Die unnahbaren Bilder in D’Est von Chantal Akerman

D'Est von Chantal Akerman

Chantal Akermans D’Est beginnt mit deutschsprachigen Straßenschildern. Eine kurze Recherche verrät, dass es sich dabei um Ostdeutschland handelt, das zur Zeit des Filmdrehs erst seit kurzem mit dem westlichen Teil des Landes wiedervereint war. Akermans Reise geht weiter, immer weiter nach Osten, wo das lateinische Alphabet durch kyrillische Schriftzeichen abgelöst wird. Die Bilder des Films widersetzen sich einfachen Vergleichen. Es gibt keinen Kommentar, keine Texttafeln, keine talking heads, noch orientieren sich die Bilder an der Tradition des Direct Cinema oder ähnlichen Strömungen. Es geht um Straßen, um Menschenmassen, um Individuen, um Tumult und um Ruhe. D’Est ist ein Film der Gegensätze, die eigentlich nicht zu beschreiben sind und die an Orten stattfinden, die zwar sehr konkrete sind, aber die nicht ihre Konkretheit auszeichnet. Legitim auch die Frage, was das für eine Reise ist, wenn es denn überhaupt eine ist. Das Programmheft des Arsenals schlägt diese Einordnung vor, dort wird der Film in einer Reihe mit dem Titel „Weltreisen“ an der Seite von Ulrike Ottingers China. Die Künste – der Alltag und Exile Shanghai und Nikolaus Geyrhalters Elsewhere gezeigt. D’Est ist aber weder Reisebeschreibung, noch anthropologische Studie, noch formalistisches Stilexperiment, noch Slow-Cinema-Blaupause. Vielleicht kommt man dem Film am nächsten, wenn man ihn als Erfahrung beschreibt. Eine zweistündige Erfahrung, ein Bewegbildmonument, das sich ins Gedächtnis brennt und einen nicht mehr loslässt, sodass man immer wieder darauf zurückkommen will. D’Est ist ein Film, der Raum und Zeit gleichzeitig extrem verdichtet und extrem ausdehnt, sodass Zeit- und Raumgefühl sich in den unendlich langsamen, elegischen travelling shots verlieren. Die Kamera zieht vorbei, an langen Reihen menschlicher Gesichter am Straßenrand, an rastenden Körpern in Wartesälen, durchstreift die Stadt an Bord eines PKWs und unternimmt Besuche in private Wohnungen. Trotzdem ist der Film nicht vergleichbar mit jenen Filmen, die gemeinhin unter der Kategorie Dokumentarfilm geführt werden. D’Est dokumentiert scheinbar zufällig eine Welt, die einfach erscheint (es ist eine konkrete und äußerst spezifische Welt aber gleichzeitig ist es nicht diese Spezifizität, die im Erkenntnisinteresse des filmischen Blicks liegt) – freilich steckt dahinter eine sehr bewusste Haltung zur Welt. Akermans Kamera scheint in-die-Welt-geworfen und dazu verdammt aufzuzeichnen. Da ist kein suchender Blick, der darauf zielt etwas zu finden, sondern es ist ein verirrter, vergessener Blick. Es fehlt ihm das Interesse an Orten und Menschen, weil es ihm in seiner Geworfenheit am Potenzial zum Interesse fehlt. Es ist ein einzigartiger Film, der sich jeder Kategorisierung entzieht, weil er immer schon woanders ist, wenn man ihm mit vorhandenen Begrifflichkeiten nahekommen will. D’Est ist die verdichtete und ausgedehnte Konsequenz der letzten Einstellung von Akermans Spätwerk La folie Almayer. Dort wird ein letztes tänzelndes Herumirren der Kamera zum Ausdruck eines Strebens nach Selbstfindung, das aus einem allgemeinen Gefühl der Zerrüttetheit erwachsen ist – aber auch das wäre eine Zuschreibung und Kategorisierung.