Viennale 2015: Singularities of a Festival: GRÜN

Notizen zur Viennale 2015 in einem Rausch, der keine Zeit lässt, aber nach Zeit schreit. Ioana Florescu und Patrick Holzapfel kneifen sich und träumen weiter im Sog der beleuchteten Vierecke. Dabei verschmelzen die Erfahrungen zwischen den Filmen mehr und mehr und wenn man die Augen am Abend vor dem Schlafen schließt, sieht man tausende Farben eines Kinos, das noch zu nahe unter den Lidern lebt, um schon verstanden zu werden.

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Taxi Driver De Niro

Patrick

  • Nachts fährt man durch eine fast leere Stadt (es sollte immer noch Wien sein, es sei denn ich habe mich verfahren) nach dem letzten Film des Tages. Sie streichen alle Fahrradwege grün. Mein Rad macht komische Geräusche auf diesem Farbgeruch. Ich blicke auf die feuchten Farbkörner des frischen Belags, die an meinem Vorderrad hochspritzen und dann auf das Licht meiner schwächlichen Vorderlampe, die den grünen Boden immerwährend beleuchtet, als würde ich das Kino mit auf meinem Weg nehmen.
  • Martin Scorsese steht mit einem Megafon im Gartenbaukino und schreit Touristen an, die ein Foto von ihm machen wollen. Eine Welle bricht ins Kino und mit ihr ein riesiges Schiff.
  • In Transit, der letzte Film von Albert Maysles, zeigt uns wie verklärt Amerika noch immer sein kann. (life is peaceful there) Der Film macht etwas anderes. Er baut eine Utopie der Menschlichkeit auf. So verklärt ist nicht mal Amerika.
  • Jem Cohen hat in seinem Publikumsgespräch gesagt, dass man verschiedenen Filmemacher einfach nicht nachahmen sollte…man sollte nicht versuchen, einen Bresson-Film oder Ford-Film zu machen. Perrone hat in Los actos cotidianos versucht, einen Pedro Costa-Film zu machen. Er hat sicherlich gute Dinge dabei gefunden, aber etwas anmaßendes liegt in dieser Haltung, die Cohen Recht gibt.
  • Trotzdem denkt man dann an Vanda. Ich weiß gar nicht weshalb. Ich denke an ihre Nahaufnahmen oder an sie.
  • Ein ehrlicher Film verliert meist von seiner Ehrlichkeit, wenn er im Festivalkontext gezeigt wird.

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Ioana

  • Der Perrone von heute sieht noch mehr wie Costa aus, als der Perrone von gestern. Nur ohne die Worte, die wie das Letzte klingen, was man vor dem Sterben sagt, ohne die schweren Blicke, ohne dass die Türen mehr als Türen sind. Eigentlich ohne alles. Daher verabschiede ich mich schon von seiner ersten Phase und warte trotzdem neugierig darauf, Filme aus seiner zweiten zu sehen.
  • Vielleicht ist In Transit eine gute Art sich zu verabschieden. Wer weiß?
  • Sobytie ist extrem interessant aus zahlreichen Gründen, aber die meisten Fragen muss ich mir über Loznitsas Umgang mit dem Archivmaterial stellen. Wie kann er mit Material arbeiten, das nicht von ihm gedreht wurde und darin das, was ich als seine Perspektive einschätze, durchsetzen? (Editing) Wieso sieht das fast wie continuity editing aus (natürlich eine Übertreibung) – war das Material teilweise montiert? Hat er Teile, die schon montiert waren, so übernommen? Wie viele Quellen gibt es? Wie kann der Film so abgeschliffen aussehen? Ich wusste, dass er mit Archivmaterial [aus der Zeit] gearbeitet hat und die ersten Minuten schienen mir trotzdem aus einem ‘Spielfilm’ (nein, den Unterschied gibt es so gar nicht) zu stammen. Ich stelle mir dreimal so viele Fragen über die Tonebene.
  • Ich finde manches aus der Beschreibung des Films, die auf der Seite der Viennale zu finden ist, komisch: “Loznitsa montiert seinerzeit entstandenes Material mit bewährter Zurückhaltung und konzentriert sich auf die Gesichter; man lernt: Im Moment ihres Geschehens ist Geschichte banal und du und ich sind auch durch bloßes Herumstehen daran beteiligt.”   
  • Kurz nach dem Film musste ich an Videogramme einer Revolution von Harun Farocki – die Vorbereitung auf die TV Sendung – denken und lachen. – Was sagen wir jetzt? Die hinten mit der Flagge – Wir haben gewonnen, wir haben gewonnen.  Dann musste ich natürlich an Porumboiu denken, ich frage mich, ob er noch in Wien ist.
  • Ich habe eine Thermosflasche in der Viennale-Tasche gehabt und die Tasche ist ein wenig geschmolzen, weil die Flasche heiß war und die Tasche aus Plastik oder etwas Ähnliches ist und ich habe mich geschämt, weil meine Tasche im Kino gestunken hat, aber du hast es nicht gemerkt.
  • A Poem is a Naked Person ist bunt und zerstreut und war ein guter Anfang für den Tag und ein Mann isst einen Becher.
  • Morgen kann man die Karte für Cemetery of Splendour reservieren, es darf nicht schiefgehen.

Viennale 2015: Singularities of a Festival: GO WEST

Chaplin Immigrant

Notizen zur Viennale 2015 in einem Rausch, der keine Zeit lässt, aber nach Zeit schreit. Ioana Florescu und Patrick Holzapfel haben noch immer offene Augen, auch wenn am fünften Tag der Viennale vieles in ihrer Wahrnehmung ineinanderschwimmt, und das Kino wie das Treibgut eines ewigen Stroms an ihnen vorbei und vor allem durch sie hindurch fließt. Dementsprechend verbleiben ihre Notizen ohne Absicherung. Sie sind eine Wiedergabe von Erfahrungen.

Tag 1 + Tag 2+ Tag 3+ Tag 4

Charlie Chaplin Charlot

Patrick

  • Ein Schiff bewegt sich und auf ihm tanzt Chaplin, weil er fällt. Er tanzt, weil er fällt, er fällt, weil er tanzt, er tanzt fallend, er fällt tanzend und blickt so in die Augen einer Sache, die man auch den Mut einer Verzweiflung und die Verzweiflung eines Mutes nennen könnte. Ein verzweifelter Mut, eine mutige Verzweiflung und genau in diesen Wortspielereien drückt sich für mich letztlich diese immerwährende Gleichzeitigkeit von Drama und Komödie bei ihm aus, die – und eine solche Programmierung ist dann wohl nur auf diesem Festival möglich – einen wichtigen und richtigen Blick auf aktuelle politische Dringlichkeiten wirft. (The Immigrant ist mehr als das)
  • Ich habe nie so viele Kinder bei einem Filmfestival im Kino gesehen, wie auf dieser Viennale. Es war gut mit ihnen und Chaplin zu lachen.
  • Jia Zhang-kes Mountains May Depart ist die größte Enttäuschung des Jahres. Verglichen mit dem, was dieser Mann schon gemacht hat, ist es fast eine Frechheit. Jegliche Subtilität ist ihm verlorengegangen und stattdessen hat er einen Themenfilm gemacht, in dem das Thema “Go West, life is peaceful there” hundertfach ironisch, kritisch wiederholt wird. Dazu wird es mehr zu sagen geben.
  • Die Blätter in Wien sehen durch deine Sonnenbrille anders aus. Man läuft zwischen den Screenings über sie. Ich denke an die Bäume in den Filmen (vielleicht eine Abwehrhaltung gegen all die Tiere ). De Oliveira hat einen Baum der Geschichte in seiner hypnotischen, ersten Einstellung in “Non”, in Carol hängen die verdorrten Äste eines Baumes fast am Boden, in Hierba umranken jene der französischen Maler das Begehren,
  • Lieber Jia, du hast Szenen gedreht, in denen deine Kamera interessiert war an der Welt. Du hast Filme gemacht, in denen du Zeuge warst einer Welt und dann mit deiner Wahrnehmung darin geschwommen bist. Du hättest bis vor 2 oder 3 Filmen nie so geleuchtet, dass sich Figuren von ihrer Umgebung abheben. Ganz im Gegenteil, du hast es zum Prinzip erhoben, dass Bildhintergrund und Bildvordergrund eine Einheit in ihren Gegensätzen sind und dass die Dinge nicht so einfach sind als könne man sie zusammenhängend erzählen, du hast nie so getan, als ob du die Emotionen deiner Figuren verstehen könntest, weil man sie durch das Sehen verstanden hat. Du hast uns überrascht. Nicht mit Explosionen, sondern mit den Perspektiven, den Entscheidungen, den Blicken. Ja, ich habe gesehen, dass du nicht alles verloren hast, aber bitte mache wieder Filme mit deinen Augen, Ohren und deiner Haut.

Chaplin The Immigrant

Ioana

  • Chaplin hat heute alles andere überschattet. Jede Geste war eine Überraschung, obwohl ich die Filme (vielleicht vor zu langer Zeit) schon gesehen hatte. Letztendlich war ich so überwältigt, dass ich eher weinen als lachen musste. [Vielleicht  weil mein Körper nicht daran gewöhnt ist, fast ein einhalb Stunden ununterbrochener Freude (am Kino, im Kino) auszuhalten.]
  • Tag der Ohrwürmer.  Das Lied aus Las Pibas hat mich von Pet Shop Boys – Go West “befreit”.
  • In Mountains May Depart fehlt mir so vieles, was ich an anderen Filmen von Jia Zhang-ke mag, dass ich mir nur wünschen kann, dass das sein Jimmy P. ist. Auf einer oberflächlichen Ebene und grob gesagt, fehlen mir die verwirrende Übertriebenheit von A Touch of Sin, die energische Coolness von Pickpocket, die drückende Kontemplation von ruinierten Orten und Entfremdung von Still Life und der elaborierte Umgang mit Form.
  • Es war lustig herauszufinden, dass man zahlen muss, um das nicht-wesentlich-größer-als-meine-Küche Ausstellungszimmer im Metro Kino zu besuchen. Wir sind nur zufällig illegal reingestolpert vor einem Screening, aber jetzt muss ich mich fragen, was für Schätze dort gehalten werden und wie viel die Eintrittskarte kostet. Habe ich eigentlich falsch geschaut, gibt es dort mehrere Zimmern?

Viennale 2015: Singularities of a Festival: GOLD

Notizen zur Viennale 2015 in einem Rausch, der keine Zeit lässt, aber nach Zeit schreit. Ioana Florescu und Patrick Holzapfel geben auch am vierten Tag Einblick in ihre Träume in den Nächten der Viennale. Träume, in denen man sich manchmal an Filmtitel erinnert, manchmal nur an Bilder, manchmal einen Gedanken fassen kann, manchmal nur ein Gefühl.

Tag 1 + Tag 2+ Tag 3

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Ioana

  • “Vergessener Orgasmus des Kinos” hast du gestern über Carol geschrieben. Das war heute für mich The Exquisite Corpus von Peter Tscherkassky eine halluzinierende Orgie, bei der die Körper aus (größtenteils) vergessenen erotischen Filmen von dem dominierenden und langsam auch in Vergessenheit geratenen Körper des Filmmaterials selbst angemacht, penetriert, zersplittert werden. Exquisite indeed.
  • Es gibt nichts, was man Gaav vorwerfen könnte. Ich sehe nichts Redundantes, nur absolute Klarheit und Entscheidungen, die einem so stark schlagen, weil sie aus dieser verunsichernden Klarheit und Notwendigkeit stammen.
  • Rate, was sich in Johann Lurfs Capital Cuba zu bewegen scheint: das Ufer oder das fahrende Schiff, von dem aus er filmt? Die Antwort freut mich, sogar zum xy. Mal.
  • Ich weiß nicht, warum wir Heart of a Dog anschauen wollten.
  • Ich habe es endlich geschafft, mich auf dem 5-minütigen Weg zwischen Gartenbaukino und Metrokino nicht zu verirren. Nur dann musste ich, als ich beim Eingang ins Metro stand, zurück zum Gartenbau gehen, weil ich falsch nachgeschaut habe, wo der Film gezeigt wird.

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Patrick

  • Es war ein Tag des Begehrens: Ich habe Frauen gesehen, die ihre Oberschenkel entblößten. War das gefährlich?
  • Mit Lav Diaz und Storm Children, Book One fällt man in eine andere Zeit, eine Zeit, die einem im Festivaltrubel daran erinnert, dass es sowas wie Zeit gibt, dass man sich Zeit nehmen kann. Ich würde den Film aber nicht darauf reduzieren. Es ist auch eine Erkundung der Verlorenheit von Kindern im Angesicht einer Katastrophe, ein mit den Kindern treiben und mit ihnen entdecken, was eine furchtbare Katastrophe auch beinhaltet. In diesem Sinn ist es fast ein anarchischer Film. Allerdings liegt über ihm der bestürzte Schatten einer Distanz, die Lav Diaz in diesem wundervollen Werk wahrt.
  • Wo sind die Stative, frage ich mich. In Kaili Blues, der in meinem Kopf wächst wie eine sich öffnende Blüte und bei Lav Diaz gibt es an verschiedenen Stellen, die alle mit Wasser zu tun haben, eine auffällige Wackelästhetik. Währenddessen läuft mein Sitznachbar, ein guter Bekannter, mit einem Stativ ins Kino. Will er damit die Bilder stabilisieren? Sollte er?
  • Die Zahl 15 erscheint in meinem Kopf. Wie strukturiert man einen Film?
  • Hierba von Rául Perrone ist ein Film über die Laszivität der Blumen von Edouard Manet

 

Viennale 2015: Singularities of a Festival: DETLEF SIERCK

Notizen zur Viennale 2015 in einem Rausch, der keine Zeit lässt, aber nach Zeit schreit. Ioana Florescu und Patrick Holzapfel geben sich auch am dritten Tag des Festivals ihren freien Assoziationen und Eindrücken hin. Es sind Eindrücke, die man festhalten muss, weil sie sonst im Bilderrausch verpassen, sich in Erinnerungen zu wandeln oder es sind Erinnerungen, die man nicht von Eindrücken unterscheiden kann, Erinnerungen, die uns drücken, die nicht an den Filmen hängen müssen, aber aus ihnen hervorkommen.

Tag 1 + Tag 2

Carol Rooney Mara

Ioana

  • Carol ist derart virtuos, dass Kribbeln in den Fingerspitzen vor lauter sinnlicher Freude einsetzt. Vor allem, wenn subtile (sind sie?) Doppelbelichtungen überlappende Tonebenen begleiten. Aber ist er gefährlich?
  • Happy Mother’s Day war vielleicht das Highlight des Tages. Richard Leacock danach über Kino und Essen sprechen zu hören und sehen war nicht schlecht – aus informativer Sicht.
  • The vanity Tables of Douglas Sirk hat mir Lust auf Fassbinder gemacht. So wie Leacock auf Flaherty.
  • Heute haben mehre Filmemacher erzählt, wie befreiend (aus finanziell-bürokratischer Sicht) es ist, digital zu drehen. Manche haben einige Nachteile erwähnt.
  • Ich habe erst heute, dank Mark Rappaport, den Namen von Marcel Dalio (der eigentlich nicht Marcel Dalio ist) erfahren. Musste mich fragen, wieso ich bislang nicht selbst nachgeschaut habe, wie er heißt.

Cate Blanchett Carol

Patrick

  • A certain desirable is more terror to me than all that’s rare. How come they don’t give an academic award to all the movie stars that die?
  • Die Texturen von Carol von Todd Haynes sind wie ein fast vergessener Orgasmus des Kinos. Er sieht so gut aus, dass er manchmal droht, Vintage zu werden. Aber alles andere an ihm ist perfekt. Es ist ein Melodram nicht wie Douglas Sirk, sondern so wie Douglas Sirk es gerne gedreht hätte. (woher kommen meine ständigen Douglas Sirk Anspielungen?). Zudem einer der ganz ganz wenigen Filme in den letzten 10 Jahren, der ein Happy End derart kraftvoll und selbstbewusst inszeniert.
  • Es ist das Jahr der verdeckten Blicke, die den Blick nicht verdecken sondern verzaubern. Was für Hou Hsiao-hsien Seide ist, ist für Haynes Glas, das im Filmkorn fast zerfließt vor Schönheit.
  • Man darf nur ein Bild drehen. Nicht hunderte. Man muss sich reduzieren.
  • Es ist zum zweiten Mal in diesem Jahr, dass ich Zeuge eines grandiosen Q&As geleitet von Olaf Möller werde. In Graz war es ein aufregend-wütendes mit Peter Kern und in Wien ein sehr intelligentes und spannendes mit Jem Cohen.
  • Immer noch beschäftigt mich die von 88:88 aufgeworfene Frage nach den Möglichkeiten des Kinos im visuellen Zeitalter sozialer Medien. Der Film folgt einer Logik der fehlenden Aufmerksamkeit, der schwindenden Präsenz. Muss das Kino diese Welt wiedergeben oder sollte es eher eine Antwort suchen?

 

Viennale 2015: Singularities of a Festival: SCHWARZ

Notizen zur Viennale 2015 in einem Rausch, der keine Zeit lässt, aber nach Zeit schreit. Ioana Florescu und Patrick Holzapfel geben ihre Eindrücke vom Festivaltag wieder. Dabei werden sie nicht zwangsläufig schreiben, um welchen Film oder welches Programm es sich handelt. Es sind einfach Eindrücke, die gleich jenen undefinierbaren Empfindungen kurz vor dem Einschlafen durch die Schläfen wandern, bis sie sich hinter den Augen sammeln, von wo aus sie je nach Inspiration unsere Träume und Filme füllen.

Zu Tag 1

Sam Fuller White Dog

Patrick

  • Ist die Kamera in der Gegenwart oder in der Vergangenheit?
  • Loznitsa und Sobytie. Einmal gibt es einen Schwenk im Regen von Moskau über das Meer der Gesichter, die den Filmemacher wieder als Menge interessieren, als Nation? Jedenfalls endet der Schwenk auf einem großartigen Bild. Ganz rechts steht ein einsamer Mann mit Regenschirm. Er scheint nicht nur den Geschehnissen auf dem Platz zu folgen, sondern den Videogrammen dieser Revolution. Man hört wie Regen auf den Schirm prasselt.
  • Es gibt keine Dragee Keksi scheinbar in diesem Jahr. Noch beschwere ich mich nicht, aber ich ahne schlimmes für jene Tage, an denen man nach Zucker lechzt, um zu überleben.
  • Nochmal zu Loznitsa. Er wirft einen wirklich in die Vergangenheit, als wäre es die Gegenwart. Darin liegt seine Politik. Wir haben schon subtilere Filme von ihm gesehen. Insbesondere der Einsatz von Tschaikowski ist etwas arg aufgesetzt. Ich hätte die Bedeutung dieser Bilder für die Gegenwart wohl auch so verstanden.
  • Wie kann man die Erfahrungen unserer visuellen Dauerbeschallung im Kino verarbeiten? 88:88 von Isiah Medina wagt einen radikalen Versuch, indem im Bilderrausch letztlich nichts mehr übrig bleibt. Der Film ist fast unansehlich, er zeigt ein Dilemma des Kinos an, die Unfähigkeit über unsere modernen Erfahrungswelten zu sprechen. Es ist ein Film nach dem Kino.
  • Sam Fuller inszeniert Hass wie Douglas Sirk Liebe (White Dog)
  • Eine traurige Gestalt, die das Kino liebt und dieses gekünstelte Lächeln zwischen den Screenings nicht.
  • Sebastian Brameshuber sagt etwas gutes nach seinem Film, er sagt, dass er es immer liebe, wenn im Filmmuseum Stummfilme ganz ohne Musikbegleitung gespielt würden, weil er so seinen eigenen Körper und die Körper seiner Umgebung plötzlich wahrnimmt und so das Kino als sozialen und lebenden Raum begreifen könne.

White Dog

Ioana

  • Ich hatte die verworrenen Beziehungen und verwirrende Abweichungen von Desplechin vermisst. Nach Jimmy P. dachte ich, dass es keine Energie mehr in den Filmen von Desplechin geben wird. Ich habe Paul Dedalus vermisst, aber nur Esther bekommen. (Patricks Besprechung von Trois souvenirs de ma jeunesse)
  • Mitten in Kaili Blues habe ich gemerkt, dass ich bis dahin vielleicht nicht richtig hingesehen hatte. (War es, weil ich Bilder von einem Discoball, Neonlichtern in einem Wassereimer gespiegelt oder einen Jahrmarkt mit bunten Ballons, als zu viele sparkles wahrgenommen habe? Oder einfach weil die Untertitel des Zitats aus der Diamant-Sutra so kurz auf der Leinwand standen, dass ich sie nicht vollständig lesen konnte?
  • Es gibt keine Dragee Keksi scheinbar in diesem Jahr. Das ist ok, weil “Keksi”  so ein abturnendes Wort ist.
  • La Vida Útil war auf jeden Fall besser anzuschauen als Computer Chess. Ich hoffe, dass sie mir nicht nur wegen s/w und Nerdigkeit vergleichbar scheinen.
  • Chinesischen Ghost Cities, Staub und Krankheiten am Ende des Tages

Viennale 2015: Singularities of a Festival: ROT

Notizen zur Viennale 2015 in einem Rausch, der keine Zeit lässt, aber nach Zeit schreit. Ioana Florescu und Patrick Holzapfel geben ihre Eindrücke vom Festivaltag wieder. Dabei werden sie nicht zwangsläufig schreiben, um welchen Film oder welches Programm es sich handelt. Es sind einfach Eindrücke, die gleich jenen undefinierbaren Empfindungen kurz vor dem Einschlafen durch die Schläfen wandern, bis sie sich hinter den Augen sammeln, von wo aus sie je nach Inspiration unsere Träume und Filme füllen.

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Patrick

  • Am Mittag wurden Akkreditierungen und erste Tickets ausgegeben. Man steht in einer Reihe und lechzt nach dieser Goldenen Eintrittskarte. Oh, wird es ein Traumland sein? Dieses Jahr habe ich eigentlich keine Erwartungen, weil der Stress die Erwartungen überfährt. Ein Traumland im Stress gibt es nicht, zumindest würde man beim Erwachen keine Fingernägel mehr haben. Zwei Filme sind es, die mich am meisten interessieren: Cemetery of Splendour von Apichatpong Weerasethakul und Mountains May Depart von Jia Zhang-ke. Alles andere, so sage ich mir penetrant lügend vor dem Schlafengehen, muss ich nicht sehen.

  • Am Abend will das Filmmuseum uns eine Filmgeschichte mit Hund&Katz&Gromit erzählen (vielleicht auch nicht). Dazu programmieren sie ein Kuriositätenkabinett, bei dem ich mir nicht sicher bin, ob alle Filme darin wirklich ihren Platz haben. Es reißt wieder diese Unsicherheit in mir auf…ich bin mir nie sicher, ob ein kuratorisches Programm größer sein sollte als die Qualität einzelner Filme darin. Ich bin mir sicher, dass es mehr beinhaltet als das bloße Zeigen von persönlichen Favoriten, ich bin mir auch sicher, dass ich auf solche Gedanken nur kommen kann, weil es ein solches Programm gibt. Aber einen Film wie Trash Cat von Kelsey Goldrich in diesem Kino zu sehen, ist ein wenig seltsam. Es ist einer dieser cleveren Ideen, die kein Film sind. Hippes Pointen-Kino mit neuen Medien und so.

  • Kinderlachen im Filmmuseum. Wo waren die Kinder letztes Jahr bei John Ford?

  • Das Einkreisen von Filmtiteln im Falter-Viennale-Planer ist eine unfassbar beruhigend wirkende Tätigkeit.

 

Catscradle

Ioana

  • Ich fange bald an einzupacken, obwohl es erst ab morgen 6 Filme/Tag gibt. Brille, dicke Jacke klein gemacht für die Nächte, an denen man bis um 2 in der Früh im Kino ist, Wasser, Halstabletten, Hustensirup, Kaugummi, Taschentücher, Proteinshakes, das Programm. Bleibt noch Platz fur den Katalog? Für Red Bull? Tasche, Rucksack, Viennale Tasche (sie passt nicht zu der Kette, an der die Akkreditierung hängt) oder Troller? Ein Heft. Für das Heft brauche ich auch einen Stift. Die Schlüssel, sonst schlafe ich am Josefstädter neben dem Tramp, der wie Michel Simon aussieht. Zigaretten für die nächsten zwei Wochen drehen, nur einige, so viel Zeit gibt es zwischen den Filmen nicht. Ich freue mich. Ich beeile mich.

  • Diese fallende Tiere sind unglaublich schön. Ich würde gerne die Filmstreifen haben, aber was würde ich dann damit machen? Ich hoffe, dass es eine Zeit geben wird, in der sich mehr Menschen auf die fallenden Tiere von Étienne-Jules Marey freuen als auf den ersten Schnee.

  • Ja, rot sieht besser aus auf Film. Die anderen Farben auch. Das Rot in Cat’s Cradle sieht sogar besser als Film-Rot aus.

  • Drei Frauen haben sich vor dem Filmmuseum Komplimente für ihre Jacken gemacht. Es war komisch, weil sie alle genau dasselbe Modell zu tragen schienen.

Naturalismus der Liebe: L‘Enfant Sauvage von François Truffaut

Derzeit gibt es im Österreichischen Filmmuseum viele Tiere zu sehen. In Kooperation mit der Viennale begibt man sich dort in eine kleine Zoologie des Kinos. Dabei wird natürlich auch und immer wieder die Frage nach dem genuin Menschlichen gestellt: Was definiert ein menschliches Wesen als solches? Ein besonders spannender Film im Hinblick auf diese Frage ist François Truffauts L‘Enfant Sauvage. Dort verarbeitet der Filmemacher in einer seiner formal bewusstesten Arbeiten die Schrift Rapports et mémoires sur ‚le Sauvage de l’Aveyron von Itard. Der Film handelt von einem Jungen, der in einem Wald gefunden wird und sich wie ein Tier verhält und bewegt. Der Pariser Arzt Dr. Itard nimmt sich dem Jungen an. Von dort an folgt Truffaut, der den Doktor selbst verkörpert, dessen Berichten, Beobachtungen und Erlebnissen mit dem Jungen. L‘Enfant Sauvage ist narrativ letztlich ein Film über Beziehungen und Rollen in einer Erziehung, in der mehr und mehr die Frage nach Menschlichkeit entscheidend wird.

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Mit Truffaut verbindet man oftmals die bedingungslose Kinoliebe, die sich in seinen Filmen nicht zurückhalten kann und die durch die Liebe zu seinen Figuren oftmals in einem Blütenmeer der Identifikation ertränkt wird bis der gute Mann mehr und mehr vergessen hatte, wofür er sich eigentlich einsetzte. Aber das ist eine andere Geschichte. L‘Enfant Sauvage ist einer der wenigen Truffaut-Filme, die komponiert erscheinen, gesetzt und voller Bedeutung in der Wahl der Bilder und Töne. Man könnte auch sagen, dass es einer der wenigen Truffaut-Filme ist, in denen sich der Filmemacher der Bedeutung eines jeden Bildes bewusst war. Hier ist Truffaut politisch, politisch in der Form (weil man dort immer zuerst politisch ist…). Jacques Rivette hat von einer Notwendigkeit im Hinblick auf diese komponierten Bilder im Bezug zur erzählten Geschichte gesprochen. Er sagte, dass jeder Anflug eines dokumentarischen Stils fatal wäre für L‘Enfant Sauvage, da wir nicht im Jahr 1798 leben würden und es Victor nicht mehr gebe) Man kann sich darauf einigen, dass Truffaut dem gefolgt ist. Die Einstellungen wirken allesamt äußerst durchdacht und sie sind im Bewusstsein der Fiktionalität des Stoffes getroffen. Es ist vor allem deshalb so untypisch für Truffaut, weil er im Normalfall ein Filmemacher des Zeigens ist, die Politik des Filmemachens aber oft von dem dominiert wird, was man nicht zeigt. Die Frage ist also: Was zeigt uns Truffaut nicht und ist er damit wirklich genauso präzise wie er in den Fragen der Bewegung, der Musik, dem Spiel etc. ist?

Nun ist Truffaut ein Geschichtenerzähler, er liebt Dinge wie Dramaturgie, Figuren oder Effektivität. Daher werden wir das, was er nicht zeigt wohl vor allem auf dieser Ebene entdecken. Zum einen könnte man anmerken, dass Truffaut einige brutale Elemente der Aufzeichnungen Dr. Itards auslässt. So hielt dieser den Jungen einmal aus dem Fenster und auch das Ende war weitaus weniger offen, es endete nämlich im Tod. Letztlich sind dies aber keine Entscheidungen des Nicht-Zeigens, sondern des Etwas-Anderes-Zeigens, denn Truffaut interessiert sich offenkundig mehr für die Vaterfigur, die in der Cahiers du Cinéma als Filmemacher bezeichnet wurde, als für das wilde Kind, das demzufolge der Schauspieler war, mehr für den Vorgang der Erziehung, als um deren Resultate, obgleich diese immer eine Bedeutung erlangen, wenn sie emotionale Reaktionen hervorrufen. Interessanter ist da schon, dass Truffaut das Seelenleben der Figur, die ihn scheinbar am meisten interessiert, jene die er selbst spielt, im Dunkeln beziehungsweise nur im Halblicht einer Ambivalenz erscheinen lässt. Es gibt einige spannende Momente. So sperrt der Doktor das Kind einmal in eine dunkle Kammer, um es zu bestrafen. Truffaut verharrt in seiner halbtotalen Einstellung und schwenkt mit dem Doktor, der unruhig durch den Raum geht. Im Voice Over erklärt der Doktor jedoch sein Vorgehen. So ganz kann man Truffaut diese Brutalität weder als Schauspieler noch als Filmemacher abnehmen. Eine Geste auf dem Weg zurück zur verschlossenen Tür verrät ihn dann. Er greift mit dem Finger an sein Kinn. Eine Geste, die sein Seelenleben doch offenbart, denn was Rivette unterschätzt war, dass die Gesetztheit in diesem Fall etwas Dokumentarisches an sich hat. Der Stil ist sozusagen die Wiedergabe der Rationalität der Berichte und des Vorgehens des Doktors und gleichermaßen Ausdruck seines Innenlebens. Es geht Truffaut also nicht zwangsläufig um die Notwendigkeit einer Fiktionalität sondern vielmehr – wie so oft in seinem Ouevre – um das Potenzial einer Subjektivität, in der sich alles vermischt: Der Stil mit dem Inhalt und der Autor mit dem Protagonisten. Und darin liegt auch die Notwendigkeit seines Kinos und die entsprechende Distanz zum Historischen, denn Truffaut ist hier nicht an einer Repräsentation interessiert, sondern an den Elementen, die in einer Vergegenwärtigung der Geschichte für ihn und für uns interessant sind.

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Nein, was uns Truffaut nicht zeigt, das ist lange Zeit das Gesicht des wilden Kindes. In den ersten Bildern wird es immerzu verdeckt. Mal sind es die Haare des Jungen, mal die Hände, dann ein Schwamm und Dreck. Als der Dreck langsam aus dem Gesicht schwindet und wir zum ersten Mal das Kind erkennen, werden wir mit einer merkwürdigen Logik des Kinos, einer vielleicht gefährlichen Logik des Kinos konfrontiert. Truffaut unterstreicht diesen Augenblick und lässt die erhabene Musik Vivaldis just dann erklingen, wenn wir zum ersten Mal mit der Intimität des Gesichts von Victor in Berührung kommen. Hier hat Truffaut wirklich eine Entscheidung getroffen. Eine glückliche? Es ist klar, dass das Vorenthalten des Gesichts dramaturgischen Überlegungen unterliegt. Wir werden selbst in eine Unsicherheit über dieses Wesen gebracht, ein Wesen ohne Gesicht, ohne Identität.

Die Nahaufnahme war vor allem zu Beginn der Filmtheorie ein unerschöpflicher Hort der Inspiration. Die wohl berühmtesten Gedanken dazu hat sich Béla Balázs in seinem Text Der sichtbare Mensch gemacht. Für ihn sprach der Film vor allem über seine Gesichter, Gesichter die nationale, ethische Grenzen überwinden würden. Er nannte die Nahaufnahmen den Naturalismus der Liebe. Wieso also hält sich Truffaut zurück mit den Nahaufnahmen in diesem Film? Die Erklärung könnte wieder in der Vermischung von Form und Inhalt liegen, auch wenn Truffaut selbst davon sprach, dass es leichter gewesen wäre in Totalen mit dem Kinderdarsteller (Jean-Pierre Cargol) zu drehen, da man so nicht in die Verlegenheit gekommen wäre, die Unterbrechung von Bewegungen zu erklären und Cargol seine Handlungen am Stück ausführen konnte. Nur, wenn wir die Form des Films als subjektive, freie, indirekte Rede des Doktors sehen, dann muss dieser erst das Menschliche im Jungen entdecken und dann handelt L‘Enfant Sauvage tatsächlich auch auf formaler Ebene vom Prozess des Verliebens in einer sich aufbauenden Nähe zum Fremden. Ein richtiges Urteil darüber, ob es nun fatal ist, dass Truffaut das wilde Kind erst dann in einer Nahaufnahme zeigt, wenn es das Fremdsein ablegt, fällt schwer, da der Film eben die Wiedergabe einer subjektiven Perspektive ist.

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Es bleibt die Frage der Nahaufnahme von Tieren. Wenn wir mit Balázs gehen und in der Nahaufnahme das Menschliche sehen, dann wird es immer spannend, wenn Filmemacher sich entscheiden, ein Tier in einer Nahaufnahme zu zeigen. Es ist klar, dass das Tier im Kino viel über den Menschen zeigt, aber diese zärtliche Zuneigung kann auch von einer Bedrohung heimgesucht werden. Bedrohungen, die oft durch übersteigerte Nähe, Defragmentierung oder Verweigerung greifbar werden im Kino. Und dann beginnen die Grenzen zwischen der Schönheit und den Monstern im Fremden und in uns selbst zu verwischen, es entsteht eine Verunsicherung, die eine haptische Wahrnehmung der Körper erlaubt, ein Gefühl der Präsenz der eigenen Ängste, die sich bei Truffaut in Empathie auflösen, anderswo in Horror. Insofern ist L‘Enfant Sauvage auch ein Film über die sich ekelnde Empathie, nicht weil man Ekel empfinden würde, sondern weil es eine Empathie ist, die bis zur ersten Nahaufnahme nur über die Rationalität funktionieren kann, als würde man wissen müssen, dass jedes lebendige Wesen eine Nahaufnahme verdient hat. Letztlich könnte uns das zeigen, dass Liebe eine Frage der Perspektive ist. Folgerichtig endet der Film mit einem Blick.