Widerwillen im Film

Einige skizzenhafte Gedanken zum Widerwilligen im Film, vielleicht auch zum Verachtenden.

Wir denken an die abweisenden Küsse von Jeanne Moreau. Ihre Augen hassen die Welt und in ihren Augen verliebt man sich. Diese Szene im Regen bei La notte von Michelangelo Antonioni, diese mächtige Hilflosigkeit, dieses Nicht-Wollen und dennoch über die nächtlichen Jazz-Straßen gehende in Ascenseur pour l’échafaud von Louis Malle. Es ist eine Würde und Schönheit, die diese nicht akzeptieren kann. Deshalb ist es auch so unüberlegt, wenn Filmemacher sie manchmal als „Schönheit“ verwenden. Jeanne Moreau muss sich selbst hassen. Louis Malle, ein Filmemacher, der immer wieder das Widerwillige einfängt, jenes Widerwillige, das immer dann die Seele touchiert, wenn es auf das Leben an sich gerichtet ist wie in Le feu follet. So wie es sich mit Jeanne Moreau und dem Sex verhält, so ist es mit Gary Cooper und der Gewalt. Gary Cooper geht einen Schritt aus der Leinwand in den Zuschauersaal, wenn er Gewalt anwenden muss, er drückt dabei eine Unbeholfenheit und Stärke zugleich aus und genau darin liegt die Bedeutung dieses Widerwilligen, es ist eine zweite Ebene auf klaren Überzeugungen, es ist der Zweifel vor der Angst, der bei Cooper in Filmen wie Friendly Persuasion oder High Noon so deutlich zum Vorschein tritt. Es ist auch eine amerikanische Idee: Der Mann, der tut, was er tun muss. Jede Gewalt, die angewendet wird, will vermieden werden und daraus entsteht das Aufplatzen der Illusion, die man von sich selbst aufbaut, es entsteht Selbsthass, der im amerikanischen Kino oft vergessen wird, nicht aber bei Gary Cooper.

Gary Cooper Grace Kelly

Dieser Zweifel am Tageslicht in den letzten Stunden der Nacht, das Vergessen der Nacht in der Sonne; großes Filmemachen findet die Dunkelheit im Glanz der Sonne. Es ist die Müdigkeit der Bewohner von Fontainhas bei Pedro Costa, die nicht wie in Hollywood von A nach B gehen können, da sie zu müde sind, zu müde, um einen Liebesbrief zu schreiben, es sind die versteckten Frauen bei Mizoguchi, die Frauen bei Mizoguchi, auch wenn sie sich nicht verstecken, sie scheinen nie gefilmt werden zu wollen, es sind die Figuren bei Renoir, die keine Lust auf das Framing haben, die das Bild verlassen wollen, oft auch die Welt verlassen wollen im Anflug von Gewalt oder Liebe, es ist die Art wie Jacques Tourneur in Canyon Passage einen Western inszeniert, als hätte er keine Kraft, keine Lust auf dieses Genre, die Beiläufigkeit des Lebens, die Geschwindigkeit, die keinen Film zulässt, Film, der den fatalen Augenblick festhalten kann und der fatalen Schönheit in ihrem Zerfall beisteht und sie dabei doch entblößt. Die Schönheit des Kinos ist widerwillig, sie ist eine Illusion. Widerwillige Illusionen wie bei Abbas Kiarostami, bei dem der Zweifel am Licht jederzeit mitschwingt und ein neues Licht generiert. In Canyon Passage scheinen die Figuren schneller zu gehen, als in anderen Western, sie sprechen ihre Zeilen trocken herunter, aber das Trockene ist nicht unbedingt das Widerwillige, denn das Trockene strahlt eine gewisse Souveränität aus, eine Abgeklärtheit gegenüber der Machtlosigkeit, während das Widerwillige deutlich mehr leidet und deutlich weniger akzeptiert.

Nehmen wir drei Szenen, in denen das Widerwillige hervortritt. In Opening Night muss Gena Rowlands betrunken auf die Bühne treten. In ihrem Widerwillen und ihrer Verachtung taucht ihr Wille auf, ihre Kraft und Würde, denn das Widerwillige ist keineswegs die Ausnahme, es ist die Regel und das nicht nur in diesem Film. Film ist hier in der Lage einen unsichtbaren Kampf gegen innere Kräfte sichtbar zu machen. Selbsthass, Trägheit oder Angst können (im Kino) zu Hindernissen werden, die weit über die billigen Drehbuchkniffe von teuren Drehbuchratgebern hinausreichen. Es ist die Zeit, die nicht nur in Opening Nights dieses Hindernis bedingt, Zeit als auf uns zukommender Druck, als Schwüle, der wir uns nicht entziehen können, Schwüle, die unsere Schönheit zerfließen lässt; es ist Film, der dieses Zerfließen in Schönheit verwandeln kann. Die zweite Szene stammt aus Anchorman: The Legend of Ron Burgundy von Adam McKay. Steve Carell als Brick Tamland ist an der Reihe mit dem Versuch, ein Date mit der neuen Nachrichtensprecherin Veronica Corningstone zu bekommen. Er will das gar nicht. In dieser herrlich komischen Szene offenbart sich die ganze Absurdität des Widerwillens, der eben nicht zuletzt darin besteht, dass man so viele Dinge tut, die keinen Sinn ergeben. Beim Sprechen seines fehlerhaft auswendig gelernten Anmachspruchs bewegt sich Carell schon leicht nach hinten, hier wird der Widerwille zur Flucht während man nach vorne geht, ein Vertigo-Effekt des menschlichen Verhaltens. Gibt es einen Schwindel im Widerwillen? Schwindel als Lüge, Schwindel als Krankheit. Es ist sicher eine Lüge dort, eine Lüge, die sich selbst belügt, aber noch viel mehr den Gegenüber, denn der kann – im Gegensatz zur Kamera – den Widerwillen oft nicht erkennen. Das ist es auch, was den Widerwillen so geeignet für das Kino macht. Es ist eine Chance für den Kinematographen etwas Unsichtbares zu entdecken, was sich nur durch die Kamera festhalten lässt; nur durch das Kino können wir den Widerwillen in einer fremden Person wirklich spüren und ihre Lüge zu unserer Wahrheit werden lassen. Mit dem anderen Schwindel verhält es wie in Vertigo von Alfred Hitchcock, denn das Vertrauen in Überzeugungen und Bilder löst sich mit der Zeit und in der Zeit und durch die Zeit auf. Dieses schwindende Vertrauen bricht den Willen, es ist als würde man den Partner beim Betrug erwischen, dann schwindet der Wille zur Liebe wie am Ende von La notte, bei dem der Widerwille allerdings schon vor dem Betrug kommt. Wenn Jimmy Stewart am Ende auf den Turm klettern muss, dann ist da ein Wille und das Wider liegt im Ungreifbaren, in der Erinnerung, im Psychologischen. Hitchcock verbindet den Widerwillen auch mit dem Glauben an das Übernatürliche, Übersinnliche. Ohne diesen Glauben herrscht oft ein Zweifel, der das Überwinden des Widerwillens nicht zulässt. Das Kino als Über-Sinn, also müssen wir ans Kino glauben, um unseren Widerwillen aufzuheben, aber das Kino ist tot, also glauben wir noch an die Präsenz seiner Geschichte? Ein Widerwille gegenüber der Gegenwärtigkeit der Gegenwart, eine Emotion des Museums so wie Vertigo.

Gena Rowlands Opening Night

Wir denken an den Widerwillen zur sozialen Interaktion in Cristi Puius Aurora, an die fehlende Bereitschaft zu einem normalen Leben in Filmen wie Casino von Martin Scorsese oder Zero Dark Thirty von Kathryn Bigelow, wir denken an die Selbstzerstörung von Erich von Stroheim, bei dem sich Widerwillen gegenüber des Anderen in jeder Geste manifestiert und der Kleidung immerzu abschätzend trägt und wie Jeanne Moreau genau darin seine Würde findet, die driftende, treibenden Gestalten des Kinos, die nicht genau wissen, wohin es sie führt, wie Mouchette, die konsequent nur im Selbstmord sein kann, wie die Erinnerung (oder mehr) einer Liebe in Solaris von Tarkowski, die wir hinter Türen sperren, gewaltvoll, im Kino ist Widerwillen immer viel gewaltvoller als im echten Leben, weil im Kino das Gefühl, der Impuls reagiert, wie in den Melodramen von Douglas Sirk, in denen ein riesiger Spalt zwischen dem was man will und dem was man rational tun muss, klafft.Und dann gibt es da Ingmar Bergman. Bei ihm spielt sich immerzu ein Melodram und die Vernichtung dieses Melodrams zur gleichen Zeit ab. Das Melodram, das sind seine Naheinstellungen und die Schreie in seinem Kino, diese Blicke in die Seele, plötzliche Panik, Ausbrüche des Gefühls, der Trauer. Und der Rest, das ist immerzu der Widerwille, jenes Element, das diese Gefühle nicht herauslassen will, das abgehärtete oder abgeklärte Versteckspiel der Emotionen, das sich vielleicht mit Existentialismus beschreiben oder zumindest damit erklären lässt. Der heftigste Ausbruch dieses Widerwillens sind das Schweigen, das Lachen und das Spielen der Figuren bei Bergman. Ihr Lachen versteckt oft ein Grauen, ihr Spielen vergisst es und transformiert es und macht es dadurch greifbar und ihr Schweigen ist genau jener Druck der Zeit, der uns verstummen lässt, ein Widerwille zu sprechen, ein Widerwille gegenüber sich selbst, es ist nicht nur Persona, dieses Echo einer Selbstverachtung, einer Angst und eines unterdrückten Melodrams, das selbst zum Melodram wird, findet sich von Kris bis Saraband. Der Unterschied scheint mir nur, dass Bergman manchmal den Willen hatte, diese Gefühle zu filmen und manchmal den Widerwillen zu filmen, selbst gefilmt hat. Letztere sind seine besseren Filme.

Erich von Stroheim

Dieser Konflikt dominiert das Kino und egal was einem schlaue Industrielehrende verkaufen wollen, das Kino ist dafür geboren, diesen inneren Konflikt darzustellen: Was man will und was man nicht kann, was man kann und nicht will. Darunter liegt die zitternde Schwäche einer Wahrheit, die zerfließt und die wir nur für flüchtige Momente der Einsamkeit erspüren können, in einem Schnitt bei Godard, den Augen Gary Coopers, dem Gang von Jeanne Moreau oder Robert Mitchum oder einer Kamerabewegung bei Josef von Sternberg.

Boudu sauvé des eaux von Jean Renoir

Boudu Jean Renoir

Welch ein filmisches Gedicht, wenn Jean Renoir in seinem Boudu sauvé des eaux (und nicht nur dort) immer wieder betont, dass ein Bild nur von einer Realität umgeben, wirken kann. Bei ihm ist ein Establisher eines Abendessens eine Erkundung des Raumes. Seine Kamera steht in einem anderen Zimmer und filmt durch den Flur. Im Vordergrund ist so eine Familiengeschichte, eine Geschichte des Hauses und im Hintergrund ist die eigentliche Szene. Dies ist genauso politisch wie filmisch motiviert. Von einem herkömmlichen Establisher kann man jedoch kaum sprechen, da Renoir immer wieder seine Räume und Flächen durchdringt und ihre Perspektiven benutzt, um Gegensätze aufzuzeigen und jede Einstellung zu einem poetischen Nieselregen werden lässt. Bei ihm sind die Wände eines Hauses, die Fenster und Türen, der Blick zwischen zwei Bäumen und ein durch das Bild treibendes Boot immer die Tiefe statt der Rahmen seiner Geschichte. Die Kamera wird parallel fahren, der Blick von den Mauern verdeckt; dieser Blick, der von Türen gerahmt erscheint und von den Lichtern mit Tiefe versehen wird.

Zur Theatervorlage von René Fauchois fügte Renoir die zahlreichen Außenszenen hinzu, die zum einen immer so konstruiert sind, dass am Rand der Bilder ein Raum entsteht, der den Zufall der Welt in die Konstruktion einer kinematographischen Realität hineinlässt und zum anderen von realhistorischen Räumen erzählt, die ganz wie die Geschichte des Films auf eine Klassenkollision zielen. Boudu, ein Tramp, der wie Chaplin keine Ambitionen hat, seinen Stand zu verlassen (dann schon eher sein ganzes Leben!) wirft sich in die Seine. Dort wird er ausgerechnet vom Muster-Bourgeoise Buchhändler Lestingois gerettet. Dieser wird gemeinsam mit seiner Haushälterin (mit der er eine Affäre hat) und seiner Ehefrau versuchen, Boudu zu einem guten Bürger zu erziehen. Michel Simon spielt Boudu in einer zerreißenden Komik zwischen Verrücktheit, Anarchie und Emotionalität. Eine politisch-soziale Satire also, die jedoch durch die speziellen formalen Vorlieben von Renoir zu einem existentialistischen und visuellen Kinoereignis wird, das weit über das bloße zynische Schmunzeln hinweggeht. Das Spannungsfeld liegt zwischen Zuneigung und Unzufriedenheit und Renoir vermag es, seine Unzufriedenheit durch seine Zuneigung auszudrücken. Damit ebnete er den Weg für das italienische Kino der Nachkriegsjahre, für François Truffaut, für Glauber Rocha, für (man traut es sich kaum zu schreiben) Jean-Luc Godard, Wim Wenders und eigentlich alle anderen ernsthaften Filmemachern auch. Sukdevh Sandu begann sein Review aus dem Dezember 2010 für den Telegraph mit folgenden Worten: It’s hard to imagine cinema without Boudu Saved From Drowning.

Boudu Jean Renoir

Die Freiheit des wandernden Blicks, von der André Bazin in Bezug auf Renoir gesprochen hat, wirkt aus heutiger Sicht überholt, aber nach wie vor nicht ganz weit hergeholt. In Zeiten in denen der Zufall und der Impuls eine große Rolle im künstlerischen Kino spielen, zeigt Renoir, dass ein wandernder Blick und eine Offenheit der Welt auch in einem Bewusstsein für alle Komponenten des Bildes und des Tons entstehen können. Zum einen deutet er mit seinen Dekadrierungen und Entleerungen immer wieder an, dass sich die Welt im Off-Screen fortsetzt und zum anderen sind seine Bilder mit einer solchen Vorsicht für Vordergrund und Hintergrund gebaut, dass dort einfach etwas passieren muss, was uns erlaubt, eben entweder den Vordergrund oder den Hintergrund oder den Rand des Bildes zu beobachten. Dennoch liegt da ein brennender Fokus und Renoir selbst hat davon gesprochen, dass Boudu für ihn ein Film sei, der um die Performance eines Schauspielers gebaut wurde. In diesem Zusammenhang kann man auch die Teleobjektiv-Aufnahmen aus großer Entfernung verstehen, die Boudu wie ein Raubtier in den Straßen von Paris verfolgen. Ein solches Vorgehen wählte auch häufig John Cassavetes (man denke an die unfassbare Gene Rowlands, torkelnd mit Zigarette und Sonnenbrille in Opening Night) oder Agnès Varda in ihrem Cléo de 5 à 7. Die Schönheit dieser Aufnahmen liegt in ihrer Direktheit, denn jeder Schritt fordert eine erhöhte Aufmerksamkeit der Kamera, die Texturen zwischen sich und den Raubtieren erforscht während sie sich elegant selbst als Raubtier offenbart, immer folgend, blickend, lauernd. Dabei wird der Vordergrund immer wieder verdeckt zum Beispiel durch vorbeifahrende Autos, die wiederum von einer Welt jenseits der Fiktion erzählen.Das gleiche gilt für Zwischenschnite auf beteiligte und unbeteiligte Statisten und Passanten.Gleichzeitig setzt Renoir die verschiedenen Mittel natürlich ein, um Gegensätze zwischen den Ständen und Lebensweisen aufzuzeigen. Damit wandert hier nicht nur der Blick sondern die gesamte Wahrnehmung dieses Blicks.

Man könnte zum Beispiel über die Nachbarsfrau im Film schreiben. Sie erscheint immerzu in der Tiefe des Bildes, waschend an einem Fenster zum Innenhof. Sie hat keine Geschichte, sie ist lediglich eine soziale Realität, die das Bild zu einem Ereignis werden lässt. Denn dort ist Leben hinter dem Fenster, im Fenster und auch neben dem Fenster. Sie ist gleichzeitig ein fiktionaler Faktor ästhetischer Verspieltheit und ein dokumentarisches Element im Paris der 1930er Jahre. Und zwischen diese beiden Polen bewegt sich Renoir, der sie entweder für einen politischen Drang oder für ein humanistisches Begehren benutzt, im Zweifelsfall aber für beides zugleich.