film der – gewissermaßen – einfachen Bilder. Aller Lärm von Farben und Formen ist ausgesperrt zu Gunsten einer Klarheit, welche die Protagonisten zum unbestrittenen Zentrum der Bilder werden lässt. In dieser luziden Sichtbarkeit beobachtet der Film, unaufdringlich und dennoch größte Sorge tragend, Gesichter, Gesten und Haltungen. Die Aufmerksamkeit, mit der die Kamera den einzelnen Menschen folgt, ist im Grunde hoffnungsvoll. Der Mensch wird ihr zum Gegenüber, als jemand, der in jedem Moment die Möglichkeit hat, zu Handeln und Entscheidungen zu treffen. Diese Existenz führt aber am Anfang des 21. Jahrhunderts zur Koexistenz von widersprüchlichen Handlungen, Äußerungen und Entscheidungen. Der Film geht die Bewegungen dieses zeitgenössischen Lebens mit, ist hineingenommen in die komplexen Verhältnisse, in denen so ein Leben gelebt wird.

In Anbetracht der pornographischen Szenen der ersten halben Stunde des Films sorgt diese Blickverschiebung für die Aufhebung einer voyeuristischen Außenperspektive, die eigentlich immer schon um die moralische Verwerflichkeit von Pornographie weiß, um sich dann doch daran zu ergötzen. Le Pornographe findet so zu einer Offenheit, die zeigen kann, wie sich die Beziehungen zwischen den Akteuren – zwischen Regisseur, Darstellern, Produzent und Technikern – als konkrete Lebensverhältnisse herstellen. Die etwa zwanzigminütige Inszenierung des Pornodrehs probt und verhandelt diese Verhältnisse. Selbst den Darstellern bleibt zunächst die Freiheit sich tatsächlich durch die Szenarien zu spielen. Trotz ihrer hölzernen Interaktionen trennt der Film anfangs nicht durch eindeutige Blickstrukturen zwischen dem Geschehen vor der Kamera und dem neben der Kamera. Jacques gibt abseits des Sets beim Rauchen auf dem Balkon des Herrenhauses die ästhetische Losung dazu aus: „Um bis zum Ende erregt zu bleiben, muss man den beiden glauben, dass sie sich lieben.“

Bertrand Bonello - Le Pornographe

Am Ende scheitert dieser Anspruch und doch wird dieses Scheitern dabei nicht der Pornographie selbst angelastet. Augenscheinlich klafft zunehmend eine Lücke zwischen der idealistischen Idee Jacques‘ und der Realität dieses Pornodrehs. Nach und nach gewinnt das ökonomische Kalkül des Produzenten die Oberhand darüber, wie sich die Verhältnisse herstellen. Die Darsteller werden dann doch zu Marionetten des Blicks, es wird nicht mehr verhandelt, sondern befohlen. Der Produzent entscheidet schließlich buchstäblich über Jacques‘ tief gesunkenen Kopf entgegen aller Regievorgaben: Nagellack, Musik, lauteres Stöhnen und, jetzt, Moneyshot. Am Ende dieser langen, letzten Sexszene sitzt Jaques zusammengesackt in seinem Regiestuhl, alleine und der Blick zu Boden. Es ist der Tiefpunkt einer sich steigernden Unfähigkeit, eine aktive Beziehung zum Drehgeschehen aufzubauen und damit ein echtes Scheitern, eben weil Le Pornographe dieses Scheitern nicht von vorneherein als alternativlos voraussetzt.

Dieser filmische Blick auf die Welt ist ein Blick, der radikal im Leben steht. Er vertraut nicht darauf, dass man die Verhältnisse nur ausstellen muss und die sich dann in ihrer vermeintlichen Widersprüchlichkeit oder Banalität schon von selbst kritisieren. Es geht dem Film immer darum, ob und wie man einen handelnden Umgang mit den aktuellen Verhältnissen finden kann. Am Ende steht die Frage, wie man leben kann in dieser Welt.

Unter dieser Frage wird jegliche Trennung von Arbeit und Leben, bis ins Privateste hinein, unmöglich; wenn wir Jacques am Set scheitern sehen, dann sehen wir zugleich das Scheitern eines Lebens. Deshalb ist die Journalistin obszön: weil es obszön ist zu glauben, es sich mit objektivierender Berichterstattung in einer Außenposition gemütlich machen zu können, von der aus sich die Verworrenheit eines Lebens mit ein paar einfachen Fragen mühelos überblicken ließe; von der aus man einige Fragen zur Karriere stellen könne ohne damit zugleich über ein, oder – die Fragende eingeschlossen – eigentlich zwei Leben zu reden. Jacques, und auch Bonellos Film, weist diese einfachen moralisierenden Standpunkte seinerseits moralisch zurück. Man darf das nicht missverstehen. Es geht dabei keineswegs darum, Kritik an einer bestimmten Lebensführung oder bestimmten Verhältnissen, in denen ein Leben stattfindet, auszuschließen oder gar mit erhobenem Zeigefinger zu verbieten. Aber: Kritik am Leben muss sich selbst den Widersprüchen des Lebens aussetzen, um überhaupt eine Ahnung zu bekommen, wovon sie spricht. Nur so kann sie zu einem angemessenen Maßstab kommen. Dieser Maßstab ist eben nicht starr und unveränderlich und tritt von außen an die Dinge der Welt heran, sondern ist selbst so beweglich wie der Umgang des Menschen mit der Welt.

Bertrand Bonello - Le Pornographe

So bleibt die Inszenierung, trotz aller Kritik an einer beschränkenden, weil ökonomisierten Form von Pornographie, immer offen für augenblickhafte Momente der Befreiung: in der Mitte des Films sehen wir eine der Darstellerinnen plötzlich vom gemeinsamen Essenstisch aufstehen und minutenlang tanzen in einer neuen Welt aus Zeitlupe und wundersamem Flackerlicht, die so gar nicht zur provinziellen Ausstattung der Crew-Absteige passen mag. In diesem irreduziblen Möglichkeitsschimmern scheint momentan auf, was das gute Leben sein könnte: Ein Umgang mit der Welt, der aus der Erkenntnis der Verhältnisse handelnd, statt einfach ihnen entfliehend, diese Verhältnisse übersteigt, sie außer Kraft setzt und so eine andere Welt in Ansicht stellt; oder einfach in die stickige Stille eines frustrierten Pornoteams plötzlich etwas Luft zum Atmen gibt.

Bertrand Bonello - Le Pornographe

Es ist der Auftritt des Sohnes Joseph (Jérémie Renier) nach etwa einer halben Stunde, der mehr als ein vergehendes Schimmern verspricht. Auch von ihm zuerst ein Gang, aber nicht traumverloren durch einen Park wie der Vater, sondern energisch, immer zu auf die Kamera, durch die Straßen der Stadt. Dann ein Studentenzimmer, Altbau, zwei Matratzen auf dem Boden, zwei Freunde und Joseph beim Müßiggang, kurz darauf die gemeinschaftliche Formulierung einer offenbar politischen Flugschrift. Das könnte auch `68 sein; später erfahren wir, dass Jacques zu dieser Zeit gemeinsam mit Freunden begann Pornos zu machen. Dieser kurze Blick auf `68 ist der geschichtliche Grund, vor dem die Aufgabe, ein Leben mit der Welt zu führen, ihre politische Dimension zurückerhält. Die traurige Lächerlichkeit, mit der Jacques‘ Idealismus am Porno-Set untergeht, weist so nicht mehr nur hinein ins Private, sondern auch hinaus auf eine ehemals politische Haltung, die ihren Zugriff auf die Welt verloren. Die Sichtbarmachung von Sexualität, die einst gegen eine beengende bürgerliche Moral aufbegehrte, hat ihren revolutionären Impetus verloren und ist fast völlig eingegliedert in die Kapitalunternehmungen des Körpers. Niemand wird befreit von diesen Filmen, nicht die Darsteller, nicht das Publikum, nicht Jacques. Man kann nicht einfach Pornos machen wie vor 30 Jahren. Es braucht eine neue Bewegung, um das große Projekt der 68er – den Entwurf eines politischen Lebens, in dem Arbeit und Privates, politische Aktion und Alltag, Denken und Handeln ineinander verschränkt sind – noch einmal ins Blickfeld zu bekommen. Aber woher die Kraft dafür nehmen?

Bertrand Bonello - Le Pornographe

Jacques, in seiner großen Erschöpfung, fehlt diese Kraft. Erst Joseph sorgt mit forschem Gang und forschendem Blick für den dringenden Bewegungsimpuls. Beim ersten Treffen wechseln die Beiden kaum ein Wort. Nach einem kurzen Moment der Musterung, einem Innehalten, einer Handreichung beginnt die gemeinsame Bewegung. Mit wenigen Einstellungen, die auf alle üblichen Wiedersehenssentimentalitäten verzichten, stellt der Film hier im stillen Einverständnis seiner Protagonisten die Spannung eines freien Verhältnisses her. In jedem Moment ist alles sagbar; die Gespräche während ihrer Passagen durch die Stadt wandern von den Ebenen der Arbeit und der Kindheit in die Höhen der Revolution und des politischen Lebens und steigen wieder hinab in die Tiefen des Selbstmordes der Mutter. Alles, auch das vermeintlich banalste Gespräch über Namensgebung, wird untrennbar Teil der Lebenslandschaft, die sie durchschreiten. Das grundlegende Einverständnis von Vater und Sohn behauptet dabei nicht, dass sie sich immer einig sind. Aber es macht einen Dialog möglich, der die Unterschiedlichkeit ihrer Haltungen erst deutlich macht, indem er sie absolut ernst nimmt. Am Ende des dritten Treffens fragt Jacques seinen Sohn, ob er es lieber hätte, wenn er, Jacques, Industrieller wäre. Der Sohn antwortet nur: Das ist nicht das Problem. Als Jacques beginnt von seinem Vater zu sprechen, der Arzt gewesen sei, und dessen Handeln er als junger Mann abgelehnt habe, wiederholt Joseph: Das ist nicht das Problem. Das erste Mal stoßen sie hier an eine Grenze des Verstehens, die auf ein radikal verändertes Verhältnis zu den Vaterfiguren verweist und damit – nimmt man das Pasolini-Zitat: „Geschichte ist die Passion der Söhne, die ihre Väter verstehen wollen“ am Ende des Films ernst – auf ein verändertes Verhältnis zur Geschichte. In der Welt von Joseph vereinfacht es nichts einen bourgeoisen Papa vor sich zu haben, von dessen Lebenslügen und Widersprüchlichkeiten man sich nur abgrenzen müsste. Die Eingliederung, der man sich 1968 so schön und romantisch, wie Joseph es einmal sagt, versucht hat zu widersetzen, ist immer schon geschehen; es gibt keine widerspruchsfreie Gegenposition. Das politische Leben findet sich nicht mehr außerhalb eines bürgerlichen, systemtragenden und falschen Lebens. Es steckt mittendrin, dort muss man suchen.

Dieser Grundkonflikt wird zum Oberton des andauernden Dialogs zwischen Vater und Sohn, der nicht endet mit den geteilten Wegen und dem gesprochenen Wort, sondern sich in komplexen Analogie- und Kontrastverhältnissen bis in die kleinsten Veränderungen beider Lebensführung hineinzieht. Ausgehend von den Treffen beginnt eine Suche mit gemeinsamem Ursprung und Ziel, die doch in ganz unterschiedliche Richtungen und zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen führt.

Jacques‘ Suche wird bestimmt wiedergeweckten Erinnerung an eine vergangene Haltung. Ich habe mich für die Revolution entschieden, sagt er einmal, und mit aller hilflosen Unnachgiebigkeit des Verzweifelten meint er sie wiederholen zu können. Aus der halben Erkenntnis der Abhängigkeiten, in die ihn seine bürgerliche Lebensweise samt Freunden im Landhaus, langjähriger Lebensgefährtin zu Hause und unliebsamer Arbeit geführt hat, versucht er die Kontrolle über sein Leben und seine Geschichte zurückzuerlangen. Die Sanftheit der ersten Szenen wird nun wiederholt von einer Härte verdrängt, die sich tragischerweise oft genug die falschen zum Ziel nimmt. Einem seiner Mitarbeiter fährt er unsanft über den Mund, als der ihn bei einem alten Spitznamen ruft und einer jungen Darstellerin, die nicht seinen Vorstellungen entspricht, hält er eine ziemlich heftige Standpauke. Jacques unterwirft sich nach und nach einer einmal begonnenen Auflösungsbewegung, die ihn immer weiter hinausführt aus allen Abhängigkeiten und doch nirgendwo hin, außer in die Wohnung einer fremden Frau, der er schlafwandlerisch von der Straße aus gefolgt war, wo er geisterhaft die Zeugnisse eines anderen Lebens begutachtet.

Betrand Bonello - Le Pornographe

Kurz vor Ende des Films, als er seine Freundin endgültig verlässt, betritt Jacques noch einmal das bürgerliche Tableau um ein paar letzte Dinge zu holen. In Frontalinszenierung sehen wir: Ein Sofa, einen Stuhl, ein Bild an der Wand und seine Freundin Jeanne davor, unbeweglich, wie ein weiteres Möbelstück. Das Leben ist hier buchstäblich zur Einrichtung geworden; unerträglich bewegungslos. Und doch: als Jacques um seinen Mantel zu holen, an ihrem Rücken vorübergeht, die Körper sich einander nähern und er ein letztes Mal an ihren Haaren riecht, gibt es die Ahnung einer tiefen Intimität, welche dieses kalte Arrangement plötzlich belebt. Die folgende Frage, „Hast du gerade an meinen Haaren gerochen?“, mit der sich Jeanne, den Körper drehend, an Jacques wendet, bringt seine entschiedene Bewegung zum Stoppen. Hier im Grenzfluss zwischen den festen Verhältnissen und der Auflösung aller Verhältnisse, in den aufeinander reagierenden Bewegungen, die den unauflösbaren Widerspruch zwischen Liebe und Gefangensein suspendieren, blitzt noch einmal fern die Möglichkeit des guten Lebens auf. Doch die Kraft reicht nicht aus, um diesen flüssigen Zustand zu halten. Und schon reißen sie gemeinsam alle Möglichkeit wieder ein. Jeannes Feststellung „Du hast an meinen Haaren gerochen.“, will alles Lose wieder festzurren. Jacques, aus der Erstarrung hochgeschreckt, verlässt wie an der Schnur gezogen nach rechts das Bild. Bonellos Kamera kann hier nicht mehr folgen.

Ganz zum Schluss des Films ist er alleine in seinem kahlen Appartementzimmer und legt sich nieder aufs Bett. Sein Befreiungsversuch hat der Ohnmacht der Gefangenschaft nichts entgegenzusetzen, weil es da draußen gar nichts gibt. Außen, da ist nur noch Verhältnislosigkeit und neue Ohnmacht als freier Fall. Seine gescheiterte Revolution aber, und vielleicht rettet ihn das vor dem angekündigten Sprung aus dem Fenster, ist durch das Interview schon Teil eines tiefen Reflexionsprozess, der dem Grund seines Lebens so nahe kommt, dass die Hoffnung für morgen „auf mehr physische Kraft“, tatsächlich die Hoffnung auf eine neue Möglichkeit in sich trägt.

Bertrand Bonello - Le Pornographe

Joseph hat die nötige Kraft und die, das zeigt schon sein Gang, ist durchaus körperlich. Nach dem ersten Treffen mit dem Vater, sehen wir ihn bei einer politischen Diskussion in irgendeinem Raum an irgendeiner Universität. Eine Gruppe junger Leute diskutiert über die Möglichkeiten des politischen Protests. Die Weggefährten aus der WG sind noch dabei. Die Revolution, das scheint klar, bleibt Privileg und – hier vor allem – Last der Jugend. Man fühlt sich als Opfer einer versiegten Bewegung, deren Misserfolg man ausbaden muss; fordert mit einigen diffusen Worten die Auflehnung, die doch irgendwie möglich sein müsse; man möchte, muss etwas tun. Und man wartet und sitzt und jeder ist für sich in der Unschärfe des Teleobjektivs. Die Kamera bleibt hängen bei Joseph, der schließlich, nach einiger Beobachtung, die Situation zur ihrer Konsequenz führt. Man müsse Schweigen, das sei der ultimative Protest. Er blickt scharf in die Kamera, es blickt einen die letzte Entschiedenheit der Jugend an. Doch Schweigen ist hier Stillstand, absolute Bewegungslosigkeit und Totalverweigerung. Josephs Entschiedenheit ist anderer Art. Er steht federnd auf, nimmt seine Tasche und verlässt den Raum. In krassem Bewegungskontrast schneidet Bonello auf einen letzten, langsamen Schwenk durch die stummen Reihen, eine verwackelte Handkameraaufnahme des trotzig eilenden Joseph. Hier beginnt die Revolution aus dem Privaten, die sich schon zuvor angekündigt hat.

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Joseph liebt Monika. Er interessiert sich nicht mehr für Architektur, er interessiert sich für Monika, sagt er zu einem seiner Mitbewohner; später gerät er mit ihm deshalb in einen Ringkampf. Man wirft ihm den Verrat seiner politischen Ziele vor. Das Gegenteil ist der Fall. Der anfangs beschriebene filmische Blick findet in der Annäherung von Joseph und Monika zu seiner größten Intensität. Die Bilder konzentrieren sich auf die kleinsten mimischen Regungen, man muss klarer sehen, um immer wieder neu zu sehen; ein Verhältnis im ewigen Werden. In einer durchgehenden Großaufnahme zeigt der Film die erste Begegnung der Beiden, den Tanz der sich umkreisenden Körper. Kein Kuss, keine Berührung, keine nackte Haut und doch Erotik, als die Spannung einer großen Möglichkeit.

Bertrand Bonello - Le Pornographe

Die oberflächliche Keuschheit dieser Beziehung hat in der Filmkritik dazu geführt, Joseph als konservativ zu bezeichnen. Gerade im Kontrast zum Vater scheint der Film dies nahezulegen. Die konkret körperliche Beziehung zu seinen Darstellerinnen und seine Ideale von offener Sexualität und freier Liebe bilden das vermeintliche Gegenstück zur privaten Ausschließlichkeit der jungen Ehe. Dennoch wäre das zu kurz gegriffen, im Kern geht es in Le Pornographe in beiden Fällen vielleicht sogar um das Gleiche: Wie kann es in dieser Welt ein freies Verhältnis zwischen Unterschiedenem geben, das beständig neue Bewegung und damit Handlungsmöglichkeit hervorbringt? In dieser Hinsicht ist die Kritik des Films an der Pornographie, eben die Kritik an einer degenerierten Form der Pornographie; so wie die Kritik der 68er an der bürgerlichen Zweierbeziehung die Kritik an einer degenerierten Form der Zweierbeziehung ist, die allerorten Unterdrückung hervorbringt. Le Pornographe schenkt Joseph und Monika dieses freie Verhältnis immer wieder, am eindrücklichsten bei einem mirakulösen Ausflug aufs Land, der in eine quasi biblische Liebesszene und die Zeugung eines Kindes führt. Entgegen aller Stereotype sehen wir nicht den Rückzug in eine individuell-privatistische Heilsvorstellung. Die Energie von Josephs aufgedrehtem Freudenboxtanz überträgt sich bis in die plötzlich wundersam stillen Straßen von Paris.

Bertrand Bonello - Le Pornographe

Sicher gibt es ein starkes Moment der Utopie in diesen Szenen, aber das Revolutionäre besteht auch nicht darin, der Ehe durch den Sprung in die große Unschuld wieder zur ewigen Gültigkeit zu verhelfen. Die Revolution besteht darin, die Vorstellung der Revolution selbst, abseits von erstarrten ideologischen Ordnungen, wieder in Bewegung zu bringen. Die jugendliche Kraft braucht es hier – und das meint bei Bonello ganz emphatisch auch heute – nicht mehr, um sich möglichst weit abzustoßen von dem, was war, auf der Suche nach dem ganz Neuen, das man dort zu finden meint. Es braucht sie, um zuzugehen auf die Welt mitsamt ihren Widersprüchen, um zu sehen was ist und in beweglichem Umgang mit ihnen die aktuellen Verhältnisse stetig neu zu übersteigen. Die Natur dieses Sprungs bleibt letztlich vielleicht mysteriös, aber man kann ihn sehen und da schreien; zeigen.

Diagonale 2017 – Denken entlang von Filmen: Interview mit Alejandro Bachmann

38/79 Sentimental Punk 38 von Kurt Kren

Nach meinem längeren Text zum Diagonale-Programm „This is not America – Austrian Drifters“ nun ein Gespräch mit dem Kurator Alejandro Bachmann über die Entstehung des Programms, das Verhältnis von Film und Begriff und die möglichen Verbindungslinien von Film und Pop.

Viktor Sommerfeld: Ich würde gerne mit dem Anfang anfangen. Also wo fängt man an, wenn man so ein Programm macht. Hat man einen Film den man in die Mitte setzt und daraus eine Bewegung entwickelt oder wie entsteht das?

Alejandro Bachmann: Ich weiß nicht, ob man das so allgemein sagen kann. Aber bei dem Programm war der Prozess besonders interessant, weil es so gelaufen ist, dass Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber, die Leiter der Diagonale, ein Thema vorgegeben haben, wie sie es letztes Jahr auch getan haben. Und dann praktisch Leute und Institutionen eingeladen haben, sich dazu in Form eines Filmprogramms zu äußern. Das Thema war eben dieses „1000 Takte Film“, also Film und Pop. Als sie mir das vorgeschlagen haben, konnte ich erst wenig damit anfangen und zwar nicht, weil ich es nicht interessant fand, sondern weil ich mir keinen klaren Begriff machen konnte, was die mit Pop und Popkultur meinen. Das ist ein wirklich sehr weites Feld und man kann da tausend verschiedene Dinge meinen, man kann da sehr unterschiedliche Ästhetiken und Narrative darunter fassen. Deswegen war das Zusammenstellen des Programms im Prinzip das Herausfinden, was damit gemeint sein könnte. Mit jedem Film, den ich gesehen habe, teilweise zusammen mit den beiden, hat sich auf neue Art und Weise erschlossen, wie man darüber nachdenken könnte.

So hat es sich langsam aufgebaut und der entscheidende Moment ist dann eigentlich der, wo man sehr viele – oder was heißt sehr viele, vielleicht 20, 30 – Filme gesehen hat und dann gibt es diesen Moment, in dem man zum Beispiel einen Titel hat und damit ein ganz gutes Gefühl. Wenn unter dem Titel diese fünf Programme zusammenfallen, dann ist damit sozusagen ein sehr weites Feld von dem abgedeckt, was man sich gedacht hat. Das ist jetzt sehr abstrakt beschrieben, aber ungefähr so war es bei diesem Programm. Also irgendwann war dieser Titel da und mir war klar, unter diesem Titel kann man vielleicht tatsächlich eine Frage stellen über das Verhältnis von Film und Popkultur.

VS: Du hattest also das Thema, aber wie fängst du dann an überhaupt erste Kandidaten rauszusuchen? Hast du sofort welche im Kopf gehabt? Also zum Beispiel der Wenders Film, der ist für mich da am Anfang sehr klar und zwingend zur Eröffnung. Ich könnte mir vorstellen, dass das ein Film ist, den man vielleicht mal gesehen hat von Wenders und der einem dann sofort einfällt. ‚Okay, damit könnte man anfangen‘.

AB: Das Interessante ist, dass der Wenders Film, der letzte Film ist, der dazugekommen ist. Das komplette Programm stand genauso wie es gespielt wurde und dann habe ich mit Alexander Horwath und Regina Schlagnitweit über das Programm gesprochen und die meinten, ja, das ist gut und der Titel passt. Das funktioniert. Und dann meinte Alex, ‚ich glaube zum Einstieg sollte man noch 3 amerikanische LPs von Wim Wenders spielen, den haben wir auch in der Sammlung.‘ Da war ich erst dagegen, weil der halt, wie ich auch versucht habe in meinem Einführungstext zu sagen, unrein ist: Das ist kein österreichischer Film und der fällt auch nicht in die zeitliche Klammer, die wir aufgemacht haben, von ’76 als die Arena besetzt wurde bis in die Gegenwart, sondern er fällt noch davor in die späten 60er Jahre. Aber er hat halt Peter Handke als Teil des kreativen Kerns dieser Arbeit.

Der Punkt ist natürlich, dass man daran ganz gut sehen kann, wie, wenn man über ein Programm anfängt nachzudenken, man immer einen neuen Gedanken aus dieser Arbeit mit den Filmen entwickelt. Im Prinzip haben wir über das Programm gesprochen, das ich zusammengestellt habe und dann hat eine weitere Person gesagt: ‚Mir fällt da noch was ein, das ganz gut passen könnte.‘ Und deswegen finde ich, darf man das auch nicht so sehr als abgeschlossen betrachten. Mit einem Programm, das aus sechs Teilen besteht, lässt sich schwer etwas großes Allgemeingültiges sagen, sondern es bildet ab, wie man entlang von Filmen über ein Thema nachdenken kann. Dementsprechend kommen Filme dazu und es fällt ein anderer Film raus, es verschiebt sich dann. Damit meine ich aber keine Beliebigkeit, sondern ganz im Gegenteil: Ein Nachdenken über mögliche Bezüge zwischen den Filmen erzeugt erstmal so etwas wie einen gemeinsamen Kern, und um diesen Kern herum können einem weitere Filme einfallen, die den selben Kern umkreisen, und diesen zugleich verschieben und ihn auch als Zentrum aller anderen Filme neu formieren.

Ich komme jetzt vor allem drauf, weil du im Vorfeld meintest eine Frage sei sicherlich: Inwieweit eignet sich ein Filmprogramm eigentlich, um über so etwas wie einen Begriff nachzudenken? Und ich glaube es eignet sich dazu in ganz ähnlicher Weise, wie ein theoretischer Text zu einem bestimmten Themenkomplex. Ich glaube nur, dass es bei Beiden darum geht, zu sagen, das sind halt nur Vorschläge, wie man über diese Sache nachdenken könnte. So wie hinter jedem Text potenziell ein anderer Text versteckt ist, der ein Thema oder einen Begriff immer weiter verschiebt und neu betrachten lässt, so kann ein Film zum nächsten und zum nächsten führen und mit jedem verschiebt sich das, nach dem man ursprünglich gesucht hat – also in diesem Fall, ein Verhältnis von Pop und Film.

VS: Das ist interessant, weil ich gerade sozusagen die umgekehrte Arbeit an den Filmen mache, in gewisser Weise die Rekonstruktion oder für mich zumindest versuche Bewegungen in diesem Programm zu finden. Aber diese Bewegungen hängen natürlich immer schon mit einem Begriff von Pop zusammen, den ich diffus in meinem Kopf habe. Ich habe etwa das ein oder andere von Diederichsen gelesen, und dann fallen mir gewisse Motive ein, vielleicht könnte man Denkfiguren sagen.

So diffus ist dann auch die Beziehung der Filme untereinander. Deswegen frage ich mich ein wenig, wie stark der Begriff wirklich ist, sozusagen die theoretische Arbeit und wie häufig ist es, dass man erstmal denkt: ‚okay, der Wenders Film und Langsamer Sommer die passen halt einfach geil zusammen.‘ Das passt einfach, das sieht man.

Langsamer Sommer von  John Cook

Langsamer Sommer von John Cook

AB: Der Gedanken ‚das passt geil zusammen‘ ist sicherlich wichtig – als diffuses Gefühl, dem man in jedem Fall nachgehen sollte. Zugleich versuche ich dann aber schon, mir selbst die Frage zu stellen, wie das zusammenpasst, was genau zwei Filme gemeinsam artikulieren, wie der eine den anderen in unserer Wahrnehmung verschiebt. Ich glaube, bei dem Programm war entscheidend, dass der Begriff von der Sache und das theoretische Konstrukt zwar irgendwie da war, aber halt sehr diffus und kaum greifbar. Und, dass der Begriff von dem, über das man anhand von Filmen nachdenken möchte, sich eigentlich erst durch die Filme entwickelt hat. Mein Verständnis von Pop, von dem Ineinander von Popkultur und Film in Österreich bildet sich sozusagen in dem Programm ab, aber es ist natürlich auf keinen Fall eine endgültige Setzung: Tausend andere Theorien oder Filmprogramme über das Thema sind möglich, oder tausend andere Kombinationsmöglichkeiten von Filmen. Das meine ich, wenn ich sage, so ein Programm ist ein Angebot, dem man folgen kann, das man sinnlich durchleben und dem man gedanklich folgen kann, aber aus dem heraus natürlich idealerweise auch immer eigene Schlüsse, ein eigenes Weiterdenken folgt.

VS: Das Problem ist ja auch, wenn man die Filme so klar einem Begriff unterordnet, dass man sie erstickt, ihnen ihr Leben nimmt. Was selbstverständlich ein ebenso großes Problem ist, wenn man darüber schreibt. Weil man die Filme auf ihre Beziehung zu einem Begriff reduziert. Deswegen, glaube ich, ist diese motivische Arbeit sehr wichtig. Weil da bleibt etwas erhalten.

Das ist ja nicht dein erstes Programm. Hattest du Programme, die wesentlich theoretischer waren in ihrem Ansatz, die also eine ganz klare theoretische Idee hatten?

AB: Ja, also im Rahmen von Lehrveranstaltungen zum Beispiel an der Uni, die machen wir ja auch im Kino und da geht es teilweise um Fragen des Programmierens. Da haben wir immer wieder kleinere Programme zusammengestellt, die schon sehr theoretische Herleitungen hatten, dahingehend, dass wir eigentlich mit den Programmen innerhalb des Seminars artikulieren wollten, dass das Zusamenstellen von vier Filmen vermutlich ein genauso interessanter theoretischer Akt ist, wie theoretische Texte zu besprechen. Das wurde nicht so deutlich artikuliert, aber es ging darum, zu zeigen, dass das Filme schauen schon Teil der theoretischen Beschäftigung mit Filmen ist. Der Film hat auch seine eigene Theorie.

Dann gibt es Programme, wie z.B. 2-mal Sehen, da versucht man zu überlegen, was könnte 2-mal Sehen heißen. Das könnte ein Film sein, der sich wiederholt, den man 2-mal hintereinander sieht; es könnte eine Doppelprojektion sein, da zeigen wir dann Razor Blades von Paul Sharits; dann könnte es ein Found Footage Film sein, weil der artikuliert im Grunde, dass Bilder, die schon mal gesehen wurden in einem Kontext, im Found Footage Film ein zweites Mal gesehen werden in einem anderen Kontext. Das wäre so ein Programm, da versucht man eine Art theoretisches Verständnis zu übersetzen, zu zeigen, wo es in Filmen vielleicht auch auffindbar ist. Aber im Kern ist es immer das gleiche Prinzip: Das Entwickeln eines Gedankens entlang von Filmen. Und mit jedem Film könnte der Gedanke vielschichtiger werden, sich verschieben, komplexer werden.

Gleichzeitig macht man diesen Gedanken durch das Programm dann aber auch erfahrbar. Ich glaube, das ist der Unterschied zum Lesen von Theorie, dass man das Ding selbst erfahrbar macht, also man spricht oder man kommuniziert praktisch über die Filme mit den Filmen. Ich habe das Gefühl, man ist ein bisschen näher dran an dem was Film eigentlich sagen könnte. Deswegen gefällt es mir ein Programm zu denken wie einen theoretischen oder essayistischen Text, der einfach versucht so nah wie möglich an seinem Gegenstand zu denken.

VS: Das erinnert ja auch ein bisschen an diesen Versuch von Godard eine Filmgeschichte zu schreiben. In der Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos redet er viel darüber wie diese sehr unterschiedlichen Filme zusammenarbeiten und teilweise darüber, wie sie nicht zusammenpassen. Aber das kann man erst sehen, wenn man die Filme zusammen sieht. Dazu kommt, dass ein Programm natürlich auch nicht hermetisch ist, ich also öfter einen anderen Film im Kopf hatte, mit dem ich verglichen habe, den ich kurz in mein eigenes Programm aufgenommen habe.

Man kann natürlich auch auf einen unbescholtenen Zuschauer treffen, der das alles nimmt, und sagt, ‚okay, das ist ein abgeschlossenes Ding‘. Wenn man jemanden hat der letzte Woche tausend Musikvideos und Pop-Filme gesehen hat, dann ist das aber etwas Anderes. Hast du eine Vorstellung davon, wie deine Programme geguckt werden sollen?

AB: Nein, da würde ich sagen, ist es genau wie mit Godard bei Histoire(s) du cinema. Man kann das schauen und sagen, ich verstehe es nicht, ich verstehe all die Bezüge nicht und ich habe den Kontext nicht und all das cinephile Wissen nicht. Und dann kann man da relativ schnell dran verzweifeln und es eben nicht mögen. Oder man kann es einfach schauen, auch als verrückte Idee mittels Film über Geschichte nachzudenken, man kann einfach mitgehen, immer mit dem Selbstbewusstsein, dass die Wissenslücken, die man hat, hier nicht relevant sind, sondern man akzeptiert mal dieses Narrativ, welches er setzt und macht das einfach mal durch und danach kann man anfangen, darüber zu reflektieren und sich dazu zu positionieren. Aber erst einmal geht man mit. Und so würde ich das mir das idealerweise auch bei Filmprogrammen vorstellen, wenn die Leute einfach mitgehen.

Und vielleicht können Filmprogramme dies in besonderer Weise hervorbringen, weil nicht jemand dasteht und einen theoretischen Vortrag hält und versucht besonders geschickt die Dinge zu argumentieren, sondern weil alle Leute gemeinsam diese Filme schauen und sich entlang dieser Filme ihre Gedanken machen. Das war ja auch auf der Diagonale ganz gut sichtbar, dass da schon 4, 5 Leute waren, und das ist natürlich nicht viel, aber die haben sich fast alle Programme angeschaut. Und wenn man mit denen zwischendurch geredet hat, dann hat man gemerkt, die haben sich auch überlegt, wie wird Popkultur sichtbar in diesen Filmen?

VS: Das finde ich auch eine Stärke des Programms, dass es sich traut, diese historische Linie durchzugehen, zumindest bis in die späten 90er und wirklich versucht, eine Geschichte zu erzählen, ein Narrativ zu entwerfen, statt einfach nur mal da was, mal hier was zu nehmen. Es versucht eine historische Popgeschichte zu erarbeiten. Insgesamt ist das sehr erzählerisch. Es gibt am Anfang diese Bewegung, die da losgeht bei Wenders, diese Suche, die dann in Langsamer Sommer weitergeht. Die dann in Malaria in diesem kleinen Laden endet, in diesem absoluten Stillstand der da herrscht und dann in so ein Chaos übergeht bei Huemer. Das finde ich, ist ein starkes Motiv.

AB: Ja, bei Huemer entlädt es sich dann.

VS: Dann bei Eiszeit geht es um ein bisschen was Anderes, nicht mehr um die Suche, sondern um den Moment in dem man vereinnahmt wird, in dem diese notwendige Abgrenzung nicht mehr richtig funktioniert, also die Distinktion zu sagen ‚wir wollen etwas Anderes als ihr‘. Das funktioniert da nicht mehr richtig und wird zu einer neuen Linie des Programms, die sich dann auch weiterzieht.

AB: Die zieht sich dann vor allem ins Avant Pop-Programm rein, würde ich sagen. Das fünfte Programm, diese kürzeren Arbeiten sind sehr von der ambivalenten Haltung gegenüber dem Pop geprägt. Die interessieren sich noch für die Oberflächen der Pop-Ästhetik, aber gleichzeitig steckt schon eine radikale Dekonstruktion in diesen Filmen. Und das ist in Eiszeit eben auch so. Im Peter Huemer Film ist das nicht so, das ist keine Dekonstruktion dieser Bildermythen, sondern eine Neugierde, überhaupt mal zu sehen wie die funktionieren. In dem Kontext mag ich eben Slidin‘ auch sehr gerne, weil er aus dieser Perspektive ein total interessantes Dokument darüber ist, wie sich Pop Ende der 90er Jahre anfühlt. Wirklich abgeranzt und leer, wie eine Depression eigentlich. Nachdem man das alles durchgemacht hat: also Langsamer Sommer, ist eben ein langsamer Sommer, hier fängt ein Spiel mit Codes an, in der Art der Kleidung, in den Sprüchen, in der Musik, die man hört, dann in Malaria gibt es schon diese völlig durchcodierte Welt und das entwickelt sich weiter bis in Slidin‘ der Spaß halt vorbei ist. Das macht alles überhaupt gar keine Freude mehr – die Identitätsspiele, das Ausprobieren, Zitieren, sich permanent neu erfinden. Und Spaß ist dann doch ein zentrales Element von Popkultur.

The Bands von Egon Humer

The Bands von Egon Humer

VS: Ich finde, da ist auch diese Utopie vollkommen vorbei. Darüber sollten wir reden, wo diese Utopie des Pop, auch ein politisches Ding zu sein und wirklich die Möglichkeit eines anderen Lebens zu beherbergen, steckt. Für mich ist die am stärksten in Langsamer Sommer. In dem Moment in dem sich etwas verwirklicht, etwa der Ort, wie in Malaria, ist es eigentlich schon vorbei. Da gibt es nichts mehr.

Auf diesem Landhaus unter den Apfelbäumen, da ist vielleicht die Möglichkeit eines anderen Lebens. Aber das funktioniert natürlich auch nicht.

AB: Das stimmt. Aber es gibt halt jenseits des anderen Lebens auch immer wieder kleine utopische Momente. Die Tanzszene am Ende von Malaria ist wirklich ein Befreiungsschlag, auch aus dieser Stasis in der die die ganze Zeit gefangen sind. Nach Malaria haben ja einige Leute auch gesagt, sie hätten so gerne zu der Zeit in dem Laden abgehangen. Also auch solche Filme scheinen ein Lebenskonzept anzubieten, in das Leute gerne eintauchen würden. Das steckt schon immer wieder in den Filmen.

VS: Vor allem halt in Augenblicksmomenten, in denen alles andere vergessen wird.

AB: Ja, genau. Und diese Augenblicksmomente sind auch teilweise wichtig dafür, weil du vorhin gefragt hattest, wie so ein Programm zusammengestellt wird. Langsamer Sommer ist mir beispielsweise erst sehr spät eingefallen. Ich glaube, weil ich über die Drifter-Figur nachgedacht habe anhand der Filme und dann ist mir Langsamer Sommer gekommen. Bei Langsamer Sommer habe ich dann lange überlegt, ‚ja, aber ist das ein interessanter Gedanke zu Pop und Film?‘. Und dann ist mir plötzlich eingefallen, dass da diese Szene ist, in der das komplette Lou Reed Lied läuft. Wo er die Schallplatte auflegt und die Platte läuft und sie unterhalten sich weiter. Aber das Durchlaufen des ganzen Musikstücks ist total dominant. Das war der Moment, in dem ich gedacht habe, ’stimmt, auch der Film handelt von Popkultur‘. Weil eigentlich nimmt man ihn erstmal als so eine Art Zeitdokument wahr. Eher als ein realistisches Dokument, nicht so sehr als Code, oder als Film der mit Codes spielt und diese verhandelt. Aber das ist natürlich ein Film der mit Codes spielt, weil er ein Film über zwei Leute ist, die einen Film machen. Die denken auch noch die ganze Zeit darüber nach, wie sie sich inszenieren im Sommer. Das ist mir aber erst eingefallen als ich an diese Platte gedacht habe. Auch ein kleiner Moment in dem ich gemerkt habe, man kann es auch so betrachten.

VS: Die interpretieren und phantasieren die Bilder, die sie von sich selbst gemacht haben. Ich glaube, dass da dieses große Sehnsuchtsmoment drinsteckt. Und – das ist jetzt vielleicht ein bisschen weit – dass da auch eine Verbindung von Pop und Film ganz grundlegend ist. Diese Sehnsucht geht los bei dem Wenders Film, man will an einen anderen Ort, hier Amerika. In Langsamer Sommer will man überhaupt an einen Ort, von dem man nicht genau weiß wo er ist, man will aber gleichzeitig in eine andere Zeit.

AB: Ja, das ist dann der Kampf mit der Nostalgie.

VS: Genau. Bei Langsamer Sommer finde ich das sehr evident. Da liegt die Möglichkeit des anderen Lebens in der Vergangenheit. Diese Möglichkeit ist nur noch Imagination einer anderen Zukunft, die sich aus den Möglichkeiten der Vergangenheit speist. Das geht von der Gegenwarts-Obsession des Pop weg und auf so Nostalgiemomente. Deswegen ist bei Langsamer Sommer am Ende diese Utopie vielleicht auch schon ein bisschen vorbei. Weil man merkt, dass es dann doch nicht geht.

AB: Ja, aber dann ist schon interessant, dass der Film aus dieser Aneinanderreihung von Spielchen, von Performances besteht. Der Fotograf, der Autor, die genervte Frau, die spielen das ja teilweise. Aber am Ende gibt es dann eben diesen sehr authentischen Moment, wo John Cook hochruft: „Helmuth du bist ein guter Freund“ und die Mutter macht irgendwo im Hintergrund essen. Das finde ich wirkliche einen total brillanten Moment, weil genau da alles wegfällt, da sind die zwei ganz unschuldige Buben, ohne Egos und sonst was. Das hat mir immer ganz gut gefallen, das ich gemerkt habe, dass am Ende das Spielen aufhört.

VS: Stimmt, es ist dann ja auch etwas gelungen, man hat ja diesen Film, der ist gemacht, der ist fertig. Es ist dann doch etwas passiert, das diese Sehnsucht befriedigen kann. Der Film ist im Kasten und da ist alles drin was passiert ist, und alles, was vielleicht hätte passieren können.

AB: Das weist vielleicht darauf hin, dass man diese Filme und das Programm auch ganz anders sehen kann. Was sieht man da eigentlich? So ein Programm bildet natürlich immer auch ab. Welche Orte, welche Clubs sieht man? Gibt es die noch? Inwieweit stehen die noch für Popkultur oder haben sich schon davon entfernt? Man kann diese Filme auch, egal wie fiktional oder avantgardistisch, total als Dokumente ihrer Zeit lesen. Man eröffnet dadurch mit so einem Filmprogramm eben genau die codierten Welten durch die die Figuren auch dauernd laufen. Dieses Zeichenhafte. Du begegnest dann den Zeichen der 80er Jahre Punk-Szene, du begegnest den Zeichen von Helmuth und John im Wien der 70er Jahre, du machst das alles mal durch im Laufe eines Programms. Allein das ist eine interessante Erfahrung, glaube ich, auch ohne dass man sie theoretisiert. Tatsächlich im Sinne von „ein anderes Leben leben“. Das wäre vielleicht auch die richtige Formulierung dessen, was es unterscheidet von einem theoretischen Text. Ein theoretischer Text ist vielleicht besser dazu geeignet etwas präzise zu formulieren, aber für die tatsächlich sinnliche Erfahrung, dass du wirklich in einem anderen Rhythmus lebst, in einer anderen Zeit, einem anderen Raum, ist ein Programm wirkliche eine gute Möglichkeit. Wie eine Simulation eigentlich, wenn man es übertreiben möchte.

Happy End von Peter Tscherkassky

Happy End von Peter Tscherkassky

VS: Ein anderes Leben sieht man ja dann auch in Happy End, der am Ende des Avant Pop-Programms stand. Man kommt, solange man diesen Film sieht, nicht über diese Frage hinweg: woher hat der diese Aufnahmen? Ich konnte da nicht aufhören mir Szenarien auszumalen, wo diese Aufnahmen herkommen und was das eigentlich ist? Was ist das? Das sind schon Homevideos, oder?

AB: Homemovies, ja. Von diesem Paar, die sich eben dabei gefilmt haben, wie sie sich immer an Weihnachten oder Silvester total betrinken und dabei permanent zuprosten. Das Material hat Peter Tscherkassky wohl einfach erstanden, auf einem Flohmarkt oder so etwas, also das ist gefundenes Amateurfilmmaterial. Alexander Horwath sagt immer was ganz Interessantes über diesen Film, und das mag ich wirklich wahnsinnig gerne als Gedanken: dass die Beiden ständig in die Kamera blicken und damit etwas adressieren und sich bei dem Film damit die Frage stellt: Wen adressieren die eigentlich? Vermutlich haben sie sich selbst adressiert, aber mittlerweile adressieren sie dann Menschen 30 Jahre später in einem Kino. Das finde ich einen ziemlich interessanten Gedanken, weil noch einmal die Möglichkeit ein anderes Leben zu leben da ist … du guckst da wirklich einem anderen Leben zu und die blicken dich an, die gucken sozusagen zu dir zurück. Eigentlich wäre das auch ein guter Schlusspunkt zu dem Gesamtprogramm gewesen.

VS: Das ist ein bisschen wie so Grußkarten, die man an Freunde schickt. Man macht ein Weihnachtsfoto und dann schreibt man da einen Spruch drunter. Dazu kommt aber, dass das so absurde Mengen an Alkohol aufgefahren werden, dass man das auch für eine Inszenierung halten könnte. Zusammen mit den relativ wohlkadrierten Einstellungen, könnte man das für Spielfilmmaterial halten. Es ist nicht ganz klar, ob das für die Kamera gestellt ist, ob der Alkohol tatsächlich getrunken wird, ob das ein Spiel ist.

AB: Auch hier gibt es wieder das Bedürfnis das Leben abzubilden, das ist dann vielleicht eine Nähe die sich in dem ganzen Programm zwischen Film und Pop zeigt. Film als das Medium, das die Welt zeigt in einer bestimmten Art und Weise und Pop als Bedürfnis zu zeigen, etwas darzustellen, etwas zu sein, eine Identität zu konstruieren, sich neu zu definieren, aber permanent auch über Codes, die sichtbar sind. In dem Sinne ist natürlich Kino oder Film in besonderer Art und Weise dazu geeignet genau darüber nachzudenken oder das nachzuvollziehen.

VS: Ich glaube, dass Popkultur eine Sehnsucht entwickelt, die sich eigentlich nur in sich selbst erfüllen kann. Diese Sehnsucht kann sich nur in demselben Augenblick erfüllen, in dem sie entsteht. Im Film ist es so, wenn man einen großartigen Film gesehen hat, dann gibt es da eine Sehnsucht, die nichts anderes befriedigen kann als dieser Film selbst. Das ist so eine Schleife und wenn man versucht, die Sehnsucht irgendwo anders zu verwirklichen, dann kippt das Ganze, dann funktioniert es nicht mehr. Das funktioniert nur in sich selbst. Das ist für mich eine Verbindung.

AB: Das ist dann vielleicht auch die letzte Verbindung zur Musik, Musik als zeitbasierte Kunstform, die genau das macht und die als Kunstform in so einem Programm zwangsweise sehr dominant ist. Wenn man sich z.B. gewisse elektronische Musik anhört, die dann irgendwann Harmonien entwickelt, die ein unglaubliches Gefühl und Bedürfnis in einem erzeugen und sich dann verändern und weg sind und man weiß, man müsste das Stück wieder hören, um genau diesen Moment wieder zu erfahren. Vielleicht ist es deswegen kein Wunder warum die drei, Film, Pop und Musik so nah beieinander sind.

VS: Ich glaube, das ist auch der utopische Moment, in dem plötzlich eine Gemeinschaft und eine gemeinsame Bewegung entsteht. In dem Erlebnis. Für einen Augenblick. Und dann ist sie wieder weg. Es ist immer nur dieser Moment in dem das funktioniert. Aber im Kino kann der manchmal sehr lange sein und das ist sehr schön.

Diagonale 2017: Eine Geschichte Pop. This is not America – Austrian Drifters

In einem ersten Text zur Diagonale 2017 ging es um den Vergleich als Aufgabe der Festivalprogrammierung. Filme werden auf Festivals aktiv in Beziehungen zu anderen gesetzt. Praktisch fängt diese Vergleichsarbeit noch vor der Auswahl der Filme an, bei der Einteilung in unterschiedliche Sektionen – auf der Diagonale beispielsweise: „Spielfilm“, „Dokumentarfilm“ oder „Innovatives Kino“. Eine solche pragmatische Festlegung mag tatsächlich der Übersichtlichkeit eines Programms dienen. Die Gruppierung von Filmen nach vermeintlichen Gattungsgrenzen ist zudem an den Kategorien der Filmindustrie und Produktion orientiert; die Diagonale erweist sich hier auch als Branchentreffen. Andrey Arnold kritisierte in seinem Text für Die Presse zur diesjährigen Diagonale, dass sich die gezeigten Filme oft zu einfach ihren eigenen Gattungsgrenzen ergäben und zu selten den Übertritt wagten. Zu der von Andrey beschriebenen Abhängigkeit von einer Produktions- und Förderpraxis, die diese Grenzverletzungen zu verhindern sucht, tritt eine Programmierung, die in den Wettbewerbsprogrammen keinen Wert darauf legt, Grenzen abzutragen und mögliche Überschreitungen durch eine freiere Vergleichsarbeit herauszustreichen.

In dieser Arbeit des Festivals erscheint der einzelne Vergleich häufig als eine Festlegung, die von außen an den Film herantritt. Doch der gelungene, aufschlussreiche Vergleich ist dem Film nie äußerlich, sondern vielmehr eine Forderung, welche vom Film selbst ausgeht, demnach ein Angebot der referenziellen Struktur des Films. Weil dieses Angebot immer ein Überangebot ist, steht ein Programmkurator vor der Aufgabe, im unerschöpflichen Überschuss des Gesehenen abzuwägen zwischen den breiten Wegen und den schmalen Pfaden, zwischen Verbindungsstraßen und Sackgassen, zwischen intuitivem Orientierungssinn und dem Vorgehen mit Karte, Kompass und Begriff. Welche Route einzuschlagen lohnenswert ist, kann sich nur am konkreten Beispiel erweisen. Allgemein lässt sich wohl einzig sagen, dass der Vergleich und das Programm (und auch die Filmkritik), statt sich durchs Dickicht zu einem vorher festgelegten Ziel zu kämpfen, sich zunächst treibend den Spuren der Filme überlassen sollten. It´s a matter of drifting.

A matter of drifting

„This is not America: Austrian Drifters“ heißt der Beitrag des Österreichischen Filmmuseums zum historischen Schwerpunkt der Diagonale 2017: „Pop-Special: 1000 Takte Film“, welches die Beziehung des österreichischen Filmschaffens zur Popkultur untersuchen möchte. Abseits der branchennotwendigen Kategorisierungen hat Alejandro Bachmann mit Unterstützung der beiden Intendanten Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber ein 6-teiliges Programm gestaltet, das eine historische Annäherung an einen Pop-Begriff versucht, ohne die ausgreifende Energie (das Leben?) der Filme dabei im Begriff zu ersticken. Der Begriff stellt sich als Frage, nicht als Antwort, und initiiert so eine treibende Bewegung, die führt, ohne genau zu wissen wohin.

Programme machen wie Road Movies. Der Blick öffnet sich nach rechts und links, im Schritttempo vorbei an Münchner Vorstädten, Baustellen, Industrielandschaften zur Musik von Creedence Clearwater Revival. Wim Wenders‘ 3 amerikanische LP´s (1969) beginnt kurz zuvor auf einem Balkon in einer Neubausiedlung, eine rauchende junge Frau verstellt den Blick auf eine Totale, tritt aus dem Bild, das da als Antwort auf die vorher im Off-Kommentar (geschrieben von Peter Handke, deshalb läuft der Film hier) geäußerte Forderung steht: „Man müsste Filme machen über Amerika, die nur aus Totalen bestehen. In der Musik gibt es das ja schon. Also in der amerikanischen Musik.“ Die strenge, erhöhte Komposition weist hinaus auf die archivarisch-distanzierten Bilder der New Topographics, mit denen amerikanische Fotografen in den 1970er Jahren den öffentlichen Raum und seine Zeichen vermessen sollten. Van Morrisons Slim Slow Slider liefert den Soundtrack: „And I know you won´t be back.“ Sehnsucht überwältigt die neutrale Distanz des Bildes, der Ort verweist auf ein abwesendes Leben und Erleben, ähnlich den übrig gebliebenen Zeichen des Americana und den entleerten öffentlichen Räumen, die Stephen Shore auf seinen Reisen durch die USA fotografiert hat. Aber was bei Stephen Shore durch leuchtende Farben in melancholischer Schönheit erstrahlt, ist bei Wenders in braun-grau ausgewaschen. This is not America. Später wird Wenders auf seine Fahrten durch München fündig: ‚amerikanische Orte‘, ein Autokino mit großem Coca-Cola Plakat, eine Tankstelle. Wichtiger aber noch, dass Wenders die Kamera ins Auto versetzt, in den amerikanischen Fortbewegungsmodus schlechthin. Das Vorbeiziehen der Stadtlandschaften erweist sich als enttarnende Verkleidung, die aufdeckt, was fehlt. This is not America. In der Reinszenierung entsteht eine doppelte Sehnsuchtsstruktur: eine andere Zeit, ein anderer Ort. Dann, dort: ein anderes Leben.

Sugar Bowl Restaurant von Stephen Shore

Sugar Bowl Restaurant von Stephen Shore

Rainald Goetz hat einmal in Abwandlung von Rilkes Archaïscher Torso Apollos geschrieben, die sich immer wiederholende, augenblickliche Forderung des Pop, sei diese: „Du musst dein Leben ändern.“ Die Sehnsucht und Suche nach einem anderen Leben bestimmt auch Langsamer Sommer (1976) von John Cook, der im ersten Teilprogramm der Reihe auf den Eröffnungsfilm von Wenders folgt. Bei Wenders war diese Suche noch konzentriert auf eine andere Bildproduktion, ein anderes Leben der Bilder. In Cooks Film greift sie nun aus dieser öffentlichen Dimension über ins Private.

In der Ununterscheidbarkeit von dokumentarischen und fiktiven Formen, vermischen sich Leben und Filmemachen. Zu Anfang des Films besucht John Cook selbst seinen Freund Helmut in dessen verdunkelter Wohnung, sie trinken Bier, John stellt einen 16mm-Projektor und ein Tonbandgerät auf. Sie spielen einen Film ab, eben jenen den auch wir die nächsten 70 Minuten sehen werden; dazu sprechen sie einen spontanen Tonkommentar ein: ein Sommer vor einigen Jahren. John und Helmut ziehen durch Wien. Zwielicht kündigt den Morgen an, noch sind nur wenige Autos unterwegs und man kann mit den Füßen Schlängellinien in den regennassen Asphalt malen. Wie sie da in der Mitte der Straße gehen – Helmut mit Sonnenbrille; John amerikanischer, in grober Weste und weitem Hemd –, sind sie ganz alleine in ihrer Coolness. Aus dem Off hören wir Helmut und John die Bilder ihres Lebens kommentieren. Sie stellen sich gegenseitig vor. Helmut fragt John, wann das gewesen sei; Cook antwortet, das sei im Sommer 72` gewesen, schau wie fröhlich wir da waren.

Langsamer Sommer von John Cook

Langsamer Sommer von John Cook

In der Folge sehen wir John und Helmut in einer nicht enden wollenden Bewegung durch den Sommer 72` schlendern, immer auf der Suche nach Orten und Menschen, mit denen ein anderes Leben möglich wäre: sie sitzen in Cafés, befahren mit dem Cabrio die Stadt, trinken viel, reden über vergangene Lieben, lernen ein Fotomodell kennen, organisieren ein Shooting, versuchen Johns Film fertigzubringen und treffen ein befreundetes Ehepaar, mit dem sie einen verschlafenen Nachmittag auf einem Landhaus außerhalb Wiens verbringen. Die Utopie eines anderen Lebens ist hier am nächsten, dösend unter Apfelbäumen, abseits der unempfänglichen Stadt, die den beiden kein Gefährte sein will. Aus dem Off erzählt John von einer Hoffnung die er damals hatte, aber nicht aussprach: dass man zusammen einen Film machen könne, sie vier und die Kinder. Die Gegenwarts-Obsession des Pop öffnet sich: die Möglichkeit des zukünftig anderen Lebens tut sich auf im Blick zurück. Sehnsucht ist eine Bewegung, die durch erinnerte Vergangenheiten und imaginierte Zukünfte wandert, und nur ab und an dabei die Gegenwart streift.

Irgendwann ist die Heimprojektion vorbei. John und Helmut sitzen auf dem Sofa, der Film ist kommentiert und fertig. Er fasst all die Bewegungen der Sehnsucht des Sommers `72, ist in seiner Bewegtheit vielleicht die Sehnsucht selbst, sowie der Keim einer neuen Sehnsucht, die sich langsam im dunklen Kinosaal ausbreitet. Zugleich ist der Film aber eben auch die Erfüllung dieser Sehnsucht, vielleicht die einzig mögliche.

Der dritte Film des ersten Teilprogramms ist nur wenige Minuten lang und doch fügt er den Wirkungsdimensionen von Pop – Bildproduktion bei Wenders, privates Leben bei Cook – noch eine dritte hinzu: das politische Leben. Gezeigt wird das Fragment eines Mitschnitts vom Live-Auftritt Leonard Cohens in der 1976 besetzten Wiener Arena. Die private Sehnsucht nach dem unbestimmten Anderen übertragt sich, durch die Musik kanalisiert, auf das Publikum und schafft eine Gemeinschaft, die einem gemeinsamen Bewegungsimpuls folgt. In den Gesichtern der Menschen, die um Leonard Cohen im Kreis auf dem Boden sitzen, sehen wir, wie dieser Impuls jeweils individuell ausagiert wird. Das utopische politische Potenzial des Pop liegt darin, durch eine gemeinsame Bewegung, für einen Augenblick, eine Gemeinschaft aus maximal individualisierten Einzelnen zu formen.

Andreas Vitasek

Das coole Wissen

Das zweite Teilprogramm geht der Frage nach dem Verhältnis von Individualisierung und Gemeinschaftsbildung nach. Niki Lists Malaria (1982) spielt zehn Jahre nach Langsamer Sommer  und verfolgt in einem fiktiven Wiener Szenetreff über einen Abend die Individuationsrituale und Annäherungsversuche der Jugendlichen. Die Ausgehvorbereitungen der Barkeeperin eröffnen den Reigen der hochspezialisierten Styles, Sprachen und Gesten. In klassischer Expositionsdramaturgie treffen nach und nach die verschiedenen Typen einer mittlerweile ausdifferenzierten Poplandschaft in ihrem Laden ein. Es treten auf: zwei linke Späthippies, die sich sofort nach dem Hinsetzen in lasche aber demonstrativ an marxistischem Vokabular geschulte Diskussionen vertiefen, ein Brando-Verschnitt, der den Abend mit Bieren und amerikanischen Phrasen am Tresen verbringt, ein paar hochnäsiger Dandys, die sich in englischer Ironie von den vermeintlichen Absonderlichkeiten der restlichen Belegschaft distanzieren, zwei coole Freundinnen, die die Anmache eines einsamen Poppers in rosarotem Jackett und gelber Bienenkrawatte gekonnt ignorieren, uvm.

Einer codierten Choreographie folgend betreten die Paare und Einzelgänger den Ort ihrer gestillten Sehnsucht. Hier soll es also sein, das andere Leben. Das Lokal selbst fällt ein in den starren Synchrontanz. Im Rhythmus der Musik aus dem Tapedeck blinken die Lichter der Kaffeemaschine, die mit fast lächerlicher Akkuratesse angerichteten Cocktails stimmen sich farblich mit den Neonlichtern der Einrichtung ab, aus der Theke wächst auf Zuruf ein Bier und im Kamerablick wird das Plakat an der Wand zum Spiegel für den unbewegten Mann davor. Dieses bis in letzte Detail codierte Universum aus Zeichen und Zitaten versagt jede spontane Bewegung. Rhythmische Abweichung wird mit Nichtbeachtung gestraft. Die Kamera teilt den Raum streng in spezialisierte Parzellen auf, hier ihr, hier wir, alles an seinem Platz. Die Besucher der Bar werden im Netz der Codes zu Gefangenen. Gemeinschaft ist unmöglich, die Typen stehen wie Einrichtungsgegenstände nebeneinander, der am anderen Tisch ist zu anders, der am gleichen Tisch zu gleich für ein Gespräch, das über selbstbestätigende Monologisierung hinausgehen würde. Das Popuniversum ist eingefroren im Moment seiner Verwirklichung. Die stetig wandernde Bewegung des Langsamen Sommers und die damit verbundene Utopie sind am Ende angekommen: In einer Bar namens „Malaria“. Selbst das noch Code für die große Dekadenz.

„Malaria“, so ist es in geschwungener Neon-Schrift von draußen, von der Straße zu lesen und doch als Teil des „coolen Wissens“ nur von wenigen zu deuten. In der markierten Abgrenzung nach Außen wird Pop sich wieder als gemeinsame Distinktion vom `normalen´ Leben bewusst. Als zu später Stunde ein Polizist den Laden betritt und voller Unverständnis für die seltsamen Vorgänge in dieser unbekannten Welt eine Frage nach der anderen stellt, kommt plötzlich Bewegung auf. Der falsche Amerikaner am Tresen legt ein neues Tape ein, der Bewusstlose am Boden steht zum Saxophon-Solo wieder auf und der Tanz geht los: „Komm tanz mit mir, mir ist so heiß!“ Wie auf Kommando löst sich die strenge Ordnung auf, jeder tanzt mit jedem, eine ausschweifende gemeinsame Bewegung durchfährt den Raum. Das ist der große Pop-Moment, im Exzess feiert der Film doch noch seine irrationale, für den Moment absolute Affirmation dieser Welt. Er wird so selbst zum Pop-Ding ohne seine klare Analyse der Erstarrung einer verwirklichten Pop-Welt dabei zu entwerten. Möglicherweise bietet er sogar eine Lösung an: Chaos. Im Chaos der Zeichen wird jede Lesbarkeit in Widersprüche aufgelöst ohne dabei auf die individualisierenden Codes selbst zu verzichten. Die Distinktion nach außen bleibt bestehen, ohne dabei im Inneren zum Stillstand durch eindeutig lesbare Zuschreibungen zu führen.

Kiss Daddy Good Night von Peter Ily Huemer

Kiss Daddy Good Night von Peter Ily Huemer

Mit dem Langfilm des dritten Programms Kiss Daddy Good Night (1988) von Peter Ily Huemer, sind wir in Amerika angekommen, am endgültigen Sehnsuchtsort. Zu spät, das Chaos ist hier schon zum Prinzip einer düsteren Manhattan-Noir Welt geworden. Uma Thurman spielt in einer ihrer ersten Filmrollen eine Jungfrau mit unschuldigem Gesicht, die sich im Laufe des Films als Verführerin in unzähligen Verkleidungen erweist. Wie Huemers Film aus der New Yorker Szene kommend, überschreitet sie immer wieder die Grenze zur High-Art Welt der Upper Eastside um wohlhabende Männer abzuschleppen, die sie anschließend in ihren Wohnungen mit KO-Tropfen betäubt und beraubt. Dem Zweck des Lebensunterhalts dient das nicht, vielmehr der Aufregung des Spiels und der Maskerade. Was sie von ihren Beutezügen mitnimmt folgt keinem erkennbaren System, wertvoll muss es sein und dem Moment gefallen. Am Ende landet alles als großer Haufen auf ihrem Schminktisch. Artefakte der unterschiedlichsten Zeiten und Stile liegen da übereinander.

Huemer inszeniert diese Kunstwelt ‚Manhattan‘ zwischen teuren Auktionen, schicken Restaurants, dreckigen Highway-Unterführungen und heruntergekommenen Kleinstwohnungen als dissonante Überlagerung der Lebenswelten und Zeiten. Der gentle old man, der die Wohnung nebenan bewohnt, hat sich eingerichtet in einer schwarz romantischen Zeitkapsel mit düsterem Mobiliar, schweren Vorhängen, dunklem Rotwein, dekadenten Versen und weißem Kaninchen im Käfig. Als Doppelgängerin seiner verschwundenen Tochter verehrt er die junge Schöne von nebenan, bei der den ganzen Tag der aufgeregte Schein der ewigen Cartoonschleifen aus der Röhre strahlt.

Man lebt in einer Welt der Zitate, Zeichen und Verweise, die aber kein stabiles Gesamtbild mehr ergeben. Der Kontrast ist Strukturprinzip ohne jemals einer dialektischen Auflösung zugeführt zu werden. Die Bilder saufen ab oder überstrahlen einander, auf der Tonspur dröhnt ein New Wave Song über dem anderen. Die reinen Oberflächen aus Malaria sind in maximal unruhiges Chaos überführt. Hinter allem lauert sein Gegenteil, von allen Seiten droht der Einbruch. Der nette ältere Herr beginnt Uma Thurman zu verfolgen, in seiner neo-gotischen schwarzen Limousine jagt er sie durch die kahlen Straßenschluchten New Yorks. In der Montage ihrer Flucht scheint das ikonische Bild rasend vorbeiziehender Baumwipfel aus Das Testament des Dr. Mabuse auf, hier wie dort ist es Bild der Paranoia und des Wahnsinns. Am Ende wird der alte Mann von ihr in Notwehr erstochen und stirbt in ihren Armen. Von nun an geht sie mit dem jungen Mann, der sich irgendwann mitsamt seines leeren Gitarrenkoffers bei ihr eingenistet hat. Die Pop-Welt ist noch einmal gerettet, die beiden liegen gemeinsam im Bett vor dem ewig flimmernden Fernseher. Aber das Spiel ist vorbei, der Tod hat Eingang gefunden in die geschützte Pop-Welt und die Abgrenzung von einer Alltagswelt, die sich den chaotischen Zeichenstrukturen des Pop stetig annähert, wird zunehmend schwerer fallen. Mit dem Verlust der klaren Zeichen und eines einheitlichen Rhythmus ist die notwendige Distinktion in Gefahr.

Eiszeit von Wolfgang Strobl

Eiszeit von Wolfgang Strobl

Das vierte Teilprogramm, welches sich den dokumentarischen Formen des Aufeinandertreffens von Film und Pop in Österreich widmet, wartet mit einer echten filmhistorischen Ausgrabung auf. Eiszeit (1983), der 30-minütige Zweitsemesterfilm des ehemaligen Wiener Filmstudenten Wolfgang Strobl, verkompliziert das Problem der Abgrenzung weiter. In einer eklektizistischen Montage von Aufnahmen aus der Wiener Punkszene, wilden Weitwinkelbildern der abendlichen Tanzexzesse im U4, Überwachungsbildern der Wiener Linien, Straßenaufnahmen eines futuristischen Neon-und-Glas Wiens, sowie Interviews mit jugendlichen Punks und Wiener Honoratioren vermischen sich Szene und bürgerliche Gesellschaft zu einem Gesamtbild, das über die Dokumentation einer Pop-Welt hinausgeht.

Wir sehen ein paar sehr junge Punker vor einer Abrissbude sitzen, sie trinken, rauchen, versuchen einen geraden Satz in die Kamera zu sagen, werden abgelenkt von Leuten aus dem Hintergrund, ein latent gewaltsamer Tumult entsteht und wieder abebbt. Später noch einmal vier Jungs die versuchen ihre Überzeugungen zu formulieren, die Gründe für ihre militante Ablehnung der bestehenden Gesellschaft. Direkt darauf: Ein Wiener Politiker sitzt auf einem thronartigen Stuhl und redet über die Jugend, die er ja verstehe und deren politisches Bewusstsein er bewundere. Was der Schnitt suggeriert: Sitzt der im selben Raum? Die vorgeblich verständnisvollen Aussagen des Politikers tragen eine seltsam zersetzende Gewaltsamkeit in sich. Eine Abgrenzung ist nicht mehr möglich, bei Strobl beginnt die große Inklusion. Die aus dem Off eingespielten Interviews mit Jugendlichen zeigen deren Fortschritt an. Da wird die fehlende Gemeinschaftlichkeit der Szene und ihre Oberflächlichkeit bedauert. Die Rhetoriken der vermeintlichen Gegner werden zunehmend ununterscheidbar.

Strobl lässt die Orte der Szene im Schnitt mit denen der bürgerlichen Gesellschaft zusammenfallen. Mit Mitteln, die dem Experimentalfilm nahestehen, schafft er überraschende Verknüpfungen, basierend auf fast abstrakt verstandenen Bildmotiven. Die aufblitzenden farbigen Neonlichter eines Szeneclubs gehen über in die blinkenden Signallichter eines Schaltpultes, die gedrängten Menschen in der U-Bahn folgen auf die tanzende Menge im U4. Er speist die Bilder ein in den mechanischen Kreislauf einer Gesellschaft, in dem die Zeichen nicht mehr der Kontrolle derer unterliegen, die sie hervorbringen. Es wird eng in Wien, mit den freien Räumen verschwinden auch die freien Bilder.

Die schockierendste Szene in Strobls brachialem Film montiert die Fahrt durch einen Wiener U-Bahnschacht mit den äußerst expliziten Aufnahmen einer blutigen Geburt. Es sind die Bilder einer Gewalttat, hinter den kalten Betonwänden steckt eingezwängt der menschliche Körper, er wird in eine ebenso kalte Welt entlassen.

Kalkito Clips Vol. 1 von Dietmar Brehm

Kalkito Clips Vol. 1 von Dietmar Brehm

Der Körper hinter den Codes

Das fünfte Teilprogramm mit dem Namen „Avant-Pop Special Report“ scheint die Geburtsszene aus Strobls Film aufzugreifen. Nachdem Malaria und Kiss Daddy Goodnight den Körper als Zeichenmaterial verwendet haben, als eine möglichst reinzuhaltende reflektierende Oberfläche, die von sich selbst fortweist, zeigte Strobl den verletzlichen und organischen Körper als den vergessenen Grund und Abgrund hinter den Oberflächen. Mit der Suspendierung des Körpers verbannt Pop auch alles was an Tod und Vergänglichkeit erinnern könnte. Das Ideal des ewigen Augenblicks ist eines, das dem Körper als Fleisch entbehrt.

Zwei zentrale Arbeiten des Experimentalfilm-Programms – die Kalkito-Clips Vol. 1 (2014) von Dietmar Brehm und Satellites (2011-2012) von Karin Fisslthaler – decken auf, inwiefern die Auseinandersetzung mit dem Körper als lebender und deshalb sterblicher Organismus Motiv der Popkultur war und ist.

Im ersten von Brehms Musikclips sehen wir zu Lou Reeds Temporary Thing die feststehende Einstellung eines Totenkopfs. Die in regelmäßigen Abständen wechselnde monochrome Einfärbung des Bildes erinnert an die Arbeit mit schattierten Farbflächen in der amerikanischen Pop-Art, aufgrund der motivischen Gemeinsamkeit besonders an die Serie Skulls von Andy Warhol. Was auf der Leinwand zu einer Beruhigung des Motivs, auch zu Zweidimensionaliät führt, hat im Medium des Videos einen gegenteiligen Effekt. Im Grundflackern der Videobilder scheinen die Flächen zerreißen zu wollen. Der Totenkopf wird nicht wie bei Warhol in Farbe einbalsamiert, noch das eh schon Tote ist bei Brehm von Zersetzung bedroht.

Skull von Andy Warhol

Skull von Andy Warhol

In einigen weiteren Clips von Brehm sehen wir pornographisches Material, das in schwer zu ertragenden Wiederholungsstrukturen von jeglicher Erotik und sexueller Identifikationskraft befreit wird. Durch die Bearbeitung des Materials schwindet auch jegliche Identität aus den Bildern, es ist schwer zu sagen wer da zu sehen ist und wie das verwendete Material zu datieren ist. Was bleibt ist der mechanische und gewaltsame Akt der pornographischen Aufnahme selbst. In einem der Clips wird das so verwendete pornographische Material zudem mittels einer einfachen Montage in eine voyeuristische Situation eingespannt. Zwei Männer kontrollieren die pornographische Szene. In der tautologischen Vervielfältigung des männlichen Blicks zeigt Brehm diesen als Strukturmerkmal des verwendeten Materials auf und schafft gleichzeitig im Rhythmus der Wiederholungen eine seltsame Art von ironischer Distanz.

Brehms Arbeiten sind sehr schmerzhafte, harte, kalte Stücke, die den Zuschauerkörper ebenso attackieren, wie sie die tatsächlich gewaltsamen und morbiden Implikationen aufzudecken scheinen, die in der gespielten Musik – The Velvet Underground, Lou Reed, Iggy Popp – und unter der Pop-Oberfläche überhaupt stecken.

Satellites von Karin Fisslthaler

Satellites von Karin Fisslthaler

Karin Fisslthaler geht in ihrer Arbeit Satellites wesentlich behutsamer mit Bild und Körper um. Zuerst sind da nur Körper, die aufeinander zustreben, Hände, die Schultern streifen, Hälse umgreifen, zueinander finden in zielstrebigen doch zärtlichen Bewegungen. Augenscheinlich sehen wir eine Montage von Ausschnittsvergrößerungen aus Youtube-Clips. Umkopiert auf analoges Filmmaterial haben sie die Schroffheit des digitalen Materials weitgehend abgelegt und die organischere Qualität des 35mm-Materials angenommen. Doch was verbindet diese Gesten, Handgriffe und Posen?

Die rhythmischen Bilderfolgen wirken wie die Aufzeichnung einer fremden Kulturtechnik in einem ethnographischen Film, wie ein Tranceritual, das uns selbst in Trance versetzen soll. An den Details und zeitweise auftauchenden Gesichtern wird allerdings klar, dass diese Jugendlichen aus unserer Welt kommen. Fisslthaler zeigt uns da etwas Verborgenes, etwas, das unsere Welt bewohnt aber nicht für unsere Augen bestimmt ist. Aufgrund der Quelle der Bilder, scheint diese Überlegung absurd zu sein. Theoretisch hätte jeder im Internet die Möglichkeit, diese Bilder anzusehen. Fisslthaler zeigt in diesem Widerspruch zwei Mechanismen auf, die für die digitalisierte Pop-Kultur im 21. Jahrhundert entscheidend sind. Erstens gibt es natürlich eine Zugriffsbeschränkung, die in der Verteilung des Wissens über solche Videos liegt. Im Netz bilden sich wie in der Stadt voreinander abgeschlossene Szenen, die zu einem gewissen Grad Insiderwissen vermitteln. Zweitens wird dieses Insiderwissen häufig benötigt um das Gesehene, Gehörte und Erlebte überhaupt einordnen und interpretieren zu können.

Erst nach ein paar Minuten stellt sich heraus, was alle diese Videos gemein haben: Sie zeigen Ohnmachtsrituale, mit denen sich Jugendliche gegenseitig willentlich in einen kurz anhaltenden Zustand der Bewusstlosigkeit versetzen. Wenn der erste umkippt und etwas unsanft auf dem Boden aufschlägt ist das dennoch überraschend. Doch Fisslthalers Blick auf den Reigen der jugendlichen Körper verfügt über Insiderwissen auch wenn er nicht mehr Teil der Szene ist. Er betont hier eben nicht die Gewaltsamkeit des Aufschlags, sondern verlangsamt die Geschwindigkeit der Aufnahmen und des Schnittrhythmus und gewinnt der körperlichen Grenzerfahrung eine zutiefst zärtliche Dimension ab. Was ich anfangs für Vergrößerungen aus Sexvideos oder mitgefilmten Schlägereien hielt, erweist sich hier als beides, als liebevoll und gewalttätig, als Engführung von Eros und Thanatos, die zu einer flackernden Ununterscheidbarkeit führt.

Sauve qui peut (la vie) - Jean Luc Godard (1980)

Satellites führt im Vergleich zu Brehm in die entgegengesetzte Richtung; Brehm fördert den Tod im noch lebendigen Körper zu Tag, vor allem in der Sexualität, während Fisslthaler in Gewalt und körperlicher Enderfahrung die Erotik und Zärtlichkeit der Berührung findet. Sei ist bei einer Form von Popkultur angekommen, deren Zeichen nicht mehr vom Körper fortweisen, sondern selbst körperlich geworden sind. Das „coole Wissen“ ist eine Liaison mit dem Fleisch eingegangen.

Und was für eine. Im sechsten und letzten Programm werden die großen Linien des Programms noch einmal aufgegriffen und in der Popdepression der 90er Jahre zusammengeleitet. Der Omnibusfilm Slidin‘ – Alles bunt und wunderbar (1998) bezieht sich in seinem ironischen Titel bereits auf die Bewegung des Drifters, die in Langsamer Sommer noch als der Weg der Sehnsucht zum großen Popversprechen, zur Utopie erscheint. In der ersten der drei Episoden des Films wird beispielhaft deutlich, wo der Unterschied zwischen dem ist der treibt, auf einer Welle, in einer Strömung, und dem der gleitet, weil er keinen Halt findet. Barbara Albert inszeniert die Wanderungen zweier 14-jähriger Mädchen durch Wien, als verzweifelte Zwangsbewegung zwischen Shopping Mall und Großraumdisko. Spaß macht das alles nicht, aber was soll man sonst tun? „Komm, ich kauf dir was.“ sagt Petra zu Manu und sie gehen in den nächsten Laden. Was ist schon längst egal, es ist nur noch die leere Imitation eines Bewegungsmusters übrig. Selbst die kleinen Momente auf die sich der Pop immer verlassen konnte, das Rauchen, das Trinken, der Spielautomat, die Fahrt durch die Nacht, der Kuss, der Tanz bringen keinen Genuss mehr.

Slidin' – Alles Bunt und Wunderbar von Barbara Albert, Reinhard Jud und Michael Grimm

Slidin‘ – Alles Bunt und Wunderbar von Barbara Albert, Reinhard Jud und Michael Grimm

Eine Gemeinschaft entsteht hier nie, die Beziehungen der Beiden zu anderen Jugendlichen bestehen nur auf der Basis von Tausch- und Nutzverhältnissen. Das coole ältere Mädchen, die die in der Shopping Mall bei den Spielautomaten arbeitet, braucht nur eine die sie nach Hause bringt, wenn sie betrunken ist und alle Anderen sie verlassen haben. Schauderhaft unaufgeregt zeigt der Film, wie Georg Friedrich, der einen Ladenbesitzer spielt, die beiden nach Ladenschluss bei sich behält und Petra nach einem Sekt zum Sex nötigt. Anschließend schenkt er ihr die Jacke, die sie vorhin so toll fand. Von Anfang weiß man worauf diese Szene hinauslaufen wird, wir wissen es, die Mädchen wissen es, aber nie gibt es einen Moment der Verweigerung. Man hat sich einem popkulturellen Code unterworfen, der über die Körper verfügt. Wer cool sein will, darf sich nicht so haben. Petra lässt es also regungslos auf dem Bauch liegend über sich ergehen. Nur die Jacke nimmt sie nicht an. Später bringt Friedrich die Mädchen nach Hause. Nichts passiert.

Die Abgrenzung der Popkultur von einer bürgerlichen Gesellschaft, besteht hier nicht mehr im Selbstentwurf einer anderen Identität oder eines anderen Lebens, sondern lediglich in der Steigerung und im offenen Ausleben von schon angelegten Strukturen. Was in den 60er Jahren unter dem Begriff „freie Liebe“ auf die repressive Sexualmoral einer unterschiedenen bürgerlichen Gesellschaft hingewiesen hat, ist hier pervertiert. Der hemmungslose und fetischisierte Umgang mit Sexualität in Slidin‘ bildet keine Sehnsucht mehr ab, er lebt nur offen sichtbar aus, was, etwas versteckter, auch Teil der Leitkultur ist.

Das Ende?

Wenn der Code keine Sehnsucht mehr verschlüsselt, sondern nur die Wiederholung eines schon einmal gebrauchten ist, wenn die Inklusion in eine kapitalistische Leitkultur abgeschlossen ist, dann ist Pop zu Ende. Was wird dann aber aus Austropop 2.0 und allem anderen das wir heute wohl zurecht als Pop bezeichnen?

Ein Filmprogramm kann als ausschnitthafter Vergleich keinen Anspruch darauf erheben, eine endgültige Aussage zu machen. Auch dieses nicht. Die Frage, was Pop eigentlich ist und wie die Wechselbeziehung von Film und Pop in Österreich letztendlich zu bestimmen ist, bleibt offen. Und doch traut das Programm sich eine historische Narration anzubieten, statt es bei einem Best-of zu belassen. In sechs mal zwei Stunden kann man hier eine Version der Verquickung von Pop und Film in Österreich sehen und erleben. Der vage Begriff der dabei von Pop entsteht, mag zum Ende des letzten Programms ausgesorgt haben. Aber solange ein Film wie Langsamer Sommer noch Sehnsüchte weckt, ist Pop nicht vorbei. Man könnte bei Slidin‘ mit einem nächsten Film anschließen und zeigen wie es doch weitergeht. Der Begriff würde folgen.

Diagonale 2017: Programmierung als Vergleichsarbeit

Diagonale-Giveaway: Mikrofasertuch

Was macht es mit einem Film, wenn er vor einem anderen, nach einem anderen oder in Beziehung zu einem anderen gezeigt wird? Die klassische Aufführungssituation des Kinos bemüht sich die Welt da draußen auszusperren, lädt dafür aber eine andere ein. Die Welt der Bilder: derer, die bereits gemacht sind und derer, die nur machbar sind. Ein Film zeigt sich uns nie isoliert als absolut autonomes Kunstwerk. Woher nimmt er seine Bilder? Und wohin zeigen sie?

Filmfestivals materialisieren diese notwendige Bezogenheit von Bildern auf andere Bilder.  All der Kram, der sich in der Festivaltasche findet: Flyer für die begleitende Ausstellung im Kunsthaus, in den Räumen von Camera Austria zeigt Hans Hansen seine Fotos, das lokale Brillengeschäft gibt Rabatte und versorgt uns mit einem schicken Mikrofasertuch. Ich putz mir die Brille mit dem Bild zweier sonnenbebrillter junger Menschen, die vor einem strahlend blauen Himmel lässig auf einer tiefen Mauer sitzen, dann geht das Licht aus und der Film fängt an. Die Grazer Sonne ist draußen vor dem Kino geblieben, nur vom Tuch in meiner Tasche strahlt noch eine (andere?) in den Saal.

Hinter all den Extrabildern taucht das Programmheft auf. Die Diagonale 2017, das sind 191 Filme auf 5 Faltseiten übersichtlich nach Tagen in einem Raster angeordnet: verschiedene Farben für die verschiedenen Reihen, Programme und Sondervorführungen. Im Internet lassen sich die Filme auf Wunsch in den jeweiligen Sektionen anzeigen oder von A-Z nach Titel oder Regisseur/in auflisten. Graphisch bildet sich hier ab, was neben der reinen Auswahl von Filmen, die möglicherweise wichtigere Aufgabe eines Festivals ist: die Anordnung von Filmen in Beziehungen zueinander. Vielleicht kann man schon an der Gestaltung des Programmhefts erkennen, wie ernst ein Festival diese Aufgabe nimmt.

Erst der Vergleich von Dingen miteinander ermöglicht eine differenzierte Betrachtung. Dinge erhellen einander, weisen auf diesen oder jenen Aspekt am jeweils anderen, verstärken Gemeinsamkeiten und bemerken Unterschiede; vor allem aber stellen sie die Frage: Warum bist du so? Sie öffnen sich in der Konfrontation mit dem Anderen auf eine Dimension der Gemachtheit, die das einzelne, autokratische Ding zu verschließen versucht. Die große Frage ist: was womit vergleichen? In unserem Fall: womit Filme vergleichen? Wer Tanzlehrer ist und Gene Kelly in An American in Paris mit den Kindern auf der Straße sieht, der mag das vielleicht mit sich selbst und seiner letzten Tanzstunde vergleichen. Aber die Repräsentation einiger Tanzschritte macht nicht aus, was ein Musical ist und verfehlt den Film als Weltverhältnis.

Aus dem Festivaltrailer  der Diagonale 2017 -

Aus dem Festivaltrailer der Diagonale 2017 – „Jean Luc Nancy“ von Antoinette Zwirchmayr

Die Aufgabe des Festivals

Kritischer Umgang mit Filmen sollte sein Interesse darin finden, wie ein Film eine bestimmte Weltsicht formt, das meint, was für einen Blick er auf die Welt wirft. In erster Linie muss ein Vergleich den Blick eines Films als geworfenen erkennbar werden lassen, der Blick muss denaturalisiert werden: eine Weltsicht ist nur kritisierbar wenn sie nicht alternativlos bleibt. Der Vergleich kann dem Film also eine alternative Weltsicht an die Seite stellen, um ihn zu öffnen, ergründbar und kritisierbar zu machen.

Die Welt ist keine Weltsicht. Und der alltägliche Blick auf die Welt ist zu willkürlich und uneinheitlich, um dem Blick des Films als enthüllender Vergleich gegenüberzutreten. Vielleicht liegt hier das Problem eines Authentizitäts-Realismus und einer Auffassung von Politik, die eine völlig ungeschärfte Idee von „Welt“ zu ihrem Maßstab macht.

Filmfestivals machen bewusst, dass die erste Referenz (aber sicher nicht die einzige) eines Films der andere Film ist und dass diese Referenz immer besteht, gar nicht zu verhindern ist. So hermetisch ein Film auch vorgehen mag, das Schwarz des Saals ist immer schon angefüllt mit anderen Bildern und Tönen, die in einen vergleichenden Dialog eintreten. Ein Film wird immer vor einem und nach einem anderen gezeigt, tritt immer in Beziehung zu anderen Filmen. Die Referenzialität zur äußeren Wirklichkeit geht in dieser Referenzialität auf, weil der blaue Himmel auf der Leinwand zunächst auf alle blauen Himmel des Kinos verweist (auf manche mehr, auf manche weniger), dann auf das Brillenputztuch in meiner Tasche und auf den Himmel über Graz erst, wenn der zum Bild geworden ist.

Alexander Horwath sagte in einem Gespräch während der Diagonale, die Hauptaufgabe jeder Kulturinstitution und jedes Kulturschaffenden, vielleicht jedes Bürgers, müsse sein, die Entwicklung von Unterscheidungsvermögen zu fördern. Auch Filmfestivals sollten sich dieser Aufgabe stellen. Sie können mit den Mitteln der Programmierung die Vergleichsbeziehungen in die Filme eintreten in einem hohen Maß kontrollieren. Der gute Vergleich dient nicht der Gemeinsamkeit. Er ist das erste Mittel der Unterscheidung.

WdK Tag 5: „Apparatus“ – Die Selbstkritik der Anderen: I am not Madame Bovary von Feng Xiaogang

Der Apparat. Der Staatsapparat. Der totalitäre Staatsapparat? Der Apparatschik? Seit Verabschiedung der bipolaren Weltordnung, ruft die Verbindung der Wörter Staat und Apparat seltsame Nicht-Erinnerungen, weil meist nie selbst erlebte, an Fünfjahrespläne, Arbeitserfüllungsquoten und weit verzweigte Labyrinthe kahler, mit Linoleum ausgelegter Korridore hervor; und hinter jeder Tür, dahinten am tiefen Ende jedes Spanholzschreibtisches ein Mann vom Apparat.

Im daran anschließenden Denken ist der Apparat für den einzelnen Bürger einerseits ein Außen, übergestülpt, die Gottmaschine, die alles am Laufen hält, verbunden mit kafkaesken Vorstellungen von Unübersichtlichkeit, Unadressierbarkeit und Unbeeinflussbarkeit. Andererseits ist der Apparat höhere Vorsehung, in welche der Bürger eingeordnet ist, die er als Zahnrad oder Dichtungsring oder Schraube und so weiter in reibungs- und verlustfreier Bewegung hält, allerdings ohne seine genaue Funktion oder seinen genauen Platz in Beziehung zu den anderen Teilen des Apparats zu kennen.

Die westliche Kunst- und Kulturszene erwartet aus jenen Regionen der Welt, denen man im ersten Schritt zuschreibt, nach dieser Logik des Apparates zu verfahren, im zweiten Schritt eine dissidente Kunst, die doch bitte erkennt, wie schlimm das alles ist, für die Freiheit des Individuums und die Selbstbestimmung und die dann – aus diesem Akt der vermeintlichen Erkenntnis nach den Maßstäben und zur Bestätigung einer schon lange kommerzialisierten Selbstfindungs-Metaphysik heraus – eine Geste des Protests, des individuellen Aufstands gegen das System inszeniert. Erst das Zahnrad, das plötzlich bemerkt, dass es eingesperrt und benutzt ist, aber ja gar nicht weiß was es ist und warum überhaupt, und dann der einsame Stinkefinger der Selbsterkenntnis vor den grauen Toren des Systems. Ai Weiwei kann nun auch nichts dafür, dass er berühmt geworden ist und herhalten muss als der gute Dissident, der die gute kritische Kunst zu machen hat; nach Zusammenbruch der Sowjetunion war halt noch China übrig. Das Effiziente an dieser Logik der westlichen Selbstbestätigung über den Umweg der Selbstkritik der Anderen ist, dass sie im Abstand zu dem verschwommenen Dort beinahe jede künstlerische Position zu einer ihr gemäßen individualistischen Kritik umdeuten oder reduzieren kann. In regelmäßigen Abständen adoptiert auch das sogenannte Arthouse-Kino einen Film aus Russland oder China oder dem Iran, um ihn nach dieser Logik zu verwerten und seinem treuen Publikum einen wohligen lau-kalten Schauer über den Rücken zu jagen.

Ai Weiwei - Stinkefinger

Ai Weiwei zeigt den Stinkefinger.

I am not Madame Bovary von Feng Xiaogang scheint sich auf den ersten Blick dieser Praxis anzubiedern, so wie etwa Andrey Zvyagintsev es mit seinem Kritikerliebling Leviathan tat, der bereits für ein westliches Publikum gemacht schien und sich schon selbst, ohne dass viel nachzuhelfen nötig gewesen wäre, im Honigtopf für Dissidenten ertränkt hatte (Patrick hat dazu einen anderen Ansatz). Die junge Li Xuelian (Fan Bingbing) wurde von ihrem Mann betrogen und kämpft sich nun mutig, aber erfolglos, durch die Institutionen des chinesischen Rechtssystems: für Gerechtigkeit … oder für Wiedergutmachung? Oder für Rache? Oder aus Zerstörungslust? Oder einfach um zu gewinnen? Beim Versuch auf einen Begriff zu bringen, beginnen schon die so notwendigen Probleme, die den Film davor bewahren könnten, verwurstet zu werden, aber wahrscheinlich ebenso davor bewahren werden in Deutschland überhaupt gezeigt zu werden. I am not Madame Bovary lässt sich nicht auflösen in einen psychologischen Realismus, welcher den Selbstbestätigungsmechanismen stets am gelegensten kommt, weil er das Individuum, so hart es auch attackiert wird, stets als seinen Mittelpunkt behauptet. Lue Xuelian ist nicht diese vollkommen transparente Version einer jungen, starken Frau, die ihre marginalisierte Stellung in der Gesellschaft schmerzhaft beigebracht bekommt und daraus die unheimliche Kraft für ihren Kampf zieht. Wir haben es nicht mit der Geschichte einer Bewusstwerdung zu tun, die in all ihren Motivationsmomenten offengelegt wird und so auf eine erwartbare Identifikation hin angelegt ist. Li Xuelian ist eine einfache Frau vom Land, die einfach nicht zu verstehen ist. Sie berät sich mit ihrem Ochsen über ihr weiteres Vorgehen, schleift ein großes Messer unten am Wasser, will töten und ist dann wieder ganz ruhig. Die streng und total kadrierten Bilder des ersten Teils geben immer wieder Momente der Distanzierung und, durch das ikonische kreisrunde Münzformat des Bildes,  Momente der mythischen Aufladung der Figur Li Xuelian. In einigen Einstellungen erinnert sie an eine Rächerin aus der Sagenwelt, der jegliche psychologische Motivation äußerlich ist, die handelt aus Funktion oder aus einem Trieb, der tiefer liegt als das Kausalpsychische.

Vieles über diese Frau bleibt im Dunkeln, immer wieder verlieren wir sie für lange Zeit aus den Augen und der Film vertieft sich stattdessen in die Institutionen, die ihre wahre Mühe mit ihr haben und von der lebendigen Vielzahl ihrer Motivationen und Handlungen genauso überrascht sind wie wir. In der Gegenüberstellung von Individuum und Institution wird am deutlichsten, wo der Film den Mechanismen eines dissidenten Kinos ausbricht. Er teilt nicht auf in einander äußerliche Sphären, selbstverständlich auch nicht in Gut und Böse. Es stehen sich hier nicht das Individuum und die graue Masse des Apparates gegenüber, deren Motivationen und Handlungen unvereinbaren Welten zugehörig sind. Genauso wie die Figur der Lue Xuelian privatpsychologische (die enttäuschte Liebe) mit institutionellen (die Scheinscheidung und ihre Hintergründe in Politik und Arbeit) und mythischen (eine alte Beleidigung, ein Fluch der gesühnt werden muss) Motivationen verwebt, erreichen die Männer der Institutionen teilweise eine starke Individualisierung (der besudelte Justizchef, der in der letzten Szene des Films wiederauftaucht), beweisen in ihrer Rede immer wieder ausgeprägte Vernunft (der hohe Vorsitzende beim nationalen Parteikongress) und sogar Empathie (der Gouverneur am Ende); aber eben auch in anderen Szenen das Gegenteil.

Eine nicht überblickbare Vielzahl von Mechanismen und Motivationen greifen in diesem Film ineinander, deren Verhältnisse – und vielleicht ist das, um sich von einem festlegenden dissidenten Kino abzugrenzen, noch wichtiger als die einfach quantitative Unübersichtlichkeit  – in jedem Aufeinandertreffen von Lue Xuelian und den Funktionären, aber auch in jedem Treffen der Funktionäre untereinander neu ausgehandelt werden. I am not Madame Bovary nimmt die Kontingenz und Widersprüchlichkeit des ewig zu verhandelnden gesellschaftlichen Lebens auf in seine durchaus kritische Betrachtung des chinesischen Rechtssystems und entgeht dadurch – hoffentlich – der Gefahr der Aneignung durch den westlichen Selbstbestätigungsapparat.

WdK Tag 7: „Überschwang/Exuberance“ – Beauty without Pain? Planetarium von Rebecca Zlotowski + Fuddy Duddy von Siegfried A. Fruhauf

„Beauty without pain“. Der deutsche Filmemacher Philip Gröning gibt während der letzten Diskussion der diesjährigen Woche der Kritik eine Minimaldefinition von Kitsch um sein Erlebnis der ersten 15 Minuten von Planetarium zu beschreiben. Er habe sich im falschen Film gewähnt, so leer sei diese Schönheit. Der Film bediene da anfangs eine Retro-Ästhetik in vollen, warmen Farben, die sich irgendwann im Laufe der letzten Jahre durch die unreflektierte Übernahme von einem period Film zum immer nächsten als vermeintlich präzise Darstellung der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts etabliert habe.

Es gibt diese Ästhetik, man muss sich nur die letzten Filme von Woody Allen anschauen. Das ist wirklich sediertes, schmerzbefreites Kino, so unaufdringlich loungig wie die ewig plätschernde Jazz Musik, die aus dem Off kleistert oder auf den Partys der Cafe Society für die rechte Stimmung der Indifferenz sorgt (vielleicht hätte der in Cannes passender die Eröffnungsparty eröffnet als das Filmprogramm?). Stilistisch scheint Planetarium sich da anfangs einzureihen: warme Farbpalette, schwere Kontraste, wohlkadrierte Einstellungen, eine fließende Kamera, historisch korrekte Kostüme in säuberlich akkuraten Sets und, bitte, angenehm geschnitten das Ganze, keine Experimente. Auch inhaltlich passts, oder? Ein Schelm, wer da an Magic in the Moonlight denkt: in Zlotowskis Film sind es zwei junge amerikanische Frauen, Schwestern (Natalie Portman und Lily-Rose Depp), die im Paris der späten 30er Jahre mithilfe ihrer Fähigkeit Kontakt zu Geistern aufzunehmen an ein wenig Geld und Ruhm kommen wollen. Wie Emma Stone in Magic in the Moonlight treffen sie dabei auf einen Mann, der irgendwie im selben Geschäft tätig ist, in dem der Illusion. Der ältere Mann ist nun aber kein zynischer Zauberkünstler wie Colin Firth, sondern ein französischer Filmproduzent namens Korben (Emannuel Salinger), der sich der Schwestern annimmt um mithilfe ihrer Fähigkeiten das Kino zu seiner wahren Bestimmung zu führen: einen echten Geist filmen!

Versteht man Filme als die Summe ihrer Zutaten, die, wenn streng nach Rezept addiert, das Erwartbare ergeben, dann kann man nach 15 Minuten von Planetarium sagen (und es wurde in der Kritik gesagt): Alles da! Freuen wir uns auf ein psychologisches, schönes und ergreifendes Period Piece! Dann wird man aber auch nach spätestens 50 Minuten enttäuscht sein (und auch das war die Kritik), denn Zlotowskis Film bricht und durchlöchert nach und nach die vorgefertigten gültigen Formen eines 30er Jahre Dekadenz-und-Zusammenbruch-Epos. Es gibt da ein Zuviel, einen ‚Überschwang‘, der die gesetzten Erwartungen überdehnt und den Schmerz einholt um den Kitsch zu überholen. Zu viel Präsenz, die Kamera rückt den Gesichtern und Texturen zu nah und führt sie über einen psychologischen Darstellungsmodus hinaus. Salingers große runde Augen sind so unergründbar traurig, Lily-Rose Depp ist so großartig blutleer und ausdruckslos. Das Kino, die Kamera ernähre sich parasitär von ihrem Leben, bemerkt Philip Gröning in der Diskussion. Die Kostüme sind zu extravagant und die Sets zu abgründig, die riesenhaften Knöpfe an Natalie Portmans Hosenanzug weisen darauf hin, genauso wie die ausgestellten toten Mäuse in Salingers Haus: Das ist eine Filmwelt, historische Wahrheiten gibt es hier nicht einfach so zu sehen. Aber was gibt es in Planetarium dann?

Neben dem Zuviel gibt es ein Zuwenig, Lücken, die der Film in seine eigene Form reißt. Am Anfang noch sehr eng erzählt, lösen sich die direkt kausalen Beziehungen der Montage langsam auf und es bleiben lose Enden. Plötzlich sind die Schwestern getrennt und der Jude ist enttarnt. Dann geht alles ganz schnell: der Schriftzug auf dem Spiegel, die Aufsichtsratssitzung, der Schauprozess, das Gefängnis und Korben ist aus dem Film verschwunden. Zwischendurch scheint der Versuch Geister zu filmen nach langen Tests in einem futuristischen Labor gelungen zu sein, um sich dann vor versammeltem Publikum und den Augen der Kamera doch als gescheitert zu erweisen. Der Film schafft hier Unsicherheiten und unlösbare Fragen, die mit der klassischen Form des auf Linearität angelegten ‚Historiendramas‘ nicht vereinbar sind.

WDK17, Planetarium_01

Während in Woody Allens Magic in the Moonlight die romantisierte Liebesgeschichte und die nebulöse, dabei stets verwaschen ungenaue Zauberei-Allegorie in Beliebigkeit aneinander vorbeireden, sind für Planetarium seine Reflexionen des Kinos notwendig Teil der Geschichte die er erzählt und deshalb ebenso historisch eingebunden. Ineinander reflektieren sich die historischen Umstürze der späten 30er Jahre und die Erkenntnismöglichkeiten der spezifischen filmischen Form. In seinem Spiel mit den Zuschauererwartungen versucht Planetarium einerseits sich aus seiner eigenen Form zu befreien, erkennt aber zugleich, dass eine sinnvolle Kritik nur aus dem Inneren der Form möglich ist, indem ihre Unzulänglichkeiten aufgedeckt werden. Der Film muss vor sich selbst kapitulieren.

Der Vorwurf der Kritik, der Film sei ein „meandering mess“, hervorgebracht von Owen Gleiberman für Variety (und stellvertretend für die amerikanische Kritik überhaupt), lässt sich so als zunächst neutrale Beobachtung aufnehmen und ins Positive wenden. Die losen Enden der Erzählung und einiger Montagesequenzen, sowie die Auslassungen aller Schreckensbilder, die als ewige Erwartungsbilder des Historiendramas sonst da stecken, wo Zlotowskis Film sich selbst durchlöchert hat – keine Gestapo im Regen, keine unberechenbar charmanten SS-Offiziere, keine Menschentransporte, keine Begräbnisse, ja, überhaupt keine Gewalt, kein Tod im Bild – weisen Planetarium als Film aus, der reflektiert hat, dass es Dinge gibt die sich in einer bestimmten Form nicht darstellen lassen. Dabei tappt er klugerweise nicht in die Falle des Bilderverbots, in die Son of Saul sich so überzeugt hineingeworfen hat, als er die Ästhetisierung des Schreckens im Bild einfach ersetzt hat mit der Ästhetisierung des Schreckens im Ton und einem aufdringlich nahen Off. Planetarium hält die Bilder des Schreckens so fern wie möglich, im vollen Bewusstsein, dass er sie eh nicht wird davon abhalten können, die Auslassungen zwischen Festnahme, Gericht, Gefängnis und Verschwinden zu bevölkern.

Der wichtigere Unterschied scheint mir aber zu sein, das Nicht-Zeigen mit den Notwendigkeiten einer historischen Situation und einer inhärenten Formenkritik zu verbinden, statt sich wie Son of Saul damit zu brüsten eine ‚Antwort‘ auf ein etwaiges, externes Bilderverbot gefunden zu haben. Planetariums zunehmend gestörten Erkenntnismöglichkeiten reflektieren den historischen Zustand einer Welt, die, je näher sie dem erwartbaren Abgrund kommt, umso weniger verstehen und glauben mag von dem bevorstehenden Fall. Diese Verwirrung von Erwartungen kann der Film formal einholen, weil er sich einer klassischen, erwartungsbeladenen Form bedient, aus der er sich ebenso wenig zu befreien vermag, wie Salinger, der noch im Gefängnis an das gute Ende glaubt. Das Problem des Verstehens eines historischen Prozesses wird hier konsequent in ein Problem der Formen des Denkens überführt. Wenn die Formen des Denkens nicht Schritt halten können mit den historischen Ereignissen, dann wird ein Verständnis unmöglich. Das neoklassische Historiendrama dekonstruiert sich hier selbst, aber schafft es im Einklang mit der Geschichte nicht, sich ganz zu zerstören, um Platz zu machen für eine neue Form, ein neues Verstehen.

Der im Anschluss vorgeführte Fuddy Duddy, ein etwa 5 Minuten langer Experimentalfilm von Siegfried A. Fruhauf, macht dieses Formproblem offensichtlich. Vollkommen evident erscheint mir die gemeinsame Programmierung der beiden Filme: Fuddy Duddy macht die Bilder, die Planetarium nicht möglich sind. Eine Ordnung von Quadraten zerstört sich in aggressivem Dauerflackern selbst und bildet die Illusion einer Tiefe, eines Abgrundes in der Mitte der Leinwand. Das ist die Umpolung des Kinos – voll auf Angriff! –, die mit Kriegs- und Schreckensbildern quasi die Lücken von Planetarium ausfüllt und  einen direkten Schmerz erfahrbar macht. Der Schmerz in Planetarium selbst ist immer ein indirekter, der aus den Diskrepanzen zwischen dem formal zu Erwartenden, dem Gezeigten und den allseits bekannten historischen Fakten entsteht. Am Ende des Films, im Jahr 1943, steht Laura Barlow (Natalie Portman), inzwischen Schauspielerin, im Set an einem Fenster, schaut in den Sternenhimmel aus Lichterketten und spricht in ihrer Rolle als Waisenmutter: „Tomorrow will be a great day!“

WdK Tag 4: „Unfertig/Unfinished“ – Reaktionäre Träume: California Dreams von Mike Ott

Der Film beginnt mit dem Casting. Menschen sprechen Monologe aus ihren Lieblingsfilmen frontal in die Kamera. Unkontrolliert aber leidenschaftlich sind die Vorträge. Die Vorsprechenden sind allesamt Laien. Mit großen Augen erzählen sie von Liebe, Ruhm und Glück, von Enttäuschung, Tod und Selbstmord. Die großen Gefühle: Bigger than life. Das Kino als Traumfabrik. Aber nur den krassesten Außenseitern unter den Casting-Teilnehmern werden die Imaginationen der Maschine zuteil, sie werden in den nächsten 80 Minuten wieder zurück auf die Leinwand geholt um in mehr oder weniger fiktionalisierten Formen von ihren eigenen tristen Leben und dem Traum eines anderen zu erzählen.

California Dreams entwickelt diese Träume direkt aus der kalifornischen Landschaft. Unweit des paradiesischen Grüns Nordkaliforniens und den Studios Hollywoods leben die Protagonisten des Films in einer dürren, lebensfeindlichen Wüste aus Felsen, Gestrüpp, Fast-Food Restaurants, heruntergekommenen Vorstadtbungalows und endlosen Highways. Doch die Sonne ist dieselbe wie jene, die ein wenig weiter westlich auch die Sets der größten Filme beleuchtet und Träume sind hier ungleich wichtiger. In diesem Licht verwandelt sich das unwirtliche Land immer wieder in die dramatischen Formationen einer ausgesuchten Filmlocation; und auch in den Orten des kalifornischen Alltagslebens findet Mike Otts Kamera Spuren der Mythen des amerikanischen Kinos. Als Corey, der ewige Hauptdarsteller von Mike Otts Filmen, eine Videokassette aufnimmt um seinen Traum der Schauspielerei zu verfolgen, entscheidet er sich für eine alte Holzhütte als Drehort. Eine kurze Kamerafahrt auf das unverglaste Fenster der Hütte ruft unweigerlich den Anfang von John Fords The Searchers ins Gedächtnis. Corey kann das nicht helfen, schon nach wenigen Sätzen kommt er mit seinem Monolog aus The Outsiders ins Straucheln.

WDK17, California Dreams, © Number 7 Films_04

Der Struktur des Films liegt diese Technik des Kontrasts zugrunde, die auch die Inszenierung der anderen Protagonisten bestimmt. Unter ihnen ist Patrick, ein 28-jähriger philippinischer Einwanderer mit Aknenarben und Schnauzbart, der seit Jahren als Parkplatzwärter arbeitet und noch nie eine Frau geküsst hat. Ein sehr explizites Gespräch mit Corey, im Auto vor einer glorreichen kalifornischen Abendlandschaft, erzählt von seinen sexuellen Erfahrungen und Wünschen. Die Antwort des Films folgt sogleich: In anhaltender Zeitlupe sehen wir eine blonde Stripperin die Beiden in einem Motelzimmer aufsuchen. Patrick sitzt zusammen mit Corey rauchend an einem runden Tisch und lässt die Show ganz cool über sich ergehen, kein bisschen Aufregung im Blick, als hätte er das schon hundertmal gemacht. Musik, die an Scores des Classical Hollywood erinnert, entrückt die Szene endgültig in die Sphären eines kinematografischen Traums. Auch das ist Kino, zumal amerikanisches: eine Welt in der die eigenen Defizite temporär ausgesetzt sind, in der die ersten ebenso wie die letzten Bedürfnisse befriedigt werden; Kino als kurzer aber wiederkehrender Traum eines anderen Lebens. Der Striptease geht nahtlos über in die Wiederholung von Patricks Casting-Monolog aus Forrest Gump, einer Beschwörung des Selbstbewusstseins und der eigenen Kraft, der aus dem Off zu hören ist, während Patrick einsam und zusammengekauert auf der Wartebank einer Bushaltestelle sitzt.

In dieser Szene wird deutlich, wo California Dreams unwiederbringlich schiefgeht. Statt eine Selbstermächtigung seiner Protagonisten zu ermöglichen, stülpt der Film jedem Einzelnen vorbestimmte Normen über. Von vornherein sind Patricks Defizite bestimmt: er hat keinen Sex und kein Selbstbewusstsein. Das ist unaufrichtig und denunziatorisch in einem Film der einen Teil seines Reizes aus der Nonkonformität seiner Außenseiterbande zieht, sie auf diese Weise aber für Momente der Lächerlichkeit preisgibt. Nie gibt es den Versuch das ausgestellte Anderssein tatsächlich für ein Verständnis zu öffnen. Der Film vermerkt es nur schnell in einer schon festgelegten Wertematrix und kramt dann das vermeintlich passende imaginative Gegenmittel heraus. Trotz des teilweise sicheren Gefühls für die Verweiskraft seiner Bilder, reflektiert der Film nicht ein einziges Mal in kritischer Weise die gesellschaftliche Herkunft und Hervorbringung dieser Wertematrix und der aufgerufenen Gegenbilder. In einem Film, der mit Recht auf die imaginative und befriedigende Kraft des Kinos verweist, sollte man erwarten können, dass auch die andere Seite dieser Medaille gezeigt wird: Die Konformisierung und Kommerzialisierung der zu befriedigenden Bedürfnisse durch das Kino, im Besonderen durch das – in California Dreams viel herbeizitierte – amerikanische Unterhaltungskino.

Zudem bleiben die in doppelzüngiger Rede zugleich affirmierten und lächerlich gemachten Kino-Imaginationen der Protagonisten – im Fall einer Obdachlosen ist es die ins Bild gesetzte Oscar-Dankesrede in roter Robe und Spotlight – stets Eskapismus und Flucht in eine Unmöglichkeit, die klar abgegrenzt ist von der umso härteren Realität. Am Ende, als Corey in einer überdrehten Szene Geld auf der Straße findet, verbindet sich das Kino zumindest oberflächlich mit dem Leben, aber eben nur in der reduktiven Weise in der Mike Otts Film Kino denkt: rein als Traum- und Befriedigungsmaschine, die es auch ist, aber niemals ausschließlich. Das Kino kann Möglichkeit sein, tatsächlich Einfluss auf das Leben haben, indem es etwas denk- und fühlbar macht, das abseits liegt, an den wahren Außenseiterpositionen der Welterfahrung. Indem es zum Beispiel zeigt, was Sexualität auch sein kann. Wenn der Film in seiner letzten Szene in anrufender Manier Rainer Werner Fassbinder erwähnt, dann möchte man sich kneifen und aus diesem reaktionären Kino-Traum erwachen.

WdK Tag 6: „Taumel/Vertigo“ – Im Tanz der Nebensachen: Lass den Sommer nie wieder kommen von Alexandre Koberidze

Ein junger Mann kommt vom Land in die Stadt, hält sich mit illegalen Straßenkämpfen und Prostitution über Wasser während er eine Anstellung als Tänzer sucht, verliebt sich in einen Offizier mit dem er einige Zeit verbringt und verlässt die Stadt am Ende des Films wieder um zur Familie zurückzukehren. So in etwa ließe sich die Erzählung des über zweihundert Minuten langen Lass den Sommer nie wieder kommen zusammenfassen. Der Film wäre dennoch verfehlt.

Noch einmal anders. Stark verpixelte Bilder eines Marktes in Tiflis, harte Kontraste und knallige Farben, Menschen erstrahlen im Licht und verschwinden im Schatten, irgendwo im Hintergrund taucht der junge Mann auf, geht durchs Bild und ist wieder weg. Er kauft eine Wurst, dann folgen wieder einige Einstellungen in denen er gar nicht zu sehen ist, sondern dicke Verkäuferinnen, rauchende alte Männer, schlafende Hunde und endlos kreiselnde Limonademixer. Wie passt das mit dem ersten Beschreibungsversuch zusammen?

Der amerikanische Filmemacher und Filmverleger Pip Chodorov beschreibt dieses Problem in der anschließenden Debatte als die ständige Präsenz einer Absenz. Der junge Mann soll Kämpfer und Tänzer sein, so erfahren wir durch den gelegentlichen Off-Kommentar, aber nie sehen wir ihn kämpfen oder tanzen. Der junge Mann soll ein Liebhaber sein, aber nie sehen wir ihn lieben. Er soll einen Brief von zu Hause bekommen haben, der ihn schließlich überzeugt zurückzukehren, aber nie sehen wir diesen Brief, ein Zuhause oder gar eine Familie. Doch die Feststellung, dass der Film ständig auf ein Nicht-Sehen, Nicht-Hören und Nicht-Wissen verweist, geht über die instabile, elliptische Erzählhaltung hinaus und formuliert einen Zweifel der selbst schon integraler Bestandteil der Bilder und Töne ist. Auch die österreichische Künstlerin und ‚Taumel‘-Forscherin Ruth Anderwald beschreibt die grob verpixelten Bilder – der Film ist mit einer pre-HD Handykamera entstanden – als „layer of doubt“, als die konstante Verunsicherung einer Repräsentation im Geiste einer Abstraktion, die das Bild auf seine Textur zurückführt. Im Flyer zur Woche der Kritik ist die Rede von explodierenden Pixeln und einem Stummfilm-Kosmos.

Ich halte diese Beobachtungen für sehr zutreffend. Tatsächlich verzichtet Koberidzes Film in seinen ständigen Abschweifungen auf eine zuverlässige Narration, in den pixelsprühenden Bildern auf die Klarheit der Repräsentation und im Ton, der oft die Geräusche der Straße, Stimmgewirr oder vielfach Musik aufnimmt, auf die Verständlichkeit von Sprache. Und doch bleibt die Frage: ist das ein Verzicht? Lässt sich der Film als Dekonstruktion, gewissermaßen als Negativbestimmung des Filmischen fassen?

Let the Summer Never Come Again - Still II

Mit dem von der Moderation vorgeschlagenen Konzept des ‚Taumels‘ rückt eine positive Bestimmung des Filmes näher. ‚Taumel‘ beschreibt den Zustand einer absoluten Destabilisierung, eines vollkommenen Zweifels, der zum einen Kontrollverlust impliziert, aber in der Überantwortung an das Verlorensein eine absolute Harmonie mit der Welt und dem Rhythmus des Lebens verspricht, die etwas Neues hervorzubringen vermag. Exakt diese Gleichzeitigkeit von Zerstörung und Produktion macht Koberidzes Film aus.

Als hätte Koberidze die Szene aus Sauve quit peut (la vie) in der Nathalie Baye/Godard sagt: „Ich möchte einen Film nur aus Nebensächlichkeiten machen“ auf drei Stunden gedehnt, erzählt Lass den Sommer nie wieder kommen ein Daneben und eine Gleichzeitigkeit. Erzählt von den spielenden Kindern im Hof, von den Katzen auf dem Dach, von den Schattenspielen, die das Riesenrad auf die Straße malt und befreit dabei die Bilder aus allen hierarchischen Abhängigkeiten. Die Kinder im Hof sind nicht das Ausweichziel eines Blicks, der sich verschämt vom Liebesspiel der Männer im Haus abwendet. Ist das überhaupt der Hof desselben Hauses? Ist das derselbe Tag, dieselbe Stunde? Oft lässt sich das nicht sicher sagen, das Daneben ist ebenso wenig nur räumlich, wie die Gleichzeitigkeit nur zeitlich ist. Die Beziehungen der Bilder sind eher rhythmischer als logischer Natur.

Der Pixelsturm ist nicht nur Auflösung, Abstraktion oder Dissoziation des Bildes sondern bringt einen Eigenrhythmus hervor, ein regelmäßiges Pixelflackern, einen Herzschlag, der sich überträgt auf die Welt aus gleißendem Licht und tiefschwarzen Schatten, der pulsiert in den Farben und Menschen und Lichtern von Tiflis. Die Bilder finden im Rhythmus der Bewegungen eine absolute Präsenz, statt nur auf Abwesendes zu verweisen. Wir sehen den junge Mann nie tanzen? Die ganze Welt tanzt zur Musik der Stimmen und Geräusche. Da warten Welche auf den Bus und statt einer logischen Montage, von leerer Straße, Busankunft und Einstieg sehen wir die Füße der Wartenden in Pirouetten kreisen und einen Stepptanz aufführen. In der einzigen Szene, in der es klar vernehmbaren Dialog gibt, fehlen die Untertitel. Der Sound der georgischen Sprache ist hier nicht mehr sekundär oder nebensächlich, sondern wird zum bestimmenden Rhythmus der Szene.

Während eines anderen, unvernehmbaren Gesprächs der beiden Liebenden auf einem Balkon über der Stadt führt ein Schwenk vom klassischen Two-Shot über die lichtverliebte Hand des jungen Mannes hinunter in die Autoschlangen auf der großen Ausfallstraße. Die folgende Montage von fahrenden Autos und Landstraßen zu den Rhythmen eines Popsongs endet mit Bildern von Wellen, die an das Ufer eines Schwarzmeerstrandes rollen. Obwohl der Film uns nie ein Bild von den Beiden im Auto oder am Strand gibt, ist hier nichts mehr Abwesend. Das war eine Reise ans Meer, allerdings außerhalb einer strengen Repräsentationslogik, vielmehr als Rhythmus einer Erfahrung. Bilder von ephemeren Nichtigkeiten verbinden sich zu einem bedeutenden Weltverhältnis. Die anfangs beschrieben Szene auf dem Markt in Tiflis bildet ein bestimmtes Erleben, vielleicht „Das Kennenlernen einer Stadt“, ohne dabei eines klar definierten Subjekts zu bedürfen. Hier wird nicht in Paaren getanzt, sondern im Fluss; alle Bilder miteinander. 

Selten habe ich mich der Strömung eines Filmes derart hingegeben und dabei so geborgen gefühlt, dass da gar kein Ärger und Kampf war als ich nach knapp zweieinhalb Stunden für einige wunderbar lange Minuten sanft weggedämmert bin. Doch wird der schöne ‚Taumel‘ in diesem Moment nicht wieder zur Gefahr? Zur Gefahr einer Selbstaufgabe und Kritiklosigkeit, die in letzter Konsequenz aus der vollkommenen Immanenz einer Welterfahrung folgt? Koberidze unterbricht den Bilderstrom immer wieder in Momenten der Distanzierung. Mitten im Film eine Schwarzblende und folgender Titel: „Sehen sie jetzt einen Mann der bemerkt, dass er etwas vergessen hat und auf halbem Weg umkehrt.“ Es folgt die zweisekündige Einstellung eines Mannes der bemerkt, dass er etwas vergessen hat und auf halbem Weg umkehrt. Das ist Youtube-Clip Logik und gleichzeitig deren Persiflage. Jetzt kann ich euch alles andrehen, scheint Koberidze hier schelmisch lächelnd zu sagen. Ja, bitte, möchte ich antworten.