Kossakovsky-Retro: ¡Vivan las Antipodas!

Vivan las Antipodas Kossakovsky

Leider ist ¡Vivan las Antipodas! bei der der noch bis 1. Februar laufende Kossakovsky-Retrospektive auf Doc Alliance weder in Deutschland noch in Österreich verfügbar. Jedoch wollten wir auf keinen Fall auf eine Besprechung des außergewöhnlichen Films verzichten.

In seinem bis dato letzten Film ¡Vivan las Antipodas! hat Victor Kossakovsky gleichzeitig jegliche Banalität aus seinem Ansatz verdrängt und sie dennoch in Form einer so kindlichen wie wundervollen Faszination bestehen lassen. Der Film blickt auf insgesamt vier Ortspärchen, die sich auf gegenüberliegenden Seiten unseres Planeten befinden, die sogenannten Antipoden. Es ist eine ganz einfache Frage, die man sich trotzdem kaum stellt. Wie leben die Menschen wohl auf der exakt gegenüberliegenden Seite der Erde, wenn man einfach durch sie hindurch fahren würde? So dreht sich die Kamera und windet sich in Splitscreen-Aufnahmen, die man in dieser Form noch nie gesehen hat. Plötzlich steht alles auf dem Kopf. Im Film ist es nur ein Schnitt, um einmal um die Welt zu reisen. Und ¡Vivan las Antipodas! gibt uns das Gefühl, dass man auch nicht mehr braucht bei all den Schönheiten und untereinander und übereinander verlaufenden Existenzen, die sich doch immer wieder berühren. Kossakovsky dokumentiert damit auch eine Reise um die Welt, aber vor allem einen poetischen Blick nach Formen, Farben und Rhythmen, die erstaunliche Analogien entstehen lassen und den Betrachter in eine Stimmung der Zufriedenheit und Ruhe versetzen. Wenn das die Welt ist, dann lebe ich gerne hier. Es ist schon eine spannende Frage, die sich der Regisseur auch in dem ebenfalls in der Retrospektive (ebenfalls leider nicht in Österreich oder Deutschland) zu sehenden Where the Condors Fly von Carlos Klein stellt: Warum beruhigt einen der Gedanke, dass etwas auf der anderen Seite der Erde just im selben Moment passiert, der Gedanke, dass dort die Sonne aufgeht, wenn ich mich schlafen lege, dass dort jemand ganz ähnliche Sorgen hat?

Vivan las Antipodas Kossakovsky

So sehen wir zwei merkwürdig inszenierte Argentinier in Entre Rios im Nichts. Sie thematisieren ein wenig den Film selbst und das kommt durchaus überraschend bei einem Regisseur, der so stark an die Macht von Bildern jenseits der Erzählung glaubt. Ihr Dahinleben ist von einem milden Zynismus geprägt, sie denken darüber nach, was es in der großen Welt, die ihnen verborgen bleibt, so gibt. Ihre Antipode ist Shanghai. Bei diesen beiden Orten arbeitet Kossakovsky noch eher mit Gegenätzen als mit Parallelen. Hier wird eine vom (künstlich hergestellten) Smog vernebelte Rush Hour in China mit der Leere der argentinischen Wüste kombiniert. Anders sieht es da bei den Antipoden Spanien und Neuseeland aus. Hier montiert Kossakovsky sozusagen als Höhepunkt des Films eine unfassbare Ähnlichkeit zwischen einem gestrandeten Wal in Neuseeland und einer genauso aussehenden Felsformation in Spanien. Bei solchen Wundern geht es weniger um die Wunder der Natur, als um die Wunder des Sehens. Kossakovsky selbst betrachtet den Film nicht als eine dokumentarische Auseinandersetzung mit der Wahrheit seiner Protagonisten und Orte, sondern als etwas Spirituelles, Größeres. Der entsprechende Gestus von Größe ist von der ersten Einstellung spürbar. Der Film ist voller Kranfahrten, extravaganten Kamerabewegungen und Beauty-Shots. ¡Vivan las Antipodas! sieht eigentlich zu gut aus. Man hat die Erde anders kennengelernt. Man kann nicht anders, als die Lüge des Films sofort zu durchschauen. In der angesprochenen Dokumentation von Carlos Klein, die den Regisseur bei den Dreharbeiten begleitet, sieht man wie er jedes Detail mit inszeniert und wie viele Szenen in einer Art manipuliert werden, die die Faszination an den Antipoden erst richtig möglich macht. Aber dann gibt es da auch dieses unheimliche Auge für die Ähnlichkeit vulkanischer Gesteine auf Hawaii und der Haut von Elefanten in Botswana, die einsamen Existenzen in Chile und am Baikalsee. Es entfaltet sich ein gewaltiger Sog, der sich, wie immer bei Kossakovsky, direkt auf die eigene Wahrnehmung der Welt überträgt.

Vivan las Antipodas Kossakovsky

Alles ist bedeutender und größer hier. Die Musik ist ein symphonisches Meer. Sie betont und verschleiert das ewige Spiel aus Gegensätzen und Reimen, aus Ideen und Schönheiten. Besonders beeindruckend dabei ist wie hoch die Konzentration auf das Bild ist trotz all dieser Stilisierung. Damit meine ich, dass Kossakovsky es immer wieder schafft, ein Gefühl für die Individuen und Objekte zu finden, das sich auch jenseits ihrer Antipoden entfaltet. Hervorstechend dabei ist die enigmatische Gestalt in Chile, die verkrampft und doch entspannt mit schwarzer Sonnenbrille vor ihrem Backofen wartet und ein Dutzend strolchender Katzen mit einem Messer verscheucht. Auch ein Chorgesang in Russland, eine fliegende Kamerafahrt durch die engen Gassen eines chinesischen Markts, ein einsamer Hund auf einem Stein im Lavameer auf Hawaii, der Versuch, den gestrandeten Wal zu zersägen oder der majestätische Flug eines Vogels sind kinematographische Ereignisse, die Ihresgleichen suchen.

Irgendwann verschwinden die Bedeutung von oben und unten und damit auch jene der Grenzen. Es ist ein verführerischer Gedanke, der hier zum Vorschein kommt. Es geht um die Verabsolutierung der Welt durch eine visuelle Wahrnehmung und in diesem Sinn unterliegt dem Film eine existentialistische Identitätslogik, die so fest an die Kunst des Films glaubt, dass sich die Widersprüche der Realität darin auflösen. Denn der Gedanke, dass man alles Leben in einer Metamorphose zu einer größeren Wahrheit vereinen könnte, ist eine dialektische Lüge. Dennoch funktioniert sie für die Dauer eines Films. Denn Film ist eine Illusion. Wenn es die zwei Pole Wahrheit und Illusion gibt im Film, dann ist Kossakovsky mit ¡Vivan las Antipodas! klar auf die andere Seite gekippt, auf die Antipode der Wahrheit, die (zumindest seiner eigenen poetischen Logik nach) sehr viel mit der Wahrheit selbst zu tun hat. Im Angesicht dieser Perfektion und atemberaubenden Schönheit muss man ihm glauben.

Kossakovsky-Retro: Time Goes Out The Window: Tishe!

Tishe! Kossakovsky

Es ist nur der Blick aus einem Fenster in St. Petersburg. Aus dieser scheinbaren Banalität filtert Victor Kossakovsky in seinem Tishe! fast alles, was das Kino auszeichnen kann: Beobachtung, Reflektion, Geschwindigkeit, Zeit, kleine Augenblicke, große Dramen, Humor, Gewalt, Wiederholung, Überraschung, Bewegung, Stillstand, Menschen, Dinge, Tiere, Form, Abstraktion, Freiheit, Subversion… So überraschend ist das allerdings nicht, denn der Blick aus dem Fenster ist ein ganz eigenes Genre, das vielleicht am Anfang und Ende des Kinos stehen muss.

Tishe! Kossakovsky

Inspiriert war der Regisseur laut eigenen Angaben allerdings von der Literatur und der Fotografie. E.T.A. Hoffmanns Kurzgeschichte Des Vetters Eckfenster hat ihn genauso beeinflusst, wie jenes, um 1826 entstandene, (wohl) erste Foto der Fotografiegeschichte, Point de vue du Gras von Nicéphore Niépce, ein Blick auf das, was wir jeden Tag sehen könnten, aber transformiert und mit der subjektiven Wahrnehmung eines Mediums beseelt. Diese Geschichte lässt sich fortsetzen. Man sollte nicht nur an Alfred Hitchcocks Rear Window denken, sondern auch und insbesondere an Amator von Krzysztof Kieślowski. Dort entdeckt der Protagonist seine Leidenschaft für das Kino auch mit Blicken aus seinem Fenster. Er filmt, was dort passiert, die ganz einfachen Dinge, die relevanten Dinge, den Zufall. Einen erstaunlichen Beitrag zum Genre hat auch Lav Diaz mit seinem Kurzfilm The Firefly geliefert, der für das Filmfestival in Venedig entstanden ist. Dort erkennen wir erst nach einigen Momenten, dass es sich um den Blick aus einem Fenster handelt. Einen solchen Blick kann man auch nie vergessen, wenn man sich mit den Filmen von Jonas Mekas befasst hat. Immer wieder betrachtet er den Schnee, den Regen, die Menschen, das Licht aus seiner Wohnung in New York. Schließlich wäre da noch Su Friedrich zu nennen. In ihrem Gut Renovation betrachtet sie wehrlos die Zerstörung ihrer Heimat aus den eigenen vier Wänden. Dieser Film ist gewissermaßen eine Aneignung der digitalen Filmkunst für eine persönliche Sprache ganz analog zu den Bolex-Verschmelzungen von Mekas, die Filme nicht aus den Köpfen, sondern den Herzen und Händen entstehen lassen, direkt und reagierend. Diese Möglichkeit des Kinos hat sich heutzutage leider in schlimmen Auswüchsen in das Internet verlegt, denn die Begierde am scheinbar Persönlichen hat lange schon die Begierde an der Kunst im Persönlichen abgelöst. Es ist auch ironisch, dass der Fensterfilm schon immer auch ein Spiegelfilm war. Denn der Blick aus dem Fenster war immer auch ein Blick in die Seele, da er immer etwas von der ersten Person in sich trägt und im Zuseher eine Neugier nach dem Blickenden bewirkt. Nur im Gegensatz zu den grausamen Mutationen des Genres reflektiert Tishe! diese Gedanken und ermöglicht so eine tatsächliche Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung der Welt.

Kossakovsky vermag es zunächst einen sehr beiläufigen und lockeren Ton in seine Beobachtungen zu legen. Strukturgebend für den ganzen Film sind eine etwas zu nette Klimpermusik und die absurden Straßenarbeiten direkt unter der Wohnung. Da wird ein Loch gebohrt und dieses Loch wird dann über einen sehr langen Zeitraum nicht völlig geschlossen. Es gibt Schwierigkeiten mit Überschwemmungen, der Straßenbeschaffenheit und der Arbeitsdisziplin. Immer wieder beginnt die Arbeit von vorne. Menschen bohren, Menschen asphaltieren, sie klettern in die Kanalisation, verlegen Rohre und so weiter. Zusammenhänge werden nicht immer klar, aber alles wirkt zusammenhängend. Ein Treiben, das aus der Fensterperspektive und durch die Montage von Kossakovsky zur völligen Absurdität verkommt. Dabei spielt der Filmemacher auch immer wieder mit der Geschwindigkeit. Er verwendet Zeitrafferaufnahmen und die Einfachheit dieses Stilmittels sowie die unschuldige Faszination, die dabei entsteht, erinnern stark an das Kino der Lumière-Brüder. Tishe! ist auch ein Film über die manipulative Macht von Film. Damit einher, geht auch jenes voyeuristische Element, das vor allem dann zum Tragen kommt, wenn die Kamera sich auf intime oder romantische Momente fokussiert. So beobachten wir einmal einen jungen Mann, der mit einem Blumenstrauß auf seine Angebetete wartet und ein anderes Mal ein Paar, das sich umschlingend auf der überfluteten Straße wälzt. Die Gefahr spürt man allerdings nur, als man plötzlich Zeuge eines gewaltvollen Polizeieinsatzes wird und die Kamera spürbar mehr wackelt und sich etwas hinter dem Vorhang versteckt. Die moralischen Bedenken, die man dabei haben könnte, wischt Kossakovsky mit einer bemerkenswerten Szene weg. In einer Nacht sehen wir plötzlich in einem warmen Licht seinen Kopf in einer Reflektion. Er wirkt wie ein baudelairescher Teufel, ein Voyeur und er macht den Blick aus dem Fenster damit zu einer Fiktion, da er uns den Blick und den Blickenden selbst bewusst macht. So könnte man Tishe! als eine Ode an den Voyeurismus begreifen, eine Ode an das Kino, in der das Ich des Filmenden eben tatsächlich eine Reflektion bleibt, statt zum Hauptinteresse zu verkommen.

Tishe! Kossakovsky

Die Montage des Films ist auf einem unfassbaren Niveau. Sie ist deshalb so wichtig für den Film, weil sie der Zufälligkeit eine Ordnung verpasst und weil sie der natürlichen räumlichen Begrenzung eine zeitliche Dimension hinzufügen kann. Nun ist Kossakovsky aber gar nicht zu sehr an diesen strukturellen Eigenschaften der Montage interessiert, sondern weitaus mehr an ihrem poetischen Potenzial. Und das passt insofern zum Film, da der Blick aus Kossakovskys Fenster einer Lehrstunde in Sachen Wahrnehmung ist. Wie Chaplin, schneidet er mit den inneren Bewegungen seiner Bilder, die uns dadurch erst im Schnitt bewusst werden. Besonders fließend wird es immer dann, wenn der Schnitt assoziativ durch seinen Film treibt: Ein Laubblatt bewegt sich in dieselbe Richtung wie der Schnee, ein Fußgänger… manchmal erzeugt Tishe! dadurch einen Sog aus peinlichen Berührungen, kurzen Schrecksekunden, erstaunten Gesten, die einen unweigerlich zum Lachen, oder besser, gurgelnden Schmunzeln bringen, obwohl man gar nicht weiß, was dort genau vor sich geht. Man muss sich schon fragen, wie ein einzelner Mann mit seiner Kamera derart viel sehen kann. Es scheint als wäre alles bei Kossakovsky Film. So findet er in dieser Zurückhaltung und scheinbaren Fokussierung auf die banalste Realität dann auch abstrakte Schönheit. Immer wieder sind es Nahaufnahmen von Wassertropfen, dem trocknenden Asphalt, dem Putz an den Mauern oder aber jene verschleiernden Elemente des Alltags, die einen Blick provozieren und bei denen man sich immer fragt, ob man das schön findet, was sie sind, was sie tun oder was sie verbergen. Damit ist der Dampf gemeint, der die Straße unter dem Fenster umhüllt, wenn der Asphalt geglättet wird, die Formen und Spiele des Regens auf dem Boden, die Flammen, der Schnee, das zirkulierende Laub, mysteriöser Rauch, der aus dem Boden dringt, als würde dieser Ort leben, als wäre dort etwas unter uns, was wir nicht verstehen können. Dieses ganze Treiben hat bei aller Schönheit etwas Ermüdendes. Man fragt sich, warum die Dinge nicht einfach stillstehen können. In der letzten Szene des Films gibt Tishe! darauf eine beunruhigende Antwort, die unsere Wahrnehmung nochmal hinterfragt, die uns ganz klar daran erinnert, dass wir bei aller Romantik des Blicks nicht alleine auf das schauen, was passiert. Nur die Erinnerung, der Nebel, das Mysteriöse, das Kino… die gehören uns.

Kossakovsky-Retro: Belovy

In den kommenden zwei Wochen begleiten wir mit Jugend ohne Film die Retrospektive einiger ausgewählter Arbeiten von Victor Kossakovsky auf Doc Alliance. Wir sind uns bewusst, dass wir die Werke so nicht in ihrem ursprünglichen Format und ihrer eigentlichen Wirkung betrachten können. Jedoch könnten wir sie sonst vermutlich gar nicht sehen. Beginnen wollen wir mit einem der bekanntesten Werke des russischen Filmemachers.

In The Belovs (Belovy, 1992) eröffnet sich das größtmögliche Drama aus der scheinbarsten Banalität. Es ist ein Krieg zwischen der Natur und der Struktur des Lebens, eine poetische Suche nach der Essenz des Menschlichen inmitten einer Leere, die jederzeit bedroht von einer Gewalt, zu zerbrechen droht. Kossakovsky filmt in lyrisch-dunstigen (fast bin ich geneigt zu schreiben „russischen“) schwarz-weiß Bildern eine Familie, die an der Quelle eines Flusses im ländlichen Russland lebt. Dort ist Anna Feodorovna Belova, eine zweifache Witwe, die aus jeder Pore ihrer Bewegungen einen Überlebenskampf gegen das eigene Leiden ausstrahlt. Sie pflegt die Tiere auf der Farm und singt und singt und singt. Dann lebt dort Michail Feodorovich, ihr Bruder, mit dem gemeinsam Anna weit abseits der restlichen Welt ihre Tage verbringt. Michail ist außer in der ersten Einstellung und kurzen Momenten des Friedens auf einem Traktor oder mit seinen Brüdern, meist schimpfend, leidend und klagend zu sehen. In dieser ersten Einstellung versteht er sich ausgerechnet mit seinem Hund beziehungsweise sein Hund versteht ihn. Aber mit Menschen versteht sich Michail nicht, er wirft um sich mit ideologischen, politischen und philosophisch-moralischen Vorwürfen, betrunken am Tisch, immer nahe an der totalen Erschöpfung, verletzt und verletzend. Selten hat man derart nahe die Abgründe der Intimität zweier Menschen erlebt. Ein Bruder beschwert sich darüber, dass immer alle schreien. Einmal bedroht Michail seine Schwester gar mit einer leeren Flasche, im Hintergrund sitzt schockiert ein Junge, den wir erst kurz zuvor wahrgenommen haben. Der Ton setzt aus und wir blicken in das Herz einer Feindlichkeit, die eigentlich unerklärlich ist und gerade dadurch fest verwurzelt scheint. Wenn es eine dramaturgische Struktur gibt, dann ist es jene der sich aufschaukelnden Gewalt, die durch den Besuch der beiden Brüder Vasily und Sergei einen katalytischen Effekt erfährt. Jedoch bricht Kossakovsky solche Klarheiten immer wieder und entfaltet somit ein Wechselspiel aus Frieden und Krieg. Ein Beispiel dafür wären die traumhaften, dampfenden Einstellungen eines gemeinsamen Saunabesuchs und eines Bads im Fluss.

The Belovs Kossakovsky

Die zahlreichen Tiere im Film bilden Analogien zu den Menschen heraus. Der Film verstärkt dies zum Beispiel durch Kamerafahrten, die über verschiedene Einstellungen fortgesetzt werden und so die Bewegungen von Tier und Mensch verbinden. Ein Hund rennt vor und hinter dem Traktor her und es ergibt sich ein Bild der Harmonie. Doch die Gewalt drückt sich auch in diesen scheinbaren Frieden. So zerstört ein Stier in absurder Manier zweimal im Film einen Zaun, um an das gepflanzte Gemüse zu gelangen und dieses zu zertrampeln und ein Hund bellt wie wild auf einen eingerollten Igel ein und lässt diesen nicht in Ruhe. Als Friedensstifter tritt dann immer Anna auf, eine beeindruckende Person, die zu Beginn des Films gar nicht verstehen kann, wieso man sie filmen würde. „Wir sind doch nur gewöhnliche Menschen…“ Die Kamera verharrt meist in beobachtender Position mit einem Interesse an körperlichen Regungen und Gesichtern. Das bedeutet Halbtotalen und halbnahe Einstellungen, aber sie setzt sich auch in Bewegung, da sich Kossakovsky des Konflikts zwischen der Natur und Struktur (Musik, Zwischentitel, Montage) des Lebens absolut bewusst scheint. Er vermag es gleichzeitig zu ordnen und zu beobachten und zu letzterem zählt im Fall von The Belovs auch die spontane Reaktion, die zum einen mit der räumlichen Verschiebung einer Handlung zusammenhängt, zum anderen aber schlicht mit einem Gefühl für den Ort und seine Konflikte. So schwenkt Kossakovsky einmal entlang zerstörter Wände, treibt über den Fluss oder tanzt mit Anna. In diesem Tanz verliert und rettet er sich mit ihr gemeinsam. Es muss einem einfach nahe gehen, wenn diese Frau sich im Anblick ihres eigenen Leidens und ihrer traurigen Erinnerung durch Tanzen und Singen am Leben hält. Sie vergisst ihren Schmerz durch ihre eigene Bewegung, durch ihre Musikalität und ihr beständiges Sprechen. Zwischen den plötzlichen emotionalen Ausbrüchen des Films, arbeitet man förmlich mit ihr am täglichen Überleben. The Belovs ist eine sinnliche Wahrnehmung des frei oder nicht wirklich frei fließenden Lebens, die eine Bedeutung generiert, ohne dass es die unkontrollierbaren Wendungen eindämmen müsste. Es ist nur konsequent, dass auch der Film mit musikalischen Passagen arbeitet, die eine unschuldige Schönheit, eine liebenswerte Poesie einfangen, die sich unter dem Lärm der Streitereien und der erdrückenden Stille sonst vielleicht gar nicht offenbaren könnten.

Es herrscht auch ein Pathos des Absurden hier, ein menschlicher Humor des Grauens, der einem zum Lachen bringt bis man sich des Grauens bewusst wird. So ist jene erwähnte Szene, in der ein Stier einen Zaun durchbricht, durchaus humorvoll, jedoch wird man sich bewusst, dass Anna diesen Zaun wieder reparieren muss. Hier und da zielt Kossakovsky etwas zu sehr auf den poetischen Effekt. Schwenks zum Himmel und ein Echo auf manchem Dialog erscheinen etwas zu gewollt. Es bleibt das Rätsel dieses Jungen, der im Hintergrund des Streits sitzt, eine marginale Figur, die kurz zuvor eingeführt wurde, als ihn Anna in der Früh weckt. Zuvor gibt es bereits eine lange Einstellung auf einem Familienfoto, das vermutlich Anna mit ihren Kindern zeigt. Egal, ob es sich um einen Neffen auf Besuch, ein tatsächliches Kind von Anna oder Michail oder um einen Enkel handelt…es ist klar, dass dieser Junge es an diesem Ort nicht mehr länger aushalten kann. Und genau diese Frage kann man sich vielleicht selbst stellen. Wann sitzt man gerne mit Menschen zusammen? Wann will man mit ihnen leben? Was bedeutet Nähe? Wenn an diesem Ort der Fluss seinen Lauf beginnt, dann ist The Belovs auch eine paradiesische Geschichte und man muss sich fragen, wohin dieser Fluss fließen wird oder ob das, was auf der kleinen Farm passiert und nicht passiert, sogar das Ende beziehungsweise die Ewigkeit seines Verlaufs ist.