Stay Foolish: Yakuza Apocalypse von Takashi Miike

Ich freue mich auf jeden neuen Film von Takashi Miike. Es ist eine besondere Art der Vorfreude, die man immer seltener empfindet, je älter man wird und je mehr Filme man gesehen hat. Weniger Neugier, Interesse, sehnsuchtsvolle Erwartung oder Ehrfurcht in Bezug auf das, was da an Großem und Erhabenem auf einen zukommen mag. Eher etwas Kindliches, Zappeliges, Kribbelndes wie einst bei Wundertüte und Überraschungsei, eine Vorfreude auf die Freude selbst. Ich habe noch keinen einzigen Miike-Film gesehen, der mich gelangweilt hätte, im Sinne eines sicheren Bewusstseins, was man gerade sieht und was da noch kommt (zugegeben: weit mehr als die Hälfte seines massiven Oeuvres ist mir nach wie vor unbekannt). Bei weitem nicht alle seine Arbeiten sind in tiefer Erinnerung geblieben, aber keine hat sich so unbeliebt gemacht, dass ich nicht bereit wäre, sie aufs Neue zu sichten und mein Gedächtnis aufzufrischen. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen, die man wohl an so gut wie jedem Miike-Werk exemplifizieren könnte, auch seine (wahrscheinlich schon längst nicht mehr aktuellste Arbeit) Yakuza Apocalypse eignet sich dafür.

Takashi Miike mit Fisch

Miikes Kino ist zuvorderst eines der unaufhörlichen Einfälle, im wörtlichen Sinne. Seine Filme haben ein meistens eher lockeres Genre- und Drehbuchgerüst, dass nichts weiter verlangt, als erkennbar zu bleiben. Dessen Ausgestaltung hingegen scheint oft jeglicher Regelhaftigkeit enthoben. Es gibt so gut wie nie einen konsistenten Tonfall, der dingsichere Prognosen kommender Szenen oder Stilmittel zulassen würde. Stattdessen folgt Miike einem bedingungslosen, fast schon situationistischen Im-Moment-Sein: Was aus einer Konstellation (von Schauspielern, Schauplatz, Stimmung, Budget und narrativer Gegebenheiten) hervorgeht, wird angenommen und ausgeschöpft, unabhängig davon, ob es „passt“ oder nicht. In einem aufschlussreichen Drehtagebuch (nachzulesen im Miike-Kompendium Agitator von Tom Mes) steht ein prägnantes Diktum des Regisseurs: „The more you respect the essence of the screenplay, the more the screenplay ist transformed.“

Das heißt etwa, dass die inhärente Absurdität eines Moments nicht notdürftig kaschiert wird, weil sie an der falschen Stelle Lachen provozieren könnte. Stattdessen wird sie wie eine Quelle angezapft und verstärkt. Genauso heißt das aber auch, dass bei weitem nicht alles lächerlich sein muss, nur weil es sich um einen lächerlichen Film handelt. Wenn sich Schönheit bemerkbar macht, wird sie gewürdigt, wenn Ruhe und Diskretion angebracht scheinen, werden sie gewährt. Das Resultat ist eine beachtliche Unverkrampftheit der Bilder, selbst wenn das Ideen- und Atmosphärengewirr zur Folge hat, dass manches untergeht und das Tempo wild schwankt (ganzheitlicher Rhythmus ist tatsächlich eine Qualität, die den wenigsten Filmen des Regisseurs eignet, obwohl Sequenzen für sich sehr präzise getaktet sind).

Miike erlangte seine Popularität im Westen zunächst als Lieferant extremer, grotesker Gewaltdarstellung, eine befremdliche Reduktion seines Schaffens auf billige Schocktaktiken. Dabei ist die Gewalt in seinen Filmen (die überdies vom Burlesken bis zum Tragischen verschiedenste Erscheinungsformen kennt) nie Selbstzweck. Ich erinnere mich, als mir in Schulzeiten eine Kopie von Ichi the Killer als der letzte krasse Scheiß vermittelt wurde, und meine Überraschung (und Irritation) angesichts der eigentümlichen Melancholie und Poesie mancher der garstigsten Episoden des Films.

Yakuza Apocalypse von Takashi Miike

Yakuza Apocalypse gehört zweifellos zu Miikes Spieltrieb-Filmen, die Skurrilität überwiegt. Das Drehbuch seines mehrmaligen Regieassistenten Yoshitaka Yamaguchi über Vampir-Yakuza in einer Kleinstadt und ein von Sonderlingen und Fabelwesen angeführtes Syndikat des Bösen scheint bereits mit einem leichten Augenzwinkern verfasst worden zu sein. Dennoch ist es nicht die Prämisse an sich, die gimmickhaft in Erstaunen versetzt, sondern die sukzessive Erkenntnis, dass die eigene Phantasie letztlich weit hinter dem zurückbleibt, was Miike und sein Team aus dem Konzept machen, zu welchen Abschweifungen und filmischen Aperçus sie sich hinreißen lassen, ohne Sinn- und Zweckfragen zu stellen. Miike pendelt mittlerweile regelmäßig zwischen größeren Studioproduktionen und kleineren Projekten hin und her. Dies ist eines der Letzteren, wo die Rücksicht auf erzählerische und psychologische Stringenz noch geringer ausfällt.

Nach der „Einführung“ des Yakuza-Vampirchefs Kamiura (Rirî Furankî) in einer prototypischen Miike-Exp(l)osi(ti)on (er metzelt sich durch eine Feindeshorde, wird von Kugeln durchsiebt und kämpft trotzdem weiter) sowie seines Protegés Kagayama (Hayato Ichihara) gibt es einen Sketch-Comedy-Passage über die Resozialisierung gefangener Gangster, die zurückhaltende Anbahnung einer Liebesgeschichte, gefolgt von der zugleich pathetischen und überzogenen Ermordung des Übervaters, der seine Gabe an den Günstling weitergibt. Dieser kann seinen Blutdurst nicht kontrollieren, und bald ist das ganze Dorf vampirisiert, was der Film wider Erwarten satirisch wendet – die Yakuza sind plötzlich obsolet, weil jeder Bürger seine böse Seite entdeckt hat und Kriminalität zum Normalzustand wird. Unterdessen schmiedet das Syndikat seine Machenschaften unter der Leitung eines schnabelgesichtigen Wasserdämons, dessen hemdsärmelige Kostümierung den Darsteller nicht daran hindert, seine Rolle voll auszukosten. Und dann kommt der Froschmann.

Aber es ist eben nicht die bloße Tatsache, dass ein Mann in einem übergroßen, giftgrünen Froschmaskottchen-Plüschpelz sich als „the world’s toughest terrorist“ und formidabler Kampfkünstler herausstellt, die solche Einfälle besonders macht. Es ist die Selbstverständlichkeit, mit der der Film diese Tatsache in seine Diegese integriert, vollends dazu bekennt, nur in subtilen Seitenwitzen auf ihre Absurdität anspielt: Etwa wenn das knuddelige Ungetüm beim Treppensteigen Hilfe braucht, weil sein Kopf zu groß ist, oder wenn man deutlich erkennen kann, dass niemand im Kostüm steckt, als es später von einem Truck überfahren wird (um in der nächsten Einstellung wieder aufzustehen). Es geht nicht um den Irrwitz-an-sich, sondern darum, was daraus gemacht wird, wie er mit anderen Elementen und Ebenen des Films in Zusammenhang steht, wie er moduliert werden kann, um neuartige Effekte zu erzielen.

Yakuza Apocalypse mit Frosch

Die Demonstration dieses produktiven Nonsense würde eine Detailanalyse erfordern. Ein Beispiel wäre etwa die Art, wie bei die Bedeutsamkeit und Dramatik der Hinrichtung Kimeuras durch einen Schergen des Syndikats (Yayan Ruhian aus The Raid in der Maskerade eines Otakus, an sich schon eine sonderbare Lust-und-Laune-Besetzung) dadurch suggeriert wird, dass er dessen Schädel erstmal mehrfach um seine eigene Achse dreht, bevor er ihn ausreißt. Ein anderes, wie Miike den großen Showdown inszeniert (es ist einer von vielen): Zwei muskulöse Männer bringen sich in Stellung. Ein Gong ertönt, und sie schlagen einander mit voller Wucht zeitgleich ins Gesicht. Taumelnd fassen sie sich wieder, positionieren sich neu – jetzt aber richtig. Doch der Prügel-Fauxpas wiederholt sich. Und wiederholt sich. Und wiederholt sich. Beim ersten Mal lacht man noch. Beim dritten fragt man sich, wie weit Miike das Spiel noch treiben wird. Beim siebten sieht man das Ganze plötzlich unter völlig anderen Vorzeichen, als buchstäblich ermüdendes Sinnbild eines kosmischen Kreislaufs ewiger Gewalt, das in der apokalyptischen Schlussnote seine (nichtsdestotrotz etwas alberne) Apotheose findet.

Allerdings würde selbst eine Aufzählung sämtlicher Disruptionsmomente einen wesentlichen Aspekt von Miikes Kunst unterschlagen: Die oftmals willkürlich wirkende Alles-Geht-Mentalität steht in starkem Kontrast zur Raffiniertheit (und periodischen Langsamkeit) seiner Bildsprache. Schuss-Gegenschuss etwa ist eine Seltenheit bei ihm: Viel öfter werden Dialogszenen in ausgeklügelt kadrierten Totalen aufgelöst, die langsam seitwärts gleiten wie bei Hou Hsiao-Hsien, strotzend vor fein säuberlich verteilten Ausstattungsdetails. Immer wieder gibt es Schnitte, die sich nur nach Blicken richten, um zu sehen, wo diese hinführen und ob sie erwidert werden, immer wieder kommt es zum poetischen Stillstand in enigmatischen (Traum-)Landschaften (in Yakuza Apocalypse etwa kurz vor Schluss, Kagayama und seine Beinahe-Freundin auf einer Grünoase im Schrottmeer). Es gibt unleugbar großen Respekt vor den Schauspielern, die bei Miike auch noch in den allerblödesten Rollen ihr Bestes geben und deren Leistungen nach Möglichkeit der Raum gelassen wird, der ihnen gebührt. Man spürt in jeder Einstellung, dass hier eine eingespielte Crew am Werk und mit ansehnlichem Enthusiasmus bei der Sache ist. „We are artisans and amatuers rather than professionals. We are agitators fiddling around with something that gives us enjoyment.” So formuliert es der Regisseur mit typischem Understatement, wobei seine positive Auffassung von „Handwerkern“ und „Amateueren“ natürlich nichts mit mangelnder Professionalität zu tun hat. Sie bedeutet nur, dass Filmemachen nicht zur Routine verkommen darf, die Planmäßigkeit über alles stellt, sie fordert Raum für Kontingenz im Produktionsprozess. Die mit Hilfe einer Kerze einem leeren Blatt Papier entlockte Geheimschrift-Abschiedsbotschaft von Kagayamas Mentor lautet passenderweise: „Stay foolish.“