This Human World 2018: City of the Sun von Rati Oneli

City of the Sun von Rati Oneli

Im Rahmen einer Kooperation mit dem This Human World 2018 präsentieren wir eine Auswahl von Filmen aus dem diesjährigen Festivalprogramms.

Die georgische Stadt Tschiatura war einst ein international bedeutendes Bergbauzentrum. Hier wurde Ende des 19. Jahrhunderts fast die Hälfte des weltweit benötigten Metalls Mangan gefördert. Riesige Industrieanlagen, Lagerstätten und die beeindruckenden Seilbahnen, mit denen Mensch und Material zu den Minen transportiert wurden, zeugen heute noch von der einstigen Bedeutung. Sie zeugen aber auch vom Niedergang der Stadt und des Produktionszweigs.

Rati Onelis City of the Sun zeichnet ein faszinierendes, wenngleich ambivalentes, Bild dieses Niedergangs. Seine Kamera umschwebt Menschen, Bauwerke und Natur wie ein interessierter, aber unbeteiligter Geist. Im Flug nähert sich die Kamera in der ersten Szene der malerischen Berglandschaft rund um Tschiatura an. Aus dieser Perspektive wirken die Mächte der Natur groß und die Zeugnisse menschlicher Zivilisation vergleichsweise mickrig. Immer wieder unterbrechen Bilder dieser Art die Dokumentation des Alltags der Bewohner von Tschiatura.

Es wäre aber zu einfach den Film auf diese Metapher – dass sich die Natur zurückholt, wo der Mensch sich zurückzieht – zu reduzieren. An anderer Stelle scheinen die Bilder eine ganz andere Geschichte erzählen zu wollen: von einer Symbiose aus Natur- und Kulturlandschaft. Da werden die Straßenzüge, die Bauruinen, die halbverrosteten Seilbahnen zu ornamentalen Verzierungen in der Landschaft. Es wirkt dann wie ein Glücksfall, dass kein Rauch mehr aus den Industrieschornsteinen aufsteigt, der diese pittoreske Komposition verdecken könnte.

City of the Sun von Rati Oneli

So setzt Rati Oneli Stück für Stück ein Mosaik aus lose miteinander verbundenen Bildern zusammen, die um die Stadt kreisen. Menschen tauchen auf und verschwinden wieder, Emotionen ebenso. Eine scheinbar nebensächliche Beobachtung kann zum roten Faden werden, wohingegen kraftvolle, zentral erscheinende Bilder sich im Nichts verlaufen können. So wird gegen Anfang des Films unter anderem das im Zerfall befindliche Sportstadion der Stadt gezeigt. Das Grün des Rasens sticht aus dem eintönigen Grau der Betonbauten in der Umgebung hervor. Zwei Gestalten sind aus der Ferne auszumachen, die auf der Tartanbahn laufen, von irgendwoher hört man eine Trainerin Anweisungen rufen. Man denkt zunächst an eine inszenatorische Entscheidung – zu zeigen, dass in dieser im Sterben liegenden Stadt trotz aller Probleme noch immer normale Leben gelebt werden, gesportelt wird. Es sind zwei junge Mädchen die hier ihre Runden drehen. In weiterer Folge bekommt man sie noch öfter beim Training zu sehen, im Stadion oder auf Waldwegen. Der Film nimmt ihre Bewegung in gewisser Weise auf, lässt sich von ihnen wie von einem roten Faden leiten.

Ihre Geschichte jedoch wird nie direkt ausartikuliert. Wer unaufmerksam ist, läuft sogar Gefahr sie zu verpassen. In völlig anderem Zusammenhang hört man nämlich ein TV-Interview mit der Trainerin aus dem Off, als die Kamera in einer Wohnung dem Alltag einiger Bewohner folgt. Sie erzählt von den beiden jungen Lauftalenten, die sie trainiert. Die sie allerdings nicht so fordern kann, wie sie das gerne hätte. Aus dem einfachen Grund, dass die Mädchen nicht genügend zu essen haben, um intensiver zu trainieren: Nur einmal täglich werden sie in der örtlichen Suppenküche verköstigt. Sinnbildlich stehen die beiden jungen Athletinnen also zugleich für die Alltäglichkeit eines Leistungssportlers und der Unmöglichkeit einer Alltäglichkeit in der untergegangenen Stadt. Ein Motiv, dass sich auch in den zahlreichen Aufnahmen von Freizeitaktivitäten beobachten lassen – so gibt es ausführliche Szenen von Theateraufführungen, Musikdarbietungen und großen Festen, die gefeiert werden.

City of the Sun von Rati Oneli

Auf der anderen Seite bleibt der vielleicht erwartbarste Aspekt der Stadt und des Films unterbeleuchtete. Nimmt man zu Anfang des Films, als die Kamera auf einer Lore tief in den Berg hineinfährt, noch an, dass City of the Sun ein anthropologisches Interesse an den letzten verbliebenen Arbeitern in den Bergwerken entwickeln könnte (etwa wie Good Luck von Ben Russell, der ebenfalls am This Human World 2018 zu sehen ist), so ergibt sich aus den wiederkehrenden Ausflügen des Films in die Minen kaum eine tiefergehende Beschäftigung mit jenem Geschäft, dass Tschiatura einst zu globaler Bedeutung verholfen hat.

City of the Sun ist voll von solchen unerwarteten Anschlüssen und Abbrüchen, von unscheinbaren, wiederkehrenden Motiven und einmaligen, kraftvollen Ausschlägen. Es versammelt eine so reichhaltige Fülle an Eindrücken, dass man danach leicht ins Grübeln kommen kann: Ist dieses Mosaik nun ein gelungenes Porträt oder sind die einzelnen, prachtvollen Stücke im Endeffekt nur isolierte Teile, die sich zu keinem größeren Ganzen zusammenfügen. In jedem Fall setzt der Film eine Form schöpferischer Denkarbeit beim Publikum voraus, für das man dankbar sein sollte.

This Human World 2018: Družina von Rok Biček

Im Rahmen einer Kooperation mit dem This Human World 2018 präsentieren wir eine Auswahl von Filmen aus dem diesjährigen Festivalprogramm.

Es gibt nicht viele Dokumentarfilme, die so direkt in ihr Geschehen einsteigen wie Družina von Rok Biček. Ein paar kurze Titeleinblendungen, dann das erste Bild: Eine junge Frau liegt mit nacktem Unterkörper und gespreizten Beinen vor der Kamera, neben ihr zwei Ärzte und ein Mann. Als man begriffen hat, dass sie kurz davor ist, ein Kind zu bekommen, ist die Geburt bereits im Gange. Ein Schauspiel, aufgeladen mit (in der Regel positiven) Bedeutungen: Das Wunder des Lebens, die biologische Begründung einer neuen Familie. Doch in die trübe Lichtstimmung der langen Einstellung mischen sich Gefühle der Unsicherheit, des Zweifels. Das Schmerzhafte der blutigen Prozedur (die umso mehr als solche erscheint, weil die Geburtshelfer mit einer Schere nachhelfen müssen) drängt sich unangenehm in den Vordergrund. Schon hier scheint das Konzept “Familie” (die Übersetzung des slowenischen Titels) auf undeutliche Weise im Argen zu liegen.

Družina von Rok Biček

Der Rest des Films spitzt diesen Eindruck weiter zu. Družina ist eine Langzeitdokumenation: Über zehn Jahre hinweg hat Regisseur Biček seine Hauptfigur Matej Rajk – den Mann, der in der Eröffnungsszene an der Seite der werdenden Mutter steht – mit der Kamera begleitet. Doch das Bild, dass er uns von ihm und seinen Lebensumständen präsentiert, vermittelt keine „Entwicklung”, sondern das Gefühl eines ausweglosen Kreislaufs.

Das liegt alleine schon an Bičeks Umgang mit Zeit: Periodisch springt er innerhalb seines Erzählrahmens vor und zurück, ohne ausdrücklich darauf hinzuweisen, stellt subtile Verbindungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart her. Kurz nach Filmbeginn sehen wir einen Buben, der hinter dem Geländer einer Eisbahn steht und die Läufer beobachtet – ein Außenseiter-Sinnbild, das sich später in abgewandelter, aber noch deutlicherer Form wiederholen wird. Ist es Matejs Kind, vielleicht ein Verwandter? Es dauert ein bisschen, bis man ihn selbst im Gesicht des Jugendlichen erkennt.

Družina von Rok Biček

Beiläufig lernt man Matejs Elternhaus kennen, über scheinbar banale, aus dem Kontext gerissene Alltagsmomente. Wie sich herauskristallisiert, sind Vater, Mutter und Bruder geistig eingeschränkt, die Kommunikation von Missverständnissen und Konflikten gezeichnet, die Autorität der Erziehungsberechtigten bestenfalls labil. Die Atmosphäre ist eine der Eingeschlossenheit und gegenseitigen Entfremdung bei gleichzeitiger Isolation von der Außenwelt.

Der Film spielt überwiegend in karg eingerichteten Innenräumen. Als Jugendlicher pflegt Matej Kontakte übers Internet, sitzt mit Headset vor dem Computer in seinem Zimmer und wirkt in diesem mentalen Refugium erstaunlich souverän – solange niemand aus seiner Familie hereinspaziert und die Blase platzen lässt. Menschen außerhalb des engeren Lebenskreises Matejs kommen in Družina nur selten vor. Meist sind es Vertreter staatlicher Institutionen. Nach etwa einer halben Stunde wohnt man bei, als eine Sozialarbeiterin versucht, Matejs Vater zu erklären, dass sein Sohn kaum Lernschwierigkeit hat, eventuell sogar studieren könnte. Die Mitteilung scheint diesen eher zu beunruhigen als zu freuen.

Družina von Rok Biček

Die (Ersatz-)Familie, die Matej sich Jahre später mit seiner Freundin zu schaffen gedenkt, fällt binnen kürzester Zeit in sich zusammen. Die beiden gehen im Streit auseinander, er beginnt eine Beziehung mit einer 14-jährigen, doch am Telefon läuft der Trennungszwist weiter, es geht um Sorge- und Besuchsrechte, um Pflicht und Verantwortung. Die emotionale Verwahrlosung früherer Szenen scheint sich in diesen Kleinkriegen zu spiegeln.

Matejs Verhalten ist bei weitem nicht immer sympathisch, doch Biček wertet nicht. Er stellt aber auch keine wirkliche Nähe her. Obwohl die Gewöhnung der Protagonisten an seine Kamerapräsenz in den intimsten Momenten den Eindruck erwecken könnte, er sei quasi selbst Teil der „Familie”, spürt man stets eine Distanz zu den Ereignissen, die bewusst gesetzt scheint. Zwar fällt Bičeks Name hin und wieder, ihn selbst hört man aber nie sprechen. Manchmal haftet seinem Blick etwas Verstohlenes an, ein hilfloses Beobachten zwischen Mitleid, Angst und Besorgnis. An einer Stelle rast Matej frustriert mit dem Auto durch den Wald, kratzt wilde Kurven, der Motor dröhnt vor Wut. Die Kamera filmt das vom Rücksitz aus und zoomt dann unvermittelt auf den Rückspiegel, um seine rastlosen Augen zu fokussieren. In dieser Geste steckt Abstand.

Družina von Rok Biček

Auch das verstärkt die Wahrnehmung einer stagnierenden Zustandsbeschreibung, einer Art Fallstudie, im Unterschied zum Live-Lebenslauf, den andere Langzeitdokus simulieren. Ein Gegenbeispiel wären die großartigen Arbeiten Helena Třeštíkovás, die zuvorderst von Veränderung erzählen, von den Unwägbarkeiten der menschlichen Existenz, und bei denen man so gut wie nie voraussagen kann, wo sie am Ende landen werden. Die Stellung der Filmemacherin im Leben der Leute, die sie porträtiert, ihre Präsenz und wiederholte Absenz werden meistens thematisiert, und sei es nur kursorisch.

Die Möglichkeit von Veränderung ist eine Definition von Hoffnung. Biček – ein Hoffnungsträger des jungen slowenischen Kinos, der zuletzt mit seinem Langspielfilmdebüt Razredni sovraznik von sich Reden machte – geht es indes um Hoffnungslosigkeit. Družina stellt in fast jeder Szene implizit die Frage, wer eigentlich Schuld an der Misere der Hauptfigur hat, die sich sogar sterilisieren lassen will, um keine weiteren Kinder in die Welt zu setzen, verwehrt aber eindeutige Antworten. Haften bleibt das Scheitern der Versuche, auszubrechen. Im Endeffekt entsteht so (wie kürzlich auch in Richard Billinghams vergleichsweise warmem und verträumtem, aber dennoch vielfach ähnlich gelagertem Ray & Liz) auf einer politischen Ebene das Bild einer Klassengesellschaft, die ihre Schwächsten stetig hängen lässt, und auf einer existenziellen Ebene ein kaltes Klagelied über die tragische Abhängigkeit des Menschen von seinen Umständen. Letzteres erreicht seinen Höhepunkt in einer Szene, die Matejs Bruder beim vergeblichen Versuch zeigt, am verschneiten Grab seines Vaters eine Gedenkkerze anzuzünden. Wenn man Biček etwas vorwerfen kann, dann ist es der Umstand, dass ihm die Kraft eines solchen Bildes manchmal wichtiger zu sein scheint als seine Figuren.

This Human World 2018: Donbass von Sergei Loznitsa

Im Rahmen einer Kooperation mit dem This Human World 2018 präsentieren wir eine Auswahl von Filmen aus dem diesjährigen Festivalprogramms.

Die interessantesten Filme, findet man oftmals an den Rändern des Kinos. Wo kühne Grenzgänger sich in ökonomischem, technischem oder ästhetischem Niemandsland bewegen. Wo sie in Gegenden vorstoßen, in denen noch nie jemand Fuß gesetzt hat. Sergei Loznitsa ist ein solcher Grenzgänger. Er ist einer jener Künstler, die scheinbar mühelos die Grenze zwischen fiktionalem und dokumentarischem Filmemachen kreuzen, die sich den Modus das „Dazwischen“ als Heimat auserkoren haben.

2018 sind drei Filme von Loznitsa erschienen. In Victory Day beobachtet er kommentarlos die Feierlichkeiten zum Sieg der Alliierten in Westeuropa am Sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park in Berlin. Auslandsrussen, Wolgadeutsche und einige wenige Russland-Sympathisanten zelebrieren dort ihre fragwürdige Geschichtsauffassung und tragen ihre ebenso fragwürdige Einschätzung der gegenwärtigen politischen Lage in der russischen Heimat zur Schau. Loznitsa seziert diese Feierlichkeiten, wie er es bereits mit dem Treiben der KZ-Touristen in Austerlitz getan hat oder mit den undurchsichtigen Machtkämpfen in der Ukraine in Maidan. In The Trial hingegen, montierte er Archivmaterial der Schauprozesse Stalins aus den 30er Jahren zu einem neuen, grausamen Etwas, das vor allem durch seine Zurschaustellung von Inszeniertheit auffällt. Ein filmischer Modus, wie man ihn von Loznitsa bereits aus The Event (über die letzten Tage vor dem endgültigen Zerfall der Sowjetunion) oder Revue (einer Archiv-Collage über das Leben in der Sowjetunion in den 50ern und 60ern) kennt.

Donbass von Sergei Loznitsa

Donbass beginnt wiederum ähnlich wie Loznitsas dokumentarisch-beobachtende Werke. An einem Filmset werden Statisten für ihren Auftritt vorbereitet. Schnell verliert man die Orientierung, als die Statisten – die Kamera unter ihnen – ihren Einsatz haben. Folgt man den Dreharbeiten eines Propagandafilms? Wurde hier gerade tatsächlich auf die Statistengruppe geschossen? Und ist das überhaupt ein filmisches Dokument oder folgen wir hier Loznitsas Drehbuch? Man ist versucht noch einmal im Programmheft nachzulesen, ob Donbass als Dokumentar- oder Spielfilm kategorisiert ist. Dann würde man freilich Loznitsa bereits in die Falle tappen, denn wie so oft in seinen Filmen, geht es nicht nur um einen vordergründigen Konflikt – sei es, wie sich Besucher von Gedenkstätten verhalten (Austerlitz), oder Eisfischer im äußersten Norden Russlands (Artel) – sondern auch um eine Reflektion der medialen Bilder, die der Film erzeugt.

In Donbass treibt Loznitsa diese Reflexivität auf die Spitze. In kurzen, teils mehr, teils weniger zusammenhängenden Episoden erzählt er vom andauernden Konflikt in der Ostukraine. Jener Gegend rund um die Städte Donezk und Lugansk, die mit Billigung Moskaus von russischstämmigen Separatisten kontrolliert ist. Filmcrews und Kamerateams des Fernsehens, ein deutscher Reporter und Handyaufnahmen spielen darin eine bedeutsame Rolle. Es gibt kaum einen Filmemacher, dem es besser gelingt, die Medialität seiner eigenen Bilder zu thematisieren, ohne je wirklich einen Film über Medialität zu machen. Denn obwohl all diese Fragen zur Herkunft und Natur der Bilder immer mitschwingen, ist Loznitsas Kernthema ein ganz anderes. Wie so oft in seinen Filmen der letzten Jahre beschäftigt er sich mit den schwierigen Verhältnissen in Russland. Das Ergebnis ist ein Film, dem wohl alle Seiten (Ukraine, Separatisten, Russen und vielleicht sogar der Westen) Parteilichkeit vorwerfen würden.

Donbass von Sergei Loznitsa

Zugegeben, ein sehr rosiges Bild vom Leben innerhalb der Grenzen der selbsternannten Föderation Novorossiya zeichnet Donbass nicht. Die entscheidende, schwierigere und kaum zu beantwortende Frage, wer für Elend, Gewalt und Korruption verantwortlich ist, lässt der Film aber offen. Beide Seiten scheinen sich in Sachen Machthunger, Geldgier, Blutrünstigkeit und Volksverhetzung nicht viel zu nehmen. Das ist allein daran zu erkennen, dass an vielen Stellen schlicht nicht aufgeklärt wird, welche der beiden Seiten überhaupt gerade gezeigt wird. Die menschlichen Abgründe, die Loznitsa offenbart sind jedenfalls schmerzhaft mitanzusehen. Exemplarisch kann man hier die Szene nennen, in der separatistische Militärs einen vermeintlichen Killer der ukrainischen Armee öffentlich zur Schau stellen und sich eine Zivilistenmenge solange gegenseitig aufwiegelt, dass es ohne Eingreifen der Soldaten vermutlich zu einem Lynchmord gekommen wäre. Man kann sich problemlos eine Parallelszene mit umgekehrten Rollen ein paar Kilometer weiter westlich vorstellen. Eines haben beide Seiten aber gemeinsam: Das dumpfe Grollen der Kanonen im Hintergrund; und das niemand vor plötzlichen Einschlägen von Raketen und Granaten sicher ist.

This Human World 2018: The Distant Barking of Dogs von Simon Lereng Wilmont

Im Rahmen einer Kooperation mit dem This Human World 2018 präsentieren wir eine Auswahl von Filmen aus dem diesjährigen Festivalprogramm.

Menschlichkeit im Kino: Wenn jeder mitfühlen kann. Angst, Freude, Trauer, Hoffnung, Mitleid, Scham, Wut, Liebe, Hass und Euphorie. Die Geworfenheit eines jeden und das Umgehen damit. Erinnern Sie sich: Auch Sie sind ein Mensch. Auch wenn Sie nicht genauso sind wie jene, die sie auf der Leinwand sehen. Was kann aus dieser emotionalen Erkenntnis gezogen werden? Alles Mögliche. Rührseligkeit, Propaganda. Empathie, Einsicht. Oder ein allgemeines Unbehagen.

Krieg bildet eine Kontrastfolie für Menschlichkeit, wenn man das Unmenschliche an ihm betont (sprich: wenn man seine Menschengemachtheit so weit wie möglich im Off lässt). In The Distant Barking of Dogs von Simon Lereng Wilmont ist der Krieg wie ein langes und schreckliches Unwetter. Er schlägt am Anfang ein wie ein Blitz, im Zuge eines trüben Dashcam-Videos. Autos fahren eine graue Straße entlang. Plötzlich erschüttert eine Explosion das Bild, Schutt und Geröll hageln gegen die Windschutzscheibe. Schicksal.

The Distant Barking of Dogs von Simon Lereng Wilmont

Es bricht herein über Hnutove, ein kleines Dorf im Südosten der Ukraine, etwa 100 km von Donetsk entfernt. Die Front mit ihren Kämpfen ist näher. Das Bellen der Hunde? Das Donnern der Geschütze. Die meisten Bewohner sind weg, doch der 10-jährige Oleg und seine Großmutter harren aus. Eingangs erscheint uns die Landschaft im Winter. Die Kälte starrt aus dem Weiß des Himmels, aus vereistem Gesträuch und der knorrigen Kargheit der Felder. Oma und Enkel besuchen das Grab der Mutter, streichen das blaue Kreuz neu, damit es ans Leben erinnert.

Denn Friedhofsruhe herrscht hier nicht nur am Friedhof. Ein Schatten der Bedrohung, des lauernden Todes, lastet schwer auf dem müden Schleier der Alltagsnormalität. In der Schule sagen die Kinder auf, vor welchen Minenarten sie sich besonders in Acht nehmen müssen. Sie steigen in den Schutzkeller hinab, proben den Ernstfall des Bombenangriffs. „Jetzt nicht mehr reden, die Luft wird knapp”, sagt die Lehrerin.

Doch Menschlichkeit gedeiht auch unter schwierigen Bedingungen. Wenn es Zeit und Raum findet, bricht sich das Kindliche, das Verspielte unweigerlich Bahn. Oleg albert mit seinem jüngeren Cousin Yarik herum, abenteuert mit ihm durch die Gegend, macht die Ödnis zum Spielplatz. Er liebt seine Oma, seine Oma liebt ihn. Die Ahnung einer unbefangenen Existenz. Im Jahreszeitenwechsel eine Einstellung, die Bauern bei der Heuernte zeigt. Abruptes Tauwetter. Für einen Augenblick hat man die Kälte vergessen – aber nur für einen Augenblick. Später erinnert die Großmutter: „Der Krieg kennt seine eigenen Jahreszeiten: Den Ernte-Waffenstillstand, den Schulbeginn-Waffenstillstand, den Oster-Waffenstillstand.”

The Distant Barking of Dogs von Simon Lereng Wilmont

The Distant Barking of Dogs erzählt von der Kontamination des Gewöhnlichen mit der Unsicherheit eines existenziellen Abgrunds. Das harmlose Spiel Olegs (wie ein Superheld rennt er mit Handtuch-Umhang einen schmalen Pfad entlang) lädt sich mit der Gewalt auf, die um ihn herum immer spürbar, aber selten sichtbar ist. Sie steckt in der überlieferten Erinnerung an Bombenangriffe, in den grausamen Sternschnuppen des Geschützfeuers am Nachthimmel, in den Videos von nahegelegenen Kriegsschauplätzen, die der ältere, abgebrühte Nachbarsjunge Kostya aus der Pandorabüchse seines Laptops in die Atmosphäre lässt (für uns bleibt das Entsetzen auf der Tonspur). Sie dringt in die Körper, die vor ihr zusammenzucken. Überall macht sich Angst breit, die man überspielen lernen muss, beim nächtlichen Spaziergang, am Lagerfeuer oder am Küchentisch, mit Lachen oder mit Selbstbewusstsein. „Wir Männer müssen alles aushalten können!”, hat Oleg irgendwo aufgeschnappt.

Wenn das nicht gelingt, wirft er blindwütig mit Steinen auf Flaschen oder rauft sich am Heimweg auf eine Weise mit Yarik, dass man Spiel und wutentbrannten Streit kaum voneinander unterscheiden kann. Wie der Ukrainekrieg selbst balanciert Wilmonts Film zitternd auf der Schwelle zwischen totaler Eskalation und brüchiger Stabilisierung. Politik spielt kaum eine Rolle, nur in Radionachrichtenfetzen, die von Siegen und Verlusten der ukrainischen Regierungstruppen berichten, oder in kleinen Randbemerkungen. „Wenn Putin es wirklich will, gibt es für uns kein Versteck mehr”, meint Kostya beiläufig. Der Mikrokosmos des Films ist auch ein Gegenentwurf zu sardonischen Systemanalysen wie Sergei Loznitsas Donbass. Oleg wurde am Pausenhof verprügelt, weil er Russisch spricht, beklagt seine Oma an einer Stelle.

The Distant Barking of Dogs von Simon Lereng Wilmont

Wilmont, der 2016 einen Film mit Victor Kossakovsky gedreht hat, bleibt stets nahe an den Menschen dran. Er sucht nach ihrer Umwelt in ihren Gefühlen und nach ihren Gefühlen im Ausdruck, den sie diesen im Alltag verleihen, im Umgang miteinander, in privaten Momenten, die er als teilhabender Beobachter einfängt, auch wenn sie unangenehm sind. Darin gemahnt The Distant Barking of Dogs stark an Roberto Minervinis eindringliche Milieuporträts eines marginalisierten Amerikas, etwa an die mit Wut und Zärtlichkeit, Machtlust und Ohnmacht aufgeladenen Flanier-Konflikte zwischen den jungen Halbbrüdern aus What You Gonna Do When the World’s on Fire? Aber es gelingt Wilmont – womöglich auch aufgrund prekärer Drehbedingungen – nicht immer, den Eindruck von Natürlichkeit zu wahren, der Minervinis Filmen bei aller „Gestelltheit” große Kraft verleiht.

Im teils hektischen Schnitt, im Musikeinsatz, in der Farbkorrektur, im bemühten Spannungsbogen samt Hoffnungsschimmerschluss spürt man zu sehr das Bedürfnis nach einem Narrativ. Am deutlichsten in einer markanten Sequenz, in der Oleg von Kostya beigebracht bekommt, mit einer Gaspistole umzugehen, sich dabei verletzt, danach trotzdem weitermacht, sich unter Druck des Älteren dazu bringt, einen Frosch totzuschießen und letztlich von der Enttäuschung der Oma ob seiner Verrohung in Tränen ausbricht – der Film hastet hier mit einem didaktischen Drall durch, der den einzelnen Szenen viel von ihrer Direktheit raubt. Dennoch schafft sein über weite Strecken bedachter Umgang mit Form, eine Grundstimmung aufzubauen, die lange nachhallt.

Glückauf: Good Luck von Ben Russell

Good Luck von Ben Russell

Im Rahmen einer Kooperation mit dem This Human World 2018 präsentieren wir eine Auswahl von Filmen aus dem diesjährigen Festivalprogramm.

Ben Russell ist ein interessanter Zeitgenosse. Ein Amerikaner, geboren in Springfield, Massachusetts. Auf Umwegen hat es in nach dem Studium (Kunst und Semiotik) nach Surinam verschlagen. Eine ehemalige niederländische Kolonie am südamerikanischen Kontinent, flächenmäßig rund doppelt so groß wie Österreich aber lediglich von einer halben Million Menschen bewohnt. Dort hat er einen Großteil seiner Filme gedreht. Sie entstehen in einem Spannungsfeld zwischen anthropologischem und dokumentarischem Interesse, zwischen akademischer Objektivität und surrealistischem Chaos. Seine Arbeiten stoßen in einem immer unüberschaubarer werdenden filmischen Diskurs auf breite Zustimmung. Sie werden auf der Documenta gezeigt und von der Kunstwelt wohlwollend aufgenommen; sie eignen sich als Anschauungsmaterial, wenn Material gefragt ist, an dem sich politische Fragen durchexerzieren lassen; sie durchlaufen den festival circuit und enden – wie im Fall von Good Luck – sogar im Nachtprogramm auf ARTE. An Russell scheint sich kaum jemand zu stoßen, soweit man sich damit arrangieren kann, dass Russells Omnipräsenz (wie jene seines britischen Namensvetters Ben Rivers) oftmals dazu führt, dass man vor lauter Diskurs gar nicht mehr über seine Filme nachdenkt. Er ist der kleinste gemeinsame Nenner des filmischen Diskurses und des Diskurses über Filme. Das klingt despektierlicher als es gemeint ist.

Die Kamera blickt aus einem halbverfallenen Haus auf ein Bergwerk. Im Hintergrund setzt Musik ein. Man gewöhnt sich fast an diesen statischen Bildausschnitt, als sich die Handkamera von ihrer Ausguckposition zu lösen beginnt. Die Musik, zunächst nur aus dem Off zu hören, wird nun im Bild verortet. Sie stammt von einer Marschkapelle, die in der Ruine Stellung bezogen hat. Wankend entfernt sich die Kamera aus dem Haus, behält die Kapelle im Blick, die schließlich, auf der Straße angekommen, Formation bezieht. Schließlich kommt die Kamera – und mit ihr die allesamt männlichen Musiker – nach einigen Minuten Bewegung zum Stillstand. Ein Mann, der Trommler, tritt aus der Reihe der adrett gekleideten Herren. Er beginnt zu sprechen, über Erinnerungen, über diesen Ort. Das sind für lange Zeit (bis auf unverständliches Murmeln) die letzten Worte, die im Film gesprochen werden.

Good Luck von Ben Russell

Als Prolog steht diese Szene am Beginn von Good Luck. Musik und Bild verdichten sich darin zu einem hypnotischen Marsch durch eine Gegend in Serbien, die wohl schon bessere Zeiten gesehen hat. Der dezent melancholische Ton der Musik und der Charme des Verfallenen vereinen sich zu einem audiovisuellen Abgesang. Ein Täuschmanöver, denn das Kupferbergwerk, das zum Auftakt zu sehen war, ist (noch) nicht aufgegeben. Die Kamera mischt sich unter die Kumpel, fährt 400 Meter hinab in den Untergrund. Inmitten der Bergmänner, eingezwängt in einem quietschenden Licht, wird die Szenerie nur von einigen Stirnlampen beleuchtet. Ein klaustrophobischer Moment. Nicht nur aufgrund der beengten räumlichen Verhältnisse, sondern auch wegen der unruhigen Atmosphäre die Russell auf der Tonebene erzeugt. Mattes Wummern, das sich zu einem unheilvollen Dröhnen entwickelt wird die nächste Stunde des Films dominieren. Unter Tage gibt es kein Entkommen. Kein Entkommen von der Dunkelheit. Kein Entkommen vom beengenden Sound. Nicht einmal, wenn man den Film auf einem kleinen Bildschirm sieht.

Das Bergwerk ist die Hölle. Eine Hölle voller Stein, Schweiß und Dreck. Und Lärm. Mit mächtigen Bohrern rücken die Männer dem Gestein zu Leibe. Mit aller Kraft stemmen sie sich gegen ihre (Höllen-)Maschinen, um den Berg zu bezwingen und für irgendeine anonyme Bergbaugesellschaft das wertvolle Kupfer aus dem serbischen Boden zu befördern. Düster ist die Arbeit. Die Männer machen sie, weil ihr Leben sonst noch düsterer wäre. Sie leben in einer Region, wo sie auf anderem Weg kaum vergleichbare Löhne verdienen könnten. Das erzählen sie zumindest in den Pausengesprächen. Es geht ernst zu während der Mahlzeit. Das scheint angebracht. Nach über einer halben Stunde tauschen sie jetzt die ersten Wörter untereinander aus. Zuvor waren ihre Stimmen unbrauchbar. Die Kakophonie der Maschinen, im Film noch verstärkt durch Russells unerbittliches Sounddesign, war übermächtig. Zwischendurch immer wieder Szenen in der Dunkelheit, nur spärlich erleuchtet von wenigen elektrischen Lampen. Licht und Dunkelheit, Höllenlärm und Totenstille, prägen die erste Hälfte von Good Luck.

Good Luck von Ben Russell

Nach den Szenen unter Tage wirkt die zweite Hälfte des Films wie eine Befreiung. Statt einer Fahrt in die Hölle, geht es nun ins Paradies. Tief in den Dschungel von Surinam. Doch der Eindruck täuscht. Auch dort warten Höllenmaschinen: Bagger, Generatoren, lärmende und stinkende Monstrümer. Sie werden von den Männern umsorgt. Ganz zu Beginn des Segments bringt einer von ihnen Treibstoff in einem Kanister. Danach die Fütterung. Dann wird die Maschinerie in Gang gesetzt. Ein Bagger hebt Erdreich aus. Es wird sorgfältig gewaschen, in der Hoffnung auf Gold zu stoßen. Anders als die professionell organisierte Arbeit der serbischen Bergmänner, handelt es sich hier um eine illegale Unternehmung. Die Männer hier haben außerdem eher mit den tropischen Bedingungen zu kämpfen, als mit Dunkelheit. Es gibt jedoch Ähnlichkeiten zwischen diesen zwei Gruppen von Männern. Schweiß und Dreck ist ihr Metier, ein Metier das zusammenschweißt.

Es lassen sich mit Good Luck wohl einige Thesen über den Zustand der Welt und der Menschheit formulieren. Die meisten davon wären wohl eher auf der fatalistischen Seite (Andere Filme verwandter Thematik gehen in diese Richtung. Etwa Michael Glawoggers Workingman’s Death oder Zhao Lings Behemoth, der von ARTE in der gleichen Sendereihe wie Good Luck gezeigt wurde). Doch das ist nicht alles. Ein seltsames Gefühl von Gemeinschaft entsteht, wenn man diese beiden Welten – so nah und doch so fern – gegenüberstellt. Eine globale Gemeinschaft von Männern, die versuchen dem Boden seine Schätze abzuringen und dabei in erster Linie sich selbst ausbeuten. Die einen arbeiten unter der Sonne Surinams, die anderen fernab der Sonne. Die einen arbeiten im Staub, die anderen im Wasser. Wenn sie aber Pause machen, im Kreis sitzen, über ihre Ängste und Sorgen sprechen, ihre mitgebrachten Mahlzeiten verspeisen, dann wird deutlich, dass sie mehr verbindet, als sie trennt. Auch wenn sie nichts voneinander wissen. Auch wenn ihr einziges verbindendes Glied ein amerikanischer Filmemacher aus Massachusetts ist, der in Paris lebt. Film kann ein mächtiges Instrumentarium im Spiel der Menschheit sein.

this human world 2014: Gedanken über ein Festival vor der Haustüre

this human world Sujet 2014

Filmfestivals ähneln in gewisser Weise intensiven Fortbildungsseminaren. Anstatt jedoch irgendwohin in die Pampa zu fahren (von A wie Altlengbach bis Z wie Zirl), um sich dort in einem dieser austauschbaren Seminarhotels einzukasernieren, und den ganzen Tag in einem stickigen Raum langweiligen Vortragenden zu lauschen, sucht man sich ein Hotelzimmer oder eine Couch eines Bekannten und verbringt seine Tage in einem (zumeist) übermäßig klimatisierten Kinosaal. Man mag geneigt sein zu glauben, ein Filmfestival in der Heimatstadt erspart Anfahrtswege und Kosten, die so ein Aufenthalt in der Fremde halt so mit sich bringt – das Filmfestival in der Heimatstadt als gelobtes Land, wo Milch und Honig fließen. Interessanterweise habe ich bis jetzt eher die umgekehrte Erfahrung gemacht. Das Zuhause bietet nämlich Ablenkungen, die einem in der Fremde erspart bleiben: banale Haushaltstätigkeiten, Vorlesungen, Freunde. Kurzum, verschlägt es einen eigens für ein Filmfestival in eine andere Stadt, ist man zwangsläufig fokussierter, mehr bei der Sache und versucht, „wenn man schon mal da ist“, so viel wie möglich davon mitzunehmen. Festivals in der Heimatstadt hingegen nimmt man eher „so nebenbei“ wahr, während sie mit anderen (kulturellen) Aktivitäten konkurrieren; man richtet seinen Tagesplan nicht nach dem Festival aus (es sei denn es handelt sich um die Viennale), sondern geht halt hin, wenn sich die Gelegenheit bietet. Für das this human world hatte ich mir eigentlich vorgenommen eine Art hybriden Mittelweg gefunden, was mir aber leider nicht ganz gelungen ist und ich schlussendlich doch nicht so oft gehen konnte/wollte, wie ich ursprünglich vorhatte. Das Resultat dieses zerstückelten, von Lust, Laune und verfügbarer Zeit abhängigen Festivalbesuchs schlägt sich hier in diesem Text nieder, der gleichsam zerstückelt, anekdotisch und keinesfalls ganzheitlich eine spannende Woche Revue passieren lässt.

Derby Crazy Love von Maya Gallus und Justine Pimlott

Derby Crazy Love von Maya Gallus und Justine Pimlott

Ein verspäteter Festivalauftakt, ein Matineebesuch: Derby Crazy Love vom Regieduo Maya Gallus und Justine Pimlott stand am Programm – das heißt siebzig Minuten tätowierten Frauen beim martialischen Roller Derby zuzusehen. Diplomatisch ausgedrückt lässt sich über den Film konstatieren, dass er Spaß macht, weil er eine Subkultur, ja Parallelwelt, ans Tageslicht bringt, die man anderweitig nicht zu Gesicht bekommt. Weniger diplomatisch könnte man über die vergleichsmäßig uninspirierte Inszenierung dieses Lesbenkults ätzen – aber das würde gegen jede Form von political correctness verstoßen und ist demnach wohl fehl am Platz wenn man über das this human world schreibt. Denn passend zu den Hauptspielorten, den Hipstermekkas Schikaneder und Top Kino, wird hier Diversität, Toleranz und Integration großgeschrieben. Ja, für eine Woche beginnt man fast zu glauben, dass wir in einer politisch und sozial aufgeschlossenen Welt leben, in der Menschen sich reflektiert und erwachsen mit ihren Problemen auseinandersetzen. Da wird die politische Lage in Syrien filmisch aufgearbeitet, mit Einführungen noch eingehender beleuchtet und auf die Flüchtlingsproblematik aufmerksam gemacht und da darf auch Sergei Loznitsas Maidan noch einmal die Leinwände Wiens betören (Loznitsas Parforceritt war der wohl beste Film des Festivals). Zwar konnte keiner der Filme in Sachen Agitationspotenzial mit dem an Einseitigkeit nicht zu überbietenden Manipulationsmeisterstück Everyday Rebellion der Riahi-Brüder mithalten, der seit einigen Wochen regulär an den Festivalspielstätten zu sehen ist, aber Filme wie Syria Inside wussten ebenfalls gekonnt Bilder verletzter Kinder und zerbombter Häuserruinen aneinanderzureihen und mit pathetischer Musik zu unterlegen; hätte man den Besuchern bei Verlassen des Kinosaals statt eines Stimmzettels ein Transparent ausgehändigt wäre wohl eine nette Demo zustande gekommen. Schade eigentlich, denn zumindest die ersten dreißig Minuten von Syria Inside, also bevor das Bearbeiten der Tränendüsen losging, waren sehr spannend. Der Film bemühte sich historische, kulturelle und politische Hintergründe zu erklären und diese Erklärungen verspielt und humorvoll aufzubereiten. Handyvideos, staatlicher Rundfunk und kleine Sketches alternieren mit der Moderation durch ein syrisches Komikerduo, das in einer Studiosituation durch den Film leitet. Mit Fortdauer des Films geht der Humor aber zusehends verloren und der Film erschöpft sich in einer uninspirierten Aufzählung von Assads Gräueltaten und Beschreibungen des heroischen Kampfs der Free Syrian Army.

Syria Inside von Tamer al-Awam und Jan Heilig

Syria Inside von Tamer al-Awam und Jan Heilig

Mein Plan zu Beginn des Festivals war es alle vier Filmprogramme des Syrien-Specials anzusehen. Nach Syria Inside und Syria: Snapshots of History in the Making hatte ich darauf allerdings keine Lust mehr. Nicht nur, dass ich das Gefühl hatte bereits alles zu wissen, was mir diese Filme zu sagen haben, und vor allem wie sie es mir zu sagen haben, sondern auch, weil sich eine gewisse Abstumpfung einstellte, die die Redundanz der Inszenierungsstrategien mit sich bringt und zu enervierender Frustration, statt zu einer Schockreaktion führt.

Da gab ich schließlich dem zweiten Festivalschwerpunkt „Everytime We Fuck We Win“ den Vorzug. In dieser Programmschiene stand feministische Pornographie am Plan und abgesehen davon, dass ich mir als Mann unter Frauen etwas fehl am Platz vorgekommen bin, musste ich feststellen, dass circa ein paar hundert Filmemacher von Goodyn Green lernen könnten, wie man einen Sexualakt wirkungsvoll in Szene setzt. Damit meine ich gar nicht zwangsläufig, dass die Menschen vor der Kamera nicht schön sein dürfen (ganz im Gegenteil – ich mag schöne Menschen), aber die Alternative dazu ist keineswegs so abstoßend, wie große Filmproduzenten das befürchten. Wie kritisch ich auch dem Begriff eines „female gaze“ gegenüberstehe, in diesen Filmen wird sehr radikal deutlich, wie sehr sich dieser Blick von den eintönigen und eindimensionalen Praktiken der konventionellen Pornographie unterscheidet. Ironisch, dass gerade diese Filme aber den heiligen Gral der Pornoindustrie – Authentizität – vermitteln, der den aalglatten, perfekten Industriefilmen fehlt.

Maidan von Sergei Loznitsa

Maidan von Sergei Loznitsa

Als letzten Gedanken noch eine kurze Notiz zum vielleicht „größten“ (im Sinne von glamourösesten) Film, der am Festival gezeigt wurde – Fatih Akins The Cut. Akin ist es tatsächlich gelungen einen europäischen Film zu machen, der aussieht wie ein amerikanischer und sich dem amerikanischen Markt offenkundig anbiedert, ohne jemals eine reelle Chance zu haben auf diesem Markt tatsächlich zu reüssieren. Die lächerliche Entscheidung seinen Protagonisten englisch sprechen zu lassen und den Film in den Vereinigten Staaten enden zu lassen, ändert nämlich nichts daran, dass The Cut zu lang, zu schwerfällig, zu deprimierend und zu austauschbar ist um jemals gutes Geld zu machen. Das Ergebnis ist ein Hybrid, über den sich Kritiker auf Festivals lustig machen und den Zuschauer mit einem leicht verstörten Achselzucken schnell wieder vergessen werden. Was ein gewichtiges Statement zum türkischen Völkermord an der armenischen Minderheit hätte werden können, verkommt zu einem von Zufall und Willkür geprägten Roadmovie, das nicht einmal als Rachedrama taugt, sondern nur merklich bemüht daran ist die Fördertöpfe möglichst vieler unterschiedlicher Länder anzuzapfen.

Das this human world gibt einen Ausblick auf eine Welt, in der niemand wegen seiner Sexualität, seiner Ethnizität oder ähnlichem ausgeschlossen und unterdrückt wird. Die Auswahl der gezeigten Filme macht diese Weltsicht mehr als deutlich, was einerseits, von einem politischen Standpunkt aus, zu begrüßen ist, andererseits zu einer Flut an mittelmäßigen Filmen führt, die zu sehr damit beschäftigt sind ihre Meinung möglichst eindeutig hinauszuposaunen, als die vermittelte Weltsicht in der Form zu spiegeln. Denn die beste politische Kunst ist jene, in der Inhalt und Form untrennbar und ununterscheidbar sind, wo Weltsicht und künstlerische Vision sich gegenseitig bedingen.