Von der Müdigkeit mit dem Kino

Es war eine dieser heißen Nächte. Das Kino hatten bereits geschlossen. Durch das Flimmern der Nachtluft hörte man die Erinnerungen an längst vergessene Filme. Sie waren meist schwarz und weiß und es gab Nahaufnahmen, die länger in der Luft hingen, als die Hitze. Vor dem kleinen Kino, das zum Anwesen meiner Tante gehörte, war eine Terrasse. Im Juli war es dort herrlich, weil die Sonne die ganze Zeit gerade so durch den wuchernden Wein drang und wie der Wind über das kühle Gemäuer der alten Villa meiner Tante huschte. Im August war es kaum auszuhalten, weil der Wein in seiner Reife seine Knospen auf unsere Köpfe regnen ließ, während ein Orchester von Wespen das Reden, Trinken und Erinnern an die Filme unmöglich machte. Es muss in meinem letzten Jahr dort gewesen sein, als ich zum ersten Mal keine Reaktion auf einen Film hatte. Das mag zunächst nicht sehr bedeutsam klingen, für mich jedoch war es ein Schock. Denn mit der Gleichgültigkeit gegenüber dem Film, es war Luchino Viscontis Senso, kam für mich auch eine Gleichgültigkeit gegenüber dem Sommer, der Hitze, den lächelnden Mädchen auf der Straße, die mir ein anderes Leben versprachen, das sie selbst nicht kannten und wollten. Es war, als würde ich eine Leere in mir spüren, die das Kino immer recht gut vor mir zu verstecken wusste.

In diesen Tagen führte ich ein Journal. Ich trug sämtliche Filme darin ein. Es war ein von meiner Vergesslichkeit und den damit kollaborierenden Schauern durchnässtes schwarzes Buch. Der Lederumschlag war von meinen nervösen Fingernägeln gekennzeichnet, die sich bei meinen ersten Begegnungen mit Melville, den ich immer besser verstand als Hitchcock, dort eingruben. Nach Senso verspürte ich dazu keine Lust. Ich ging ein wenig in der warmen Nacht umher und war mir nicht ganz sicher, wozu ich so viele Filme anschaue. Gleich neben dem Anwesen meiner Tante und dem kleinen Kino gab es einen Friedhof. Ich habe darin immer etwas Erhabenes gesehen. Ein Friedhof neben dem Kino. Das Licht und die Dunkelheit. Der Friedhof war nicht besonders schön. Da er so weit draußen lag, kamen nur wenige, um die Gräber zu pflegen. Vor allem im Sommer, wenn die Leute sich in ihren kühlen Wohnungen verkrochen oder in andere Gebiete fuhren, in denen die Hitze ein Teil des Spiels war. Meist hatte ich das Kino für mich allein. Einmal kam ein junges, blondes Mädchen und setzte sich eine Reihe vor mich. Sie war eine schleichende Frau, ich bin mir sicher, dass sie inzwischen verschwunden ist aus diesem Leben. Sie hatte trotz der Hitze ein durchschimmerndes Halstuch, das sie wie ein Karussell ablegte. Ich drehte mich zu meiner Tante, aber die legte die Filmrolle ein. Das zerbrechliche Genick des blonden Mädchens war müde. Sie nahm einen glasigen Schluck, er klang, ihre Haare sind gefallen wie der letzte Regen im Sommer. Der Film musste jeden Augenblick beginnen. Da nahm sie ein Kaleidoskop aus ihrer Tasche. Der Film begann, es war Terje Vigen von Victor Sjöström. Für eine Sekunde, als das Saallicht sich dämmte, dachte ich nicht mehr an den Film. Ich sah nur ihre Beine vor einem weißen Tuch falscher Erinnerungen, erleuchtet im gefangenen Licht der beschatteten Leinwand. Ich wollte ihr Knie spüren. Nur mit jedem Bild des beginnenden Films wurde sie irrealer. Sie wurde durchsichtig vor Sjöström. Sie existierte nur ohne das Licht, für das sie gekommen war. Unsere gemeinsamen Träume verwischten und ich blieb allein im Kino. Sie kam nie wieder. Doch damals war ich voller Leidenschaft nach dem Film. Ich schrieb die ganze Nacht auf der Terrasse begleitet von den Grillen und den rauen Felsen in der skandinavischen See, die aus dem Film wie Wellen durch die Nacht schwappten.

Nein, nach Senso war es etwas anderes. Ich konnte nicht sagen, dass mir der Film nicht gefiel, ich konnte nicht sagen, dass er es tat. Ich konnte nicht sagen, dass ich ihn verstand, ich konnte nicht sagen, dass ich es nicht tat. Ich war gesund. Zumindest hielt ich mich für gesund. Ich fühlte mich gut, war nicht müde, hatte keinen Hunger. Das wäre bei meiner Tante sowieso nicht vorgekommen, denn nichts verstand sie neben ihrer Sammlung alter Filmkameras besser als das Kochen. Das einzige, was ich dagegen je kochen wollte, war eine Pistole wie Michel Piccoli in Dillinger è Morto, aber das ist eine andere Geschichte. Es gab einfach nichts über diesen Film zu schreiben, was mir bedeutsam schien. Es mag schon immer Autoren gegeben haben, die Relevanz an objektiveren Dingen wie der Geschichtlichkeit des Diskurses, Erwähnungen oder gar Anzahl der Leser festgemacht haben, aber da ich nur für mich selbst in das kleine Büchlein schrieb, ging es mir nur um die Sehnsucht selbst. Das Begehren zu schreiben. etwas zwischen mir und dem Film. Oft genug war es der Akt des Schreibens, der mich mehr interessierte, als was dabei herauskam. Vielleicht, wie es bei Susan Sontag heißt, um zu wissen, was ich denke, vielleicht, um überhaupt zu denken, viel eher aber, um zu denken, was ich fühle.

Über mehrere Sommer hinweg war es gar keine Frage, dass ein Film, egal welcher Film diese Sehnsucht in mir auslösen würde. Doch mit Senso verschwand sie plötzlich. Sie kam auch nicht zurück. Ich erinnere mich an die folgenden Abende. Meine Tante, die damals trotz beginnender Schmerzen einen neuen Mann an ihrer Seite hatte und in den Backen von einem Leben erzählte, das ihr restlicher Körper nur mühsam in sich halten konnte, wollte mich völlig entführen, sie wollte auch ihren neuen Liebhaber entführen, mit dem sie verschwand, während ich die Filme auf den klapprigen Holzstühlen betrachtete. Ich habe nie getrunken oder gegessen während der Filme. Ich habe geschaut. Sie zeigte mir Ritwik Ghatak und ich hatte nichts dazu zu schreiben. Sie zeigte mir Tropical Malady von Apichatpong Weerasethakul und ich hatte nichts dazu zu schreiben. Nicht einmal den Titel wollte ich notieren. Normalerweise hätte mich allein der Tiger im Film in eine Rage versetzt, die ich zu Papier bringen müsste, um sie zu überwinden. Nach solchen Filmen, die derart direkt mit den Dingen in uns sprechen, die wir normalerweise verbergen oder gar vergessen, musste ich einfach schreiben, um sie noch ein wenig länger in mir zu spüren. Es mag komisch klingen, aber ich nehme das bis heute als einen sexuellen Akt war. Sowohl das Sehen eines Films, als auch das Schreiben. Was ich mir in jenen Tagen abgewöhnte, weil ich die Filme ja meistens allein sah, war das Reden über die Filme. Ich hatte nie ein Verlangen danach. Es fühlt sich heute noch an wie das Abziehen von Tennisplätzen nach den Spielen. Ein Verwischen der Narben, die der Film eigentlich in mir hinterlassen hat. Leider rede ich heute die ganze Zeit. Es ist mir selbst nicht ganz verständlich, warum das Formulieren im Schreibprozess für mich das Gefühl der Filme aufrechterhält, während das Formulieren in einer Diskussion genau dieses Gefühl zerstört. Es muss damit zu tun haben, dass ich in einer Diskussion nicht allein bin, dass ich nicht etwas gefunden habe, was nur mir gehört. Als ich eine Zeit lang Tennis spielte, sah ich mir die Spuren der Füße von mir und meinem Gegner nach den Spielen immer genau an. Es war nur ein kleiner Tennisverein auf dem Dorf. Ich konnte nicht gut spielen, ich konnte nur gut dem Ball hinterher laufen. Ich versuchte mir die Spuren einzuprägen, als würden sie eine Geschichte des Spiels erzählen. Es gelang mir nie. Ich wollte mir nichts einprägen nach Tropical Malady. Und es wurde noch schlimmer, denn am folgenden Tag, an dem meine Tante mich bereits beim Frühstück mit der großen Ankündigung begrüßte, dass ich heute meinen ersten Bresson-Film sehen sollte, lies mich diese Aussicht völlig kalt. In mir wuchs ein Gedanke wie ein Geschwür: Das Kino kann doch nicht dein ganzes Leben sein. Ich sagte meiner Tante ziemlich schnell, um meine Verunsicherung zu verbergen, dass ich heute Abend keine Zeit hätte, weil ich einen Schulfreund in der Stadt treffen würde. Sie hielt kurz inne, lächelt dann mit dem vorgetäuschten Wissen einer Frau, die ihr ganzes Leben mit unberechenbaren Männern verbracht hatte und frühstückte wortlos weiter. Ich kann nicht sagen, dass es sich nicht befreiend für mich angefühlt hat. Ich fühlte mich ein wenig wie von einer Krankheit geheilt.

Am Abend traf ich natürlich keinen Freund. Niemand meiner Freunde wäre in diesem Ort erschienen. Ich spazierte durch die Altstadt und das einzige, was mir von diesen zähen Stunden in Erinnerung geblieben ist, ist eine dicke schwarze Spinne, die über die alte Statue einer nackten Frau kroch. Ich stellte mir dieses Bild in einem Film vor. Ich wollte Menschen treffen. Ich entdeckte eine Art riesigen Spielplatz, auf dem Jugendliche aus Holz kleine Hütten bauten, es gab ein Lagerfeuer, Tischtennisplatten und so weiter. Nachdem ich mir das fast eine halbe Stunde angesehen hatte aus sicherer Entfernung wagte ich mich zu den Menschen. Ich setzte mich einfach zum Lagerfeuer. Nach einer weiteren halben Stunde gab mir ein Junge, dessen Lippen verwachsen waren, einen Spielzeugrevolver und von dort an war ich Mitglied seines Teams. Wir mussten das Fort der Feinde erobern. Das Problem: Die Feinde hatten einen mächtigen Anführer, der sämtliche Mitglieder unseres Teams gefangen nahm und angeblich in Käfige unter der Erde sperren ließ. Es war ganz erstaunlich, weil all die Kinder und Jugendlichen akzeptierten, dass die Schüsse und Pistolen echte Wirkung hatten. Ich sah Kinder, die eine Stunde auf dem Boden lagen, weil sie annahmen, dass sie tot oder schwer verletzt seien. Niemand widersetzte sich, wenn jemand ihn mit einer Waffe bedrohte. Alles war echt. Manche spielten ihre Rolle derart überzeugend, dass ich kurz Angst um ihre Gesundheit hatte. Ich selbst entwickelte einen Ehrgeiz für dieses Spiel und ab einem gewissen Zeitpunkt war ich schwer am rechten Bein verletzt. Ich hinkte. Dann begann es zu regnen. Ein heftiges Gewitter, wie sie in dieser Gegend äußerst selten vorkommen. Ich wurde in ein Lazarett gebracht. Das Blut floss in die Erde. Im Lazarett waren einige Mädchen, die sich um uns Westernhelden kümmerten. Sie hatten sich allesamt ihre Haare zu Zöpfen gebunden. Ich wurde auf eine Holzkiste gelegt, ich höre noch heute die Schreie der anderen verwundeten Cowboys. Wir waren in einer kleinen Hütte, von deren Dach das Wasser plätscherte. Es donnerte, es blitzte und dazwischen hörte man Schüsse. Die Frauen weinten. Sie hatten sich gut organisiert und immer eine Frau war für einen Verletzten zuständig. Es muss in diesem Moment gewesen sein, dass ich zum ersten Mal an die Brust einer gleichaltrigen Frau gedrückt wurde. Sie schützte mich. Vor dem Regen, den Schreien.

Irgendwann war ich ein Gefangener. ich weiß nicht mehr wie es passiert ist. Ich musste meine Waffe abgeben. Ich sah den Anführer des Feindes. Er schien gar nicht am Spiel teilzunehmen. Er war nicht nass. Er war ein bisschen älter als alle anderen. Er hat sich selbst für unverwundbar erklärt. Während wir im Wilden Westen waren, spielte er mit seinem Gameboy und alle folgten ihm. Er war die Macht der Gleichgültigkeit. Ich wurde zu vielen anderen Gefangenen unter die Erde gebracht. Sie hatten ein Gefängnis unter ihrem Fort eingerichtet. Ein matschiger und kühler Ort. Die Gefangenen schmiedeten Pläne für die Flucht. Genau dann hörte ich die Stimme meiner Tante. Sie suchte mich, fand mich, packte mich und schleppte mich schließlich zum Auto, in dem ihr neuer Freund mit laufendem Motor wartete. Als wir losfahren wollten, kam der Junge mit den verwachsenen Lippen und gab mir meinen Revolver. Seine Augen schenkten mir das Lächeln, zu dem seine Lippen nicht fähig waren. Meine Tante sprach während der Fahrt nicht. Ich spielte mit dem Revolver in meiner Hand. Der Schlamm sammelte sich im Fußraum. Plötzlich drückte ich aus Versehen ab. Es gab einen lauten Knall. Wer schon einmal einen Spielzeugrevolver in einem geschlossenen Auto abgefeuert hat, weiß was ich meine. Das Blut meiner Tante spritzte an die Scheiben.

Als ich Bresson dann sah, hatte ich wieder keine Reaktion. Es war, als würde mich das Kino zu etwas verpflichten. Das ungeheure Freiheitsgefühl, dass ich normalerweise damit verband, war verschwunden. Ich sah nur noch Filme, um Filme zu sehen. Sie hatten kein Verhältnis mehr zu mir, zum Leben, zu den Dingen, die ich sonst so machte. Sie hatten auch kein Verhältnis zu den anderen Filmen und Erinnerungen in meinem Journal. Es war eine Müdigkeit vor der Isolation, die diese Welt in sich trägt. Nicht weil das Kino per se etwas abgeschlossenes an sich hat, sondern weil das Leben mit dem Kino wie eine strenge Ehe mit einer unverheirateten Frau ist. Ich fühlte mich abhängig von etwas, das sich vor mir verflüchtigte. Es konnte so leicht zu einer Manie werden, in der ich die Kontrolle über mein Sehen und Fühlen verlor. Und so konnte ich auch von einem auf den anderen Tag meine Lust verlieren. Hinzu kam, dass ich mich fragte: Warum sollte ich mehr sehen, wenn ich schon bei einem Film das Gefühl einer Unendlichkeit hatte? Ich hatte Angst, dass ich nicht leben würde, wenn ich Filme sehe. ich kam mir vor wie ein Toter und meine blasse Haut war ein Indiz dafür, die Schreie der Nachbarskinder im Swimmingpool auch und die Abende auf der Terrasse fühlte sich plötzlich einsam an. Meine Tante bemerkte meine zunehmende Entfremdung vor ihren geliebten Screenings. Sie gab mir zu lesen. Ich habe in diesen Tagen Texte von André Bazin, Serge Daney und Gilberto Perez gelesen. Sie schrieben oft von den Dingen, die ich kannte. Ihr Ansatz war mit einem Feuer beseelt. Das Unausdrückbare wurde in ihrer Wahrnehmung zu Poesie. Sie haben es geschafft, die Gefühle festzuhalten, weil sie hinter dem einzelnen Film auch das Kino selbst verstehen wollten (und hinter dem Kino den einzelnen Film). Ihre Texte sind wie die Filme. Dort wo ein Film einen Schatten setzt, finden sie ein Licht und dort wo er leuchtet, finden sie einen Schatten. Daney hat von Schätzen geschrieben, die er bergen wolle. Es geht bei allen um Liebe und Erinnerung, um Geister. Diese Texte animierten mich wieder für das Kino. Nicht, um darüber zu schreiben, sondern um selbst zu filmen.

Meine Tante gab mir eine 8mm-Kamera. Sie erklärte mir alles und riet mir einfach auszuprobieren. Im Jahr zuvor hatte sie mir Reminiscences of a Journey to Lithuania von Jonas Mekas gezeigt. Sie sagt mir, dass diese Kamera sehr ähnlich sei. In meinem Kopf spielte sich ein Film ab, der exakt gleich schmeckte wie jener von Mekas. Der Geschmackssinn ist immer der letzte, der von einem Film verschwindet für mich. Manchmal bleibt er für immer. Man kann ihn nicht abziehen wie die Spuren auf dem Tennisplatz. Ich wollte den Friedhof filmen. Aus irgendeinem Grund, der mit Manoel de Oliveira zu tun haben musste, dachte ich, dass ich eventuell jemanden zum Leben erwecken könnte mit der Kamera. Ich filmte einen ganzen Tag, es war schwül, ich schwitzte, es war kaum auszuhalten. Mehr und mehr filmte ich und mehr und mehr wurde ich frustriert. Ich wusste nicht, was ich filmen konnte, ich wusste nur, was ich filmen wollte. Ich wollte Dinge filmen, die es nicht gab. Ich richtete die Kamera auf Gräber, doch nichts passierte. es gab nicht einmal Wind in dieser Hitze. Meine Hände zitterten vom Halten der Kamera, so sehr wollte ich, dass etwas aus dem Boden kam oder nur ein Schatten durch das Bild kroch. Ich hatte doch gesehen, dass es diese Dinge gibt. Bei Dreyer habe ich sie gesehen. Ich wusste doch, dass man Dinge sehen kann, die es nicht gibt. Das Kino begann mich zu betrügen. Ich wollte wirklich etwas sehen, aber es kam nicht. Das Kino blieb ganz gleichgültig. Die Kamera war gleichgültig, das Grab war gleichgültig, die Hitze sowieso. In mir regten sich Tränen. Ich sagte mir, dass es doch nicht zu viel sei, was ich wolle. Einfach nur etwas filmen, das gleiche Glück finden wie in den Filmen. Als der Film voll war, drehte ich ihn zurück und filmte die gleichen Dinge. Ich hoffte, dass durch Mehrfachbelichtung die Toten lebendig wurden. Ich drehte an diesem Tag mindestens zehnmal die gleiche Rolle voll. Meine Hände waren schwarz und rot. Am Abend kam ich auf die Terrasse. Meine Tante hatte gekocht. Sie war sehr neugierig auf meinen Film, sie fragte mich tausend Fragen, aber es war mir egal. In den folgenden Tagen oder Wochen, ich weiß nicht mehr genau, weil ich etwas krank wurde wie so oft in der Hitze, ließ sie den Film bei einem alten Freund in der Stadt entwickeln. Es war ein Mann, der einen kleinen Fotoladen führte, aber auch Film entwickeln konnte. Er hatte immer Tränen in seinen Augen und redete sehr wenig. Seine Hände haben mehr Filme berührt, als Filme sein Herz.

Gegen Ende des Sommers zeigte mir meine Tante dann meinen Film. Sie setzte sich zum ersten Mal neben mich ins Kino. Ich empfand nichts. Ich konnte kaum etwas erkennen. Weder sah ich die Anstrengung, die Verzweiflung, die Müdigkeit, die ich beim Dreh empfand, noch die Geister, die ich mir vorstellte zu Sehen. Es waren einfach Bilder, schlecht-kadrierte Bilder, die übereinander lagen. Nach dem Film sagte meine Tante zu mir, dass es ein wundervoller Film über Geister sei und die Unmöglichkeit diese zu sehen. Zuerst dachte ich, dass sie das nur gesagt hat, weil sie mich glücklich machen wollte, dann aber wurde mir klar, dass sie gar nicht wissen konnte, dass ich genau danach suchte. Ich sagte ihr, dass ich das alles nicht sehe in dem Film. Sie sagte mir, dass es darum ginge. Ich wunderte mich. Sie fuhr sich wie so oft mit ihren zerbrechlichen Finger durch die Locken, lächelte und sagte, dass wir vom Kino keine Sicherheiten bekommen würden, keine Klarheiten, keine Erklärungen. Wirkliches Kino sei ein wenig wie eine flirrende Nacht. Manches sei da, anderes nicht, alles sei präsent und sinnlich, aber vielleicht wäre es nur das Licht, das uns verführt. Großes Kino sei wie ein Kuss, der uns unwirklich scheint und genauso verhalte es sich mit der Liebe zum Kino. Sie sagte: „Cinephilie ist eine Fiktion. So wie jede Liebe.“ Sie sagte mir, dass ich niemals meinen eigenen Film würde schmecken können, sie sagte mir, dass der Geschmack eines Films etwas ist, was man nicht aufschreiben könne, nicht festhalten.

An diesem Tag habe ich mein schwarzes Buch auf dem Friedhof begraben. Dort liegt es wenigstens neben dem Kino, das man im Sommer von Zeit zu Zeit noch hören kann. Stimmen dringen durch die Gebüsche. Henry Fonda, Gene Tierney, Harriet Andersson, obwohl meine Tante schon vor einigen Jahren gestorben ist und neben oder mit dem Buch auf dem Friedhof liegt. Seit diesen Tagen reagiere ich gleichgültig auf Filme, um darüber schreiben zu können, um sie machen zu können. Meine Müdigkeit hat nicht aufgehört. Sie hat sich in Egoismus und Ehrgeiz verwandelt. Es ist der Zynismus eines dummen Menschen, der weiß, dass alles nur eine Illusion ist. Wenn es mir scheint, als würde ich etwas empfinden, ist es meist nur das Verlangen nach der Empfindung, nicht das wirkliche Gefühl. Wenn ich glaube, dass ein Film in mir eine Dringlichkeit auslöst, die mich wieder auf die Terrasse meiner Tante versetzt, dann ist das nur die Trauer über ihr Verschwinden. Manchmal träume ich vom Kino. Doch sobald ich aufwache ist da nur mein Anrennen, um irgendwie mit dem Kino zu leben.

Les statues meurent aussi: Nana von Jean Renoir

Nana von Jean Renoir ist einer dieser vieldiskutierten Koryphäen der Filmgeschichte, dessen Wirkung sich mit der Zeit verändert hat, da der Naturalismus mit der Zeit zu einem Romantizismus wurde und sich inzwischen womöglich gar ins Groteske verwandelte. Doch wie so oft liegt wohl ein gutes Stück Romantik im Grotesken und ein gutes Stück Naturalismus in der Romantik, sodass man eher von einem Zwischenspiel sprechen kann, einem Intermezzo im räumlichen und zeitlichen Sinne, denn Renoir bewegt sich hier nicht nur zwischen verschiedenen Wahrnehmungen, sondern stets auch zwischen Türen, auf Schwellen, auf dem Durchmarsch, zwischen On und Off und zwischen der Künstlichkeit und der Wahrheit, die gerade und jederzeit durch sie hindurch scheint. Schon der Titel steht in Flammen und man wird nie wissen, ob dieser Beginn das ausgehende Kerzenlicht am Ende spiegelt in einem blassen Wind vergeblicher Sentimentalität oder der Vernichtung, die im Roman von Émile Zola und auch im Film beeindruckend durch das Verbrennen eines Pferds mit dem Namen Nana verbildlicht wird. Es ist hier die Sehnsucht, die brennt. Ein Verlangen, das in uns brennt, eine Flamme in uns, ein Feuer, das man für jemanden hat und an dem man sich letztlich verbrennen kann, das einen erstickt und auslöscht, tödlich; tödliches Begehren. Schon im brennenden „Nana“ zu Beginn liegt also der Film vor uns. Ein Trommelwirbel leitet dann eine erste Varieté-Szene ein und schnell bemerkt man, dass die Aufmerksamkeitslogik des Films jener des Theaters folgt. Es sind die Blicke der Zuschauer, das Tempo der Bühne, der Rhythmus eines Hin und Her, Sehen und Gesehen werden, die Lust am Voyeurismus und nicht zuletzt der Cache, den Renoir immer wieder am Ende seiner Szenen wie einen Schleier fallen lässt, erzählt von diesen Blicken und von diesen Dynamiken, die im Auftreten und Abtreten der Figuren eine Rahmung erhalten. Immer wieder schauen wir auf die Schauenden, als würde das Kino sich entweder selbst zusehen oder noch eher, weil man sich im Beobachten immer unbeobachtet vorkommt. Es soll Kindern, die sich vor der Dunkelheit fürchten, helfen, wenn sie sich vorstellen, dass sie selbst ein Mörder sind. In diesen ersten Einstellungen findet sich gar ein weiteres Sinnbild, von denen Renoir so einige in seinen Film schneidet, wobei sie immer genug naturalistische Verortung besitzen, um nicht aufgesetzt zu wirken. Nana, gespielt von der wunderbaren Catherine Hessling (die Carl Theodor Dreyer lange als Favoritin für seinen La Passion de Jeanne d’Arc gehalten hatte) klettert eine Leiter nach oben, es ist die gesellschaftliche Leiter und sie macht es, die Kamera lässt in all ihrer Ambivalenz keinen Zweifel zu, mit ihrem Körper, ihrer Schönheit, denn Nana ist ein Kampf zwischen Schönheit und Reichtum, das heißt ein Ausloten von Macht, das sich in einer spielerischen Erniedrigung bis in die Krankheit einer Liebe oder den Tod durch Eifersucht treibt.

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All diese Beobachtenden sind potenzielle Opfer und alle Beobachteten sind Opfer ihrer Lügen und Intrigen, ihres Schauspiels, denn in Wahrheit verlässt der Film, wie so viele Filme (vor allem jener Zeit) zu keiner Zeit das Varieté. Aber das Beobachten wird erschwert. Renoirs systematische Verwendung des Off-Screens in all seinen Facetten wird auf eine kreative Spitze getrieben, wenn das Leben hinter den Türen oder Schleiern sich als das eigentlich aufregende an den lächerlichen Existenzen (lächerlich, damit man nicht weinen muss) entpuppen könnte. Nana ist eine Verdeckte und selbst ihre Nacktheit wird uns nur durch ein fallendes Tuch neben ihre Zehenspitzen suggeriert. Und noch etwas droht die Beobachter (also auch uns) zu täuschen: Die Theatralik und Künstlichkeit von Nana, deren Hyänenblick selbst durch die Zwischentitel hindurch schimmert und ihre übertriebenen Gesten wirken – und hier treffen sich dann der Naturalismus und die Groteske in dem schier unendlich unkontrollierten Verlangen einer Romantik – wie ein Augenzwinkern zum Zuseher, das aber von keiner diegetischen Figur bemerkt wird, die Lügen werden sichtbar im Film und das Täuschen wird nackt und unbeweglich. Alles ist ein Spiel, alle sind nur Statuen, austauschbare Gegenstände, ausgestopfte Tiere, von all dem wimmelt es im Film, der einem einzigen Requisitenkabinett des toten Lebens gleicht. Ritterfiguren, Bärenteppiche, wichtige Botschaften, die von Statuen gehalten werden, Figuren halten sich daran fest, Nana schläft in einem Bett mit einer Engelsfigur, in ihrem Bad befindet sich eine Statue und so weiter. Hierdurch entsteht nicht nur der Tod vor unserem Auge (in einer Szene trifft Nana auf Reine Pomaré, eine alte Frau, die Nana erzählt, dass sie auch lange Zeit alle Männer haben konnte) und die Zeit wird als Feind dieses Spiels deutlich, sondern auch die Falschheit dieser Welt wird deutlich. Das ist dann auch die dritte Bedeutung der Flammen zu Beginn, der Rauch, die Illusion. Es überrascht kaum, dass Renoir in der tödlichen Szene im Pferdestall für einen Moment der poetischen Bewegung des Rauchs folgt, so wie er es fast in jedem Setting macht, sei es beim schnellen Hufenschritt der Rennpferde oder dem Tanz auf dem Ball. Man beginnt sich, vor dem plötzlichen Erscheinen der eigenen Hässlichkeit im Spiegel zu fürchten, denn alles ist eine Spiegelwelt, obwohl nur Nana einen Spiegel besitzt. Und es ist die Zeit, die uns in die eigene Hässlichkeit treibt. Die Statuen sind damit ein perfektes Bild, weil sie selbst von einer Hoffnung auf Zeitlosigkeit und einer Hoffnungslosigkeit des Sterbens erzählen.

Diese große Illusion harmoniert mit den Türschwellen, auf denen so viele Dialoge stattfinden, die immerzu die Flucht oder die totale Hingabe zulassen, eine Unentschiedenheit des Lebens, vielleicht gar eine Überforderung. Es ist durch eine Tür hindurch, dass George seinen suizidalen Scham und seine tödliche Eifersucht empfindet und es ist durch eine Tür hindurch, dass Muffat in die Arme seiner kranken Geliebten fällt. Backstage steht Nanas Name auf der Tür und die Männerhände klopfen darauf wie wild, weil ihnen das Bild genügt, weil Nana nur ein Bild ist und wenn Renoir sie vor uns versteckt, dann bekommen wir die gleiche Lust, die gleiche Sucht und die gleiche Erniedrigung zu spüren. Davon geht natürlich eine Gefahr aus, denn der Besitz eines Bildes geht in dieser (und nicht nur dieser ) Gesellschaft mit der Hoffnung der einmaligen Verwandlung dieses Bildes in eine Wahrheit, aber nur unter den eigenen Blicken, der eigenen Liebe, einher. Wenn Nana mir gehört, dann wird sie sich verändern. Die Fatalität dieser Ansicht zeigt sich schon im Theater selbst, denn dort verbietet ein Schild das Betreten des Backstagebereichs, ja sogar der Bühne, des Bildhintergrunds, des Off-Screens, der Wahrheit. Also bleibt man auf diesen Schwellen stehen, die vielleicht – ganz im Sinne Joseph von Eichendorffs – auch eine Grenze zwischen Diesseits und Jenseits markieren, zwischen Film und Zuschauer.

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All diese Statuen sind staubig und einmal sagt Nana, dass dies alles bestimmt dafür sei, zerbrochen zu werden. Was sie lange übersieht ist, dass sie selbst zur ultimativen Statue geworden ist. Ein Spielzeug für eine Welt, die sie temporär beherrschen kann, aber zu welchem Preis? Der Klassengegensatz, von dem Renoir so gern erzählt, ist ebenfalls eine staubige Statue, aber wenn man ihn zerbrechen will, dann zerbricht man selbst, Statuen schlagen auf Statuen und das höchste Gefühl dieser Revolution könnte die Dekadrierung von Renoir sein und die Öffnung der Räume, die sich aber immer wieder schließen. Und selbst, wenn sie offen sind, dann scheint das nur dazu zu dienen, dass Chaos entsteht, die choreographierten Bewegungen von Renoir erzeugen immer wieder eine Hilflosigkeit ob der räumlichen Gegebenheiten. Noch gefangener scheinen die Figuren zu sein, wenn es eine jener seltenen Kamerabewegungen gibt, die in diesem Film wegen ihrer Präzision und Sparsamkeit einem kinematographischen Wunder gleichen, wie ich sie bislang lediglich in Tropical Malady von Apichatpong Weerasethakul wahrgenommen habe.

Also muss man sich bewaffnen. Immer wieder ragen spitze Gegenstände wie ein leerer Kleiderhacken und schließlich die bittere Schere ins Bild, die ein Leben beenden wird. Es ist also egal mit was sich die Figuren im Film bewaffnen (Feuer, Schönheit, Schere, Liebe), am Ende werden sie immer zum Opfer ihrer Bewaffnung. Dieses Spiel der Gegensätze sind der Tod von George in jenem Raum, indem ihn der Duft von Nanas Kleidern gefangen hält oder diese nicht hörbaren Worte von Nana, die, wenn man die Reaktionen der Männer sieht, zugleich ein Windhauch und ein Messerstich sind, denn ganz abrupt bleibt alles (oft auch die Musik) sanft stehen, wenn Nana ihre Lippen bewegt, die Zeit, das Gewissen, die Verantwortung, die Trauer und die Freude. Und dann sterben auch die Statuen oder lieben sich.

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