Il Cinema Ritrovato 2017: Niedzielne igraszki von Robert Gliński

Niedzielne igraszki von Robert Gliński

Niedzielne igraszki von Robert Gliński endet mit einem Freeze Frame. Die Kamera filmt aus dem Innenhof eines städtischen Wohnhauses hinaus auf die Straße, wo ein großes Plakat von Josef Stalin angebracht ist. Wir schreiben das Jahr 1953, Stalin ist soeben gestorben, das Wohnhaus steht in Warschau und ist noch immer vom Krieg gezeichnet. Der Film verlässt den Hinterhof nie, nur einzelne Personen, die nach draußen gehen oder von außen kommen, zeugen von der Existenz einer Welt außerhalb.

Am Anfang des Films herrscht Hektik. Die Familien machen sich bereit an diesem Sonntag auszugehen. Die einen gehen in die Kirche, die anderen zum Trauerzug für den sowjetischen Obergenossen. Nur wenige bleiben zurück: einige Kinder, die sich vor den sonntäglichen Verpflichtungen gedrückt haben oder von ihren Eltern nicht mitgenommen wurden, eine verrückte Frau, ein Babykätzchen. Draußen geben sich die Repräsentanten des sozialistischen Polens staatstragend, ein erheblicher Teil ihrer Mitbürger sucht in den verpönten Kirchen, drinnen bilden die Kinder einen eigenen gesellschaftlichen Mikrokosmos. Dieser ist mindestens ebenso von Intrigen, Misstrauen und Verleumdung durchsetzt, wie die Außenwelt – statt eines neuen besseren Menschen, züchtet das pervertierte Terrorsystem kleine Spitzel, Mitläufer und Monster heran.

Brüchiger Sozialrealismus

Ästhetisch bleibt der Film zunächst den sozialrealistischen Parteivorgaben treu: Im Hinterhof lebt die Arbeiterklasse, die nüchterne Schwarzweißfotografie fängt ihren Alltag ein. Der Alltag, das sind an diesem Sonntagvormittag die Spiele der Kinder. Was sind das für Spiele? Man spielt „Statue“, die Kinder nehmen heroische Posen ein und wer sich als Erster bewegt verliert, man tollt im abgesperrten, bombengeschädigten Nebenhof umher, kümmert sich um eine verwaiste Babykatze, man übt sich im Exerzieren. Es herrscht militärischer Befehlston, wie ihn die Kinder aus Jugendorganisationen, Kino und Elternhaus kennen und eine klare Hierarchie. Ganz oben in der pseudo-militärischen Hackordnung steht Józek, ein dicklicher Junge und glühender Sozialist, weit darunter Rychu, Sohn des Hausbesorgers, ganz unten ein namenloses Mädchen, das gar nicht erst an den Spielen teilnehmen darf.

Viel von der Dynamik des Films hängt an diesen drei Figuren. In ihrer kindlichen Parallelwelt ist ihnen ein fester Platz zugewiesen, der zunächst scheinbar mit ihren Familienverhältnissen korrespondiert. Józeks Vater ein Militär, Rychus Vater ein in Ungnade gefallener Widerstandskämpfer, das Mädchen ein nicht zuordenbares Störelement. Nach sozialrealistischem Schema F würde man nun jeder dieser Figuren ein bestimmtes Verhalten zuordnen: gesellschaftliche Position, so sahen das die sozialistischen Granden gerne, hat mit Tugend und Moral zu tun.

Niedzielne igraszki von Robert Gliński

Verkehrte Welt

An dieser Stelle widersetzt sich Niedzielne igraszki dem parteiideologischen Konsens. Rychu erfüllt noch am ehesten seine Rollenvorgaben. Er hat ein gutes Herz, wehrt sich gegen Józeks Alleinherrschaft, aber wenn es hart auf hart kommt, ist er Opportunist genug, um seinen Widerstand aufzugeben und sich unterzuordnen, um nicht gesellschaftlich geächtet zu werden. In letzter Konsequenz fügt er sich dem Gruppendruck und nicht einer höheren Moral, denn der Gruppendruck, und das ist eine weitere Bruchstelle des Films, ist nie ein positiver. Er zeugt nicht von der moralischen Überlegenheit der Gemeinschaft über den Einzelnen, sondern bringt, im Gegenteil, das Schlechte in ihnen zum Vorschein.

Das liegt vor allem am Wortführer dieser Gemeinschaft. Józek zeichnet sich nicht nur durch sozialistischen Eifer aus, sondern vor allem durch autoritären Führungsstil und einen Hang zu martialischer Grausamkeit. Er vereint ein großes Mundwerk, Selbstgefälligkeit und fehlendes Rückgrat – der Film zeichnet ihn als idealtypischen Funktionär. Józek ist es schließlich auch, der Rychu, dem Verlierer des Statuenspiels, befiehlt das Katzenbaby zu erwürgen, um Teil der Spielgemeinschaft zu bleiben. Alle Kinder unterstützen ihn bei dieser Forderung. Rychu weigert sich zunächst, ist aber im Begriff sich der Masse zu beugen, als das namenlose Mädchen die Katze rettet. Eine Hetzjagd beginnt. Nicht die erste im Film, denn schon zuvor hat das Mädchen einige Male korrigierend eingegriffen, als sich der Sadismus der Gruppe entladen hat.

Die Intervention kostet sie schließlich das Leben. Sie wird von den anderen Kindern lebendig begraben. Die Einzige im Gemeinschaftsverbund, die sich nicht der irren Gewaltherrschaft unterordnet wird von den Anderen zum Schweigen gebracht. Ein bitterer Schlusspunkt und eine noch bittere Lektion. Die Allegorie hat ihr Ende gefunden. Eine einstündige Miniatur des sozialistischen Polens und doch schlagfertig genug, um verboten zu werden: Niedzielne igraszki durfte erst 1988, vier Jahre nach seiner Fertigstellung, erstmals gezeigt werden.

Rainer on the Road: Im Land der Bolschewiken

Die seltsamen Abenteuer des Mr. West im Lande der Bolschewiki
  • Ostseeküste, Polen. Mit meinem Leihwagen kämpfe ich Meter für Meter über die ramponierten polnischen Landstraßen. Auf Usedom hat man am Straßenrand Europas größte Schmetterlingsfarm beworben, hier sehe ich Reklame für ein 6D-Kino, später für ein 7D-Kino, ein 8D-Kino. Umso weiter ich mich von der deutschen Grenze entferne, desto erbitterter wird der Kampf der D-Superlative.
  • Kolberg, Ostseeküste, Polen. Das Erdgeschoss meines Hotels beherbergt ein 6D-Museum, am Weg zum Strand passiere ich ein 8D-Kino im Kioskformat. Auf einem Monitor kann man von außen die mutigen Touristen beobachten, die sich ins Innere gewagt haben, um sich der Urgewalt, der bis dato unbekannten Dimensionen auszusetzen.
  • Leba, Ostseeküste, Polen. Auch Dünen sind hier ungleich größer dimensioniert, als man das gewohnt ist. Im Slowinzischen Nationalpark werden sie über vierzig Meter hoch. Zu diesem Anlass habe ich sogar meine Wanderschuhe geschnürt (obwohl ich Wandern hasse). Ich fühle mich ein wenig wie Lawrence von Arabien, als ich durch den weißen, aber kühlen Sand stapfe und stelle mir vor hier einen Wüstenfilm zu drehen. Wo könnte man die Kamera aufstellen, dass kein verräterischer Baum im Bildausschnitt zu sehen ist?

Slowinzischer Nationalpark

  • Wien, Herbst 2012. Im ersten Semester hat man uns an der Universität den Kuleschow-Effekt erklärt. Der Filmemacher und -theoretiker hat, so zumindest die Überlieferung, drei identische Aufnahmen des russischen Schauspielers Iwan Mosjukhin jeweils mit dem Bild eines Tellers Suppe, einer schönen Frau und eines Sargs montiert, woraufhin unbedarfte Betrachter emotionale Reaktionen im Gesicht Mosjukhins priesen und ihn für seine schauspielerischen Fähigkeiten priesen, obwohl das Gesicht sich nicht veränderte. Ob dieses Experiment jemals wirklich in dieser Form stattgefunden hat ist nicht belegt, es steht jedoch exemplarisch für die Kraft der Filmmontage, die die sowjetischen Filmemacher der 20er Jahre zu Höchstleistungen anregte.
  • Zurück in Berlin. Im Arsenal wird Lew Kuleschows Die seltsamen Abenteuer des Mr. West im Lande der Bolschewiki (einer der grandiosen Titel der Filmgeschichte) gezeigt. In einer nicht angekündigten Einführung beschreibt Ulrich Gregor kurz den Kuleschow-Effekt und weist daraufhin, dass Kuleschow vom amerikanischen Kino, vor allem von Mack Sennett, beeinflusst war.
  • Ulrich Gregor hat Recht mit seinem Verweis auf Sennett: die Raufereien und vor allem die Verfolgungsjagden sind virtuos inszeniert. Der Film handelt vom Amerikaner Mr. West, seines Zeichens Vorsitzender der YMCA, der die Sowjetunion besucht, um dort seine Vereinigung bekannt zu machen. Begleitet wird er von seinem Bodyguard Jeddy, einem waschechten Cowboy (oder zumindest so waschecht, wie es das Kostümdepot von Goskino zulässt). Nach einigen Missgeschicken verlieren sich Mr. West und Jeddy aus den Augen, was den panischen Jeddy dazu veranlasst mit einem gestohlenen Pferdeschlitten vor der Polizei zu türmen. Der Cowboy lenkt das Gefährt dabei selbstverständlich im Stehen von der Rückbank, wie er es von den Kutschen daheim gewohnt ist. Kuleschow hat sich nicht nur einiges bei den Meistern des amerikanischen Slapsticks abgeschaut (einige der Stunts würden Keaton stolz machen), sondern nutzt in diesen Szenen auch den culture clash, um zusätzlichen komödiantischen Effekt zu erzielen.
  • Der Cowboy Jeddy wird von Boris Barnet verkörpert, auch Wsewolod Pudowkin ist als Gaunerboss in einer der Hauptrollen zu sehen. Es ist immer wieder interessant zu sehen, wie kleine Gruppen von Pionieren und Freigeistern die Filmkunst vorangetrieben haben, wie regionale Bewegungen internationale Bedeutung erlangt haben (in diesem Zusammenhang ist das Projekt Kino-Atlas von Lukas Foerster und Hannes Brühwiler, das versucht ebensolche Gruppen zu katalogisieren und ins Rampenlicht zu rücken eine Erwähnung wert).
  • Die seltsamen Abenteuer des Mr. West im Lande der Bolschewiki lohnt auch in mehreren anderen Punkten eine nähere Betrachtung. Besonders auffallend ist der verwegene Einsatz von Schriftelementen im Bild, teils wie Untertitel, teils großflächig über den Bildausschnitt gelegt, womit die Anzahl der Zwischentitel reduziert wird. Ich werte diese Experimente als Versuch mehr Kontrolle über den Rhythmus des Films auszuüben. Ebenfalls ungewöhnlich ist Kuleschows Mut zur Hässlichkeit (vor allem angesichts der Tatsache, dass es sich bei dem Film trotz allem um ein Propagandaprodukt handelt) – den Großteil der Laufzeit scheint der Film die Vorurteile der westlichen Welt zu bestätigen –, Häuser, Möbel und Kleidung sind überaus schäbig, womit der prächtige Militäraufmarsch am Ende noch mehr an Gehalt gewinnt. In gewisser Weise durchlebt man als Zuseher die gleichen Eindrücke wie Mr. West im Film. Zuerst findet man sich an einem schrecklichen Ort wieder, der allen abwertenden Übertreibungen der amerikanischen Presse gerecht wird, um dann am Ende umso stärker von der aufstrebenden Dynamik im Land überzeugt zu werden. Das ist ein dialektischer Ansatz, wirkt aber im Unterschied zu so vielen anderen propagandistischen Arbeiten der Epoche nicht zu didaktisch und pathetisch, weil es mit einer stattlichen Menge von Selbstparodie versüßt wird.

Kraków, Kubrick, Wajda

Das Nationalmuseum in Krakau

Im Muzeum Narodowe w Krakowie (Nationalmuseum Krakau) ist zur Zeit eine große Ausstellung zu Stanley Kubrick zu sehen. Glücklicherweise war das Wetter schlecht genug, dass ich meinen Reisepartner davon überzeugen konnte das polnische für den Moment links liegen zu lassen und dieser Ausstellung unsere Zeit zu widmen.

Der Eingang des Nationalmuseums in KrakauDas Museum selbst ist bereits eine Erwähnung wert, denn es handelt es sich dabei um einen riesigen Betonklotz, der verdächtig nach kommunistischer Protzarchitektur aussieht – manch einer würde das als hässlich bezeichnen, ich finde es hat speziellen Nostalgie-Chic – darin finden sich auf drei Stockwerken eine Reihe von verschiedenen Ausstellungen zum Thema Kunst und (Zeit-) Geschichte. So kann man sich nach einem Abstecher zu Kubrick noch der Filmplakatsammlung zu Andrzej Wajda, der Ausstellung zum ersten Weltkrieg oder der Ausstellung von polnischer Kunst des 20. Jahrhunderts einen Besuch abstatten.Stanley Kubrick ist selbst für nicht-filmaffine Menschen ein Name, den man zumindest schon einmal gehört hat (und dass er mit Filmen zu tun hat). Zumindest Menschen, die alt genug sind, dass sie seine Filme noch bei deren Erscheinen miterlebt haben, kennen auch seine größten Erfolge, wie 2001: A Space Odyssey oder The Shining. Kurz, Kubrick (wie zum Beispiel auch Hitchcock) spricht eine breitere Masse als das cinephile Kernpublikum an. Das heißt eine Ausstellung über sein Werk, darf nicht nur Spezial- und Hintergrundwissen vermitteln, sondern muss den Besucher „abholen“. Für mich hieß das, dass ich einige der Panele mit den Lebensdaten und Basisinformationen überspringen konnte (respektive meinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen). Danach offenbarte sich allerdings ein kleines cinephiles Wunderland. Von Killer’s Kiss über A Clockwork Orange hin zu Eyes Wide Shut wurde Kubricks Karriere in Filmen aufgeschlüsselt und jedem ein eigener Bereich gewidmet. Neben Hintergrundinformationen zum Film gibt es dort Dokumentationen, Filmausschnitte, Requisiten, Storyboards, allerlei Skizzen und Setfotos zu sehen. Auf den ersten Blick mag das wenig weltbewegend klingen, aber spätestens wenn man vor der Originalschreibmaschine von Jack Torrance steht überkommt einen die cinephile Wonne. Dieses Prop war mein Lieblingsausstellungsstück – dicht gefolgt von einem (wie ich finde) genialen Plakat zu Eyes Wide Shut und einem Replika-Kostüm von Alex DeLarge aus A Clockwork Orange.

Schreibmaschine aus "The Shining"Alternatives Plakat zu "Eyes Wide Shut"Kostümreplika aus "A Clockwork Orange"Beethoven-Poster aus "A Clockwork Orange"Redrum - "The Shining"

Wie Institutionen wie das Österreichische Filmmuseum immer wieder betonen ist es nicht im Sinne eines Filmmuseums die Materialien und Requisiten eines Films auszustellen, da in einem Kunstmuseum auch nicht Picassos Pinsel ausgestellt sind. Dieser Auffassung kann ich mich zwar im Kern anschließen, allerdings fand ich es sehr erleuchtend und lehrreich eine Ausstellung, wie jene Krakau zu besuchen. Abgesehen vom Schauwert der Originalrequisiten wie der eben erwähnten Schreibmaschine oder den Masken aus Eyes Wide Shut, bekommt man ein besseres Gefühl für die Arbeitsweise eines Stanley Kubrick, wenn man mit seinem randvollen Bücherschrank mit Recherchematerial zu Napoleon (Recherchematerial, dass er tragischerweise nie in sein Napoleon-Projekt umsetzen konnte), oder mit einer vorläufigen Shooting Schedule für The Aryan Papers konfrontiert wird. Natürlich stehen die Filme als Kunstwerke im Zentrum, aber genauso, wie man über Picassos Arbeitsweisen lernen kann, wenn man seine Pinsel studiert (tut man das?), kann man mehr über Kubrick erfahren, wenn man sich seiner Materialien annimmt und Setfotos, Storyboards und Production-Design-Skizzen ansieht. Für Filminteressierte ist das sogar beinahe ein Muss, umso mehr, und hier zeigt sich, dass die Filme im Mittelpunkt stehen, wenn einem Kubricks Oeuvre bereits bekannt ist.

Eine Maske aus Kubricks Neben der großen Kubrick-Ausstellung gab’s im gleichen Museum noch eine andere Ausstellung mit Filmbezug zu sehen: Filmposter zu Andrzej Wajda-Filmen. Diese Poster machten mehr Eindruck auf mich als die Ausstellung Polnischer Kunst des 20. Jahrhunderts nebenan (obwohl ich ein großer Fan der Kunstrichtungen dieses Jahrhunderts bin), ich würde sogar so weit gehen, das Plakat zu „Kanal“ als künstlerisch interessanter zu bezeichnen, als jedes beliebige Werk in der Ausstellung – ein avantgardistisches Meisterwerk.

Darüber hinaus ist es natürlich auch interessant die unterschiedlichen Stile der verschiedenen Länder zu vergleichen – so zeigt sich, dass deutschsprachige Plakate konservativer wirken als zum Beispiel die polnischen und französischen (zumindest in Bezug auf Wajdas Filme).

Plakat zu Andrzej Wajdas Film PS: Meine Handykamera ließ leider keine Fotos Kubrick’scher Qualität zu – ich bitte das zu verzeihen.