Friaulische Kassiber: Das Grab von Pasolini

Cjasarse, Cjasarsa oder Casarsa della Delizia, so lautet der Name des bei Regen ziemlich trostlosen Ortes, an dessen Rand der Dichter und Filmemacher Pasolini begraben liegt. Wir sind dort hingefahren an einem Sonntag. In einer Kneipe haben sich ein paar graugekleidete Gestalten getroffen, Atalanta gegen Juventus lief auf den Bildschirmen. Wir haben durch die Fenster geschaut und nur Männer gesehen. Du hast nichts gesagt, ich auch nicht. Vielleicht haben wir an die Fußballliebe Pasolinis gedacht. Ein paar Zitate von ihm standen an der Außenfassade der Spelunke, du hast sie nicht übersetzt.

Der Friedhof liegt am Ortsrand. Auf dem Parkplatz bildete sich eine riesige Pfütze. Es regnete ohne Unterlass. Wo sich die Alpen erheben sollten, war nur grauer Dunst. Wo sich die Landschaft zur Bucht von Grado öffnen sollte, war nichts zu sehen. Der Regen macht alles gleich, die Richtungen werden abgeschafft. Ich weiß nicht, ob dieser Niederschlag den in den Feldern wachsenden Weinreben bekommt oder nicht. Ich kenne mich nicht aus mit Wein. Wir sind auf den Friedhof gegangen. Es war niemand dort. Wir haben gedacht, dass wir das Grab schnell werden finden können. Schließlich ist Pasolini ein berühmter Intellektueller und aus Wien sind wir Opulenz in Fragen der betuchten Verwesung gewohnt. Ich habe dich beobachtet. Du bist leise geworden, ich glaube, du hast mehr Ehrfurcht vor den Toten als ich.

Der Friedhof von Cjasarse ist nicht ungewöhnlich für diese Gegend, in der Pasolini viel Zeit verbrachte, vielleicht seine glücklichsten Tage verlebte. Eine viereckige, mauerumrandete Grundform, kiesweiße Wege, symmetrisch aneinandergereihte Gräber, in der Mitte ein asphaltierter Trauerplatz, dann nach links und rechts verlaufende Mauern aus anderen, glätteren Steinen. An jeder Nische ein Name und Plastikblumen. In der Friedhofsmauer ein paar größere Gräber, Familien und Ehrenbürger. Bei den Mauernischen konnten wir uns kurz unter einem Dach vor dem Regen verstecken. Wir blickten um uns. Wo sollte das Grab sein?

Als mein Blick über die provinzielle Symmetrie wanderte, diese mit künstlichen Pflanzen und Marmor erheuchelte, katholische Erhabenheit, erinnerte ich ein Gedicht von Pasolini, das ich einmal gelesen hatte. Darin beschreibt er, wie er sich auf einen Grabstein setzt und masturbiert. Mir hat dieses Gedicht viel gegeben in der Jugend. So genau weiß ich nicht weshalb. Bei diesem Dichter trifft mich oft zuerst die Geste, die Polemik. Das wollte er wahrscheinlich so. Ich höre seine Worte dann gar nicht mehr, vergesse seine Bilder. Mir bleibt, dass er sich getraut hat. Er hat die ungeschriebenen Gesetze ausgehebelt, laut denen wir bestimmte Dinge nicht sagen, damit wir es zusammen aushalten. So wollte ich auch sein. Ich wollte einer sein, der sich traut. Heute würde ich mich lieber nichts mehr trauen, meine Gesten irgendwo im Schweigen finden. An guten Tagen glaube ich, dass das an einer gewonnenen Einsicht oder Bescheidenheit liegt. An schlechten Tagen fürchte ich, mich angepasst zu haben. Pasolini wüsste es, denke ich.
Wir haben uns auf die Suche nach dem Grab gemacht. Du bist durch eine Reihe Gräber gegangen, ich durch die andere. Irgendwann habe ich es gesehen. Ein unscheinbarer Stein unter einem Lorbeerbaum. Daneben der Stein seiner Mutter, die er so liebte. Jemand hat einen Brief dort niedergelegt. Ich weiß nicht, ob er an Pasolini oder die Mutter gerichtet war. Kurz dachte ich, dass wir ihn lesen sollten. Du hättest ihn übersetzen können. Aber es war zu nass und wahrscheinlich haben wir zu viel Anstand. Ob sich wohl manchmal wer auf diesen Grabstein setzt und masturbiert? Es ist nicht auszuschließen, aber wahrscheinlich wären nur die Faschisten dazu in der Lage, die ja ohnehin regieren in diesem Land. Aber ihnen fehlt an Phantasie und sie haben das Gedicht nie gelesen.

Es hat mich bewegt, dass da einfach dieses recht unscheinbare Grab war. Gerade im Regen sah es aus wie alle anderen auch. Ich denke, dass das im Sinn des Ermordeten war. Wir sind zügig wieder gefahren. Wir sind über den Tagliamento gefahren, durch flaches, wasserdurchtränktes Land, vorbei an Weinreben, geschlossenen Tankstellen und auf Stromleitungen sitzenden Tauben. Ich habe dann begriffen, dass eine Landschaft sich in die Sprache eines Dichters einprägen kann wie in Wein. Aber ich kenne mich nicht aus mit Wein. Du musst mir das übersetzen bei Gelegenheit.

Dein,
Patrick

Il Cinema Ritrovato Tag 6: I Pugni in Tasca

Der 6. Tag in Bologna stand im Zeichen dreier unvergesslicher Screenings, von denen ich mich auf eines fokussieren will. Die anderen beiden seien zumindest genannt: Les Portes de la Nuit von Marcel Carné, ein Film im Nebel eines traumartigen Netz des Schicksals und Flesh & The Devil von Clarence Brown in einer atemberaubenden Kopie und mit einem Fieber, bei dem das Licht beständig von Schattenspielen gestreichelt wurde. Den verstörenden Höhepunkt setzte aber Marco Bellocchios famoser Debütfilm I pugni in tasca. Ein solcher Schlag ins Gesicht, dass es der einzige Film in Bologna für mich blieb, bei dem das Publikum nicht applaudierte.

In den destruktiven Bewegungen des Films gibt es drei Aggressoren: Die Krankheit, die Begierde und das Nichts. Alle drei sind in sich gebrochen. Eine Begierde, die ins Nichts einer Krankheit läuft. Eine Krankheit, die das Begehren nach dem Nichts weckt. Ein Nichts, das sich in krankes Begehren flüchtet.

Fists in the Pocket

Es geht um eine bürgerliche Familie ohne Vater. Ihr Niedergang und alles, was verboten ist. Ein psychotischer Sog bei dem jedes Lachen ein Schrei ist und jedes Schreien ein Lachen. Das grausame an I pugni in tasca ist die Ausweglosigkeit, die der Film mit beständigen Nahaufnahmen und Schwenks betont. Alessandro (gespielt mit verstörender Zerrissenheit und Leichtigkeit von Lou Castel) will das Leiden seiner kranken Familie beenden. Er will alle umbringen, die auf dem Weg zum Glück stören. Seine Mutter ist blind, außer einem Bruder leiden alle an Epilepsie. Alessandro versucht den Führerschein zu machen, um seine Familie und sich selbst bei einem Autounfall umzubringen. Als er bei der Prüfung scheitert, tut er trotzdem so, als ob er bestanden hat und fährt mit allen außer seinem erfolgreichen Bruder zum Grab seines Vaters. Er schreibt einen Abschiedsbrief, aber tut es zunächst nicht. Alessandros erfolgreicher Bruder liest den Abschiedsbrief, aber nach einem kurzen Moment der Panik will er lieber mit seiner Freundin schlafen. Es gibt immer wieder Aufbegehren und Müdigkeit. Einer Tat folgt der Schlaf. Man sitzt faul neben dem Grab. Man hat Lust auf Sex in der Panik. Wenn die Gewalt dann wirklich kommt – und sie kommt – dann wirkt das fast passiv. Es gibt keinen Knall, sondern vor allem die Stille vor und nach der Tat.

Von Anfang an legt Bellocchio in die destruktive Wut des Films eine Zärtlichkeit. Sie lässt alles erzittern und in sich zusammenbrechen. Die titelgebende Faust in der Tasche erschlafft ständig, um sich wieder neu zu formieren. Dabei regiert etwas krankhaftes in den Figuren (nicht nur Alessandro), dass man nur schwer benennen kann. Ein Trieb, eine Unzufriedenheit und eine Frustration, die gleichermaßen eine inzestuöse Lust ist. Ein wenig muss man dabei fast an Bertoluccis The Dreamers denken. Das heftige an I pugni in tasca ist jedoch, dass hier niemand träumt. Vielmehr wird man – wie das so ist bei Bellocchio – moralisch gebrochen. Mit Sicherheit kann man nicht sagen, dass die Gewalt, die der junge Mann gegen seine eigene Familie richtet nicht zumindest in philosophischer Hinsicht gerechtfertigt ist, sogar ein Akt der verzweifelten Liebe ist. Sie ist sanft und brutal und ähnelt damit den epileptischen Anfällen, die solange brutal sind bis Alessandro sanft am Kopf berührt wird von seiner Schwester. Bis sie es nicht mehr tut und ihn leiden lässt. Dieser philosophische Ansatz wird vom Film selbst vorgeschlagen, wenn sich Alessandro in einer frühen Szene des Films in Vollendung in ein Schwert auf seinem Bett stürzt und wir davon ausgehen müssen, dass er sich umgebracht hat. Ein erster Schock, doch in der nächsten Szene lebt Alessandro. Wir müssen verstehen, dass der Film mehr einem mentalen Bild gleicht, einer Zustandsbeschreibung zwischen Krankheit, Begehren und dem Nichts. Wenn wir den Film als Nachfolger des Neorealismus eines De Sicas oder Rossellinis (die zu diesem Zeitpunkt bereits mit anderen Dingen beschäftigt waren) betrachten, fällt der Angriff auf die humanistischen Moralvorstellungen dieser großen Filmemacher auf. Nicht umsonst gilt der Bellocchio dieser Tage als Seelenverwandter von Pier Paolo Pasolini, dessen Teorema von einer ähnlich poetischen Familiendekonstruktion erzählt, weniger ins Gesicht, weniger in den Magen.

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Pasolini bezeichnete den Stil von Bellocchio einmal als Prosa im Vergleich zur Poesie von Bertolucci. Darüber lässt sich streiten. Sicherlich kommt Bellocchio mehr über den Inhalt, aber die erdrückende Nähe der Bilder von Alberto Marrama und die zum Teil abstrakte Art der Montage, die sich zwischen die Schwenks drückt, erinnert doch sehr an die Nouvelle Vague. Figuren betreten den Bildausschnitt immer wieder verzögert und spielerisch. Zum Beispiel bei der Beerdigung der Mutter, als die Schwester von Alessandro von unten ins Bild rückt. Aus dieser Art der Inszenierung entsteht dann ein Freiheitsgefühl, das derart heftig mit dem Inhalt kollidiert, dass man durchaus von Poesie sprechen kann. Keine elegische Poesie, sondern eine bizarre, brüllende Poesie der Notwendigkeit.

Wenn das Leben selbst zur Tortur wird, schreit dieser Film mit der Coolness einer gemeinsamen Nacht mit Sonnenbrillen. Man muss schon schwer schlucken, wenn man lachen muss (mancherorts gilt der Film als schwarze Komödie, vielleicht ist er nur so ertragbar?) im Angesicht dieser Ausweglosigkeit. Krankheit ist hier wirklich ein schwarzer Fleck, ein Virus. Der Film ist wie diese Krankheit. Zynismus ist hier nicht einfach eine Jugendkrankheit. Hier ist alles unheilbar. Dabei gelingt es Bellocchio in jeder Sekunde nicht in die billige Provokation zeitgenössischer, dem Nihilismus naher Filmemacher zu fallen, sondern eine Ehrlichkeit an den Tag zu legen, die zur Nacht seiner Figuren wird. Womöglich ist es gar nicht so wichtig, mit was der Film aufräumen will, gegen wen er sich richtet. Wichtig ist eher das Gefühl einer auf Film gebannten Zärtlichkeit der Destruktion.

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Die Sehnsuchtsmaschine – Die Distanz des brachialen Fühlkinos

In meinen Nächten denke ich oft an deine Tage, dein Licht. Die Hysterie und den Druck, der bei dir fließt. Die Schreie, der Speichel, die Gedärme. Die Direktheit, die etwas fühlen will: Philippe Grandrieux, Andrzej Żuławski, die Haut bei Claire Denis, die Musik bei Leos Carax, der Gestus von Gaspar Noé. Das Problem: Oft fühle ich keine Sensualität, wenn jemand sie mit dem Holzhammer in mein Gesicht schleudern will. Aber Antonin Artaud verschluckt die grausame Sonne.

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Normal beschäftige ich mich sehr viel mit Fragen der Ethik und Distanz im Kino, ich interessiere mich für die Dinge, die man nicht sehen kann, die Dinge, die verloren scheinen und die Moral der Kamera, die ein Bewusstsein verlangt, die weiß, dass eine Totale keine Totale und eine Nahaufnahme gefährlich ist. Hier liegt für mich eine Sinnlichkeit. Das sind logische Fragen, wenn man das Kino in seiner Zeit begreift und begreifen will, wenn man so möchte, modernistische Fragen. Einfach zu sagen: Was mir gerade richtig erscheint, ist richtig oder was sich gut anfühlt, ist gut, ist letztlich nur die fatale Bequemlichkeit einer Überforderung im zeitgenössischen Kino, die nicht mehr weiß, was sie gut finden soll und die deshalb aus unfassbar durchschaubaren Statements besteht. Das Lieblingswort in diesem Kontext: Meisterwerk. Die Lieblingskamerabewegung: Kranfahrt. Das ist alles kaum glaubhaft. Nein, ein Film sollte eine Position zur Welt und eine Position zum Kino vermitteln, fühlbar machen, selbst wenn diese Position ist, dass man keine Position haben kann. Auch wenn sich diese Position durch eine Kranfahrt vermittelt. In der Regel fühle ich mich eher zu jenen Filmemachern hingezogen, die sich der Krise ihrer Bilder bewusst sind. Ich halte sie für ehrlicher, konsequenter. Man kann zum Beispiel nicht einfach ein Bild zweier trauernder Menschen fotografieren. Das geht nicht. Darin steckt schon so viel und darin steckt auch immer eine Lüge. Die Direktheit dieser Emotionen scheint nur mehr eine Wiederholung. Nun geht es nicht darum, wie ich es immer wieder lesen muss zu meiner Verwunderung, dass man etwas gänzlich Neues schafft. Es geht aber doch um eine Fortsetzung, etwas muss dem Bekannten hinzugefügt werden. Alain Badiou hat in diesem Zusammenhang ein Erbe der Nahaufnahme, das von Griffith über Dreyer zu Bresson reicht, vorgeschlagen. Godard hat dem noch etwas hinzugefügt, in dem er das Gesicht verdoppelt hat, der sich bewusste Zuseher ist ein Spiegel, Anna Karinas Tränen glitzern im Licht der Projektion. Es gibt in der Folge Filmemacher, die das weitergeführt haben. Abbas Kiarostami, dessen Spiegel schon wieder ein Spiegel ist und Bruno Dumont, der zurück zu Dreyer ging und statt der Entleerung des Spirituellen dessen Deformation vorgeschlagen hat. Es gibt ein paar Nahaufnahmen in den letzten Jahren. Es gibt jene von Vanda in No quarto da Vanda, die entrückt, erhöht und in der Zeit verzögert wird von Costa. Das ist ein Schock, wie wenn Gene Tierney in Lubitschs Heaven Can Wait reinläuft in einem lila Kleid (und ich mag kein lila). Ein Schnitt von Costa, der schockt, weil er Angst zu haben scheint, vor der Nahaufnahme. Wer überlegt sich sonst, wann man eine Nahaufnahme machen darf?

Possession

Oftmals stoße ich in solchen Gedankengängen an eine Grenze. Was kann man eigentlich noch filmen? Was gibt es noch zu filmen? Auch: Was gibt es, was ich genuin mit der filmischen Sprache besser einfangen kann, als mit den scheinbar zeitgenössischeren Sprachen? Was gilt für dich? Die Aktualität des Kinos ist zu oft das Gestern, es sind die Nächte von gestern, von denen wir träumen. Dieses Gestern muss aber ein Teil des Heute sein, ein Teil des Morgen. Allerhand abstrake und nebulöse Formulierung, die auf das Problem der Ungreifbarkeit dieses Problems hinweisen, denn wo würde man beginnen? Es geht hier um eine andere Form der Distanz, die ich in dieser einleitend angesprochenen Nähe vermute. Wenn das Kino fragen daran stellen muss, was und wie man noch filmen kann, dann ist dieses Hinabsteigen in das Blut, die Fasern, die reine Präsenz des Körperlichen eine logische Antwort. Es drückt genau wie die Langsamkeit und die Sorgfalt des Bildes ein Begehren aus, dass sich aus dem Vakuum einer gesellschaftlichen (Bild)-Politik ernährt. Das Kino als Antwort, als Lösung auf ein Fehlen im Alltag. Wenn alles zu schnell passiert, kann das Kino es festhalten, entschleunigen. Wenn alle Bilder in einem einzigen schlampigen Rausch vorbeihuschen, kann das Kino die Konstruktion, den Blick, die Poesie des einzelnen Bilds würdigen. Und wenn man nichts mehr fühlt auf all den glatten Oberflächen, kann das Kino eine Erfahrung von  Körperlichkeit bieten. Kann es? Es gab immer auch schon die gegenteilige Ansicht, vertreten von den klügsten Menschen ihrer jeweiligen Länder: Das Kino als Ausdruck oder Spiegel der Erfahrung des Alltags. Ich fand diese Ansicht zwar nachvollziehbar im Kontext der Industrialisierung, aber dennoch ignorant, da sie das Begehren verschluckt. Das Kino ist die Nacht, die schöner ist als dein Tag.

La vie nouvelle

Überlegungen zur Distanz hängen an mehreren Faktoren. Da wäre zum einen die moralische Frage. Eine Nahaufnahme, das hätte man auch schon vor Jacques Rivette wissen können, trägt in sich das Potenzial zur Obszönität. Sie kann Entblößen, sie kann vergewaltigen, sie kann sich an etwas freuen, wo sie eigentlich leiden müsste. Das gilt für alle Einstellungen, die Nahaufnahme ist nur die expressivste. Als Filmemacher zu behaupten, dass man – wie zum Beispiel Grandrieux in Sombre – in die Erfahrungswelt eines Mörders eindringen kann mit der Kamera, ist gefährlich. Es ist aber zugleich utopisch im Sinn eines vergessenen Wollens von Jean Epstein. Die Kamera wird dann zu etwas anderem, man hat sie haptisch genannt. Die Distanz scheint zu verschwinden und in diesem Verschwinden sammeln sich die Tränen eines unerreichbaren Begehrens, das wiederum an die Distanz erinnert. Schrecklich ist es dagegen und aus ethischen Gründen nicht duldbar, wenn das Überwinden der Distanz zum Gimmick wird. So verhält es sich im gefeierten Saul fia von László Nemes. Dieser Film ist ein Affront gegen die Moral des Kinos und es ist ein derart durchdachter Angriff, dass einem ganz übel wird vor lauter Haltlosigkeit. Die Überwindung der Distanz erzählt oder vermittelt hier genau was? Es ist eine Behauptung, die sich hinstellt und sagt: So hat sich das angefühlt, angehört in einem Konzentrationslager. Eine solche Behauptung ohne Zweifel abzugeben, ist ziemlich lächerlich. In Verbindung mit einer zutiefst allegorischen Geschichte wird der Stil dann tatsächlich zum Gimmick, denn am Ende geht es hier nicht um die Erfahrung, sondern um die Moral. Man könnte sagen, dass die Idee des Films ist, dass gerade aus dieser Erfahrung die Wichtigkeit einer solchen Moral entsteht, dann würde man aber übersehen, dass sowohl die Erfahrung als auch die Moral im hohen Grade fiktional sind in diesem Film, es also einen Rückschluss von Lüge zu Lüge gibt, der sich als Wahrheit ausgibt. Das ist natürlich in Ordnung für ein unterhaltsames Kino, aber ist es in Ordnung für einen Film über ein Konzentrationslager?

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Ein weiterer Faktor der Distanz ist die Effektivität und Notwendigkeit. Chaplin ist und bleibt das Überbeispiel für einen Filmemacher, bei dem die Kamera immer richtig zu stehen scheint. Es geht dabei nicht unbedingt um eine erzählerische Effektivität, sondern auch um jene des Blicks, des Lichts der Nacht. David Bordwell hat diesbezüglich sehr viel über Hou Hsiao-hsien nachgedacht, bei dem die Distanz einen anderen Blick ermöglicht und kombiniert mit Licht, Ton, Bewegungen der Figuren und Kamera eine eigene Form filmischen Erzählens offenbart, die eben nur aus dieser Entfernung oder sagen wir: nur aus einer Entfernung möglich ist. Damit zeigt sich auch, dass Distanz nicht nur an der Notwendigkeit hängt, sondern auch am Potenzial. Viktor Kossakovsky ist ein Filmemacher, der sich in seinen Arbeiten immer langsam nähert, der immer aus einer Distanz beginnt. Es geht dabei nicht nur um einen Respekt vor den Menschen, die er da filmt, sondern auch darum, dass erstens in einer Totale mehr Spielraum für Bewegung herrscht und die Totale auch immer die Möglichkeit des Näherns in sich trägt. dasselbe gilt natürlich andersherum, doch scheint mir das Potenzial des Näherns zärtlicher, als jenes einsame Potenzial des Entfernens, das dennoch oder deshalb einen berührenden Effekt haben kann. Hou hat einmal gesagt, dass er sich selbst in dieser Distanz spürbar machen kann. Pasolini hat darüber geschrieben. Das spannende jedoch, so scheint mir, passiert immer dann, wenn diese Distanz entweder wie im Fall von Michelangelo Antonioni oder des jungen Jean-Luc Godards die Weltwahrnehmung der Figuren spiegelt oder eben, wie im Fall des späteren Godards, Costas oder Straub&Huillets die Problematik der Objektivität, der Ethik zu einem Teil der Effektivität macht. Was aber, wenn ein Filmemacher diese Übersicht, die auch ein Gewissen ist, über Bord wirft. Der diese Woche verstorbene Zulawski ist ein Beispiel für den Versuch dieser Überwindung zwischen Körperlichkeit, Handkamera-Nähe, Blicken in die Kamera und Schreien die das Mikrofon überrumpeln. Doch ganz ähnlich wie bei Hou scheint er dadurch auch eine erzählerische Distanz zu gewinnen. Es ist der Auftritt von Paranoia statt Nostalgie, der Glaube an Liebe/Lust statt Gleichgültigkeit/Entfremdung. Auch Zulawski ist auf der Suche nach einem Versprechen und einem Begehren: Das Leiden auf Film greifbar machen statt nur zu beobachten wie es nicht greifbar ist, sich auflöst, sich ausbreitet. Damit entstehen die Bewegung von Distanz und großer Nähe aus demselben Verlangen. In beiden liegt die Sinnlichkeit einer anderen Wahrnehmung und so beginnen sich die Entfremdung und die Lust zu vermischen. Ein Filmemacher, der nahezu in Perfektion im Zwischenspiel aus Immersion und Distanz arbeitet, ist Apichatpong Weerasethakul. In seinen jüngeren Werken fühlt man sich zunächst oft aus kühler Entfernung beobachtend bis man in einen Sog fällt, der jenen der Figuren spiegelt. Ganz ähnlich verhält es sich mit Il deserto rosso von Michelangelo Antonioni.

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Einer der offensichtlichen Folgen dieses Gefühls des Verschwindens mit dem unbedingten Wunsch des Spürens, der sich nicht sicher ist, ob er die Sache selbst oder ihr Sterben spüren will (das gilt gewissermaßen schon immer und seit seinem Tod besonders für das Kino) oder kann, ist Dekadenz. Der genuine Filmemacher unserer Zeit und legitimer Nachfolger von Luchino Visconti diesbezüglich ist Bertrand Bonello. Das liegt nicht nur daran, dass seine Stoffe wie in L’Apollonide – Souvenirs de la maison close oder Saint Laurent ganz offensichtlich mit Dekadenz gefüllt (oder sollte man sagen: entleert) sind. Bei ihm ist es schwer, zwischen Distanz und Eintauchen zu unterscheiden. In einer beeindruckenden Montagesequenz in seinem Saint Laurent, in der in einem Splitscreen die jeweiligen Kollektionen von Saint Laurent mit gleichzeitigen politischen Ereignissen und Katastrophen explosiv kombiniert werden, verbindet er eine politisch motivierte Kritik mit der musikalisch provozierten völlige Hingabe in diese Schönheit und Ignoranz. Es gibt Autoren, die über das Kino schreiben, die ganz ähnlich arbeiten. Sie versuchen das Empfinden in Worten auszudrücken (völlig hilflos, natürlich) und zugleich eine kritische Distanz zu wahren. Ich gehöre wohl auch dazu. Man könnte eine Frage an das Kino stellen, die da lautet: Wie sieht ein Kino denn ohne Distanz aus? Die Antwort wäre wohl: Das ist kein Kino. Dennoch ist ein andauernder Aufschrei nach einem naiven Fühlkino zu vernehmen. Es ist ein bisschen paradox, schließlich fühlt man auch oder gerade aus der Distanz. Soll man die Leinwand einreißen? Manchmal habe ich den Eindruck, dass in dieser Forderung, diesem Verlangen eher das Absterben der eigenen Gefühle im Kino betrauert wird. Doch je weiter man in Filme eintaucht, desto mehr droht man sich emotional von ihnen zu entfernen. Das Gegenteil ist eine Behauptung.

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Ein dritter Faktor der Distanz ist jene Bild-Qualität des Kinos, die dazu führt, dass Godard basierend auf prägenden Überlegungen Jerry Lewis mit einem großen Maler vergleicht. Der Film als Bastard-Kunst behauptet in der Distanz oft seine Nähe zu Malerei (in der Nähe jene zur Musik?) und zu dem, was viele als Essenz bezeichnet haben, die Fähigkeit zur Aufnahme/Beobachtung von bewegter Realität. Distanz fühlt sich neutraler an. Letztlich ist sie aber nur neutraler, wenn sie sich als Distanz offenbart. Ein gutes Beispiel dafür sind Oberflächen. Seien es Türen, von denen Costa gerne spricht, Seidenvorhänge bei Hou, der Off-Screen bei Renoir oder Puiu, die Sprachlosigkeit beim frühen Bartas, die Unschärfe bei Ceylan oder hunderte andere Beispiele…hier werden Filter vor unseren Blick geschoben, die uns die Distanz, die Perspektive als solche bewusst machen. Hier findet sich vielleicht auch ein Problem des meist gefeierten Michael Haneke. Denn die Sprache des kühlen Riegels, der sich vor die Emotion spannt, ist prinzipiell eine, die in dieser Tradition der Distanz steht, nur gewinnen die oben genannten Filmemacher aus ihrer Distanz und aus diesem Riegel eine neue Zärtlichkeit, jene der Oberflächen, die dann wiederum eine Verwandschaft aufweist zur extremen Nähe, zum Fühlen der Oberflächen etwa bei Claire Denis, in deren Kino Haut knistert wie ein brennender Baum. Bei Haneke ist eine Tür eine Tür. Das ist natürlich keineswegs negativ, aber manchmal scheint es, als würde die Tür wirklich nur im Weg stehen während sie etwa bei Costa selbst eine Bedeutung hat. Und in diesem Sinn ist die Tür eben bei Costa eine individuelle Tür, während sie bei Haneke nur die Idee einer Tür repräsentiert. In Costas Fall ist die Kamera ein Sensor, der alles sieht, selbst wenn er nicht kann, bei Haneke ist sie ein Sensor, der limitiert ist, obwohl er alles sieht. Costa gewinnt aus der Limitierung, aus der Krise eine Poesie (man vergleiche damit auch den Dialog über die Schatten und Geschichten an den Wänden in Juventude em Marcha, in dem Ventura und eine Tochter sich über die neugestrichenen Wände in den neuen Wohnungen beschweren, weil diese keinen Platz mehr lassen für die Illusion) während Haneke – und das macht einen Teil seiner Attraktivität aus – darin eine Verneinung, eine Desillusion findet. In diesem Sinn ist die Distanz von Costa nichts anderes als die Nähe von Denis. Es sind individuelle Perspektiven, die etwas objektives sichtbar machen. Jean Epstein hat an den Blick der Kamera selbst geglaubt. Könnte man dahin zurück?

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Ein brachiales Fühlkino, was soll das eigentlich sein? Man denkt schnell an aufgesprungene Grenzen, Farbexplosionen, eine Bedingungslosigkeit, die sich weder technischen, noch kommerziellen, noch filmtheoretischen Überlegungen beugt. Man denkt an eine Entfesselung des Blicks, der sich nicht mehr an das Prinzip der Natur klebt, sondern durch die kinematographischen Räume flirrt, schwirrt und geistert, unbeeindruckt voller Eindrücke, der Unsichtbares komplett sichtbar macht und Sichtbares frisst. Schnell ist man in der Avantgarde bei Filmemachern wie Paul Sharits. Dieses Kino ist ein Traum, der sich am ehesten in der Distanz zwischen seiner Illusion und diesen Gefühlen offenbart, er wird also realistisch, wenn man sich auf die Distanz selbst fokussiert. Denn wenn man eines bei den großen Filmemachern des (zeitgenössischen) Kinos beobachten kann, ist es ihre Fähigkeit das „Dazwischen“ zu filmen. Zwischenzustände zwischen Leben und Sterben, zwischen Dokument und Fiktion, Gegenwart und Vergangenheit, Stillstand und Bewegung, Flüstern und Schreien, Zeit und Zeitlosigkeit, Nostalgie und Hoffnung, Wut und Ohnmacht, Liebe und Müdigkeit, Verbitterung und Enthusiasmus, das Außen und Innen. Wie filmt man den Tonfall von Flaubert? Wie filmt man einen Trinkspruch von Orson Welles („Here is to character!“)? Wie filmt man, das man nichts mehr filmen kann? Ein Gefühl, dass das Kino nicht mehr notwendig ist. Man fühlt entweder die Geschichte und/oder das, was sich vor der Kamera abspielt oder die Kamera selbst, am besten beides zugleich, weil es nicht unabhängig voneinander existieren kann. Man fühlt den Gedanken, sei er politisch, moralisch oder dramaturgisch einer Einstellung und denkt das Gefühl einer Träne, die die Hauptdarstellerin weint und die von der Kamera tropfen muss.

Noirot

Doch die Kamera kann auch gleichgültig sein. Wenn bei Moses und Aaron von Straub/Huillet die eiternde Leprahand im Bild ist, spürt man gerade in der Gleichgültigkeit eine Sinnlichkeit. Bruno Dumont hat diese Gleichgültigkeit immer weiter gesteigert bis er selbst/selbst er den Humor darin gefunden hat. Das Fühlen einer Gefühlsabwesenheit. Das Ausdrücken dessen, was man nicht ausdrücken kann. Das Kino bleibt eine Sehnsuchtsmaschine. Relativ, weil sie zwischen den Bildern agiert, absolut, weil sie in den Bilder dazwischen existiert, maschinell, weil sie technisch hergestellt wird, eine Sucht, weil sie immer wieder sehen muss, immer wieder verlangt, Verlangen sichtbar macht. Das brachiale Fühlkino gibt es nicht. Es ist das notwendige Potenzial des Kinos. Ohne die Idee eines „Mehr“, ohne die Idee eines „Anders“ gibt es keine Kinokultur. Das große Problem des Kinos ist dann, dass heute dieses „Mehr“ und „Anders“ oft in eine Vergangenheit rückt beziehungsweise in ein für den normalen Kinogänger unsichtbares Kino. So transformiert sich diese Distanz in eine Frustration, die mit dem Slogan „Das Kino ist tot.“ schon seit Jahrzehnten ihren philosophischen Schlusspunkt erlebt hat. In dieser Ohnmacht herrschen subjektive Wahrheiten, weil alles andere fatal wäre, es herrscht ein Krieg der Anerkennung, eine Profilierungssucht von Menschen, die allesamt ums Überleben rennen und dabei so tun als würden sie lieben. Manchmal weiß man nicht, ob Filmemacher wirklich an ihr Kino glauben und Kritiker wirklich an ihre Meinung. Sie schreien: „Das Kino lebt!“, und präsentieren ihre filmische oder intellektuelle Sicht auf Dinge mit einem Minimum an Zweifeln, die sie ja durch Recherche, Arroganz, Notwendigkeiten ignorieren können. Sie spielen eine Rolle und offenbaren dadurch, dass das Kino nicht fühlt oder blickt, sondern nur spielt. Es ist normal und schrecklich. Das brachiale Fühlkino gibt es nicht. Es ist Pornografie. Nicht des Blicks, sondern der Macher und Schauenden.

Teorema4

Am Ende spricht das Kino trotz aller gegenteiligen und tröstenden Versuche nur zu einem selbst. Das Irreale wird in solchen Momenten für einen Augenblick real.Dann gehen wir ans Set und bereiten eine Nahaufnahme vor. Was wird man sehen? Darf man noch etwas sehen? Der Versuch ist ein Verbrechen. Man muss sich bewusst machen, dass eine Nahaufnahme entweder ein Verbrechen ist oder ein Liebesakt. Bernardo Bertolucci hat einmal über seine erste Begegnung mit Pier Paolo Pasolini erzählt. Er war im Haus seiner Familie und jemand hat geklingelt. Vor der Tür stand ein junger Mann, der wie ein Arbeiter an einem Sonntag gekleidet war. Der Mann sagte, dass er gerne den Vater sehen würde. Etwas an seinem Blick, hat Bertolucci glauben lassen, dass dieser Mann ein Dieb sei, der geklingelt hatte in der Hoffnung, dass niemand dort sei und der dann eingebrochen wäre. Bertolucci ging zu seinem Vater und sagt ihm, dass ein komischer junger Mann vor der Tür stand. Der Vater sagte ihm, dass das ein großer Poet sei.

Heute keine Projektion: Wrong Cinema/Penetration

B: “the creator of the new composition in the arts is an outlaw until he is a classic, there is hardly a moment in between (…)” (Gertrude Stein)

ON HOW TO MAKE WRONG CINEMA

Au hasard Balthazar2

Au hasard Balthazar

C: Bresson: “The soundtrack invented silence”

“It is not because Robert Bresson is a voyeur – it is because he is a film director. His eye is not passive but active, and this action itself has a sexual dimension” (J.M. Frodon)

Jean Epstein: “One doesn’t look at life, one penetrates it.

F: The first duty of an artist is not to fear unpopularity (Pier Paolo Pasolini)

With Alain Robbe-Grillet we try to reach a mirror floating in the water…and we drown

Projection/Penetration

Virgin Attacks: The Potted Psalm von Sidney Peterson und James Broughton

The Potted Psalm, 1946: Ganz ohne Ton, ein assoziativer Reigen surrealer Eindrücke: Eine Frau mit schwarz-roten Lippen isst ein Blatt, ein Mann ohne Kopf, das M in Mother verschwindet unter einem Fuß und lässt ein Other entstehen, Füße eingesperrt in durchsichtigen Vakuumbehältern, leckende Zungen unter bedrohlichen Masken, Zähne und Schatten, es wirkt als wäre die berühmte Partyszene in Jean-Luc Godards Pierrot le fou zu einem Albtraum geworden: Fiebrig, angsteinflößend, poetisch.

The Potted Psalm Peterson

Peterson und Broughton, das ist eine jener Kollaborationen, die P. Adams Sitney als Virgin Attack bezeichnet hat. Damit meint er eine Auseinandersetzung mit Kino durch Filmemacher, die aus anderen Künsten kommen. James Broughton ist in diesem Fall gemeint, denn Peterson war ein Kinointellektueller. Broughton war ein Poet:

I took a sharp look
I took a long prowl
I questioned the serpent
I questioned the owl
I called up the mayor
I called on the sage
I tried reading Proust
I tried life on the stage
I went into therapy
I went out for sports
I suffered every ailment
from sniffles to warts
I went to the dogs
I went to the Pope
I climbed Annapurna
I fasted on dope
I dug up the desert
I delved in the sea
But nowhere I looked
could I recognize me

So eventually I
had to give up my plan
of escape to Siam
and accept myself here
just as I am

But it wasn’t easy

Sitney schreibt über Kollaborationen wie Buñuel und Dali, Deren und Hammid, Watson und Webber oder Claire, Pitabia und Satie. Ein Virgin Attack entsteht, weil der Blick auf das Kino nicht von innen sondern von außen geschieht und das Medium dadurch von seinen Prinzipien befreit wird und in andere Sphären gelenkt wird, die neue Möglichkeiten offenbaren. In diesem Sinn ist The Potted Psalm allerdings kein wirklicher Meilenstein. Denn die surrealen Bewegungen, den assoziativen, körperlich treffenden Schnitt hat man bereits gesehen bei den oben genannten Kollaborationen. Dies steht in einer Linie mit einer Beobachtung, die ich immer wieder von Neuem mache. Denn spricht man mit Filmemachern, hört man ganz oft, dass es sehr wichtig ist, das klassische Handwerk zu erlernen. In meiner Wahrnehmung gibt es aber auch ein nicht-klassisches Handwerk, das man erlernen kann. Warum ist es relevant die Regeln eines industriellen Filmemachens zu kennen, um sie zu brechen, wenn man gleich die Regeln eines nicht-industriellen Filmemachens lernen könnte? Peterson orientierte sich bekanntermaßen an surrealistischen Vorbildern. Sein Kino ist daher nicht zwangsläufig eines der Rebellion sondern eines der Bewunderung.

Allerdings ist The Potted Psalm auch die Geschichte eines Verschwindens und was man daraus machen kann. Denn außer dem Geld verschwand auch der Hauptdarsteller. Sitney dazu:

“In their choice of a leading player they followed a tactic of Un Chien Andalou by selecting a type who projected a quality of madness. Shortly after the completion of the Dali-Buñuel film, Pierre Batcheff killed himself; not too long after that, the leading lady also killed herself. In the case of The Potted Psalm, Harry Honig simply disappeared after one shooting session. The rest of the film had to deal with this contingency.”

The Potted Psalm Broughton

Drei Monate wurde jeden Tag alles über den Haufen geworfen und man begann von vorne. Die impressionistischen Faszinationen im Film, das Treiben fern jeder Kausalität ist Ausdruck dieser Herstellung. Ein anderer Film als dieses psychologische Sinnlichkeitsfieber konnte eigentlich nicht entstehen. Es ist ein Film, der über das dritte Bild funktioniert, also jene Räume und Gefühle, die sich in der Zusammenstellung zweier Einstellungen auftun. Was die großen Vertreter des Surrealismus eint, ist aber auch die Kraft der einzelnen Bilder, das Einfallsreichtum visueller Blicke. Wenn Pasolini in seinem Mamma Roma zu Beginn kurz mit den Mustern solcher assoziativen Schnitte flirtet, indem er kreisende Bewegungen hintereinander schneidet, dann erzielt er damit lange nicht die Wirkung von Peterson und Broughton, Maya Deren oder Bill Morrison. Denn die einzelnen Bilder dieser Filmemacher tragen schon ein weitaus größeres Unbehagen in sich. Man muss hinsehen, es ist als würden Ameisen aus Händen krabbeln. Spannungen zwischen der Metaphorik und der bloßen Existenz der Bilder bauen sich auf. Das Rationale und das Körperliche begreifen sich nicht. Wer sich für ersteres interessiert, wird frustriert, wer sich für zweites interessiert, verschließt sich vor möglichen Interpretationen.Viele Wahrheiten ergeben sich erst durch mehrmaliges Sehen, denn man müsste erst lernen, gegen die Durchkreuzung des Rationalen zu denken.

„By design and by necessity The Potted Psalm evolves disjunctively; the various women of the film (there are six in the credits) form a virtually continuous spectrum from innocent girl to savage old lady, but at any given moment of the film it is difficult to tell the middle figures apart; the mixture of motifs and styles, which in later films are typical of either Peterson or Broughton, makes it difficult to bring the film into focus as a totality.”

Im Film gibt es eine Verbindung von Tod und Sexualität, die mit einem Verlust der Mutter initiiert wird. Die Filmemacher evozieren eine bedrohliche Atmosphäre dekadenter Todesangst, ein Sterben während man mit einer Frau schläft, die sich plötzlich in eine grausame Abhängigkeit verwandelt, wie eine Droge, die einen nicht loslässt, weil sie derart schön und frigide lächelt und ausbricht aus den Grenzen einer eigenen Wahrnehmung. In diesem Sinn ist der Inhalt des Films auch gleich seiner Form, denn er verlangt tatsächlich dieses fatal-laszive Betrachten, diese Sexualität, man sollte sich den Film vielleicht nackt ansehen, zumindest darf es zu warm sein. Man sollte etwas trinken und sich hingeben, obwohl man es bereuen wird. The Potted Psalm kontrollieren zu wollen, wäre ein Irrtum. Denn nur, wenn man sich von ihm kontrollieren lässt, wird man merken wie man mit ihm stirbt (oder entjungfert wird).

Mächtige Ohnmacht in Saló o le 120 giornate di Sodoma von Pier Paolo Pasolini

In einer Gesellschaft gibt es nur ein begrenztes Kontingent an Freiheit; je mehr sich eine Person daran bedient, desto weniger steht allen anderen zur Verfügung. Wird wenigen Menschen absolute Freiheit gewährt, bedeutet das absolute Unterdrückung für den Rest.

In seinem Film „Saló o le 120 giornate di Sodoma“, basierend auf dem Roman „Les 120 Journées de Sodome ou L’Ecole du Libertinage“ von Marquis de Sade, zeigt Pier Paolo Pasolini das Leben im grenzenlosen Exzess, welches die Mächtigen genießen und kritisiert Systeme, die eine ungerechte Verteilung von Freiheit fördern. 1975 avancierte der Film durch seine Darstellung von Pädophilie und Gewalt zu einem Skandal und hat auch heute nichts von seiner Wirkung verloren.

In einer Welt, sei es eine absolutistische, wie in Marquis de Sades Roman, oder einer faschistischen, wie die, wie Pasolini sie zeigt; einer Welt, in der es für vier Männer möglich ist absolute Macht über 16 Jugendliche zu haben, werden die Unterdrückten zu kommerzieller Ware, zum Spielzeug für jene, die über ihnen stehen. Wenn Pasolini die Misshandelten in Szene setzt, werden sie nicht als menschliche Wesen präsentiert. Die Kamera fängt ihre nackten Körper wie Statuen ein, die präzise im Raum platziert sind; dekorative Puppen, die all die großen leeren Hallen des Lustschlosses füllen. Körper, die stets in der Symmetrie des Bildes gefangen sind, zwischen rechteckigen Türrahmen und Fenstern, schwarz-weiß karierten Bodenfließen und Jugendstilmöbeln, unfähig sich zu bewegen, in ständiger Spannung durch eine kleine Bewegung die Komposition des Bildes zerstören zu können. Pasolini schafft es so ein filmisches Äquivalent zu de Sades protokollarischem Erzählstil zu finden. Wie in der literarischen Vorlage entsteht so eine Diskrepanz zwischen dem emotionalen Inhalt der einzelnen Szenen und deren formal strenger Ausführung. Diesem Formalismus sind alle Protagonisten des Filmes unterworfen.

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Besonders deutlich sticht diese undurchdringliche Strenge des Bildes immer dann hervor, wenn sich die gesamte Gemeinschaft von Unterdrückern und Unterdrückten im roten Salon des Schlosses versammeln, um erotischen Geschichten zu lauschen. Alleine die Darstellung des Raumes wirkt in seiner schweren Symmetrie schon erdrückend: Eine Treppe, die von hinten in den Raum führt, ein tiefhängender Kronleuchter und eine lange Tafel aus dunklem, massivem Holz bilden eine unüberwindbare Symmetrieachse, die sich vertikal durch das ganze Bild zieht; die gesamte Architektur und Inneneinrichtung des Raumes richten sich danach aus. Doch es ist nicht nur die Architektur des Raumes, die sich einer strengen Komposition unterwirft; die Symmetrie wird in den Menschen, die den Raum betreten gleichsam fortgeführt. Völlig den Gesetzen der Komposition unterworfen ordnen sich die Bewohner des Hauses täglich in vier gleich großen Gruppen rechts und links der vertikalen Symmetrieachse an. Haben sie erst ihre Position eingenommen, bewegen sie sich nicht mehr. In dieser statischen Anordnung fügen sich alle Personen so perfekt in das Gesamtkonzept des Raumes ein, dass sie gewissermaßen mit ihm verschmelzen, Teil seines Mobiliars werden. Diese absolute Unterwürfigkeit gegenüber der Symmetrie des Raumes zeigt sich nicht nur in den Misshandelten, sondern auch in deren Peinigern, die ebenso wie ihre Lustmädchen und –knaben selbst zum Teil der Raumkonzeption werden: ihre durch die erotischen Erzählungen angekurbelte Erregung unterdrückend harren auch sie starr auf ihren Plätzen, solange bis es ihnen erlaubt ist, sich zu erheben.

So nehmen sie gleichsam ihre Unterdrückung wehrlos an, zum Schutze des großen Ganzen: der Komposition des Bildes, die über allem steht, die wertvoller und wichtiger ist als die Summe ihrer Teilelemente; ihr gegenüber fügen sich sogar die Mächtigen, die sich in ihren schwarzen Anzügen als Kontrapunkt zur weißen Haut ihrer Lustmädchen und –knaben in das Gefüge aus menschlichen Statuetten einordnen. Und so zeigt Pasolini, dass es noch eine Macht über den vier Männern gibt: das System, das sie zu dem gemacht hat, was sie sind; ein System, das im Jahr 1944 schon seinem Ende entgegensah.

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Ein kleiner Hoffnungsschimmer bleibt trotz aller Schrecken also bestehen: die Mächtigen sind ohnmächtig gegenüber dem eigenen Ende. Diesem Ende ein letztes Mal zu entfliehen ist ihr einziges Ziel; noch eine Sekunde Macht, noch ein 120 Tage Exzess. So bleibt ihnen nur die Möglichkeit der Flucht, die Flucht in ein abgeschottetes Lustschloss. Die Welt außerhalb des Schlosses hat für die Protagonisten aufgehört zu existieren; so wird sie auch von Pasolini systematisch ausgeschlossen: Nach dem Prolog verlässt der Blick der Kamera das Schloss und dessen Gärten nie mehr wieder. Ist dieses Abschließen gegenüber der Außenwelt auch konsequent und möglicherweise sogar endgültig, so hört sie doch nicht auf zu existieren. Als dunkles Grollen macht sich die Welt außerhalb der Schlosshallen immer wieder bemerkbar. Ein düsteres Raunen hallt immer wieder durch die Hallen des Schlosses; sind es Gewitter oder ist es der Krieg, der vor den Türen wütet? Es ist die Außenwelt, die durch die Ritzen der Türen und Fenster immer wieder versucht in die paradiesische Isolation der Mächtigen einzudringen; es ist der Vorbote des Untergangs, der den vier Mächtigen blüht.

Doch mit dem Ende der alten Hierarchien ist es für Pasolini nicht getan. Als ständiger Rebell im Kampf gegen die medialen Götzenbilder der Nachkriegsgesellschaft versucht er mit „Saló“ seine Kritik an einer Gesellschaft, die in seinen Augen vor einem neuerlichen Umbruch in ein absolutistisches System steht, zu üben. Eine brisante Botschaft, die auch heute noch relevant ist.

Die Tiefenschärfe in Snowpiercer

In „Snowpiercer“ machen Regisseur Bong Joon-Ho und sein Kameramann Hong Kyung-Pyo auffallend häufig Gebrauch von der Tiefenschärfe. Immer wieder verlagert er in den engen Gängen des Zuges die Schärfe, sei es zwischen Personen, zwischen einer Person und dem Raum, zwei Gruppen oder dem Innen des Zuges und dem Außen der kalten Schneewüste. Nun sind seit den Tagen von Gregg Toland und Orson Welles schon einige Jährchen vergangen und man kann sich durchaus fragen, inwiefern die filmische Sprache, die von der Möglichkeit einer inneren Montage mit neuen technischen Möglichkeiten zu Beginn der 1940er Jahre maßgeblich geprägt wurde, sich immer noch dieses Stilmittels bedient. Ich schaue mir das vor allem deshalb an einem Unterhaltungsfilm wie „Snowpiercer“ an, weil dort viele Wahrheiten über die Tiefenschärfe verborgen liegen, die sie als Notwendigkeit auslegen und nicht als künstlerische Souveränität. Dennoch findet sich in „Snowpiercer“ gerade, wenn man den Einsatz der Tiefenschärfe betrachtet ein Versäumnis des Films: Die Verwendung des Stilmittels als Ausdruck einer inneren Welt, als wahrhaftig filmische Sprache, die einen POV des Filmemachers jenseits der nach Identifikation lechzenden Klassendynamik erst ermöglichen würde. In diesem Sinn kann man die Tiefenschärfe in „Snowpiercer“ auch als Hau-Drauf-Stilmittel verstehen, dass völlig gefühlslos das poetische Potenzial dieser Technik ignoriert. Ich werde die Aspekte der Tiefenschärfe in „Snowpiercer“ anhand folgender Begriffe untersuchen:

1. Die Tiefenschärfe als Effekt

2. Die Tiefenschärfe als Kompensation für fehlenden Raum

3. Die Tiefenschärfe als Zeichen für Gegensätze

4. Die Tiefenschärfe als Entfremdung

Snowpiercer

Die Tiefenschärfe als Effekt

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Von im Vordergrund fokussierten Schneeflöckchen, bis zu den betont coolen Einstellungen in Actionsequenzen kann Bong Joon-Ho seine Vorliebe für die Tiefenschärfe kaum zurückhalten. Gedreht auf 35mm scheint er dieses Mittel auch deshalb besonders zu lieben, weil es eines der wenigen Merkmale seines Films ist, das nicht nach einem Videospiel aussieht. Doch der Effekt geht darüber hinaus, ist er doch auch eine Bastion des räumlichen Sehens gegen die 3D-Dominanz im Blockbuster-Genre. Die Tiefenschärfe ermöglicht ein ganz ähnliches, wenn nicht gar überlegenes Gefühl, weil sie-wie im Fall von „Snowpiercer“-ebenfalls blicklenkend und räumlich betonend funktioniert, aber nicht 2/3 des Bildes für unwichtig erklärt. Wer braucht 3D, wenn es Tiefenschärfe gibt, mag man sich fragen. Nun zeigt die Tiefenschärfe bei Bong Joon-Ho zumeist an, dass etwas besonders scharf ist. Nur selten wird auch darauf verwiesen, dass etwas unscharf ist. Dabei liegt genau darin die Chance der Tiefenschärfe. Denn scharf sein, kann heute jeder bei sich zuhause, im Kino kann es auch den Mut zur Unschärfe geben. Zwar spielt der Film an vielen Stellen elaboriert mit den Gegensätzen von Licht und Dunkelheit, Schatten und Sonne oder Vorne und Hinten, aber trotz seiner inhaltlichen Bevorzugung der Schattenwelten gewinnt die Unschärfe nur aus ihrer Relation mit der Schärfe an Bedeutung. Damit will ich sagen, dass alles glänzen muss in einem Film der Klassenkampf zur heuchlerischen Angelegenheit eines kommerziellen Interesses macht, das nicht nur seine Individuen vergisst, sondern auch vor lauter soziologischer Weltanalyse vergisst, dass es Momente außerhalb der Schärfe geben muss, damit eine Welt zum Leben erwacht. Die filmische Welt, die mit der Schärfe den Blick einnimmt, ihn gefangen hält, ihn am Streifen über das Bild hindert, ist nichts anderes als billigeres 3D und wird immer nur in einen Zug gequetscht, der keine Wahrheit, sondern nur aufgesetzte Spannung transportiert. Das wird insbesondere dann frappierend, wenn Bong Joon-Ho es für richtig erachtet, die Blicke der oberen Schicht auf die untere Schicht mit Tiefenschärfe anzuzeigen und die Blicke der unteren Schicht auf die obere Schicht auch. Es entsteht die Frage, warum uns ein streifender Blick verneint wird, wenn der Regisseur selbst formal schon keinen dezidierten Blick hat. Es scheint mir dafür nur zwei Antworten zu geben: 1. Die Tiefenschärfe soll uns hier etwas über den Raum sagen, nicht über die Figuren und ihre soziale Gefühlswelt. 2. Bong Joon-Ho mag die Tiefenschärfe und verwendet sie gern. Für den zweiten Punkt sprechen die zahlreichen verspielten Schärfenverlagerungen, die ein wenig an beginnende Kameramänner erinnern, die zum ersten Mal diese Möglichkeit an einem Gerät entdecken.

Die Tiefenschärfe als Kompensation für fehlenden Raum

Snowpiercer

Eigentlich ist es doch ganz logisch. Wenn man sich als Filmschaffender die Frage stellt, wie man ein aufregendes visuelles Design erstellen kann, in einem Film, der fast durchgehend in einem fahrenden Zug spielt, dann wird man früher oder später mit dem Einsatz der Tiefenschärfe konfrontiert werden. Diese ermöglicht einfach ein räumliches Gefühl, eine-wie der Name sagt-Tiefe im Raum, die der drohenden Monotonie eine scheinbar unendliche Palette an möglichen Einstellungen und Blickwinkeln gegenüberstellt. Auf diese Art gelingt es „Snowpiercer“ insbesondere zu Beginn ein Gefühl für die Enge (oder besser: den Dreck), in der die Unterschicht leben muss, zu vermitteln. In einem langen Gespräch zwischen Curtis und Edgar wird zudem nicht nur auf deren Verhältnis geschlossen, sondern retrospektiv auch auf die innere Schuld, die Curtis in Verbindung mit dem jungen Mann plagt, der wie ein Schatten im Bett unter ihm liegt. Der räumliche Effekt der Tiefenschärfe deutet auch auf die Motivation der Protagonisten hin, denn deren Ziel ist das Erreichen der Spitze des Zuges ist. Diese verbirgt sich in der Tiefe des Ganges, hinter zahlreichen Türen, die sich wie in eine unbekannte Unendlichkeit erstrecken. Auf narrativer Ebene setzt Bong Joon-Ho der Unsicherheit, die durch die Tiefe und Unbekanntheit des Raumes evoziert wird, ein aufklärendes Element entgegen und verrät dadurch nicht nur seine Bilder, sondern auch einen essentiellen Spannungspunkt seines Film. Die Figur Yona ist nämlich in der Lage, durch Türen hindurch zu sehen. Damit werden die vom Set-Design wunderbar installierten Möglichkeiten zur Unsichtbarkeit, zur Unschärfe weiter eliminiert. Es beginnt ein merkwürdiges Wechselspiel zwischen Transparenz und Ungewissheit und man mag mir Recht geben, wenn ich sage, dass man sich ob der Spannung und auch ob der Frage nach dem Blick des Autors wünschen würde, dass ein wenig mehr Ungewissheit herrschen würde. Aus ähnlichen Gründen der räumlichen Eingeschränktheit hat dies in letzter Zeit beispielsweise „Locke“ von Steven Knight deutlich besser gemacht (auch wenn er zu oft schneidet). Es scheint doch so: Die Transparenz im Zug geht von vorne nach hinten und die Unschärfe von hinten nach vorne. (Transparenz im Film, das sind zum Beispiel die Telefone, die Kontrolle über Licht, die Fenster, die Größe der Räume, die Helligkeit etc) Der Film folgt Protagonisten von hinten nach vorne. Er tut dies mit einem offensichtlichen Blick aus Sicht der Protagonisten, den er aber nicht formal, nur narrativ bedient. Und deshalb herrscht eine Klarheit gegenüber dem Raum, wo eigentlich Unsicherheit ist. Man merkt, ich ende immer am selben Punkt. Noch aber bin ich nicht bei jenem Aspekt angelangt, den ich als das größte Versäumnis von „Snowpiercer“ im Verhältnis zur Tiefenschärfe ansehe.

Die Tiefenschärfe als Zeichen für Gegensätze

Snowpiercer

This Way

Snowpiercer

Or That Way

Pier Paolo Pasolini hat zu seinem „Salò o le 120 giornate di Sodoma“ geschrieben, dass die Bedeutung in der Form liege. Er hat sich in seinem Leben viele Gedanken zum poetischen Potenzial der filmischen Sprache gemacht und zudem hat er als polemischer Marxist immer wieder aus der Sicht Unterdrückter Filme gemacht. Doch man kann mit großer Sicherheit sagen, dass er niemals die Regierenden und die Unterdrückten mit einer Orgie aus Schärfe und Unschärfe gegenübergestellt hätte, die mit dem Holzhammer in „Snowpiercer“ deren Relation anzeigt. Am auffälligsten ist die Verwendung der Tiefenschärfe als Indikator für Klassengegensätze, wenn Mason vor die Unterdrückten tritt und ihnen erklärt, dass sie an ihrem angestammten Platz leben. Bei Pasolini dagegen zeigt die Form immer ein inneres Leben an. Deshalb wirkt alles klinisch und symmetrisch in „Salò“, deshalb wird die Tiefenschärfe in „Edipo Re“ immer extremer. Dabei geht es Pasolini weniger um eine Identifikation, sondern um die Möglichkeit der Neutralität in der subjektiven Darstellung. Er verglich sein Vorgehen mit jenem einer indirekten Rede in der Literatur. Man sieht es etwas, in der Art, in der es die Figur und/oder der Autor sehen (bestenfalls teilen Protagonist und Autor ihre Sicht auf die Welt) und folgt dem ganzen distanziert. Was Bong Joon-Ho macht, erinnert dagegen mehr an agitatorische Identifikationsrhetorik aus dem frühen sowjetischen Film. Das ist für sich genommen gerechtfertigt, allerdings wechselt er (ich komme wieder zu meinem Punkt) dabei ständig die Perspektive, als wolle er anzeigen: Eine Vereinigung ist nicht möglich, weil alle auf unterschiedlichen Planeten leben. (der Planet der Schärfe und der Planet der Unschärfe) Er verpasst es mit seiner Tiefenschärfe von der Wechselwirkung zwischen Oben und Unten zu erzählen. Trotz Schärfenverlagerungen wird mit ihr nur die Starrheit eines Systems angezeigt, denn die Menschen stehen hier für eine größere politische Idee und diese Parabelhaftigkeit wird mit dem ständigen Spiel zwischen Scharf/Unscharf und der räumlichen Gegenüberstellung bis zur Schmerzgrenze betont. Diese formelle Kleinigkeit wirkt auf schmerzliche Weise konträr zur eigentlichen Haltung des Films, der Veränderung und Aufbruch propagiert und ein humanistisches Weltbild fordert. So sehen wir in der Tiefenschärfe weder die Sicht der Unterdrückten, noch jene deutlich klinischere der Unterdrücker. In der Form liegt immer auch ein politisches Potenzial, womöglich sogar das einzige politische Potenzial. Nun mag man mir vorhalten, dass ich viel zu viel hineinlege in einen Actionfilm. Aber gerade dieses Genre eignet sich hervorragend, um politische Haltungen subtil zu vermitteln, wie die amerikanische Filmgeschichte vom Anti-Nazi bis zum Anti-Russland Kino immer wieder gezeigt hat. „Snowpiercer“ ist-ganz ein Produkt seiner Zeit-übermäßig um politische Korrektheit bemüht (man achte auf die Ausgeglichenheit von Geschlecht und ethnischer Herkunft) und stets werden die Ungerechtigkeiten von Oben nach Unten thematisiert. Nun hatte Bong Joon-Ho die Möglichkeit diese Haltung mit einer klar positionierenden Form zu unterstützen oder er hatte die Möglichkeit sie gewissermaßen zu entfremden, sie zur freien indirekten Rede zu machen. Aber der überschätzte koreanische Regisseur vermag lediglich mit seiner Form zu sagen: Da sind Gegensätze! Er findet keine Möglichkeit uns filmisch zu vermitteln welcher Art diese Gegensätze sind, welche Position er dazu hat und ob diese Gegensätze stabil oder fragil sind. Am Ende des Tages ist die Schärfenverlagerung von einer Waffe auf ein zitterndes Gesicht, dann nicht der Schlag in den Magen, der es sein sollte, sondern lediglich ein Ausdruck technischer Fähigkeiten zur Herstellung konventioneller Bildsprachen. Es wäre aufregend gewesen, wenn die Unterdrückten immer nur als unscharfer Schatten fungieren würden in diesen Szenen genauso wie es spannend gewesen wäre, die Unterdrücker als unscharfe Bedrohung, als Untouchable am anderen Ende des Zuges zu inszenieren. Dadurch wäre auch eine Haltung des Filmemachers erwachsen.

Die Tiefenschärfe als Entfremdung

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„Snowpiercer“ verzichtet fast gänzlich darauf zu vermitteln wie es sich anfühlt 17 Jahre unter solchen Bedingungen zu leben. Erstaunlich ist, dass die Menschen zwar davon erzählen und zum Beispiel kurze Schocks bekommen, wenn sie vom Licht geblendet werden, aber ihre Wahrnehmung der Welt nicht darunter gelitten zu haben scheint. Dabei würde gerade die Tiefenschärfe die Möglichkeit beinhalten, anzuzeigen, inwiefern man sich-gerade im Hinblick auf die abstruse Backgroundstory von Curtis-von sich selbst entfremdet. Wo ist der Schutzwall, den die Überlebenden in ihrer Wahrnehmung aufgebaut haben müssen? Wo ist ihre Leere? Wo ist ihre Dauer? An dieser Stelle mag man nun wirklich einwenden, dass es niemals das Ziel von „Snowpiercer“ sein kann, ein menschliches Drama zu erzählen. Darum geht es auch nicht, sondern lediglich darum wie einfach und subtil der Film ein Gefühl für diese Figuren mit der Tiefenschärfe hätte erreichen können und wie er trotz seiner häufigen Verwendung dieses Stilmittels nicht ein einziges Mal in die Verlegenheit kommt es zu tun. Lediglich ganz am Ende, wenn Curtis für einige Momente alleine im Herz des Motors steht und alles um ihn herum unscharf wird, erfährt man einen solchen Moment. Der Gedanke von Bong Joon-Ho ist, dass man in einer solchen Umgebung niemals alleine sein kann, dass also so etwas wie inneres Leben, wie Nachdenken kaum stattfindet. Aber gerade das Fehlen dieser Rückzugsmöglichkeiten etabliert doch eine solche Entfremdung. Man merkt der Bildsprache nicht an, dass dieser Zug ein Gefängnis ist. Wenn ein Film eine ganze Welt in einen Zug verlegt, dann wird er sich solchen existentialistischen Themen stellen müssen. Insbesondere, wenn er am Ausgang damit wartet, dass alles Teil eines größeren Plans ist. „Snowpiercer“ bedient diese Gefühlslage inhaltlich, indem er von gescheiterten Fluchtversuchen und von Gefängniskonstellationen erzählt, nicht aber formell. Man denke beispielsweise an die klaustrophobischen Gänge in „Das Boot“ von Wolfang Petersen oder an die verunsichernden Weitwinkel-Unschärfen in Denis Villeneuves „Incendies“. (Ich nenne hier bewusst Filme, die wie „Snowpiercer“ einen Unterhaltungsanspruch haben; wenn man mit der Tiefenschärfe bei Michelangelo Antonioni beginnen würde, wäre das unfair) Dort wird der Raum als eine Beschreibung des Lebens spürbar. Dies geschieht nicht in „Snowpiercer“ und das ist ein großes Versäumnis des Films. Ich fühle nicht, was diese Menschen erleben und deshalb erscheint mir ihr Begehren, ihre Revolution als abstrakte, intellektuelle Idee statt als Notwendigkeit. Einzig eine auch technisch interessante Schärfenverlagerung von der zerstörten Eislandschaft draußen auf das Fenster, das vor dieser Welt zugleich schützt und sie verhindert, zeugen von einer Sehnsucht, die auch in den Bildern greifbar wird.