De Sica-Retro: I Bambini Ci Guardano

Das große Problem in Vittorio De Sicas I Bambini Ci Guardano ist jenes der Erzählperspektive. Und dieses Problem ist ein Doppeltes. Ganz oberflächlich betrachtet gliedert sich der Film in jene Geschichten ein, die ein Problem der Erwachsenenwelt aus Sicht von Kindern schildern. Dabei gibt es ganz grob zwei dominante Erzählmodelle in der Filmgeschichte. Der eine Strang ist jener, dem François Truffaut in seinem Les 400 Coups folgt und den man mit einem Coming-of-Age-Charakterporträt des Kindes vor dem Unverständnis einer Erwachsenenwelt beschreiben könnte. Der andere ist jener, der aus Sicht eines Kindes die Welt der Erwachsenen schildert wie etwa im Frühwerk von Hou Hsiao-Hsien oder in zahlreichen Disney- und Steven-Spielberg-Produktionen. Es gibt also die Möglichkeit auf das Kind in der Erwachsenwelt zu blicken oder auf die Erwachsenenwelt mit den Augen eines Kindes. In I Bambini Ci Guardano macht De Sica gewissermaßen beides und nichts davon. Der Film handelt von Pricò, einem kleinen Jungen, der erleben muss, wie seine Mutter ihn und seinen Vater verlässt und wie sein Vater ihn daraufhin in ein Internat schickt, um sich umzubringen. In emotionalen und melodramatischen Wachrüttlern wird der kleine Junge dabei mehrmals von seiner Mutter alleine gelassen, um dieser am Ende in einem dieser abgründigen neorealistischen Schlussbilder die kalte Schulter zu zeigen.

De Sica The Children are watching us

Nun wird der Junge bei De Sica, wie auch seine Quasi-Verwandten in Ladri di biciclette und Sciuscià nicht wirklich als eine individuelle Person gezeigt im Film. Vielmehr steht das runde, makellose Gesicht für das Klischee eines Kindes, für eine normierte Vorstellung aller Reaktionen, Blicke und Emotionen eines Jungen im Angesicht seiner zerbrechenden Familie. Natürlich kann es auf dieser Erde nicht mehrere Jungdarsteller mit dem Namen Jean-Pierre Léaud geben, aber aus den Kindern bei De Sica lässt sich nur schwer etwas anderes als eine intellektuelle Idee filtern. Bei De Sica ist das Kind ein Heiliger. Das wäre an sich kein Problem, wenn der Film dann konsequent die Perspektive dieses Kindes einnehmen würde. Aber auch damit geht De Sica äußerst locker um und so gibt es zum einen mehrere Szenen, in denen die Erwachsenen ohne den Jungen zu sehen sind und zum anderen hat man nie das Gefühl einer Unverständlichkeit oder einer verzerrten Wahrnehmung wie dies beispielsweise in Hous A Summer at Grandpa’s oder gar Spielbergs Empire of the Sun geschieht. Die Folge dieser fehlenden Konsequenz ist Belanglosigkeit. Denn so erzählt sich eine Geschichte, deren Moralkeule und melodramatische Intentionen man in jeder Sekunde spürt. Das ist insbesondere deshalb schade, da der Ehekonflikt durchaus einige schockierende und tiefgehende Augenblicke bereithält. Sowohl die Mutter als auch der Vater sind äußerst komplexe Figuren, deren Motivationen zwischen Leidenschaft und Trott durchaus bemerkenswert sind und nicht so viel mit der faschistischen Sentimentalität zu tun haben wie behauptet wird.

I Bambini Ci Guardano stellt in vielerlei Hinsicht auch den Beginn der großen Kollaboration von Cesare Zavattini und Vittorio de Sica dar. Viele der Themen, die beide in ihrem gemeinsamen Schaffen angehen sollten, sind hier schon da: Die Machtlosigkeit eines Weglaufens, die Opfer von Ungerechtigkeiten am Rand der Geschichte und das überspitzte Porträtieren einer gehobenen Klasse, das sich vor allem in einigen herausragenden Szenen am Badestrand zeigt. Musikalisch begleitet wird der Film wie oft bei de Sica von einem kaum auszuhaltenden melodramatischen Gedudel, das auch einen der stärksten Momente des Films entkräftet. Als Pricò aus dem gemeinsamen Urlaub mit seiner Mutter davonläuft, nachdem er diese mit ihrem Liebhaber am Strand erwischt hat, sitzt er seinem Vater gegenüber. Der Vater möchte die Wahrheit erfahren, aber Pricò kann seine Mutter nicht verraten. In einer gewaltvollen Schuss-Gegenschuss Montage landet de Sica schließlich in zwei extremen Nahaufnahmen der Augen der Darsteller und in diesem Bild findet sich eine Wahrheit, die niemand aussprechen muss. Es ist ein Erkennen zwischen Vater und Sohn. Es braucht keine Worte mehr, und De Sica macht diesen Augenblick zu einem filmischen Spektakel. Solche Momente gibt es immer wieder im Film und vor allem die kleinen Details am Rand der Geschichte verraten eine kritische Haltung gegenüber dem zeitgenössischen Italien, die zu einem festen Bestandteil jener als Neorealismus in die Geschichte eingegangen Bewegung wurde.