Was alles durchzieht. Neun Beobachtungen entlang der Bilder von Nebel in Wang Bings Tie Xi Qu: West of the Tracks

von Alejandro Bachmann

I. Nebel und Erinnerung

Als Bild ist Nebel eine recht genaue Metapher für die Art und Weise, wie Filme sich im Gedächtnis ablagern – vielleicht auch in besonderem Maße bei jenen Menschen, die überdurchschnittlich viele Filme schauen (Das fällt oft auf: In welchen dramaturgischen Details, also vor allem: mit welcher Genauigkeit und Klarheit bezüglich der Abläufe, des Nacheinanders der Bilder und Handlungen jene Menschen, die nur – sagen wir – drei Mal pro Jahr ins Kino gehen, von Filmen erzählen!). Oft verfließen die Dinge zu einer dichten Suppe, Konturen werden zu einem Brei, dramaturgische Wendungen verflüssigen sich, der Verlauf eines Films diffundiert und alle nacheinander gesehenen Bilder und Töne verdichten sich zu einer Wolke, zu einem Bild, das nicht ein Bild aus dem Film ist, das weniger als der ganze Film, aber doch in gewisser Weise ein Bild des Films ist. Die Reihe „Theatres“ des japanischen Fotografen Hiroshi Sugimoto übersetzt diesen inneren Ablauf, dieses Speichern und Verzeichnen (im Sinne eines emotionalen und intellektuellen Auffindbarmachens) eines Films im eigenen Wust des Filmgedächtnisses, in einen technischen Prozess: die fotografische Langzeitbelichtung einer Leinwand über die gesamte Dauer eines auf ihr präsentierten Films. Am Ende bleibt eine Fotografie, die den Film enthält, sie zeigt alles um die Leinwand herum gestochen scharf, die Leinwand selbst ist hell erleuchtet, vom Licht aller Bilder, von einem Nebel aus Helligkeit, der die eigentlichen Bilder des Films überdeckt und unsichtbar gemacht hat, eigenartig scharf und doch maximal diffus.

Das Bild, das mir aus Tie Xi Qu: West of the Tracks, Wang Bings über 9-stündigem Porträt des langsamen Endes des in der Provinz Shenyang gelegenen, gigantischen Industrie- und Fabrikgeländes Tie Xi im Nordosten von China, geblieben ist, besteht definitiv in nicht unerheblichen Anteilen aus Nebel. Sicher: tatsächlichem, fotografisch abgelichtetem Nebel, der den Film, bis auf einige Ausnahmen, durchwegs begleitet. Aber eben auch: Nebel als Atmosphäre, als Geisteszustand, als Einfärbung eines Fragments von Realität, die mir als vernebelt, diffus, unübersichtlich, umhüllt, zerfließend, geblieben ist, weil der Nebel die Welt in Tie Xi Qu: West of the Tracks nicht nur umschließt, sondern in vielerlei Hinsicht so etwas wie ihren Kern darstellt.

II. White Noise

Ein Rauschen, ein Fiepen, ein Dröhnen, ein Raspeln und Krächzen, ein permanentes white noise unterliegt jeder Minute von Tie Xi Qu: West of the Tracks. Die Lokomotiven, die entlang der Adern des Fabrikgeländes hin und her rollen, die wenigen Maschinen, die in den Fabriken noch laufen, Transistorradios, offene Feuer- und Kochstellen, Hochöfen, Arbeiterduschen, all das eingefangen mit dem Mikrofon der DV-Kamera, mit der Wang Bing zwei Jahre in drei Fabriken (Teil 1 des Films: „Rust“), im Arbeiterviertel Rainbow Row (Teil 2 des Films: „Remnants“) und mit den Eisenbahnern des Tie Xi Viertels (Teil 3 des Films: „Tracks“) verbracht hat, und das manchmal übersteuert und überfordert ist vom Frequenzbereich und den Ausschlägen, vom permanenten akustischen Nebel dieser Umgebung.

Auch der Bildchip der DV-Kamera scheint in gewisser Weise immer wieder überfordert vom Detailreichtum der Bilder, von den Verstrebungen und Windungen der Fabrikstrukturen, den Bewegungen des Rauchs von Zigaretten, den Verwehungen des Dampfs von frischen Teigtaschen, den Wolken vor den in der Kälte sprechenden Mündern, dem zappelnden Tanz riesiger Industriefeuer. Wenn es dunkler wird, wenn es unübersichtlich wird, wenn es zu detailliert wird, reagiert die Kamera mit Überforderung, wird das Bild schwammiger, sind Schlieren und Artefakte zu erkennen, das Rauschen des Chips, der Nebel der Maschine – auch das ein Grund für den oft mit der Hand/dem Pinsel gemalten und nicht mit der Kamera geschossenen, gemäldeartigen Eindruck der Bilder des Films.

III. Eintritt

Im Dokumentarfilm ist Nebel kein Mittel der Inszenierung, er ist nicht bewusst herbeigeführt, er soll nicht etwas bedeuten, er ist selbst eine Form von white noise, das Grundrauschen aller Bilder, die diese Gegend in China einerseits, die gigantischen Industrieanlagen andererseits immer mit sich bringen. Wang Bing nimmt das Weiße Rauschen der Realität aber nicht nur hin, er hebt es hervor und setzt es an den Anfang seines Films. In Tie Xi Qu: West of the Tracks ist es fast immer auf die ein oder andere Weise neblig, das gilt insbesondere für die erste Stunde des Films.

Das erste Bild des Films: Eine Aufsicht auf einen Teil des Industriegeländes, alles verschneit, einige Menschen bahnen sich ihren Weg, ein paar Bahngleise sind unter der Schneedecke zu erkennen, im Hintergrund ragen einige Schornsteine in die Höhe, das Bild wird in die Tiefe hinein zunehmend verschwommener, säuft ab im Grau der Nebelbänke, die in diesem Film nie einen wirklichen Horizont erkennen lassen, eine Linie, an der man sich orientieren könnte, auf (oder hinter) der potenziell ein Ziel liegen könnte, auf das man sich zu bewegt.

Die folgenden rund 10 Minuten bestehen ausschließlich aus Phantom Rides entlang der Gleise des Industriegeländes. Fahrt folgt auf Fahrt, immer weiter bewegen wir uns in den Raum hinein, entlang schmaler Routen und Rückwänden von Fabrikgebäuden, über sich weitende Plätze, manchmal vorbei an einzelnen, an Bahnübergängen wartenden Menschen, immer tiefer in den winterlichen Matsch hinein, der sich hier und da zusätzlich vom Dampf einer Lock oder dem Rauch einer Fabrik verdichtet. Vorwärts, immer vorwärts, hinein in die Zukunft, die sich nicht und nicht zeigen will im Nebel der Bilder: Noch in den 1980er Jahren war das Tie Xi Viertel von über einer Millionen Menschen bewohnt, die größtenteils in der 1934 etablierten Industrieanlage arbeiteten. 1999, als Wang Bings Kamera sich ihren Weg bahnt, stehen die letzten Fabriken vor der Schließung, wenige arbeiten noch, manches bewegt sich noch, aber ein wirkliches Ziel ist aus den Augen verloren.

IV. Körper im Nebel, Nebel im Körper

Tie Xi Qu: West of the Tracks ist ein Film mit eingeschränktem Sichtfeld. Der Nebel und – in seinen Variationen – im Sommer der Zinkstaub, der Qualm, der Dampf erinnern uns immer auch daran, dass wir nicht alles sehen können, dass unser Blick beschränkt ist, dass manches vielleicht erkennbar wird, einiges sogar verständlich, vieles aber auch nach dem Film unsichtbar und unklar bleibt. Der Nebel ist die sichtbare Erinnerung an die Bescheidenheit und Demut des Dokumentarischen. Zugleich steckt in ihm aber auch eine Umkehrung oder Umcodierung des Blicks: Wir sehen Tie Xi Qu: West of the Tracks nicht so sehr, um Produktionszusammenhänge zu verstehen oder uns in dem gigantischen Industriegelände orientieren zu können. Der Nebel wie die Montage arbeiten dagegen an. Dafür aber sehen wir mehr von den Körpern, weil sich der Nebel als Wasser auf ihnen ablegt, weil er Stofflichkeit und Materialität sicht- und spürbar macht, weil er der Oberfläche der Dinge eine Intensität verleiht, die ihre spezifische Haptik und Körperlichkeit ins Visuelle überträgt.

Tie Xi Qu: West of the Tracks ist ein Film über Körper. Über die Körper der Arbeiter und Arbeiterinnen und die Körper der Fabriken, Häuser und Maschinen, über den Zustand einer materiellen Infrastruktur, die das private wie öffentliche Leben rahmt. Der Nebel legt sich über die Körper und wir können sie dadurch nicht nur sehen, sondern auch ein Stück weit spüren. Alle drei Teile des Films erzählen von diesen Körpern und wie sie langsam verschwinden: Nach der Schließung der Fabriken werden die Arbeiter kollektiv in ein Krankenhaus gebracht, wo man über Wochen daran arbeitet, die Metalle und Gase, die sich im Körper abgelagert haben, zumindest in Teilen wieder herauszuholen. Anschließend gehen die Arbeiter wieder zu den Fabriken, um den Abbau der Arbeitsanlagen voranzutreiben, ihre Häuser aufzulösen und den Hausstand als Metallschrott zu verscherbeln. Körper werden verbraucht, vergiftet, gereinigt und abgebaut. Nur wiederhergestellt werden sie nicht. Alles wird nutzbar gemacht, bis es auseinanderfällt, alles ist schon halb in Zersetzung begriffen, löst sich im Nebel auf.

V. Auge im Nebel

Das Auge im Nebel – Wang Bings Kamera –, durch das wir diese Welt wahrnehmen, ist kein Auge der Neutralität (das unvoreingenommen auf die Realität blickt), auch kein Auge des Wissens (das uns Dinge im eigentlichen Sinne verständlicher macht), es ist vor allem Mal ein Körper. Das bereits beschriebene white noise trägt dazu bei, verweist auf die Grenzen des Materials, also auch auf die materielle Qualität des technischen Apparats, durch den wir die Welt sehen und hören, auf seinen Körper. Flecken und Schlieren auf der Linse werden in Tie Xi Qu: West of the Tracks zum Normalfall, Teile des Bildes verschwimmen, es entstehen blind spots, manchmal tauchen wir als Auge in Gänze in den Nebel ein und bekommen so nicht nur ein Bild von der Welt vor uns, sondern den Eindruck einer Welt um uns herum. Der Nebel – und generell: die Materialität der Luft und des Lichts (Räume sind in diesem Film nicht nur Verhältnisse von Dingen und Architekturen, sie sind immer gefüllt mit Luft und Licht, mit Atmosphäre, durch die hindurch man sich bewegt) vergegenwärtigt uns in besonderem Maße, dass die Kamera ein Körper ist, der sich durch Räume und entlang von Körpern bewegt: „Thousand tentacles feeling their way through space rather than a single lens taking it in view” (Anne Rutherford). Über die Körperlichkeit des Auges versteht man die Körperlichkeit der Situation in Tie Xi. Es geht – erstmal – nicht darum, zu analysieren und zu kritisieren, es geht darum, zu verstehen, also nachvollziehbar zu machen, in welcher Situation Menschen sind, was es bedeutet, ein bestimmter Körper in einem bestimmten Raum zu einer bestimmten Zeit zu sein. Ein politischer Körper, sicher, aber auch ein Körper, der sich mit dem Raum gemeinsam auflöst.

VI. Stillstand

Ein Raum, der sich auflöst. Ein Raum, der keine Begrenzungen mehr hat, weil der Nebel uns nie soweit blicken lässt. Das meint beides das Gleiche: Bewegung verpufft. Wir sehen die Menschen noch bei der Arbeit, harter, schwerster Arbeit, aber Tie Xi Qu: West of the Tracks zeigt uns nie einen Arbeitsablauf, den Weg vom Rohstoff zum fertigen Produkt. Es wird gearbeitet, die teils noch (und teils auch schon nicht mehr) emsige Tätigkeit wirkt wie ein Sich-Eingraben in Gefangenschaft, umgeben von einem Nebel der Perspektivlosigkeit. Der zweite Teil des Films artikuliert das weniger rau und nochmal aus der Perspektive jener, die schon nicht mehr arbeiten: Eine Gruppe junger Männer und Frauen im Arbeiterviertel, allesamt arbeitslos. Die Zeit vergeht mit Hanteltraining, Streitereien, Poker oder Mahjong, am Ende aber muss man ran, das Haus abreißen, bevor man übersiedelt (wird) in noch kleinere, noch schäbigere Unterkünfte. Umgeben von einer Nebelwand graben die Menschen sich immer weiter ein.

VII. Vernebelt – trinken, rauchen, kochen, feiern

Es wird exzessiv getrunken in Tie Xi Qu: West of the Tracks. Immer wieder im kameradschaftlich-zugewandten Miteinander, meistens aber über die Stränge, begleitet von ungut machoidem Geprahle auf Kosten von Frauen, immer wieder auch in Gewalt mündend. Dem Nebel in der Welt begegnet man mit dem Nebel in der Birne.

Die erste Stunde des Films, die in so besonders starker Weise vernebelt ist, sensibilisiert unser Auge aber auch für alle anderen Formen des Rauchs, des Dampfs, der materialisierten Luft: Wie viel geraucht wird in den Pausenunterkünften der Arbeiter oder auch in den winzigen Häusern der Familien. Welche eher seltene Atmosphäre von Wärme, vielleicht Geborgenheit, in jedem Fall aber kurzzeitiger Entspannung der Dampf aus Kochtöpfen erzeugt, wenige Momente, in denen man sich auch als Zuschauer erlaubt, zur Ruhe zu kommen, den kalten Winternebel, den heißen Industriedampf um einen herum zu vergessen.

VIII. Lichtblicke – Farbe, Sonne, Glücksmomente

Der Nebel also ist innen wie außen in Tie Xi Qu: West of the Tracks. Und weil er so allumfassend ist, weil er alles umschließt oder schon von innen heraus trübt, gibt es diese Momente, die ganz anders sind, in denen der Nebel sich lichtet: Wenn zum chinesischen Neujahrsfest lange Ketten mit bunten Wimpeln aufgehängt werden, wenn in den verlassenen Arbeitsquartieren ein bunter Regenschirm gefunden wird (der sich dann nicht mehr richtig aufspannen lässt), wenn gegen Ende des Films, im dritten Teil, fast 45 Minuten lang die Sonne scheint und der Horizont zwar immer noch nicht zu sehen ist, diesmal aber, weil die Blende der Helligkeit hinterherhechelt und so Teile des Bildes ausbrennen.

Es erscheint trivial, aber beim Sehen von Tie Xi Qu: West of the Tracks treffen einen immer wieder Funken der Hoffnung im Zentrum der grauen Suppe, bunte Farben, helles, gleißendes Licht: Unvergesslich in seiner Lässig- und Wahrhaftigkeit, wenn einer der jungen Männer im zweiten Teil von seiner Liebe für eine ehemalige Klassenkameradin erzählt, die ihn – so glaubt er – immer wieder anlockt, um ihn dann von sich zu weisen. Schließlich bittet er eine Freundin, der Verehrten am Valentinstag einen Blumenstrauß zu überbringen. Sie solle ihr sagen, er sei den ganzen Tag gereist und habe sein ganzes Geld dafür ausgegeben. Wahr ist das nicht. Aber es könnte wahr sein, wenn man sich den knallig bunten Blumenstrauß inmitten dieser grau-grauen Welt ansieht.

IX. Nebel und Bühne

Der Nebel in Tie Xi war einfach da. Jedes Bild, das Wang Bing von Tie Xi machte, kam mit dem Nebel, (fast) jedes Bild in Tie Xi Qu: West of the Tracks ist vernebelt. So ist der Nebel ganz klar Teil der Realität, die ein Dokumentarfilm abzubilden trachtet.

Der Nebel in Tie Xi ist aber auch ein Geschenk für den Dokumentarfilm. Weil er den Blick für die Realität in einer paradoxen Wendung verdichtet: indem er die Sichtbarkeit der Welt einschränkt und sie so zu einer Bühne macht, in der jedes Detail deutlicher hervortritt. Zwei, drei Mal im Film gibt es Momente, in denen dieser generelle Zug eine Prägnanz hervorbringt, die üblicherweise nur im willentlichen Akt der inszenatorischen Verdichtung, der Mise en Scène – im Anwerfen einer Nebelmaschine, wenn man so will – zu erreichen ist. Aus einer Untersicht filmt Wang Bing einen Arbeiter, wie er unter einer gigantisch wirkenden Hebevorrichtung etwas verkettet, damit es abtransportiert werden kann, im Hintergrund ein paar rote Scheinwerfer, im Bildvordergrund ein Abgrund, alles ist eingetaucht in einen Dunst aus Wasser, Staub, Licht und Luft. Die Fabrik als sakraler Bühnenraum. Zu Beginn des zweiten Teils von Tie Xi Qu: West of the Tracks verteilt ein Repräsentant der staatlichen Lotterie in China billige Fernseher an einige „glückliche“ Gewinner. Einer von ihnen bekommt von dem Mann erzählt, dass es keine bessere Art gäbe, sein Geld auszugeben, für einen guten Zweck und mit der Chance auf einen Gewinn, auch wenn man kaum Geld habe. Der Lotterierepräsentant lächelt dabei in Richtung der in Massen gekommenen Zuschauern, die vor der erhöht errichteten Bühne stehen. Auch Wang Bing (und damit wir) steht unter ihnen, blickt auf den Mann, der den Leuten hier erzählt, wie man am besten lebt. Hinter ihm hat sich derweil eine dichte Nebelwand gebildet und schließt so alle Umstehenden mit dem Los-wedelnden Mephisto ein und vom Rest der Welt aus.