Abbas Kiarostami: Ein Augenzwinkern im Abspann

Gegen Ende der Abbas Kiarostami Erinnerungs-Retrospektive im Österreichischen Filmmuseum habe ich mir an drei aufeinanderfolgenden Tagen die Filme im Kino angesehen, die ich vor mittlerweile zwei Jahren im Zuge einer akademischen Abschlussarbeit auf ihr Mischverhältnis von Realität(en) und Fiktion(en) sezierte. Insofern waren die Kinobesuche aus reinen Vergnügen eine späte Form der Befreiung, selbst wenn sich die angelesenen und -gedachten Theorien auf die Filmerfahrung legten, wie der erste Raureif auf die dezemberlichen Windschutzscheiben. Ohne einer universitären Deadline im Kopf ereignete sich nun beim Kinozusehen der 35mm-Kopien von Va zendegi edameh darad/ Und das Leben geht weiter (1992), Zir-e derakhtan-e zeytun/ Quer durch den Olivenhain (1994) und Bad ma ra khahad/ Der Wind wird uns tragen (1999) eine für mich überraschende Erkenntnis: Kiarostami hat Humor! Zum einen nistet er sich in den Dingen ein. Zum anderen springt er in den Dialogen hervor. Sein Freud und Leid ist die Wiederholung. Kiarostamis Humor hat aber – wie ginge es anders? – mannigfaltige Schichtungen. Eine Spurensuche:

Vater und Sohn in Und das Leben geht weiter stehen im Stau. Um diesem zu entkommen, nimmt der Vater eine Seitenstraße und fragt fortan nicht nur einmal nach dem Weg, sondern andauernd. Doch selbst wenn ihm die Gefragten Auskunft erteilen können, befolgt er diese nicht, sondern folgt stur der Straße, denn, so seine Logik, solange eine Straße da ist, führt sie auch wo hin. Die Inszenierung des Staus (vor allem der Moment, in dem der Junge eine warme Cola durch das Autofenster in ein anderes Auto reicht, wo sie einem Baby zu Trinken gegeben wird) lässt mich an Trafic von Jacques Tati denken. Dort steht Monsieur Hulot, der in einem gelb-blauem Lastwagen auf dem Weg zu einer Automobilmesse in Amsterdam ist, gleich zweimal im Stau – perfekte Gelegenheiten für die Kamera, die anderen Autofahrer beim tastenden Griff zur (und in die) Nase und beim Gähnen zu beobachten. Monsieur Hulot und seine wechselnden fahrbaren Untersätze in diversen Tati-Filmen resonieren auch in der Beziehung zwischen dem Mann und seinem Auto in Und das Leben geht weiter: gegenseitige Abhängigkeit schmieden Mann und Auto aneinander – er nutzt es als Fortbewegungsmittel und Lebensraum, es benötigt Wasser und Benzin für den überhitzen Motor und äußert dieses Verlangen in gut hörbaren Geräuschen. Recht trotzig reagiert der Mann gegen Ende des Films auf den zweifelnden Blick eines Passanten, ob sein Auto die steile, bröckelige Straße schaffe: es sei immerhin das einzige Auto, das er habe, es müsse es schon schaffen. So kriecht das kleine gelbe Auto in einer der finalen Panorama-Einstellungen mutig auch die vertikalste Straße hinauf. Kurz vor der letzten Kurve versagt allerdings sein Motor und es rollt rückwärts den Abhang hinunter. Der Mann steigt aus, blickt auf einen entfernten Hügel, wo die zwei Jungen, die er einholen wollte, unermüdlich voranschreiten. Die Musik (es klingt nach Vivaldi) setzt mit melancholischen Klängen ein. Wiederum im Panorama gefilmt, sieht man wie der Passant, den der Autofahrer vorher am Straßenrand stehen ließ, hilft, das müde wiehernde Auto ins Bild-Off zu schicken, um anschließend mit schweren Säcken auf dem Rücken die Straße emporzusteigen. Aha, Mensch versus Maschine und der Fußgänger siegt, denkt man sich, und die Zahnräder der Modernekritik fletschen schonmal ihre Zähne. Doch als der Fußgänger oben angekommen ist, gibt es eine musikalische Wendung, Vivaldi wird verspielter, fröhlicher und – siehe da! – das kleine gelbe Auto brummt wieder ins Bild und fährt, diesmal mit mehr Schwung, abermals den Hang hinauf. Wieder stockt es kurz vor der letzten Kurve – , schafft den Berg aber schließlich mit Müh und Not und nimmt diesmal den bereits auf den Hügel befindlichen Passanten mit.

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Im Auto, das neben der Kamera die unverzichtbarste Maschine für Kiarostamis Filmschaffen ist, ereignen sich außerdem die absurdesten Dialoge. Die Fahrer sind meist Alter Egos Kiarostamis. Diese sind immer Städter, immer Intellektuelle, immer Außenseiter, die in die ländliche Idylle, bzw. Unglücksorte (Erdbebenregion rund um Koker) eindringen. Doch sie sind immer auch reflektierte, leicht starrköpfige Individuen, die gerne viel reden. Auch die DorfbewohnerInnen (zumeist sind es jedoch Männer oder junge Burschen) sind nicht auf den Mund gefallen und werden auch gehört. Ein Aufeinanderprallen solcher Gegensätze erzeugt unweigerlich komische Momente. Quer durch den Olivenhain beispielsweise dreht sich um die (Nicht-)Beziehung zwischen der fleissigen Schülerin Tahereh, die selten spricht, aber wenn sie es tut, dann widerspricht sie gerne, und ihrem Verehrer, dem Analphabeten Hossein, der große, sozialistische Ideen hat und wortreich von einer emanzipierten Ehe träumt. Er sitzt auch im Auto, als die Filmassistentin vor einer blockierten Straße haltmachen muss. Die Bauarbeiter scheren sich nicht drum die Straße frei zu räumen, im Gegenteil, sie legen eine solche Nonchalance an den Tag, dass der reschen Assistentin fast die Kühlerhaube hochgeht. Auffordernd sieht sie Hossein an (der allzu oft herumkommandiert wird), der aber macht deutlich, dass er nie wieder auf dem Bau arbeiten werde und rührt keinen Finger. Diese Direktheit der ProtagonistInnen, die sich durch Aussagen oder auch durch vehementes Schweigen äußert, wirkt oft wie ein Drahtseilakt zwischen absurder Komik und sturer Rebellion, kann dabei aber auch viel mehr sein. Bezeichnend dafür ist die Schlusssequenz des Films: Hossein folgt Tahereh quer durch den Olivenhain und beschwört sie mit einem schier untragbaren Redeschwall, dass sie ihm doch antworten solle. Die Szene zieht sich endlos, die Kamera nimmt eine immer größere Distanz von dem potentiellen Liebespaar ein, bis sie nur noch Punkte in einem wogenden Blaugrün sind. Plötzlich stockt die Bewegung, man vermeint wahrzunehmen, dass Tahereh sich kurz umdreht und ein unhörbares Wort sagt – der winzige Punkt, der Hossein ist, springt im Takt zu Domenico Cimarosas Oboe Konzert wie ein fröhliches Welpen über das Gras zurück. Kiarostamis Humor, der durch die Distanz der Einstellung und der Choreografie zwischen Musik und Bewegung seinen Ausdruck findet, umweht hier ein Hauch von Romantik und Poesie.

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Am häufigsten musste ich in Der Wind wird uns tragen schmunzeln. Der Film öffnet mit einem Panorama auf eine liniendurchzogene, gold-grüne Landschaft, darin fährt ein Auto. Man hört einen Dialog, der, wie anzunehmen ist, unter den im Auto sitzenden Männern geführt wird. Es ist das Auto, das dreistimmig monologisiert und den Weg sucht, der absurderweise anhand des Baumbestands beschrieben ist. Beim alleinstehenden Baum müsse man abbiegen, nur ist der Hang, wie eine der Stimmen bemerkt, gesäumt von alleinstehenden Bäumen (insofern das kein Widerspruch in sich selbst ist). Körperlose Stimmen ziehen sich als komisches Element durch den ganzen Film. Zwei, der drei Männer existieren nur als Stimmen im Off-Screen, entweder sind sie im Dunkel eines Zimmers verborgen oder die Kamera bleibt auf Behzads Gesicht, der der Organisator der Truppe ist. Dieser ist abhängig von einem kleinen Apparat, dem Handy, der ihn immer wieder durch den Ort zu seinem Auto sprinten und auf den Friedhofshügel rasen lässt, damit er die unhörbaren Anweisungen seiner Auftraggeberin erhören kann. Nach diesen Gesprächen spricht Behzad zu einem Loch, so scheint es, doch in dem Loch, das für den zukünftigen Funkmasten gegraben wird, befindet sich ein (nie sichtbarer) singender Arbeiter. Dessen Freundin wiederum sucht Behzad in einem dunklen Keller auf, um Milch zu holen – zu hören ist seine Rezitation eines Gedichts von Forough Farrokhzad, der Milchstrahl des Melkens, ihre zögerlichen Erwiderungen; zu sehen sind ihre melkenden Hände, der bunte Stoff ihres Kleides, das Gitter des Stalls. Ein erotisches Phantom, das nicht nur den Mann im Erdloch und den Mann mit Handy und Auto umtreibt.

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Wen man wollte, könnte man Der Wind wird uns tragen auch als running gag lesen, denn die Struktur des Films besteht aus der möbiusartigen Wiederholung des Handyläutens, des Rennens zum Auto und der Fahrt auf den Hügel (inklusive unbefriedigendem Telefonat). Nach dem gefühlten fünften Mal stellt sich wohl beim Großteil der ZuseherInnen Ermüdung ein. Wiederholungen des Komischen sind zwar beliebte Stilmittel, haben aber geringe Haltbarkeit. Die Spurensuche in Kiarostamis Filmen nach den Spezifika seines Humors lässt aber erahnen, dass gerade die vehementen Wiederholungen einen wichtigen Aspekt desselben ausmachen. Weiteres kristallisiert sich durch die Analogie mit Jacques Tati heraus: Dessen Objektkomik, das Spiel mit diegetischem und nicht-diegetischem Sound, die Sprache, die Suche nach dem Weg, das Vorhandensein der Kunstfigur Monsieur Hulot verweisen darauf, dass klassische Konzepte Kiarostami nicht fremd sind (es heißt, er wäre ein großer Slapstick-Fan gewesen). Im Gegensatz zu Tati aber platziert Kiarostamis seine humoristischen Handlungen und Bilder nicht in ein strukturiertes, choreografiertes und künstliches Setting, sondern in eine Welt, die unbedingt als real wahrgenommen und von authentisch wirkenden, beständig redenden Charakteren bewohnt wird, was seinem Humor eine (wenn man so will) humanistische Note verleiht. Die Poesie schleicht sich schlussendlich ständig ein, am liebsten durch die kongeniale Anwendung des sich Entziehens: zuerst sind es die Jungen in Und das Leben geht weiter, die am Horizont verschwinden, dann ist es die Erwiderung Taherehs auf Hosseins Heiratsantrag, die uns durch die Distanz der Kamera entgleitet, und schließlich ist es das Dunkel, in das die Melkende in Der Wind wird uns tragen gehüllt wird. Die Kunst der Distanz, des sich Entziehens scheint somit das prägnanteste Merkmal Kiarostamis Humor zu sein, von dem im Abspann nur ein Eindruck zurückbleibt … ein Augenzwinkern.

Any Other Way: Taxi von Jafar Panahi

Taxi von Jafar Panahi

In seinem neuesten Film Taxi lässt Jafar Panahi, der sich selbst als taxifahrender Filmemacher spielt, über weite Strecken des Films seine Nichte jene Wahrheiten aussprechen, die das Regime in iranischen Filmen eher nicht hören will. Diese Vorgehensweise ist nicht neu, Panahi selbst setzte in seinen ersten beiden Filmen The White Balloon und The Mirror Kinder als Protagonisten ein und auch andere iranische Filmemacher nutzen Kinderwelten gerne als Allegorien für die gesellschaftlichen und politischen Probleme, die nicht offen angesprochen werden dürfen.

Taxi von Jafar Panahi

Die Nichte hat in der Schule den Auftrag bekommen einen Kurzfilm zu drehen (welch glückliche Fügung), der alle Kriterien der politischen Führung erfüllt. Er soll keine fiktive Welt abbilden, sondern die Realität, ist die Realität allerdings düster, soll sie mittels inszenatorischer Maßnahmen beschönigt werden. Es geht also um das Problem der Darstellung von Realität und dem Verhältnis von Realität und Fiktion, einer Thematik, die im iranischen Kino vor allem von Panahis Lehrmeister Abbas Kiarostami verhandelt wurde. Kiarostamis Taste of Cherry und Through the Olive Trees stehen augenscheinlich Pate für Panahis Film, auch wenn es Kiarostami vermag weitaus eleganter am schmalen Grat zwischen Wirklichkeit und Erfundenem zu balancieren. Auch Panahi konnte das schon besser: This Is Not a Film war ein erster Hilferuf des unter Hausarrest stehenden und mit Berufsverbot belegten Regisseurs. Die Inszenierung tritt hinter todernsten Verismus zurück, und die Frage nach dem Wirklichkeitsgehalt des Gezeigten stellt sich nur in einigen wenigen Szenen, wie zum Beispiel der Schlusssequenz im Lift. Mit This Is Not a Film testete Panahi die Wasser und als Konsequenzen ausblieben, verließ er seine Wohnung um in einem Ferienhaus am Meer einen Schritt weiter zu gehen. Closed Curtain ist pure Metafiktion, ähnlich wie in Kiarostamis Through the Olive Trees ist eine klare Trennung zwischen dem Filmemacher und seinem Team, die sich selbst spielen und dem „Film-im-Film“ auszumachen. Mit Taxi wagte sich Panahi schließlich einen weiteren Schritt vorwärts und macht keinen Hehl mehr daraus, dass das, was auf der Leinwand zu sehen ist, ein verbotenerweise gedrehter Film ist. In diesen drei Filmen hat er sich also über den Umweg der Selbstdarstellung wieder allmählich dem herkömmlichen Filmschaffen genähert und sich somit Schritt für Schritt über sein Berufsverbot hinweggesetzt. Wo This Is Not a Film noch in der legalen Schwebe  hing, und wohl im Zweifelsfall als Homemovie durchginge, in dem Panahi mehr schauspielert als Regie führt, ist Taxi eindeutig ein Feature Film aus der Hand von Panahi und das lässt sich auch nicht dadurch verschleiern, dass er selbst die Hauptrolle im einnimmt.

Es scheint, dass er mittlerweile zur Überzeugung gelangt ist, sich so ein Vorgehen erlauben zu können, denn auch nach Closed Curtain blieb eine strengere Bestrafung aus. Dieses langsame Vortasten macht von Produktionsseite durchaus Sinn, und wie auch bei den zwei vorangegangenen Filmen ist die schiere Existenz von Taxi eine Sensation, aber wo anfangs noch Not zur Tugend erklärt wurde, und aus Panahis Misere eine immense kreative Energie entstanden ist, bleibt mittlerweile nur Routine. Der ungeschönte Mut zur Hässlichkeit und dem Ausstellen der eigenen Verzweiflung ist ein verspielter und gespielter Realismus geworden, der beinahe zur Farce verkommt. Panahi gibt sich nicht mehr damit zufrieden, seine Freunde und Bekannten zu Wort kommen zu lassen, sondern wettert vielstimmig gegen seine Unterdrücker. Die Fahrgäste, die allesamt von Laiendarstellern verkörpert werden, sind bloß Marionetten, durch die Panahi seine Weltsicht mitteilt. Das ist vom ersten Schlagabtausch an klar – hier spricht nicht die Nichte, die Anwältin oder der Videoverleiher, sondern immerzu Panahi.

Taxi von Jafar Panahi

Womöglich ist das sogar die Pointe. Womöglich weiß Panahi gar nicht mehr, wie die Realität überhaupt darstellbar ist, und das vor allem jeder Versuch, die Realität so darzustellen, wie die Zensurbehörden das gerne hätten, zum Scheitern verurteilt ist. Das macht vor allem jene Szene gegen Ende des Films deutlich, in der die Nichte im Auto wartet, und eine Hochzeit filmt. Der Bräutigam verliert einen Geldschein, den ein bettelarmer Junge aufhebt und behalten will. Die Nichte spricht ihn darauf an, denn so eine Szene würde gegen die Vorgaben der Lehrerin verstoßen und könnte nicht für ihren Film verwendet werden. Sie überredet den Jungen den Geldschein zurückzugeben, was diesem jedoch nicht rechtzeitig gelingt: Alle Mühe bleibt umsonst, die Realität bleibt ein ephemeres Konstrukt, das sich dem Griff der Zensur entzieht. Panahi versucht gar nicht mehr vorzugeben sich dem Berufsverbot zu unterwerfen, er versucht gar nicht mehr der Frage des Verhältnisses von Inszenierung und Aktualität zu verhandeln, sondern übt Kritik am System. Das ist angesichts seiner Lage aller Ehren wert, aus filmischer Sicht wäre ein weiterer Versuch womöglich die bessere Entscheidung gewesen.