Unfaithful Dance of Waves: Gardiens de phare von Jean Grémillon

Im Rahmen der Schau Last Silents im Filmarchiv Austria kam es zu einer tragischen Begegnung zwischen dem Licht und dem Schatten in Jean Grémillons Gardiens de phare. Es ist ein Film, der im enthusiastischen Dialog mit dem Aufbruch im französischen Kino jener Zeit steht (nicht umsonst heißt der Autor des Drehbuchs Jacques Feyder und einer der begeistertsten Kritiker Marcel Carné) und der die avantgardistischen und realistischen Strömungen dieser Zeit in einen dramatischen und abstrakten Strudel verdichtet.

Im Film gibt es einige Schauspieler, die eine Geschichte zeigen in Gesten und Bewegungen. Zwei Dinge, die späten Stummfilmen oft in großer Virtuosität gemein sind. Die Geste als ausformulierter Ausdruck des Stummfilms, die Bewegung als Versprechen einer neuen Ära. Diese Geschichte erzählt von Liebe, Einsamkeit, Sehnsucht, Krankheit, Isolation und Wahn. Es ist das schreckliche Gefühl eines Abschieds, einer notgedrungenen Trennung und eines Unfalls, die über dem Film schwebt. Ein Mann tritt seine Arbeit in einem Leuchtturm an und verlässt dafür seine Liebe für eine längere Zeit. Zusammen mit seinem Vater fährt er auf die kleine Insel, die man vom Festland aus sehen kann. Allerdings wurde er dort bei einem Spaziergang mit seiner Frau von einem tollwütigen Hund gebissen. Langsam kippt er in einen Wahnsinn, der ihn die Entfernung seiner Frau viel deutlicher spüren lässt, ihn von seinem Vater entfremdet und ihn schließlich in einen gewaltvollen, suizidalen Rausch versetzt. Diese Gewalt scheint jedoch viel weniger durch den tollwütigen Hund (der bis auf einen heftigen, wiederkehrenden Flashback äußerst unschuldig und ruhig unter einem Tisch liegend gezeigt wird) verursacht, als durch die beständige Brandung des Meeres, der Sturmgewalt, der Isolation im Leuchtturm, die schließlich tödlich endet.

Wenn die Geschichte hier nur so grob umrissen werden soll, dann hat das einen Grund, denn die eigentliche Geschichte spielt sich anderswo oder sagen wir besser: gleichberechtigt in dem ab, was um die Figuren existiert. Und dieses Um-die-Figuren ist auch In-den-Figuren: Das Meer. Hier furios, gewaltvoll, bedrohlich, aber auch still und fern. Man denkt unweigerlich an Jean Epstein, der in seinen bretonischen Gedichten wie Finis Terræ oder Le tempestaire ein ähnliches Meer gesehen hat. Ein Meer wie ein Spiegel für das Kino. Man kann sagen, dass Grémillon nicht ganz so weit geht wie Epstein mit dieser Poesie des Meeres, der Zeitlichkeit, die jene des Kinos wird und auch der dokumentarischen Kraft der Bilder vom Meer. Eher schon ist es ein Dialog zwischen den Figuren und dem, was um sie ist, was sie letztlich bestimmt, hypnotisiert und täuscht. Es ist als würde die Geschichte vom Meer unterwandert werden. Wellen peitschen gegen die Küste, die Gischt dringt wie eine Bedrohung ein, ein wunderschöner Abgrund. Dann wird dadurch ein Drama ausgelöst, das nicht wie bei Epstein im Meer und den Figuren gleichermaßen stattfindet. Eher ist das Meer, das Grémillon angeblich liebte (es ist schwer zu glauben in diesem brutalen Film, auch wenn man es sehen kann), eine Infusion des Dramas. denn es bringt Sturm, Isolation, Entfernung. Ein wenig spielt das Meer hier die Rolle des Windes aus Victor Sjöströms The Wind. Allerdings ist die Tollwuterkrankung dann doch ein nicht ganz so leicht ignorierterer Widerspruch zur abstrakten Angst von Lillian Gish beim schwedischen Filmemacher.

Dennoch, dieses Meer bestimmt die filmische Welt. Diese Welt setzt sich aus drei Elementen zusammen: Licht, Schatten und Schwindel. Man merkt nicht sofort wie sehr all das am Meer hängt, aber nach und nach zeigt sich, dass das Meer und das, was mit ihm kommt (vor allem der Wind) Schatten und Licht bewegen und zwar nach und nach in einer derartigen Geschwindigkeit, dass ein Schwindel im rauschenden Silhouettentanz des Films entsteht. Das augenscheinlichste Beispiel ist das Licht des Leuchtturms, der die Handlung und den Titel des Films prägt. Wir alles im Film und wie Leuchttürme allgemein, existiert er nur aufgrund des Meeres. Dort im Leuchtturm findet das Drama statt (egal ob aus der Nähe im Wahnsinn einer Isolation oder aus der Ferne in der sehnsüchtigen Liebe einer Hoffnung auf das Licht). Aus der Nähe filmt der überwältigende Kameramann Georges Périnal, dessen Kapazität für den Ozean und Poesie an diesen Ufern noch lange nicht erschöpft war (man denke an Bonjour Tristesse von Otto Preminger oder Le sang d’un poète von Jean Cocteau), die drehende Scheibe des Leuchtturmlichts, der Apparatur, die das Licht in Abhängigkeit der Gezeiten und Tageszeiten steuert. Er filmt die sich drehende Scheibe, die immer abwechselnd Schatten und Licht auf die Gesichter der Leuchtturmwärter wirft, als wäre das der Gang des Lebens. Nicht nur Tag und Nacht, sondern Gutes und Böses, Hoffnung und Tod. Aus der Ferne dagegen ist das blinkende Licht umrandet von einer ungewissen Dunkelheit. In einer anderen Szene kommt es zu einem Todeskampf zwischen den beiden Leuchtturmwärtern. Dieser findet hinter einer Tür statt, die immer wieder auf- und zuschlägt. Man sieht oder man sieht nicht. Die Kamera bewegt sich nicht, es gibt keinen Schnitt. Sie dokumentiert nur das, was man sehen kann und das was verborgen bleibt. Licht und Dunkelheit bestimmt vom Wind. Außerdem eine Art Traumsequenz (man ist vorsichtig mit diesem Begriff, da die Bilder des Films allesamt nicht aus der Klarheit eines Wachseins entwachsen) in der Licht und Schatten ein nächtliches Liebesbild bringen. Es ist als würde Périnal Wellen an die Wände werfen. Die Sehnsucht und die Seensucht verderben sich zu einer Krankheit, einer Angst. Fast perfide und in einer Grausamkeit, die man so selten gesehen hat, löst sich dieses Spiel am Ende des Films auf, als Grémillon zeigt, dass nicht das Licht die Hoffnung ist und der Schatten das Unheil, sondern beide diese nur repräsentieren. Was dann entsteht, ist eine Hoffnung, die eine Illusion ist. Verschluckt in der Dunkelheit eines einsamen Lichts, von dem wir wissen, das es zu spät kommt.

Der Schwindel, der die Krankheit und den Wahnsinn in Bildern zu fassen trachtet, entsteht durch die rasche Abfolge von Licht und Schatten. Er entsteht auch, weil Erinnerungen und Imaginationen sich zwischen den beiden Extremen des Sehens und des Nicht-Sehens entfalten. So sieht der Leuchtturmwärter einmal einen immer schneller werdenden Tanz mit seiner Frau, in dem sich alles dreht und dreht. Ein anderes Mal folgen wir den fiebrigen Erinnerungen an den Hundebiss mit einer superschnellen Parallelfahrt am Meer und den schnellen, wirren Bildern, die sich drehen und drehen. Das Meer selbst schleudert sich gleich eines Vertigo-Abgrunds in diesen Schwindel und verführt den jungen Mann beinahe mit Unschärfen in den Tod. Diese Inszenierungslinien zwischen Licht und Dunkelheit, die in Schwindel führen, erinnern an Les Amants du Pont-Neuf von Leos Carax. Dort setzt der Filmemacher ganz ähnlich wie Grémillon Licht und Dunkelheit, feste und flüßige Materialien gegeneinander. Adrian Martin und Cristina Álvarez López haben sich dazu Gedanken gemacht. Carax und Grémillon erzählen damit eine Geschichte, die sich nur auf der Oberfläche der Leinwand abzuspielen scheint, man möchte eigentlich sagen in abstrakter Manier, aber diese Abstraktion ist Teil einer Narration. Beiden geht es darum weder in einen blinden Abbildrealismus zu fallen noch das Potenzial des Kinos zugunsten einer Erzählung zu verneinen. Bei Grémillon ist es schließlich die Abstraktion einer Täuschung und Enttäuschung. Das Wechselbad aus Hoffnung und Verzweiflung vermag sich nur durch den Einsatz von Licht (ganz wie bei einem Leuchtturm) umkehren, sodass mit einem Schlag in der Hoffnung die größte Verzweiflung liegt.

Gardien de phare de Jean Grémillon from Ensemble Sillages on Vimeo.

Il Cinema Ritrovato: Festivaldialog

Das Il Cinema Ritrovato schickt gerade letzte Lichtstrahlen auf seine Leinwände. Kurz nach ihrer Abreise aus Bologna unterhalten sich Andrey und Rainer über ihr Bild dieses einzigartigen Festivals.

Rainer: Waren Ingrid Bergmans Augen wohl wirklich so blau, wie es uns das Festivalsujet weismachen will?

Andrey: Bestimmt für alle, die ihr in selbige geblickt haben. Aber ich habe hier bislang keinen einzigen Film aus dem Bergman-Tribute gesehen – nicht etwa aus Desinteresse, sondern weil mich das Alternativprogramm stets mehr reizte. Bologna besteht eigentlich nur aus Alternativprogrammen, findest du nicht? Egal, in welchem Film man sitzt, zumindest für einen kurzen Moment juckt einen das Bewusstsein, einen anderen zu versäumen, der womöglich ebenso spannend (und ebenso rar ist).

Rainer: Ich empfinde das ehrlich gesagt ganz anders. Natürlich kann man hier, wie auch bei anderen Festivals, von einem Screening zum nächsten hetzen, aber die besondere Qualität des Il Cinema Ritrovato ist für mich, dass hier keine so gespannte Atmosphäre, sondern eher Urlaubsstimmung herrscht. Da finde ich es dann auch nicht so schlimm, wenn ich mal etwas verpasse. Was soll es überhaupt bringen, den raren und überraren Filmen und Kopien nachzurennen?

Andrey: Nun, die offensichtliche Antwort wäre: Um die Zeit, die einem in diesem cinephilen Schlaraffenland beschieden ist, voll auszuschöpfen, um seinen Horizont zu erweitern und sich filmhistorisch auf den Gebieten weiterzubilden, zu denen einem der Zutritt für gewöhnlich mangels Verfügbarkeit der hier gezeigten Artefakte verwehrt bleibt, damit es einen später nicht reut, dass man einst den verlorenen Schlüssel zum Werk eines geschätzten Regisseurs oder einer faszinierenden Periode in Händen hielt und ihn achtlos beiseite geworfen hat.

Rainer: Das ist ein sehr nobles Anliegen, aber mich darauf zu Lasten persönlicher Vorlieben zu konzentrieren, würde denke ich erst recht meine cinephile Energie erschöpfen, sodass ich womöglich nach einiger Zeit gar nichts mehr mit diesem Schlaraffenland anfangen können würde. Da folge ich im Zweifelsfall doch lieber meinen Leidenschaften und verzichte auf einen Film, den ich vielleicht nie mehr wiedersehen kann (wenn er wirklich so rar ist, dass er zu meinen Lebzeiten nicht mehr gezeigt wird, liegt das womöglich eh daran, dass er nicht allzu gut ist, aber das ist eine andere Frage). Kino soll doch auch Freude machen, oder? Diese Grundeinstellung spüre ich hier in Bologna sehr stark.

Filmvorführung auf der Piazza Maggiore

Andrey: Das resultiert wohl auch aus der zuvor genannten „Urlaubsstimmung“ – das Wetter ist schön, das Essen gut und relativ preiswert, das Programm im schlimmsten Fall „bloß“ interessant, die Atmosphäre entspannt (in der Hinsicht, dass man nicht von seiner Umgebung gestresst wird, wenn man sich nicht stresst – das Gegenteil von Cannes), ebenso die Menschen, die eigentlich alle im Geiste Vertraute zu sein scheinen. Und die alte Universitätsstadt mit ihrem warmen, rötlichen Fassadenkleid macht den Eindruck eines offenen Campusgeländes, auf dem jeder immerzu Freigang hat. Soweit der idealisierende Touristenblick, aber ein bisschen frage ich mich schon, inwieweit die steigende Popularität dieses „Genussfestivals“ (das ich durchaus genieße) nicht symptomatisch ist für die Verlagerung erlebter Filmgeschichte in exklusive Domänen, wo die seltenen Kopien den Status erlesener Rebsorten annehmen und die Projektion zur Degustation wird.

Rainer: Und inwiefern ist das ein Problem? Es ist doch schön, wenn Film als Genussware wahrgenommen wird und wann in der Geschichte gab es denn einen Ort an dem Filmgeschichte bewusster erlebt und als Selbstverständlichkeit wahrgenommen wurde als hier? Es ist mir nicht klar, welches Alternativprogramm du bevorzugen würdest – geht es dir um die Kinoerfahrung vergangener Jahrzehnte, wo man einfach mehrmals die Woche zur Unterhaltung ins Kino ging? Damals war das Bewusstsein für Filmgeschichte und Film als Kunst aber weit weniger vorhanden. Man konnte viele Filme sehen, aber fast ausschließlich aktuelle. Die zunehmende Marginalisierung dieser Kinokultur darf und kann man betrauern, aber ich sehe in dieser Spezialisierung eigentlich eine große Chance für die Filmkultur, auch wenn sie natürlich eine zunehmende Elitenbildung mit sich bringt, die man bekämpfen müsste (allgemein würde ich das Il Cinema Ritrovato aber ohnehin niederschwelliger einstufen als zum Beispiel das Österreichische Filmmuseum).

Andrey: „Exklusiv“ war vielleicht das falsche Wort, aber dieses Festival hat schon etwas von einer Enklave, und Enklaven neigen immer ein bisschen dazu, den Rest der Welt zu vergessen. Andererseits wird ja viel von dem, was hier gezeigt wird, später nach außen getragen und findet seinen Weg in die Cinematheken. Gibt es eigentlich etwas aus dem hiesigen Programm, das du besonders gerne wieder- und anderen zugänglich gemacht sehen würdest?

Rainer: Interessanterweise sind meine Favoriten alle ohnehin Werke relativ bekannter Filmemacher und nicht allzu schwer zu sehen. So zum Beispiel Otto Premingers Bunny Lake Is Missing, Anthony Manns The Heroes of Telemark oder Roberto Rossellinis Europa ’51. Nichtsdestotrotz waren auch die spezielleren Programme wertvolle Erfahrungen, vor allem die Vorläufer des Iranischen Neuen Kinos hätten sich mehr Präsenz verdient – und German Concentration Camps Factual Survey, nach nunmehr siebzig Jahren durch die Arbeit des Imperial War Museums das erste Mal in seiner endgültigen Form zu sehen, sollte zu einem Pflichtfilm für Mittelschüler werden.

„The Heroes of Telemark“ von Anthony Mann

Andrey: Viele der Filme, die du genannt hast, sind digital restauriert worden und wurden hier als DCP gezeigt. Rossellini und (soweit ich weiß) auch Preminger sind schon seit Längerem auf Bluray erhältlich. Ich mache mir dann doch eher Sorgen, dass es so etwas wie die Renato-Castellani-Schau nie über die Grenzen Italiens schafft. Obwohl das jetzt nicht alles Meisterwerke waren, ergänzen sie das neorealistische Universum um einen interessanten Aspekt. Und bei den ganzen Technicolor-Vintage-Prints sowie den japanischen und sowjetischen Farbfilmen würde ich mich auch freuen, diese filmspezifische Visualpracht anderswo strahlen zu sehen. Andererseits fand meine intensivste Kinoerfahrung hier im Rahmen einer Digitalprojektion (und außerhalb eines Kinos) statt, beim Screening der restaurierten Fassung von Rocco e i suoi fratelli auf der Piazza Maggiore.

Rainer: Wenn man es von dieser Warte aus betrachtet, kann ich mich dir nur anschließen: mehr Technicolor-Vintage-Prints braucht das Land. The Heroes of Telemark war allein durch die absurd hohe Qualität der Kopie eine außergewöhnliche Kinoerfahrung. Leider wurde die Vorführung dieses Films, wie auch viele andere durch inkompetente Projektionisten gestört. Wahrscheinlich zeigen sie deshalb Jahr für Jahr mehr digitale Kopien…

Andrey: Die wenigen Digitalprojektionen, die ich besucht habe, wurden auch nicht wesentlich professioneller gehandhabt. Wenn ich mich recht entsinne, habe ich hier überhaupt keine einzige Vorführung erlebt, die nicht von irgendwelchen Störungen, Defekten oder anderen Irritationen geplagt war – der plötzliche Wettersturz während des Screenings von Louis Malles Ascenseur pour l‘échafaud am Tag unserer Ankunft war offenbar ein Menetekel, seiner sommerwilden Schönheit zum Trotz. Auch mit den Beginnzeiten nahm man es nie so genau, ausufernde Einführungen mit hinkenden Übersetzungen führten periodisch zu Verzögerungen, ich hörte sogar von einer 40-minütigen Verspätung. Eigentlich ist diese organisatorische Schludrigkeit absurd bei einem derart ostentativ cinephilen Festival, aber bezeichnend für Bologna ist auch, dass es diesbezüglich kaum böses Blut gibt, gerade mal ein leises Raunzen. Am Ende ist man immer noch froh, hier zu sein.