Heimsuchungen

Es folgt ein idealistischer Text, den einige wenige Personen womöglich verstehen können. Für alle anderen sei gesagt, dass es sich hierbei nicht um eine Fantasie handelt.

Wenn das Kino ein Haus wäre, wüssten wir nicht wie wir hinkämen. Wir wären schon da. Es ginge eine Treppe hinab wie in Céline et Julie vont en bateau von Jacques Rivette und dort irgendwo wäre es. Die Türen wären verschlossen. Man hätte das Gefühl: Hier war mal irgendwas, irgendwer. Man würde wissen wollen, was hinter der Tür ist. Man würde klopfen, durch Fenster spähen, um das Haus herumgehen. Man würde Dinge aus dem Haus hören. Irgendwann würde man merken, dass man gleichzeitig bereits im Haus sein würde. Man würde nach draußen blicken, den Wein riechen, die Wespen hören. Man würde alles sehen, ergriffen sein. Man würde es an der Tür klopfen hören und niemals würde man sich öffnen. Nichts davon würde im Konjunktiv geschehen. 

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Es hat mich immer begeistert wie sich in Céline et Julie vont en bateau, El espíritu de la colmena von Victor Erice und Visita ou Memórias e Confissões von Manoel de Oliveira drei ganz ähnliche, von Wein umgarnte Häuser als Ideen des Kinos manifestieren. Bei Rivette ist es eine rauschhafte Fantasie, nie greifbar, irgendwie riesengroß und winzig zugleich. Es gibt dieses Haus im Film, in dem plötzlich ein anderer Film abläuft. Das Kinohaus hat etwas Geheimnisvolles, deshalb liebt Rivette das Kino und das Kino liebt Rivette. Man schluckt Pillen und ist dort und wenn man rauskommt und sich nicht mehr erinnern kann, hat man Pillen im Mund, kleine bunte Pillen. Trotzdem sind die Türen verschlossen, sie öffnen sich plötzlich und unheimlich. Dieses Haus wird aufgesucht, man fragt danach, es steht irgendwie da. Es ist eine unbegreifliche Sache dieses Haus, immerzu lachen Céline und Julie, wenn sie weinen und sie weinen, wenn sie lachen. Es erinnert an Por primera vez von Octavio Cortázar, diese erste Begegnung mit dem Kino, diese Neugier auf etwas, das vielleicht eine Party ist, vielleicht ein Tanz. Die weit aufgerissenen, furchterregten Augen von Kindern, die Schreie am Anfang von Sombre von Philippe Grandrieux, Kinderschreie schrecklicher Angst, die nie genug bekommen können. Weit aufgerissen wie jene von Ana Torrent im Kino und dann zuhause in ihrem Haus in El espíritu de la colmena. In diesen Sekunden, in denen man die Augen nicht schließen kann, obwohl man will, altert man. In diesen Sekunden existiert Zeit. Man denkt an Ten Minutes Older von Herz Frank, ein Film in diesem Haus. Man will zurückkehren, man will immer wieder heimkehren in dieses Haus. Man ist nie wirklich dort.

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Bei Rivette erinnert die Szenerie im Inneren des Hauses mehr an Fernsehen als an Kino. Allerdings ist das eine sehr oberflächliche Betrachtung, die am Szenenbild, am Gestus des Gezeigten hängenbleibt. Vielmehr versteht man nie, was dort wirklich vor sich geht, es gibt ein in diese Oberflächlichkeit eingebautes Rätsel, das sich zum einen durch das Prinzip der Wiederholung entfaltet und zum anderen in kleinen Merkwürdigkeiten wie den tödlichen Blumen, die zu Bildern werden, die nichts und alles bedeuten wie so oft bei Rivette, Bilder, die zugleich in diesem Haus sind und sehr weit davon entfernt. Rivette ist ein Mann der Häuser, die das Kino sind. Labyrinthische Spiegeldecken wie in L’Amour par terre, große Türen und Rahmen ins Licht wie in La belle noiseuse, versteckte Schatten verbergen Gemälde und Schlüssel wie in La bande des quatre, es gibt immer etwas, was wir noch nicht gesehen haben, immer etwas tieferes, was durch den unerbittlichen Motor und Hauch der Zeit verdrängt und hervorgekehrt wird. Bei Rivette werden keine Geheimnisse freigelegt, sie befreien sich viel mehr und werden zu Bewohnern seiner Häuser, die man Filme nennt. Außerdem generiert sich für Céline und Julie in diesem Haus ein Zusammensein, ein Kinoerlebnis, denn es ist auch ein Ausgeliefertsein. Sie sitzen lachend zusammen und beginnen irgendwann gemeinsam in dieses Haus zu gehen, egal ob tatsächlich oder imaginär, gemeinsam die Pillen zu schlucken. Dann verschwinden sie und sind im Haus. Zwar gibt es eine Sequenz, in der klar wird, dass auch ein Ausstieg möglich ist, aber letztlich treibt es die beiden immer weiter in die Tiefe durch die Oberflächen hindurch. Das Kinohaus ist ein Haus der Wiederkehr, der Heimsuchung.

Das zeigt auch Manoel de Oliveira in seinem Visita ou Memórias e Confissões, in dem zwei fast unsichtbare Besucher nach dem Filmemacher in seinem Haus suchen. Das Kinohaus muss ein Geisterort sein, denn die Bilder kommen aus der Vergangenheit, sind aber in der Gegenwart. Bei Rivette, de Oliveira und Erice gibt es das Motiv der Heimsuchung in diesen Kinohäusern. In einem Wechselspiel aus Vertrautheit und Fremdheit oder eher der Dringlichkeit, in der Vertrautheit in Fremdheit umschlägt und Fremdheit und Vertrautheit, öffnen sich die Fenster und ermöglichen eine Heimsuchung des Kinos. Es ist das, was einen in Erwartung versetzt. Zum Beispiel das vom Wind geöffnete Fenster. Sie sind ein Fremdgeist in der Vertrautheit und wir spüren sie nie so stark wie im Kino. Doch es ist eben nicht nur Angst, die sich darin entflammt, sondern auch Begehren, ja Sucht. So kehrt das junge Mädchen in El espíritu de la colmena an den Ort zurück, an dem sie ihre tote Schwester auf dem Boden liegend vermutet. Doch die Schwester, die ihr nur einen Streich spielt, ist nicht tot. Sie lauert mit einem riesigen Handschuh hinter ihr. Das erstaunliche: Das junge Mädchen scheint fast darauf zu warten, auf den Schrecken, der nur einmal im Film wirklich ausbricht, und zwar als die beiden Geschwister nach dem Kino heimkehren. Sie schreien, als würde Frankensteins Monster, das sie gerade im Kinohaus gesehen haben sie verfolgen. Man flieht nicht vor dem Kinohaus. Man flieht nur vor der Erinnerung daran. Im Kinohaus gibt es keine Flucht, es gibt nur Träume und Albträume, in die man immer wieder zurückfällt. Das hat Chantal Akerman in ihrem letzten Film, No Home Movie gezeigt. In einer Nacht erwacht die Filmemacherin und/oder die Kamera nach einem Traum und geht durch die Wohnung, es ist eine Art Nachbild des Traumes, denn dieser Gang wird zum Albtraum für den Betrachter, ein geteilter Albtraum in einem Haus, in dem das Vertraute plötzlich fremd wirkt.

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Stellt man eine Kamera in ein Haus, ist es eine Fiktion. Es gibt Auf- und Abtritte wie bei Ernst Lubitsch oder in Cristi Puius Sieranevada. Es gibt eine Intimität, eine räumlich bedingte Nähe. In einem Haus spielt man immer Theater. Rivette hat das Theater in L’Amour par terre auch deshalb in ein Haus gelegt. Das heißt nicht, dass ein Haus etwas repräsentiert, dass in einem Haus etwas repräsentiert werden muss. Ein Haus kann auch einfach nur sein. Aber die Kamera in diesem Haus setzt die Personen und Objekte im Haus in eine Relation zum Haus. Der Reichtum von De Oliveira, die Bourgeoise-Geheimnisse bei Rivette, Reichtum und Spärlichkeit bei Erice. Alles ist immer ein Spiel wie jenes zunächst unschuldige Spiel der Mädchen bei Erice, der Freundinnen bei Rivette, der geisterhaften Besucher bei De Oliveira. Ein Spiel, das sich fragt: Gehe ich noch einen Schritt weiter in die Fiktion, vielleicht in den Keller, vielleicht in den Dachboden? Wie könnte man eine Kamera in ein Haus setzen ohne Fiktion? Jedes Zimmer ist eine neue Geschichte, ein neuer Blick, eine neue Möglichkeit. Jede Tür, jede Schublade, jeder Vorhang verbirgt ein Geheimnis. Jede Distanz wird zu einer Nähe im Haus.

Es findet in den drei Filmen von Rivette, Erice und De Oliveira immer auch ein Dialog zwischen Häusern statt. Die Reise vom einen Haus ins andere, die Heimkehr und Wiederkehr vermischen. Denn man lernt die Räume auch kennen, sieht sie mehrfach, die Fenster, die Türen, die Wege. Die Häuser erlauben den Filmemachern zeitliche Aspekte des Kinos räumlich zu fassen. Sei es durch das Licht, das durch die Fenster kommt oder etwa das, was vor dem Fenster passiert, während man hinter ihm ist und hinter dem Fenster, während man vor ihm ist wie in Jean Renoirs La chienne. Ein Film wie das Fenster im Kinohaus. Sei es durch Blicke durch die Fenster- und Türrahmen. Fenster, die Blicke bedeuten und das Stillstehen von Zeit, das Nichts einer Gleichzeitigkeit wie etwa bei Sharunas Bartas in Coridorius oder hinaus ins ferne, einsame Ungewisse wie bei John Ford. Diese Häuser bewegen sich. Man denke an das hysterische Licht von der Straße, das im Haus von Jeanne Dielman wie der sichtbare Ausdruck einer in sich verborgenen Gefühlswelt durch die Zeit arbeitet, die immer gleiche Zeit in diesen immer gleichen Zimmern. Das haben diese Kinohäuser alle gemeinsam. Diese Wiederholungen, die sie immer wieder in die gleiche Form bringen wollen und sollen. Ein architektonisches Verständnis für das Drama eines Hauses. Joanna Hogg hat diesen inneren Dialog der filmischen Sprache in ihrem Exhibition auf die Spitze getrieben. Dort zeigt sich nicht nur wie eindrücklich Häuser das Doppelverhältnis von Sehen und Gesehen-Werden in sich tragen können, sondern auch welche Heftigkeit von einer Veränderung des Kinohauses ausgeht. Die Spuren in Häusern, wenn man so will. Man denkt an Hitchcocks Rebecca, ein großer Film der Heimsuchung in der ein Verbrechen in der Vorstellung eines Hauses weiterlebt. In einer Szene projiziert der Mann einen Film in diesem Haus und das flackernde Licht lässt das Haus im Kino verschwinden, macht Haus und Kino zu einer Sache. Auch in Dillinger è morto von Marco Ferreri gibt es dieses Auflösen von Kinobildern im Heim, das immer auch ein heimliches Begehren, Bedauern in der Auflösung bedeutet. In El espíritu de la colmena gibt es am verlassenen Haus auf dem Feld einmal tatsächlich eine Spur. Ein Fußabdruck, der das junge Mädchen an Frankensteins Monster erinnert. Warum bringt einen das so aus der Fassung? Es ist im Kino angelegt, dieses Spannungsverhältnis zwischen Gewohnheit und Überraschung. Zwischen der Erwarteten, dem Erwartbaren, dem was man erwartet nicht zu erwarten und dem was mich nicht erwartet zu erwarten. Am Anfang ist da ein Vorhang, eine Tür. Wir klopfen oder klingeln. Jemand wird öffnen oder nicht. Wir treten ein oder schleichen herum. Wir nehmen Teil oder beobachten. Wir werden angesehen oder nicht. Wir verstecken uns oder ziehen uns aus. Wir halten alles für möglich und nichts für wahrscheinlich.

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Schließlich gibt Rivette am Ende von Céline et Julie vont en bateau dem Kinohaus genau jene Umkehr, die die wahre Heimsuchung bedeutet: Das Haus ist auch außerhalb des Hauses. Die Bewohner des merkwürdigen Schauspiels dort existieren in der Welt, die wir für außerhalb des Hauses hielten. Wie die Angstschreie vor Frankenstein. Man könnte es etwas platt als Imagination beschreiben, um die es in diesen Häusern und entfernt von ihnen geht. In Wahrheit ist es aber eine Wahrnehmung, eine Lebensweise. Das Kinohaus ist keine Sache, die man wirklich betreten oder verlassen kann. Man trägt es in Augen und Ohren. Die ganze Welt ist entweder ein Kinohaus oder nicht. Das Kino sucht ständig alle Orte heim, macht sie zu einem Heim des Kinos. In El espíritu de la colmena zeigt sich das ganz besonders deutlich. Dort kann jedes Haus zum Kino werden, der Film beginnt auch mit einem Wanderkino. Das Kino kommt in die Häuser, sucht die Häuser heim.

Heute keine Projektion: Von Sternberg/Angels

A Childhood Memory

„Eine der Damen, die Abstecher in meine Straße unternahmen, hieß Suleika, die fliegende Jungfrau. Ich weiß nicht, wie sie zu diesem Namen kam. Sie war Ungarin, keine Türkin, außerdem blond, hatte keine sichtbaren Flügel, und niemand wusste, wie es ihr gelang, ihre Jungfräulichkeit zu bewahren.“ (Josef von Sternberg)

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Only Prostitutes Have Wings

Lilja 4 ever

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Sleeps with Angels

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Los Angeles

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I heard an Angel singing

When the day was springing,

‚Mercy, Pity, Peace

Is the world’s release.‘

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Die Sehnsuchtsmaschine – Die Distanz des brachialen Fühlkinos

In meinen Nächten denke ich oft an deine Tage, dein Licht. Die Hysterie und den Druck, der bei dir fließt. Die Schreie, der Speichel, die Gedärme. Die Direktheit, die etwas fühlen will: Philippe Grandrieux, Andrzej Żuławski, die Haut bei Claire Denis, die Musik bei Leos Carax, der Gestus von Gaspar Noé. Das Problem: Oft fühle ich keine Sensualität, wenn jemand sie mit dem Holzhammer in mein Gesicht schleudern will. Aber Antonin Artaud verschluckt die grausame Sonne.

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Normal beschäftige ich mich sehr viel mit Fragen der Ethik und Distanz im Kino, ich interessiere mich für die Dinge, die man nicht sehen kann, die Dinge, die verloren scheinen und die Moral der Kamera, die ein Bewusstsein verlangt, die weiß, dass eine Totale keine Totale und eine Nahaufnahme gefährlich ist. Hier liegt für mich eine Sinnlichkeit. Das sind logische Fragen, wenn man das Kino in seiner Zeit begreift und begreifen will, wenn man so möchte, modernistische Fragen. Einfach zu sagen: Was mir gerade richtig erscheint, ist richtig oder was sich gut anfühlt, ist gut, ist letztlich nur die fatale Bequemlichkeit einer Überforderung im zeitgenössischen Kino, die nicht mehr weiß, was sie gut finden soll und die deshalb aus unfassbar durchschaubaren Statements besteht. Das Lieblingswort in diesem Kontext: Meisterwerk. Die Lieblingskamerabewegung: Kranfahrt. Das ist alles kaum glaubhaft. Nein, ein Film sollte eine Position zur Welt und eine Position zum Kino vermitteln, fühlbar machen, selbst wenn diese Position ist, dass man keine Position haben kann. Auch wenn sich diese Position durch eine Kranfahrt vermittelt. In der Regel fühle ich mich eher zu jenen Filmemachern hingezogen, die sich der Krise ihrer Bilder bewusst sind. Ich halte sie für ehrlicher, konsequenter. Man kann zum Beispiel nicht einfach ein Bild zweier trauernder Menschen fotografieren. Das geht nicht. Darin steckt schon so viel und darin steckt auch immer eine Lüge. Die Direktheit dieser Emotionen scheint nur mehr eine Wiederholung. Nun geht es nicht darum, wie ich es immer wieder lesen muss zu meiner Verwunderung, dass man etwas gänzlich Neues schafft. Es geht aber doch um eine Fortsetzung, etwas muss dem Bekannten hinzugefügt werden. Alain Badiou hat in diesem Zusammenhang ein Erbe der Nahaufnahme, das von Griffith über Dreyer zu Bresson reicht, vorgeschlagen. Godard hat dem noch etwas hinzugefügt, in dem er das Gesicht verdoppelt hat, der sich bewusste Zuseher ist ein Spiegel, Anna Karinas Tränen glitzern im Licht der Projektion. Es gibt in der Folge Filmemacher, die das weitergeführt haben. Abbas Kiarostami, dessen Spiegel schon wieder ein Spiegel ist und Bruno Dumont, der zurück zu Dreyer ging und statt der Entleerung des Spirituellen dessen Deformation vorgeschlagen hat. Es gibt ein paar Nahaufnahmen in den letzten Jahren. Es gibt jene von Vanda in No quarto da Vanda, die entrückt, erhöht und in der Zeit verzögert wird von Costa. Das ist ein Schock, wie wenn Gene Tierney in Lubitschs Heaven Can Wait reinläuft in einem lila Kleid (und ich mag kein lila). Ein Schnitt von Costa, der schockt, weil er Angst zu haben scheint, vor der Nahaufnahme. Wer überlegt sich sonst, wann man eine Nahaufnahme machen darf?

Possession

Oftmals stoße ich in solchen Gedankengängen an eine Grenze. Was kann man eigentlich noch filmen? Was gibt es noch zu filmen? Auch: Was gibt es, was ich genuin mit der filmischen Sprache besser einfangen kann, als mit den scheinbar zeitgenössischeren Sprachen? Was gilt für dich? Die Aktualität des Kinos ist zu oft das Gestern, es sind die Nächte von gestern, von denen wir träumen. Dieses Gestern muss aber ein Teil des Heute sein, ein Teil des Morgen. Allerhand abstrake und nebulöse Formulierung, die auf das Problem der Ungreifbarkeit dieses Problems hinweisen, denn wo würde man beginnen? Es geht hier um eine andere Form der Distanz, die ich in dieser einleitend angesprochenen Nähe vermute. Wenn das Kino fragen daran stellen muss, was und wie man noch filmen kann, dann ist dieses Hinabsteigen in das Blut, die Fasern, die reine Präsenz des Körperlichen eine logische Antwort. Es drückt genau wie die Langsamkeit und die Sorgfalt des Bildes ein Begehren aus, dass sich aus dem Vakuum einer gesellschaftlichen (Bild)-Politik ernährt. Das Kino als Antwort, als Lösung auf ein Fehlen im Alltag. Wenn alles zu schnell passiert, kann das Kino es festhalten, entschleunigen. Wenn alle Bilder in einem einzigen schlampigen Rausch vorbeihuschen, kann das Kino die Konstruktion, den Blick, die Poesie des einzelnen Bilds würdigen. Und wenn man nichts mehr fühlt auf all den glatten Oberflächen, kann das Kino eine Erfahrung von  Körperlichkeit bieten. Kann es? Es gab immer auch schon die gegenteilige Ansicht, vertreten von den klügsten Menschen ihrer jeweiligen Länder: Das Kino als Ausdruck oder Spiegel der Erfahrung des Alltags. Ich fand diese Ansicht zwar nachvollziehbar im Kontext der Industrialisierung, aber dennoch ignorant, da sie das Begehren verschluckt. Das Kino ist die Nacht, die schöner ist als dein Tag.

La vie nouvelle

Überlegungen zur Distanz hängen an mehreren Faktoren. Da wäre zum einen die moralische Frage. Eine Nahaufnahme, das hätte man auch schon vor Jacques Rivette wissen können, trägt in sich das Potenzial zur Obszönität. Sie kann Entblößen, sie kann vergewaltigen, sie kann sich an etwas freuen, wo sie eigentlich leiden müsste. Das gilt für alle Einstellungen, die Nahaufnahme ist nur die expressivste. Als Filmemacher zu behaupten, dass man – wie zum Beispiel Grandrieux in Sombre – in die Erfahrungswelt eines Mörders eindringen kann mit der Kamera, ist gefährlich. Es ist aber zugleich utopisch im Sinn eines vergessenen Wollens von Jean Epstein. Die Kamera wird dann zu etwas anderem, man hat sie haptisch genannt. Die Distanz scheint zu verschwinden und in diesem Verschwinden sammeln sich die Tränen eines unerreichbaren Begehrens, das wiederum an die Distanz erinnert. Schrecklich ist es dagegen und aus ethischen Gründen nicht duldbar, wenn das Überwinden der Distanz zum Gimmick wird. So verhält es sich im gefeierten Saul fia von László Nemes. Dieser Film ist ein Affront gegen die Moral des Kinos und es ist ein derart durchdachter Angriff, dass einem ganz übel wird vor lauter Haltlosigkeit. Die Überwindung der Distanz erzählt oder vermittelt hier genau was? Es ist eine Behauptung, die sich hinstellt und sagt: So hat sich das angefühlt, angehört in einem Konzentrationslager. Eine solche Behauptung ohne Zweifel abzugeben, ist ziemlich lächerlich. In Verbindung mit einer zutiefst allegorischen Geschichte wird der Stil dann tatsächlich zum Gimmick, denn am Ende geht es hier nicht um die Erfahrung, sondern um die Moral. Man könnte sagen, dass die Idee des Films ist, dass gerade aus dieser Erfahrung die Wichtigkeit einer solchen Moral entsteht, dann würde man aber übersehen, dass sowohl die Erfahrung als auch die Moral im hohen Grade fiktional sind in diesem Film, es also einen Rückschluss von Lüge zu Lüge gibt, der sich als Wahrheit ausgibt. Das ist natürlich in Ordnung für ein unterhaltsames Kino, aber ist es in Ordnung für einen Film über ein Konzentrationslager?

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Ein weiterer Faktor der Distanz ist die Effektivität und Notwendigkeit. Chaplin ist und bleibt das Überbeispiel für einen Filmemacher, bei dem die Kamera immer richtig zu stehen scheint. Es geht dabei nicht unbedingt um eine erzählerische Effektivität, sondern auch um jene des Blicks, des Lichts der Nacht. David Bordwell hat diesbezüglich sehr viel über Hou Hsiao-hsien nachgedacht, bei dem die Distanz einen anderen Blick ermöglicht und kombiniert mit Licht, Ton, Bewegungen der Figuren und Kamera eine eigene Form filmischen Erzählens offenbart, die eben nur aus dieser Entfernung oder sagen wir: nur aus einer Entfernung möglich ist. Damit zeigt sich auch, dass Distanz nicht nur an der Notwendigkeit hängt, sondern auch am Potenzial. Viktor Kossakovsky ist ein Filmemacher, der sich in seinen Arbeiten immer langsam nähert, der immer aus einer Distanz beginnt. Es geht dabei nicht nur um einen Respekt vor den Menschen, die er da filmt, sondern auch darum, dass erstens in einer Totale mehr Spielraum für Bewegung herrscht und die Totale auch immer die Möglichkeit des Näherns in sich trägt. dasselbe gilt natürlich andersherum, doch scheint mir das Potenzial des Näherns zärtlicher, als jenes einsame Potenzial des Entfernens, das dennoch oder deshalb einen berührenden Effekt haben kann. Hou hat einmal gesagt, dass er sich selbst in dieser Distanz spürbar machen kann. Pasolini hat darüber geschrieben. Das spannende jedoch, so scheint mir, passiert immer dann, wenn diese Distanz entweder wie im Fall von Michelangelo Antonioni oder des jungen Jean-Luc Godards die Weltwahrnehmung der Figuren spiegelt oder eben, wie im Fall des späteren Godards, Costas oder Straub&Huillets die Problematik der Objektivität, der Ethik zu einem Teil der Effektivität macht. Was aber, wenn ein Filmemacher diese Übersicht, die auch ein Gewissen ist, über Bord wirft. Der diese Woche verstorbene Zulawski ist ein Beispiel für den Versuch dieser Überwindung zwischen Körperlichkeit, Handkamera-Nähe, Blicken in die Kamera und Schreien die das Mikrofon überrumpeln. Doch ganz ähnlich wie bei Hou scheint er dadurch auch eine erzählerische Distanz zu gewinnen. Es ist der Auftritt von Paranoia statt Nostalgie, der Glaube an Liebe/Lust statt Gleichgültigkeit/Entfremdung. Auch Zulawski ist auf der Suche nach einem Versprechen und einem Begehren: Das Leiden auf Film greifbar machen statt nur zu beobachten wie es nicht greifbar ist, sich auflöst, sich ausbreitet. Damit entstehen die Bewegung von Distanz und großer Nähe aus demselben Verlangen. In beiden liegt die Sinnlichkeit einer anderen Wahrnehmung und so beginnen sich die Entfremdung und die Lust zu vermischen. Ein Filmemacher, der nahezu in Perfektion im Zwischenspiel aus Immersion und Distanz arbeitet, ist Apichatpong Weerasethakul. In seinen jüngeren Werken fühlt man sich zunächst oft aus kühler Entfernung beobachtend bis man in einen Sog fällt, der jenen der Figuren spiegelt. Ganz ähnlich verhält es sich mit Il deserto rosso von Michelangelo Antonioni.

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Einer der offensichtlichen Folgen dieses Gefühls des Verschwindens mit dem unbedingten Wunsch des Spürens, der sich nicht sicher ist, ob er die Sache selbst oder ihr Sterben spüren will (das gilt gewissermaßen schon immer und seit seinem Tod besonders für das Kino) oder kann, ist Dekadenz. Der genuine Filmemacher unserer Zeit und legitimer Nachfolger von Luchino Visconti diesbezüglich ist Bertrand Bonello. Das liegt nicht nur daran, dass seine Stoffe wie in L’Apollonide – Souvenirs de la maison close oder Saint Laurent ganz offensichtlich mit Dekadenz gefüllt (oder sollte man sagen: entleert) sind. Bei ihm ist es schwer, zwischen Distanz und Eintauchen zu unterscheiden. In einer beeindruckenden Montagesequenz in seinem Saint Laurent, in der in einem Splitscreen die jeweiligen Kollektionen von Saint Laurent mit gleichzeitigen politischen Ereignissen und Katastrophen explosiv kombiniert werden, verbindet er eine politisch motivierte Kritik mit der musikalisch provozierten völlige Hingabe in diese Schönheit und Ignoranz. Es gibt Autoren, die über das Kino schreiben, die ganz ähnlich arbeiten. Sie versuchen das Empfinden in Worten auszudrücken (völlig hilflos, natürlich) und zugleich eine kritische Distanz zu wahren. Ich gehöre wohl auch dazu. Man könnte eine Frage an das Kino stellen, die da lautet: Wie sieht ein Kino denn ohne Distanz aus? Die Antwort wäre wohl: Das ist kein Kino. Dennoch ist ein andauernder Aufschrei nach einem naiven Fühlkino zu vernehmen. Es ist ein bisschen paradox, schließlich fühlt man auch oder gerade aus der Distanz. Soll man die Leinwand einreißen? Manchmal habe ich den Eindruck, dass in dieser Forderung, diesem Verlangen eher das Absterben der eigenen Gefühle im Kino betrauert wird. Doch je weiter man in Filme eintaucht, desto mehr droht man sich emotional von ihnen zu entfernen. Das Gegenteil ist eine Behauptung.

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Ein dritter Faktor der Distanz ist jene Bild-Qualität des Kinos, die dazu führt, dass Godard basierend auf prägenden Überlegungen Jerry Lewis mit einem großen Maler vergleicht. Der Film als Bastard-Kunst behauptet in der Distanz oft seine Nähe zu Malerei (in der Nähe jene zur Musik?) und zu dem, was viele als Essenz bezeichnet haben, die Fähigkeit zur Aufnahme/Beobachtung von bewegter Realität. Distanz fühlt sich neutraler an. Letztlich ist sie aber nur neutraler, wenn sie sich als Distanz offenbart. Ein gutes Beispiel dafür sind Oberflächen. Seien es Türen, von denen Costa gerne spricht, Seidenvorhänge bei Hou, der Off-Screen bei Renoir oder Puiu, die Sprachlosigkeit beim frühen Bartas, die Unschärfe bei Ceylan oder hunderte andere Beispiele…hier werden Filter vor unseren Blick geschoben, die uns die Distanz, die Perspektive als solche bewusst machen. Hier findet sich vielleicht auch ein Problem des meist gefeierten Michael Haneke. Denn die Sprache des kühlen Riegels, der sich vor die Emotion spannt, ist prinzipiell eine, die in dieser Tradition der Distanz steht, nur gewinnen die oben genannten Filmemacher aus ihrer Distanz und aus diesem Riegel eine neue Zärtlichkeit, jene der Oberflächen, die dann wiederum eine Verwandschaft aufweist zur extremen Nähe, zum Fühlen der Oberflächen etwa bei Claire Denis, in deren Kino Haut knistert wie ein brennender Baum. Bei Haneke ist eine Tür eine Tür. Das ist natürlich keineswegs negativ, aber manchmal scheint es, als würde die Tür wirklich nur im Weg stehen während sie etwa bei Costa selbst eine Bedeutung hat. Und in diesem Sinn ist die Tür eben bei Costa eine individuelle Tür, während sie bei Haneke nur die Idee einer Tür repräsentiert. In Costas Fall ist die Kamera ein Sensor, der alles sieht, selbst wenn er nicht kann, bei Haneke ist sie ein Sensor, der limitiert ist, obwohl er alles sieht. Costa gewinnt aus der Limitierung, aus der Krise eine Poesie (man vergleiche damit auch den Dialog über die Schatten und Geschichten an den Wänden in Juventude em Marcha, in dem Ventura und eine Tochter sich über die neugestrichenen Wände in den neuen Wohnungen beschweren, weil diese keinen Platz mehr lassen für die Illusion) während Haneke – und das macht einen Teil seiner Attraktivität aus – darin eine Verneinung, eine Desillusion findet. In diesem Sinn ist die Distanz von Costa nichts anderes als die Nähe von Denis. Es sind individuelle Perspektiven, die etwas objektives sichtbar machen. Jean Epstein hat an den Blick der Kamera selbst geglaubt. Könnte man dahin zurück?

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Ein brachiales Fühlkino, was soll das eigentlich sein? Man denkt schnell an aufgesprungene Grenzen, Farbexplosionen, eine Bedingungslosigkeit, die sich weder technischen, noch kommerziellen, noch filmtheoretischen Überlegungen beugt. Man denkt an eine Entfesselung des Blicks, der sich nicht mehr an das Prinzip der Natur klebt, sondern durch die kinematographischen Räume flirrt, schwirrt und geistert, unbeeindruckt voller Eindrücke, der Unsichtbares komplett sichtbar macht und Sichtbares frisst. Schnell ist man in der Avantgarde bei Filmemachern wie Paul Sharits. Dieses Kino ist ein Traum, der sich am ehesten in der Distanz zwischen seiner Illusion und diesen Gefühlen offenbart, er wird also realistisch, wenn man sich auf die Distanz selbst fokussiert. Denn wenn man eines bei den großen Filmemachern des (zeitgenössischen) Kinos beobachten kann, ist es ihre Fähigkeit das „Dazwischen“ zu filmen. Zwischenzustände zwischen Leben und Sterben, zwischen Dokument und Fiktion, Gegenwart und Vergangenheit, Stillstand und Bewegung, Flüstern und Schreien, Zeit und Zeitlosigkeit, Nostalgie und Hoffnung, Wut und Ohnmacht, Liebe und Müdigkeit, Verbitterung und Enthusiasmus, das Außen und Innen. Wie filmt man den Tonfall von Flaubert? Wie filmt man einen Trinkspruch von Orson Welles („Here is to character!“)? Wie filmt man, das man nichts mehr filmen kann? Ein Gefühl, dass das Kino nicht mehr notwendig ist. Man fühlt entweder die Geschichte und/oder das, was sich vor der Kamera abspielt oder die Kamera selbst, am besten beides zugleich, weil es nicht unabhängig voneinander existieren kann. Man fühlt den Gedanken, sei er politisch, moralisch oder dramaturgisch einer Einstellung und denkt das Gefühl einer Träne, die die Hauptdarstellerin weint und die von der Kamera tropfen muss.

Noirot

Doch die Kamera kann auch gleichgültig sein. Wenn bei Moses und Aaron von Straub/Huillet die eiternde Leprahand im Bild ist, spürt man gerade in der Gleichgültigkeit eine Sinnlichkeit. Bruno Dumont hat diese Gleichgültigkeit immer weiter gesteigert bis er selbst/selbst er den Humor darin gefunden hat. Das Fühlen einer Gefühlsabwesenheit. Das Ausdrücken dessen, was man nicht ausdrücken kann. Das Kino bleibt eine Sehnsuchtsmaschine. Relativ, weil sie zwischen den Bildern agiert, absolut, weil sie in den Bilder dazwischen existiert, maschinell, weil sie technisch hergestellt wird, eine Sucht, weil sie immer wieder sehen muss, immer wieder verlangt, Verlangen sichtbar macht. Das brachiale Fühlkino gibt es nicht. Es ist das notwendige Potenzial des Kinos. Ohne die Idee eines „Mehr“, ohne die Idee eines „Anders“ gibt es keine Kinokultur. Das große Problem des Kinos ist dann, dass heute dieses „Mehr“ und „Anders“ oft in eine Vergangenheit rückt beziehungsweise in ein für den normalen Kinogänger unsichtbares Kino. So transformiert sich diese Distanz in eine Frustration, die mit dem Slogan „Das Kino ist tot.“ schon seit Jahrzehnten ihren philosophischen Schlusspunkt erlebt hat. In dieser Ohnmacht herrschen subjektive Wahrheiten, weil alles andere fatal wäre, es herrscht ein Krieg der Anerkennung, eine Profilierungssucht von Menschen, die allesamt ums Überleben rennen und dabei so tun als würden sie lieben. Manchmal weiß man nicht, ob Filmemacher wirklich an ihr Kino glauben und Kritiker wirklich an ihre Meinung. Sie schreien: „Das Kino lebt!“, und präsentieren ihre filmische oder intellektuelle Sicht auf Dinge mit einem Minimum an Zweifeln, die sie ja durch Recherche, Arroganz, Notwendigkeiten ignorieren können. Sie spielen eine Rolle und offenbaren dadurch, dass das Kino nicht fühlt oder blickt, sondern nur spielt. Es ist normal und schrecklich. Das brachiale Fühlkino gibt es nicht. Es ist Pornografie. Nicht des Blicks, sondern der Macher und Schauenden.

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Am Ende spricht das Kino trotz aller gegenteiligen und tröstenden Versuche nur zu einem selbst. Das Irreale wird in solchen Momenten für einen Augenblick real.Dann gehen wir ans Set und bereiten eine Nahaufnahme vor. Was wird man sehen? Darf man noch etwas sehen? Der Versuch ist ein Verbrechen. Man muss sich bewusst machen, dass eine Nahaufnahme entweder ein Verbrechen ist oder ein Liebesakt. Bernardo Bertolucci hat einmal über seine erste Begegnung mit Pier Paolo Pasolini erzählt. Er war im Haus seiner Familie und jemand hat geklingelt. Vor der Tür stand ein junger Mann, der wie ein Arbeiter an einem Sonntag gekleidet war. Der Mann sagte, dass er gerne den Vater sehen würde. Etwas an seinem Blick, hat Bertolucci glauben lassen, dass dieser Mann ein Dieb sei, der geklingelt hatte in der Hoffnung, dass niemand dort sei und der dann eingebrochen wäre. Bertolucci ging zu seinem Vater und sagt ihm, dass ein komischer junger Mann vor der Tür stand. Der Vater sagte ihm, dass das ein großer Poet sei.