Woche der Kritik 2019: Unfruchtbare Bilderverpflanzungen

Sophia Antipolis von Virgil Vernier

Woche der Kritik – Mittwoch, der 13. Februar 2019

Bei meinem vierten Besuch bei der Woche der Kritik 2019 ist meine Aufregung groß: Sophia Antipolis, der neue Film des jungen französischen Filmemachers Virgil Vernier, feiert seine deutsche Premiere. Verniers jüngste Werke hatten mich vor ein paar Jahren besonders begeistert: Orléans aus dem Jahr 2012, die gelungene, faszinierende Erkundung einer Provinzstadt, mit einer berührenden Wiederbelebung der Figur Jeanne d‘Arcs; und dann zwei Jahre später der erste ACID-Beitrag des Regisseurs Mercuriales, ein längerer Spielfilm, am Pariser Stadtrand verortet. Eine Art Patchwork von Figuren und Geschichten, in deren Mittelpunkt zwei junge Mädchen mit Migrationshintergrund stehen, die wie muntere und zugleich melancholische Schiffbrüchige auf den leeren Straßen der in den 70er Jahren entstandenen „ville nouvelle“ wanderten.

Als Einleitung wird ein Kurzfilm gezeigt: The Ambassador‘s Wife von Theresa Traoré Dahlberg. Eine Art Fake-Interview mit der Frau des französischen Botschafters in Burkina Faso. Auch wenn das Konzept an sich nicht uninteressant scheint, erweist sich der Film nach wenigen Sekunden als langweiliger Videoclip, der zwischen Nahaufnahmen der Protagonistin iin ihrem Wohnzimmer und einfallslos kadrierten Aufnahmen draußen wechselt, während man sie von ihrem Leben erzählen hört. Die Absicht dahinter ist immer allzu deutlich: die Regisseurin nimmt sich vor, die Langeweile ihrer Anti-Heldin zum Ausdruck zu bringen und versucht dabei eine fragwürdige Parallele zum Kolonialismus zu ziehen, indem sie schwarze Angestellte, Bauarbeiter und dergleichen zeigt, die ebenso wie die Protagonistin aber nur gesellschaftliche Randfiguren sind. Das, was daran stört, ist weniger die übereilte Gleichstellung der privilegierten weißen Frau und der schwarzen, „unsichtbaren“ Menschen, sondern, dass die Regisseurin sich an keiner Stelle als geduldig genug erweist, um diesen gesellschaftlich-geopolitischen Zusammenprall räumlich zu inszenieren.

Sophia Antipolis von Virgil Vernier

Sophia Antipolis, der letztes Jahr im Wettbewerb von Locarno lief, ist wie Verniers frühere Werke eine Stadterkundung (Sophia Antipolis ist ein Ort an der Côte d’Azur). Der Film beginnt in einer chirurgischen Klinik, in der ein junges blondes Mädchen und dann ein etwas älteres einen Beratungstermin mit einem Schönheitschirurgen haben. Beide wollen sich einer Brust-OP unterziehen. Der Arzt gibt sich Mühe, den beiden davon abzuraten, stößt dabei jedoch auf Widerstand. So endet eines der beiden Mädchen in der Folgeszene auf dem Operationstisch. Als die Skalpellspitze auf der nackten Haut ansetzt, schneidet Vernier. Alles wird schwarz. Im Kinosaal hört man plötzlich ein Seufzen der Erleichterung.

Woher kommt es, dass diese Einführung mich ganz kalt lässt? Irgendwie habe ich schon nach wenigen Minuten den unangenehmen Eindruck, dass gerade das, was Vernier damit kritisieren möchte, der eigentlichen Gehalt seines Filmes ist. Die übertriebene Falschheit, die fast kindische Sucht nach der künstlichen Schönheit, welche den Einwohnern der Stadt innewohnt, spüre ich nicht, weil seine Inszenierung viel zu eindeutig und sich bezüglich ihrer filmischen Lösungen zugleich allzu unsicher ist. Denn an keinem Moment empfinde ich, was auf der Leinwand geschieht, als glaubwürdig. Die Fragmentierung und die Ellipsen im Film sind allzu beliebig. Es ist eine Kunst, das Leere, das Lückenhafte in einen Film hineinfließen zu lassen. Virgil Vernier gelingt es hier nicht die erzählerische Kraft dieser Leere zu nutzen. Ob in der oben beschriebenen Eingangsszene, in der er im Moment höchster Spannung schneidet, oder im Großen betrachtet bei der groben Strukturierung seines FIlms: Vernier springt von ein Figur zur anderen, von einer Geschichte zur anderen und vor allem – was am anstrengendsten ist – von einer Einstellung zur anderen, ohne dass er je in einer der Szenen Spannung erzeugt,  sie in ihrer vollen Länge zulässt. Der Schnitt fühlt sich daher besonders locker und schwach an, was sich schnell auf die erzählerische Ebene auswirkt. Die Auflösung der Geschichte ist darüber hinaus völlig enttäuschend: der Regisseur hat augenscheinlich versucht, einen Kreis zu schließen, seine mythologische Schleife letztendlich prosaischer erscheinen zu lassen.

Sophia Antipolis von Virgil Vernier

Es ist manchmal schwer festzustellen, warum ein Film nicht gut funktioniert, insbesondere wenn es sich um einen Filmemacher oder eine Filmemacherin handelt, den oder die man bisher besonders geschätzt hat. Letztes Jahr auf der Berlinale war ich beim ersten Mal von Christian Petzolds Transit enttäuscht. Ich hatte ein komisches Gefühl der Unzufriedenheit, als böte der Film mehr an als er in Wirklichkeit liefern konnte. Beim zweiten Mal bin ich mir jedoch darüber bewusst geworden, dass das Problem in mir selbst lag: Ich hatte das, was ich mir vom Film wünschte, mit dem, was er war, verwechselst und ihm unbewusst vorgeworfen, dass er meinen Wünschen als Zuschauer nicht entsprochen hätte.

Im Fall von Sophia Antipolis ist es dennoch vollkommen anders: der Film leidet offenbar darunter, dass er zu viel auf einmal erzählen möchte, dass er zu vielen Figuren folgt, ohne sie je lebendig erscheinen zu lassen: eine vietnamesische Witwe, eine verzweifelte Mutter, deren Tochter von einem Tag auf den anderen verschwunden ist, eine Gruppe von Neo-Faschisten, schwarze Sicherheitsangestellten, Polizisten, die einen Mordfall untersuchen, ein junges Mädchen namens Sophia. Der Ort wird auch nie wirklich erkundet. Man versteht wohl, dass Vernier eine Art geographische Verwirrung erzeugen möchte. Das war ihm in seinen früheren Werken immer gelungen, weil diese Verwirrungssucht ihn nicht davon abhielt, um eine dokumentarische Konkretheit zu kreisen.

Diese Diagnose lässt sich sehr gut anhand einer Stelle – würde man hier von einer „Szene“ sprechen, würde man zu weit gehen – im letzten Teil des Films beschreiben. Ein nächtliches Familientreffen in einem Haus in einem Vorort der Stadt. Ein dunkelhäutiger Ex-Häftling, etwa Mitte Dreißig, sitzt mit seiner Frau, ihrer kleinen Tochter und seinem jüngeren Bruder, der einen Kuchen mitgebracht hat, am Wohnzimmertisch. In der nächsten Einstellung, nach dem Kuchenessen, sitzt der Bruder am Rand des Bettes seiner Nichte. Er ist zunächst ganz schweigsam, aus dem Off hört man, wie ihn die Mutter dazu auffordert dem Mädchen eine Geschichte zu erzählen. Der junge Mann überlegt, stottert ein paar Sekunden ratlos und fragt schließlich: „Kennst du die Geschichte der drei kleinen Schweinchen?“ „Ja, die habe ich schon tausend Mal gehört“, erwidert die Nichte.

Genau darin liegt Virgil Verniers Versagen in diesem neuen Werk: seine Absicht als Filmemacher ist in fast jedem Moment viel zu offensichtlich. Er möchte eine Geschichte, ein Gleichnis unserer in alle Richtungen tobenden Gegenwart erzählen, deren Verwirrung er zugleich ständig betonen möchte. Doch er greift immer wieder vor, lässt weder seinen Charakteren noch dem Zuschauer die Zeit, sich mit dieser Verwirrung auseinanderzusetzen. So erlebt man nichts am eigenen Leib.