Viennale 2018: Alice T. von Radu Muntean

Alice T. von Radu Muntean

Es gibt filmaffine Kreise in denen werden osteuropäische Filme, die auf den großen Filmfestivals laufen, pauschal als Studien des Elends abgetan. Besonders die Arbeiten jener Filmemacher, die noch vor einigen Jahren unter dem Begriff „Romanian New Wave“ zusammengefasst wurden, werden von diesen Kreisen gerne als Beispiel herangezogen, wenn es darum geht, sich darüber zu echauffieren, dass diese Filmemacher nur mit den etablierten Vorurteilen des westlichen Publikums über die postkommunistischen Länder spielen würden, um ihre Filme zu verkaufen.

Diese Haltung war mir immer schon suspekt. Zum einen zeugt sie von galoppierender Unwissenheit auf Seiten dieser Kritiker und oftmals auch davon, dass sie wenig Anstrengung unternommen haben, sich ein fundiertes Urteil über die doch sehr verschiedenen rumänischen Filmemacher zu machen, die es in den letzten zwanzig Jahren zu Bekanntheit gebracht haben. Zum anderen zeugt sie von Arroganz. Weil Westeuropäer sich anmaßen, aus der Ferne besser Bescheid zu wissen, wie ein Film über Rumänien zu machen sei, als die rumänischen Filmemacher, die den Großteil ihres Lebens dort verbracht haben und weil sie zudem nicht zu verstehen wollen, dass nicht alle Künstler ihre seichte Auffassung teilen, dass Filme (und Kunstwerke generell) in letzter Konsequenz doch immer irgendwie unterhalten oder zumindest auf einer positiven Note enden sollten.

Das ist eine etwas lange Einleitung für einen Film, der gar nichts dafür kann, dass ich just an diese Kreise denken musste, als ich ihn sah. Wer mit vorgefasster Meinung in Alice T. von Radu Muntean geht, kann nämlich getrost nach zwanzig Minuten den Kinosaal wieder verlassen und stolz sein Urteil als gefestigt verstanden wissen. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt liegen die Karten nämlich auf dem Tisch: Die namensgebende Protagonistin des Films, Alice Tarpan, eine 16-jährige Schülerin, ist schwanger. In der Schule läuft es auch nicht wirklich. Als ihre Mutter von ihrer Situation erfährt, kommt es zu einem tränenreichen Streit. Ihrer Mutter sagt Alice, sie möchte das Kind behalten. Konflikt und Tragik sind vorprogrammiert, dass sich korrupte Ärzte oder Beamte einschalten, scheint offensichtlich, wenn man nach der Logik der Ablehner geht.

Alice T. von Radu Muntean

An dieser Stelle des Films denken sie sich vielleicht, dass sie getrost den Kinosaal verlassen können. Und verpassen so einen Film, dessen Komplexität sie vielleicht überrascht hätte. Denn hinter dem Rücken der Mutter sorgt Alice selbst dafür, dass es nicht zur Geburt kommt. Die Zeiten von 4 luni, 3 săptămâni și 2 zile sind vorbei. Entsprechende Pillen kann man ganz leicht am Smartphone bestellen. Einen Nachmittag Schule schwänzen, wenn deren Wirkung einsetzt, und die Sache ist erledigt. Die Schwangerschaft und ihr Abbruch verkommen zur Nebensache, als kleines Ärgernis, dass Alice zunächst nichts anzuhaben scheint. Ist die Schwangerschaft von Alice ein etwas bizarrer MacGuffin? Sollte man es bei Alice T. wie bei Psycho machen, aber anstatt nach Vorstellungsbeginn niemanden mehr reinzulassen, stattdessen niemanden mehr rauszulassen, sobald der Film begonnen hat?

Es ist schon etwas seltsam, wenn nicht sogar bestürzend, mit welcher Ignoranz Muntean hier auf den ersten Blick über das Abtreibungsthema drüberfegt. Ein kritischer Geist mag sogar geneigt sein, die feministische Keule zu schwingen: Was erlaubt sich dieser Mann, ein so intimes Thema, das den weiblichen Körper betrifft, auf diese Weise zu behandeln? Man hat Zeit solche Gedanken zu entwickeln, während man das gut situierte Mittelschichtsleben der Figuren vorbeiplätschern sieht. Vielleicht ist es auch doch einfach ein Familiendrama mit einem rebellierenden Teenager, wie man es schon so oft gesehen hat. Oder auch nicht: Denn Alice ist adoptiert, ihre Eltern sind geschieden. Der Vater führt ein Lotterleben als Beachboy an der Küste, wo er einen Kitesurf-Verleih besitzt. Die Mutter hat einen jüngeren Freund, mit dem Alice nicht so richtig kann. Dazu kommen Schulprobleme und in der Liebe könnte es auch in geregelteren Bahnen laufen.

Alice T. von Radu Muntean

Langsam aber stetig – und während man von der ganzen Abtreibungsgeschichte noch zu abgelenkt ist, um groß auf Hintergründe zu achten – webt Muntean ein komplexes Familien- und Beziehungsbild. Alices Adoption hatte damit zu tun, dass ihre Mutter trotz jahrelanger Versuche nicht schwanger werden konnte. Schlechtere Filme würden hier beginnen zu psychologisieren: Ist Alices Abtreibung Rache an der Mutter, die ihr den ungeliebten Ersatzvater ins Haus geholt hat? Alice T. ist kein solcher Film. Er beschränkt sich auf die Abbildung von Alltäglichkeit. Stinknormaler Alltäglichkeit einer Mittelschichts-Patchworkfamilie, die vielleicht etwas ungewöhnlich in ihrer Zusammensetzung ist, aber in ihrem Verhalten und ihrem täglichen Leben kaum aus der Reihe fällt.

Der große Knacks kommt am Ende: Alice besucht mit ihrer Mutter die Frauenärztin für die nächste Routineuntersuchung. Die Ärztin beginnt mit der Ultraschall-Untersuchung, doch am Bildschirm ist nichts zu sehen. Sie braucht nur wenige Sekunden um Eins und Eins zusammenzuzählen und bittet die Mutter nach draußen zum Gespräch. Alice bleibt alleine im Behandlungszimmer zurück. Sie weint bitterlich. Munteans komplexes Beziehungsgewölbe ist mit einem Mal auf sie eingestürzt. Es ist nicht mit letzter Sicherheit zu beantworten, was Alice Kummer bereitet. Wie im echten Leben, ist es wahrscheinlich eine ganze Reihe von Gründen. Der Film endet jedenfalls in Tränen. Sie werden jedoch aus anderen Gründen vergossen, als es die Vorurteile erwarten lassen.

Die Kinomomente des Jahres 2015

Es war ein Jahr des Fließens, in dem man sich an das Vergessen erinnerte. Daher ist mein kleiner Rückblick dieses Jahr nicht nach den Filmen geordnet, sondern nach verschiedenen Phänomenen, Emotionen oder Symptomen des Filmjahres, die in sich die Geschichte einer wiederkehrenden Liebe und Angst erzählen.

Die Berührung

No No Sleep

2015 war ein Jahr für das Potenzial einer Liebe im Kino. Es lebte von den Möglichkeiten, sich doch einmal zu berühren, zu küssen, wenn nicht in der Realität, so doch in einem Traum, in einem abwesenden Moment oder in einem anderen Körper. Eine der großen Szenen der Berührung findet sich in No No Sleep von Tsai Ming-liang. Lee Kang-sheng liegt in einer heißen Wanne mit einem anderen Mann. Es ist ein Moment, bei dem man nicht weiß, ob es eine Berührung gibt oder nicht. Eine Hand greift unter Wasser nach einer anderen Hand. Ist es eine Illusion, eine Sehnsucht, passiert es wirklich? In Cemetery of Splendour von Apichatpong Weerasethakul gibt es die Faszination der Berührung von Schlafenden. Wie alles im Film bewegt sich diese Lust in einer Dazwischenheit von Ekel und Verführung sowie Spiel und Tod. Mit einer Berührung übertritt man die Schwelle, sie ist wie eine Erinnerung an die Gegenwart. Es sind die leichten Berührungen wie in Carol von Todd Haynes oder L‘ombre des femmes von Philippe Garrel, kaum sichtbare Berührungen wie in Samuray-S von Rául Perrone oder die zerfetzenden Berührungen wie in The Exquisite Corpus von Peter Tscherkassky (der nicht nur die Körper berührt, sondern gleich den Filmkörper), die letztlich ein Fieber auslösen. Die Berührungen haben uns weniger gerührt als zerstört.

Der Kuss

Carol

Und dann stürzt man sich hinein. Arnaud Desplechin hat in seinem Trois souvenirs de ma jeunesse etwas vollbracht, was mutig ist: Der Filmkuss. Ganz klassisch, magisch. Das Verschmelzen zweier Menschen, das Symbol, das Klischee, das Kino, ja. Es war Godard – ausgerechnet er – der gefordert hat, dass das Kino wieder zurück zu einer solchen Leichtigkeit muss. Desplechin, der manchmal zu Unrecht mit Rohmer verglichen wurde, hat gezeigt, dass er genau das kann, denn wo bei Rohmer ein Kuss nicht einfach nur ein Kuss sein will, da kann er bei Desplechin ein Kuss sein. Es ist die Lust daran, die Hingabe.  Eine ähnlich mutige und kräftige Einfachheit gibt es am Ende von Carol. Lange habe ich kein derart kompromissloses und keinesfalls aufgesetztes Happy End gesehen. Einen ganz anderen Kuss gibt es im zweiten Teil von Hong Sang-soos Right Now, Wrong Then. Hier geht es um die Unbeholfenheit, die Schüchternheit. Es ist ein Kuss auf die Wange mit dem Versprechen, dass es das nächste Mal die Lippen werden. In diesem Versprechen taucht wieder das Potenzial einer Liebe auf, einer anderen Zeit. Es muss ein neues Treffen geben, einen neuen Versuch, einen zweiten Kuss. Aber gibt es den?

Die Krankheit

Les dos rouge2

Schließlich verlässt die Protagonisten des Kinos 2015 die Kraft. Sie brechen zusammen im Rauch einer geheimen Schwangerschaft wie in The Assassin von Hou Hsiao-hsien oder sie entdecken einen mysteriösen roten Punkt auf ihrem Rücken wie Bertrand Bonello in Les dos rouge von Antoine Barraud. Die Körper versagen und mit ihnen verschwimmt die Seele, das Selbstvertrauen. Das beständige Husten im tödlichen Ascheregen von La tierra y la sombra von César Augusto Acevedo ist Inbegriff dieses Dahinsiechens, das gleichermaßen jegliches Potenzial der Liebe erstickt, als auch genau diese wieder von Neuem ermöglicht, wenn das was man liebt nicht die Kraft, sondern die Schwäche des Partners, des Vaters oder des Fremden ist. Außer Chantal Akerman in No Home Movie hat kaum ein Filmemacher Krankheiten offen thematisiert. Vielmehr waren es unerklärliche, fast magische Elemente, gar nicht so verschieden von einer Berührung oder einem Kuss. Darin liegt auch ein letztes Aufbäumen des Spirituellen im westlichen Kino, das die Krankheit als (surrealistische) Erscheinung inszeniert, als ein Geheimnis und Tabu, das ganz vorsichtig umflogen wird mit Gefühlen einer wundervollen Dekadenz wie bei Barraud oder der Schönheit, die den Tod bringt wie bei Acevedo. Im Kino, vermag die Direktheit genauso zu treffen wie ihre innere Zensur, die Angst.

Die Angst

No Home Movie

Im Dunkel einer plötzlichen Nacht irrt die Kamera von Akerman in No Home Movie durch das Haus ihrer Mutter. Sie rettet sich hinaus auf den Balkon, wild atmend und dann verschwindet sie im Bad, wo Wasser die Badewanne flutet. Es ist dies eine absolut einzigartige Szene, denn Akerman filmt das Aufwachen aus einem Albtraum hier wie einen Albtraum. Man kennt solche Tricks von Filmemachern, wenn man glaubt, dass die unheimliche Traumsequenz vorbei ist und sie dann doch weitergeht. Aber darum geht es bei Akerman nicht, weil es keine Illusion eines Friedens gibt, es gibt keinen Unterschied zwischen dem Aufwachen und Schlafen, zwischen den obskuren Schatten Innen und Außen, es bleibt ein Horror, eine Angst.

Das Unvermögen

One floor below

Ein erster Versuch, aus dieser Angst zu entkommen, ertränkt sich im eigenen Unvermögen. Wieder hat vor allem das rumänische Kino einige unvergessliche Momente des Unvermögens gefunden. Da wäre ein Wünschelroutenexperte in Corneliu Porumboius Comoara und ein verzweifelter, zögernder, lügender, ängstlicher Protagonist in Radu Munteans Un etaj mai jos. Dort filmt Muntean seinen Protagonisten ähnlich wie Renoir Michel Simon filmte, wie ein Raubtier. Teodor Corban liefert eine Darstellung ab, die neben  jener von Jung Jae-young in Right Now, Wrong Then sicherlich zu den besten schauspielerischen Leistungen des Jahres gehört. Beide fabrizieren ein Unvermögen, indem sie alles dafür tun, dieses zu verstecken, sodass es für den Zuseher sicht- und fühlbar wird. Dieses Schauspiel existiert in der Wahrheit einer Lüge oder besser: im Spiel mit der Identität, die sich dadurch offenbart, dass man sich selbst nicht wahrhaben will, verstecken will und sogar erneuern darf wie im Fall von Jung Jae-young, der zweimal dasselbe anders leben darf und doch vor uns der gleiche bleibt. Als dritte schauspielerische Verunsicherung sei hier noch Jenjira Pongpas in Cemetery of Splendour genannt, deren Unvermögen sich in den weit aufgerissenen Augen einer identitätslosen Sehnsucht äußert. Was in diesem Unvermögen, das aus Angst entsteht, noch bleibt, ist das Blicken, das Beobachten. Johan Lurf hat zwei spannende Blicke gezeigt, die politische Strukturen hinterfragen. In Embargo und Capital Cuba ist ein Blick auch immer zugleich das Angeblick-Werden. Die Machtlosigkeit und Penetration dieser Blicke, es ist das Kino selbst, das sich dahinter verbirgt, verunsichert, immer nur ein Potenzial.

Die Flucht

Kaili-Blues

Und was einem bleibt, ist die Flucht. Es ist nicht nur so, dass der Mainstream 2015 eine enorme Lust an Verfolgungsjagden entfesselt hat, die in Mad Max: Fury Road ihren nackten Gipfel erreichte, sondern auch der Filmemacher selbst floh in Person von Miguel Gomes aus seinem ersten Teil von As Mil e uma Noites. Und doch führen diese eskapistischen Ausbrüche in leere Versprechen. Der Weg führt zurück. Von der Illusion in die Realität und von der Realität in die Illusion. Ein flirrendes Wechselspiel zwischen dem Aktuellen und dem Vergangenen hat sich 2015 in den Kinos entfaltet. Es sind die unterschiedlichen zeitlichen Schichten in Cemetery of Splendour, die nostalgische Vergangenheit der Zukunft in Star Wars: The Force Awakens von J.J. Abrams, die Landschaften Chinas, die heute genau so aussehen, wie vor über 1000 Jahren in The Assassin,das beständige Echo in Aus einem nahen Land von Manfred Neuwirth, japanische Stummfilme entstanden mit digitalen Technologien im Haus eines Argentiniers in Samuray-S oder Jean Renoir, der als Synthese einer dialektischen Gefangenschaft aus einem Aquarium ausbricht in Jean-Marie Straubs L‘aquarium et la nation. Die Flucht geht nach vorne zurück, zurück in die Zukunft und vorne ist es mehr hinten als jetzt. Das Ende von Bi Gans hypnotischen Kailil Blues lässt die Zeit dann tatsächlich rückwärts laufen. Die Flucht zurück, der Neuanfang, die Nostalgie und die Erkenntnis, dass man nirgends wirklich hinfliehen kann. Es ist dies das Kino einer Identitätskrise. Ihr perfektes Bild findet diese Krise im Schlussbild von Jia Zhang-kes ansonsten über weite Strecken enttäuschenden Mountains May Depart: Im Schnee tanzt die großartige Zhao Tao zur unerfüllten und schrecklichen „Go West“ Hoffnung einer Vergangenheit. Eine Welt, die sich geöffnet hat, um wieder davon zu träumen, träumen zu dürfen, dass man sich öffnet. Aber man ist schon offen und diese Zukunft war auch nur Geschichte. Vor was flieht man?

Die Verschwundenen

IEC Long

Es ist klar, dass man in diesem Nebel aus Flucht, Angst, Berührung und Sehnsucht verschwinden wird, wie die Berggipfel hinter den Wolken in The Assassin. Vielleicht verschwindet man in einen Wald wie in The Lobster von Giorgos Lanthimos oder man versteckt sich einfach mitten im Bild wie einer dieser Flüchtenden im Mise-en-Scène Spektakel Aferim! von Radu Jude. Das Filmmaterial löst sich auf, die Asche bedeckt die Repräsentation, ein Hund verschwindet in der Magie von Sayombhu Mukdeepromein, ein Ozean überflutet all unsere Existenzen wie in Storm Children, Book One von Lav Diaz. Es bleibt Treibgut, kleine Reste wie in Things von Ben Rivers oder IEC Long von João Pedro Rodrigues und João Rui Guerra da Mata, mehr scheint nicht mehr möglich, wenn man von der Gegenwart erzählen will. Entweder die Fragmente dieser Identitästlosigkeit oder das Bedauern über ihren Verlust wie auf dem Gesicht von Stanislas Merhar in L‘ombre des femmes, der zeigt, wie man sich selbst belügt, um zu lieben. Hilflos irren auch die starken Figuren in Happy Hour von Hamaguchi Ryusuke durch die Welt nachdem eine ihrer Freundinnen körperlich und auch bezüglich ihrer Identität verschwunden ist. Selbst die Heldinnen Hollywoods verschwinden wie Emily Blunt in Sicario von Dennis Villeneuve. Es ist das Verschwinden in einer Machtlosigkeit und wir verdanken es den großen Filmemachern unserer Zeit wie Akerman, Garrel, Rodrigues&Guerra da Mata, Diaz, de Oliveira oder Weerasethakul, dass sich in diesem Verschwinden eine Sinnlichkeit greifen lässt. Der Sinn und die Sinnlichkeit des Verschwindens. Viel brutaler verschwindet die Bedeutung des Bildes und des Kinos in 88:88 von Isiah Medina. Hier verschwindet alles in der Flut der Bilder, die Montage regiert, aber sie steht nicht mehr im Dienst der Bilder, die sie verbindet, sondern sie wird zum einzigen Zweck eines Zappings und Clickings, das unsere Wahrnehmung in Zeiten dieser Identitätskrise bestimmt. Eine Schwerelosigkeit setzt ein, sie fühlt sich nur sehr schwer an.

Die Wiederkehr

Cemetery of Splendour2

Der einzige Film, der aus dieser Reise der Angst zurückkehrt, der Film, der gleich Phönix tatsächlich wiederkehrt, ist Visita ou Memórias e Confissões von Manoel de Oliveira. Verschlossen, um nach dem Tod sichtbar zu werden, ist dieser Film eine wirkliche Offenbarung, in der sich der Stil eines Mannes als seine Seele entpuppt. Er zeigt, dass Berührung im Kino immer im Wechselspiel aus Wahrnehmung und Selbst-Wahrnehmung entsteht. Die Distanz, sei sie zeitlich, räumlich oder emotional und die Umarmung, Zärtlichkeit, das Treiben in und jenseits einer Zeit und Zeitlichkeit. Dann schließen wir die Augen und fallen in eine Rolltreppen-Hypnose der Schlafkrankheit und vor uns kann nicht nur die Vergangenheit vergegenwärtigt werden, sondern auch die Gegenwart in ihrer Vergänglichkeit greifbar werden. Das Kino 2015 bemüht sich nicht mehr so stark darum, die Zeit festzuhalten, als wieder, wie in frühen Tagen des Kinos, die Flüchtigkeit von Erfahrungen spürbar zu machen und sie dadurch in unser Bewusstsein zu rücken. Die Erinnerung in den Filmen des Jahres ist keine feststehende Größe, sie ist selbst wie die Oberfläche eines unruhigen Wassers, in dem wir manchmal etwas erkennen können und manchmal verschwinden. In Visita ou Memórias e Confissões verschwinden die beiden Besucher in der Dunkelheit. Wir wissen nicht, ob sie von Gestern sind und das Heute besucht haben oder ob sie von Heute sind und das Gestern besucht haben. Dasselbe gilt für die Filme des Jahres 2015.