Taubenblicke VII

Taubenblicke VII

Februar am Land: Die ersten blühenden Schneeglöckchen des Jahres am Wegrand, die, nach dem Nachtschlaf, im Frühmorgenlicht ihre müden Blicke auf die Schuhe von uns Vorbeigehenden richten, und im Gras vorm Haus liegt eine tote Kohlmeise, der schwarze Streif auf ihrem Bauch das einzige Dunkle im rundherum leuchtenden Grün

Verwechslung: Die gelben, in den Sträuchern hängenden Einwickelpapiere der Süßigkeiten unter der Birke sind Forsythien

Der dunkle Winkel im Schlafzimmer, der durch die vorbeizischende Taube vor dem Fenster für den Rest des Tages erhellt wird

Zauberlesezeichen: Verschiedene abgebildete Vögel auf einer nicht abgeschickten Postkarte, die beim Aufschlagen des Buches zum Singen gebracht werden – herrliche Begleitmusik beim Lesen, jeder einzelne Ton wie ein Wort – und ihr sofortiges Verstummen, sobald das Buch zugeklappt wird

Am Fenster stehend, frühabends: In der zunehmenden Dunkelheit klingen die Kinderstimmen unten im Park ferner, als sie es sind; ihr Näherrücken beim Einsetzen des Nachtigallgesangs

Liebesgeschichte: Die Krähe auf der Straßenlaterne wäscht sich im Morgenregen, und darunter tauscht ein junges, verknalltes Paar ihre Brillen aus; ihre verschwommenen Blicke aufeinander durch die nassen Linsen

Aus Dankbarkeit für den Besitzer des Friseurladens, der lächelnd Brösel an die Tauben verfüttert, die spontane Entscheidung, mir bei ihm die Haare schneiden zu lassen (Im Gegensatz zu den Menschen, die mit einem Fuß auf den Boden stampfen, um die Tauben beim Essen zu verscheuchen: Hass)

Der verlassene, rotgefärbte Bahnhof, eher einem Schuppen gleich, irgendwo zwischen Semmering und Mürzzuschlag, aus dem Zugfenster erblickt und den Wunsch verspürt, dort auszusteigen, um ihn für ein paar Stunden Gesellschaft zu leisten, ihn in seiner Einsamkeit zu trösten

Auf der Rückreise, ein paar Tage später: Wo der Bahnhof stand, ist nun eine leere Fläche; schwebende Federn über braunem Gras

Eine Pflanze durchquert den Park; über ihrem Kopf eine fliegende schwarze Kappe

Das Schulkind an einer Straßenkreuzung, sein Kopf hektisch links und rechts zuckend wie eine…eben, wie eine Taube

Und am Fensterbrett eines Nachbars im oberen Stock sitzt tatsächlich ein Papagei – nein, sogar zwei! – beleuchtet vom Licht einer Lampe; ihre rotgelborangenen Bäuche eine Wiederholung der nun erloschenen Abendhimmelsfarben; und der unwillkürliche Ausruf des dies alles Sehenden (wenn auch an niemand gerichtet): „Schau!“

Taubenblicke VI

Anfangssatz des Kinderbuches: Am Nachmittag des 16. Februars trägt ein Taubenschwarm die Uhrzeiger der neonbeleuchteten Uhr an der Westbahnhofsfassade in ihren Schnäbeln fort und somit bleiben alle Züge an diesem Tag stehen

Tatort: Die dichtenden Spatzen im Innenhof, der Tagmond am Himmel, und auf dem Boden liegen die zerfetzten Überreste einer Birkenfeige mit zersplittertem Topf neben einer Mülltonne, aus deren Öffnung die platten Vorderreifen eines Kinderfahrrads beim Fluchtversuch herausragen

Fundstück: Papagei VERMISST! Ich suche meinen geliebten Papagei Julio. Bitte helft mir, ihn zu finden! Hat Angst vor allem vor Hundegebell und Kindern und redet ungern. Wenn ihr ihn gesehen habt, bitte melden unter: +43676XXXXXXX Finderlohn: 1000€

Das plötzliche Verstummen des tobenden Nachbarskindes beim Videospielen, als es draußen, trotz des blauen Himmels, plötzlich anfängt zu regnen

Im Traum ein Bettlaken, auf dem eine riesige Schwalbe abgebildet ist, geschenkt bekommen, und im Augenblick des Aufwachens schlägt sie ihre Flügel vor dem Fenster

„Schwalben sind herrlich, ned?“ (Thomas Bernhard)

Verwechslungsmanie (oder Schlaflosigkeit):

Das dunkelerdfarbene Ahornblatt auf dem Fensterbrett ist ein Taubenkotfleck, eine leicht verrottete Hand; das Quietschen eines Fahrradreifens ist der winselnder Nachbarhund; der schmale, viereckige Streifen Sonne auf der Bettdecke ist der orange Einband eines aufgeschlagenen Buches; die Blutstropfen im Gras sind im Näherkommen kleine, zerplatzte Luftballons einer vergangenen Geburtstagsfeier; das Weinen eines Kindes am Spielplatz ist das Lachen eines Alkoholikers auf der Schaukel; das weiße Rauschen im Traum ist der Wind in den Bäumen; die reisemüde Zugbegleiteransage im amerikanischen Akzent, ist, bei der Einfahrt nach Wien Meidling, die eigene Stimme; das Morgengrauen ist die Abendsonne; die zerquetsche Schnecke vor der Haustür ist tatsächlich nichts anderes als der zu beweinende Anblick einer zerquetschen Schnecke vor der Haustür…

Letzter Satz des Kinderbuches: In den frühen Morgenstunden des folgenden Tages erscheinen die Uhrzeiger, ohne erklärbaren Grund, wieder an der Westbahnhofsfassade, mit keiner Spur der diebischen Tauben und somit können die Züge von Neuem ihren regulären Betrieb aufnehmen

Taubenblicke V

Verwechslung (nachts, vor der Haustür): Das Gequietsche einer Maus mit einem kleinen drehenden Plastikwindrad auf dem Fensterbrett des gegenüber stehenden Gebäudes

Verwechselung: Ein schwarzer, zitternder Klumpen am laublosen Ast des Schnurbaums, der durch einen plötzlichen Böllerknall zu einem wegfliegenden Vogelschwarm wird

Samstag, 2. Dezember, Tag des großen Schneefalls: Selbst die Erwachsenen werden zu Kindern und umgekehrt: Eine Mutter bewirft ihr Kind mit einem Schneeball, worauf das Kind sie anschreit: „Mama! Sei nicht so kindisch!“

Verwechslung (vor dem Fenster): Die auffliegenden, weiß gesprenkelten Tauben mit himmelwärts geblasenen Schneeflocken, die sich beim zweiten Blick als emporwehende Notizbuchseiten herausstellen (oder war es umgekehrt?)

Und wo vor ein paar Tagen das Plastikwindrad am Fenster stand, hängt jetzt eine Schlafdecke zum Trocknen; von ihren Enden tropft schmelzender Schnee auf die Köpfe der darunter gehenden Passanten

Im Halbschlafzustand: Ein leicht vernehmbares Krächzen, das sich im Wachsein als das Geräusch der organgekleideten Schneeschaufler unten im Park herausstellt, die mit ihren Geräten vergeblich versuchen, sich begehbare Wege zwischen den Schneemännern zu bahnen

Nochmal der 2. Dezember: Immer noch – und hoffentlich bleibt es auch so – versuchen auch die Erwachsenen im Park, die Schneeflocken mit ihren Zungen zu fangen, mit einer ernsthaften Beharrlichkeit, die oft nur bei Kindern zu sehen ist

Gleichzeitigkeit (am Fenster stehend): Im Kopfkino einen Sonntag im Park Anfang Juli abspielen, an dem das Öffnen der Bierdosen rundherum zu hören ist, während das Durchbrechen der überfrorenen Regenpfützen unter den Füßen der Gehenden ertönt

Und wo vor ein paar Tagen die Schlafdecke aus dem Fenster hing, ist jetzt nichts

Taubenblicke IV

Erster Blick des Tages: Kein Taubenblick, sondern ein Taubenfleck; die Vogelscheiße auf dem Fensterbrett

Die Krähe unter dem Schnurbaum im Regen stehend, als ginge sie das alles nichts an.

Das junge Mädchen unten im Park, das mit ihrem Hund spazieren geht, sagt in ihr Handy: „Halt deine verfickte blöde Schnauze“, und der Hund neben ihr schaut verlegen zur Seite.

Der Alkoholiker im Rollstuhl blickt auf die am Boden liegenden Sonnenblumenkerne, als schaue er in den Spiegel.

Die Menschen betreten den Supermarkt, als ob sie ihre Wohnungen betreten würden.

Der linkshändige junge Mann auf der Bank, seine zitternde zeichnende Hand

Die vielen Zigarettenstummel auf dem Boden, eine nicht zu entziffernde Sprache

Verwechslung: das Hin- und Herrollen einer Blechdose mit einem letzten Atemzug

Vom offenen Fenster hören: „Polizei! Stehenbleiben! Ich schieße!“ und draußen ist nur ein allein im Sandkasten spielendes Kind.

Abend im Park während des Ramadans, das einzige Geräusch: das Geklirr von Blechbesteck in der Souterrain-Moschee.

Letzter Blick des Tages: Der alte Asiate unten im Park beim Hunde-Spazieren, der „Rollin‘ on the River“ von Creedence Clearwater Revival vor sich hinsingt, und der Hund neben ihm schaut ihn liebevoll an.

Taubenblicke III

Verwechslung: Ein vom Wind getragenes Plastiksackerl, das zu Boden fällt, mit einer landenden Amsel

Der nach einer wegfliegenden Taube springende Junge; zu seinen Füßen, die Überreste von Hühnerknochen (Urban Loritz-Platz)

Der Berner Sennenhund schaut auf die Taube wie ein älterer Bruder auf seine kleine Schwester.

Die Taubenfeder im Stiegenhaus, daneben eine leere Flasche Wieselburger und im Hof, der in der Luft herumwirbelnde Staub vom gerade ausgeschüttelten Teppich.

Vor dem Eingang der Souterrain-Moschee ein freihändiger Besen, der den Gehsteig kehrt. (Die Entfernung nach Mekka: 1046,62 km südöstlich)

Der Alkoholiker im Rollstuhl sagt zu den Müttern, während ihre Kinder im Sandkasten spielen: „Diese Sandburgen werden nie halten!“

Die zwei Pingpong spielenden Kinder, beide so klein, dass ihre Köpfe kaum den Tisch erreichen, der Wind, der den Ball ständig wegbläst.

Vor der Wohnungstür, der erste Blick am Tag: der schlafende Junge im Fahrersitz eines Autos, sein Mund weit offen, die Hände das Lenkrad umklammernd, während im Rücksitz die Eltern auf ihre Handys schauen.

Eine Mutter und ihr Sohn tragen gemeinsam eine Einkaufstasche die Allee entlang, jeder einen Griff in der Hand, während der Sohn seiner Mutter die Zahlen auf Deutsch beibringt: „eins…zwei…drei…vier…fünf…sechs…“

Dann später am Abend in der Wohnung von draußen hören, wie die Kinder unten im Park Versteck spielen, das laute Aufzählen einer unsichtbaren, älteren klingende Stimme im dunkeln Wirrwarr der Schatten und Bäume: „…sieben…acht…neun…zehn…!“

Taubenblicke II

Yppenplatz/Brunnenpassage: die hängende hellrosa Jacke als einziges Licht in dem ansonsten dunklen Raum und draußen vor der Tür zittern die Regenpfützen

Verwechslung: ein auf dem Boden liegender Werkstatthandschuh mit einer toten Taube (frühmorgens, Akkonplatz)

Im Park hören, wie ein Kind seine Mutter fragt: „Mama, warum ist heute Donnerstag?“ und bevor sie antworten kann, sagt der Alkoholiker im Rollstuhl neben ihnen: „Weil gestern eben Mittwoch war, warum denn sonst?“

In der Goldschlagstraße vor der roten Wohnungstür, leere, im Wind wirbelnde Briefumschläge wie große, traumhafte Schneeflocken, als wären sie ein Ersatz für den ausgebliebenen Schnee des letzten Winters.

Verwechslung: das Miauen einer Katze mit dem Weinen eines Säuglings (frühmorgens, Reithofferpark)

Das Kind auf der Markgraf Rüdiger-Straße, das sich im Rückwärtslaufen selbst zum Umfallen bringt, dann sofort aufsteht, und denselben Vorgang die ganze baumbeschattete Straße entlang wiederholt, bis es aus dem Blick verschwindet.

Die zwei auf dem Tischtennistisch auf und ab springenden Jungen (Geschwister?), während der Golden Retriever im Gras schläft und die plötzliche Erinnerung an den verstorbenen Bruder.

Das spätnächtliche Schwirren der ein- und ausfahrenden S-Bahnen und Fernzüge vom Westbahnhof zum Fenster im frühlingshaften Wind hereingeweht als einziges lebenswarmes Geräusch im menschenleeren Park. (Selbst die Nachtvögel und Hunde, die den Park ansonsten bevölkern, scheinen endgültig aus der Welt entschwunden zu sein…Nur der Umriss einer Stofftierkatze im Fenster des gegenüberliegenden Gebäudes ist übriggeblieben.)

9 Uhr: Die Besitzerin der Buchhandlung am Kriemhildplatz tritt heraus aus ihrem noch geschlossenen Laden (im Schaufenster hinter ihr, das Herausleuchten aus der Dunkelheit der verschiedenfarbigen Buchdeckel), zündet sich eine Zigarette an, und als es langsam zu regnen beginnt, nimmt sie Platz auf der weißen Holzbank neben dem Eingang und lässt sich für eine kurze Weile nass werden, bis sie ausgeraucht hat, die Zigarette am Boden mit ihrem Schuh ausdrückt und wieder hineingeht.

Taubenblicke I

Auf der Rustenstegbrücke, auf die das letzte Tageslicht fällt, verlangsamen die Menschen ihren Gang, bis sie allmählich stehenbleiben, Richtung Hütteldorf blicken, und ihre Gesichter in die Sonne halten.

Ein junger Mann auf einer Bank in der Markgraf-Rüdiger-Allee, der so vertieft in sein Handy ist, als wäre es ein spannendes Buch.

Die am Würstelstand arbeitende Frau, die Anna Karenina lippenbewegend auf Russisch liest und neben ihr, auf der Theke, die dampfende Teetasse. (Märzstraße/Schweglerstraße)

Das Knarren der Lederschuhe des vorbeigehenden Verkehrspolizisten und über ihm, die im Wind flatternden Blätter der Lindenbäume und noch weiter höher das langsame Ausbleichen eines Kondensstreifens im Himmel. (Markgraf-Rüdiger-Allee)

Unter dem Dachvorsprung der Kirche auf dem Kriemhildplatz in Gesellschaft eines Kindes dem niederprasselnden Regen zuschauen… Dann das jähe Aufhören des Regens, als hätte jemand einen Knopf gedrückt, und das Kind springt mit einem Lächeln auf den nassen Pflastersteinen.

Ein kleines Mädchen in der Goldschlagstraße, das eifrig die Maikäfer auf dem Gehsteig zerquetscht, während ein Junge auf seiner Mutter mit einer grünen Wasserpistole schießt. (Auf dem Boden: Wassertropfen, Maikäferleichen, Sonnenblumenkerne)

Eine Krähe, die auf einem Mistkübel sitzt, den Müll mit ihrem Schnabel herauspickt und jeden Gegenstand auf dem Boden wirft, bis sich schließlich eine Müllinsel im Gras bildet – und der orange gekleidete Müllmann, der eben gerade die Straße gekehrt hat und dem traurig beiwohnen muss.

Der Alkoholiker im Rollstuhl im Reithofferpark klammert sich an die Weinflasche, als wäre sie sein letzter Halt.

Als der heulende Krankenwagen die Märzstraße hinauffährt, verstummen die ansonsten immer laut tönenden und wild gestikulierende Kartenspieler im Park und für diesen Augenblick wird es am Tag endlich einmal still.


Notizen zu Peter Goedel

Ein Personenportrait erreicht seine eigensinnige Qualität, indem es die Hülle der Menschen, wie sie tagein, tagaus einander begegnen, berührt; sie ansticht und entblättert. Es bildet sich eine Form, während eine andere, fremde zerfällt. Sie wird in der Neuen aufgefangen. Die Protagonisten in Peter Goedels Filmen verstehen es, sich zu zeigen, auch wenn sie selbst sonst übersehen werden. Das haben die Menschen und seine Filme gemein. Goedel lässt sich von ihnen erzählen und erzählt im selben Moment.

Immer wieder betont er am Rande seine Filme im Laufe der kleinen Werkschau des Österreichischen Filmmuseums, dass ihm nur eine Materialreduktion, die Tiefe seiner Portraits ermögliche. 35 Millimeter, Schwarz-Weiß. Von Tiefgang ist jedoch keine Rede, vielmehr Konzentration. Eine Konzentration, die die offensichtlichen sowie versteckten Furchen in den Gesichtern herausstellt. Spärlich beleuchtet, spröde inszeniert, bleibt trotzdem eine Oberfläche bestehen, die alles Dahinterliegende nur erahnen lässt, unvermittelt.

Bereitwillig, fast übersprudelnd, liefern sich die portraitierten Menschen Peter Goedel aus, geben sich hin. Weder im Lärm noch in der Stille lässt Goedel von ihnen ab. Wie brandende Wellen am Strand, unaufhörlich. Jede Minute erscheint mit aller Nüchternheit außergewöhnlich hingebungsvoll. Goedels Filme zeigen, dass bloße Sympathie für Menschen nicht ohne gebotenes Vertrauen und Direktheit zu haben ist. Das gilt für das Kino im Ganzen, egal mit welchem Material, womöglich.

Tage später, mit Freunden im Kino an einem Sonntagnachmittag – Jacques Demy, Peau d’âne. Menschen, verkleidet als Statuen, bemalt in Blau und Rot. Kleider in Farben des Wetters, des Mondes, der Sonne. Für einen kurzen Moment schien das Märchen in Technicolor und die Realität Grau in Grau – aller Unvereinbarkeit zum Trotz – vom Selben zu sprechen. Aber der Sinn, der Gedanke verblieb im Schatten, unverstanden und ging verloren. Oftmals wirkt in den dunklen Ecken eines Kinos alles offensichtlich und luzid. Erst danach legt sich darüber ein schwerer Dunst. Wohl der, eines heißen Sommertages.

Verschwundene Notizen zu Wolfgang Staudte

Wenn ich ins Kino gehe, ist das Notizbuch in der Regel ein treuer Begleiter. Vor allem dann, wenn ich mehr als einen Film sehe. Gelegentlich sammeln sich darin Tickets, die beim Aufschlagen immer aus den Seiten herauszufallen drohen. Die meiste Zeit ruht es anteilnahmslos in der Tasche unter dem Sitzplatz. Sein schwarzer Einband macht sich im Dunkel des Saals unsichtbar. Oft denke ich beim Schauen daran, woran ich mich später noch einmal erinnern will. Man könnte denken, es liegt wohl deshalb nahe, sich während des Films Notizen zu machen. Aber selbst wenn ich es tue, stößt diese merkwürdig akademisch geprägte Disziplin im gleichen Moment auf ein gewisses Unbehagen – als wolle man den Film mit einem voreiligen Urteil bezwingen. Meist sind diese unleserlichen Bemerkungen im Nachhinein sowieso nutzlos und dienen höchstens dazu, die Eindrücke bloß in der richtigen Chronologie zu ordnen. Dann doch besser direkt nach Verlassen des Saals? Auch dann ist selten der richtige Zeitpunkt. Entweder ist es Erschöpfung oder die Suche nach Ablenkung, die sich auf einmal in den Weg stellt. Als würde man versuchen, mit Aufblenden des Saallichts, die angespannte Aufmerksamkeit zu verteiben, fällt es mir schwer direkt im Anschluss einen klaren Gedanken zu fassen. Meist denke ich erst einige Stunden oder Tage später wieder an den Film, der nun allerdings ein ganz anderer ist. Manchmal halte ich diese Gedanken fest, oft vergesse ich sie wieder. Lose Wortfetzen, die zunehmend ihre Bedeutung verlieren, niederzuschreiben, wird so mehr und mehr zum Zwang. Noch nie habe ich mich jedoch gefragt, weshalb ich diese Notizen wirklich sammle.

Einige Tage sind jetzt vergangen nachdem ich vier Filme von Wolfgang Staudte beim diesjährigen Il Cinema Ritrovato sah. Das nachleuchtende Bild in meinem Gedächtnis hat sich mittlerweile vernebelt. Meine Notizen sind spärlich bis gar nicht vorhanden – die Gründe sind bekannt. Seltsam fließen die Filme jetzt ineinander. Schon beim Sehen suchte ich nach verbindenden Elementen. Nach etwas, das Orientierung schafft in Wolfgang Staudtes so umfassend wie unübersichtlichem Œuvre. Bis ich die Filme sah, war mir seine Bedeutung kaum bewusst. Ein paar seiner Filme kannte ich aus der Kindheit. Seine sonderbare Stellung als Grenzgänger im geteilten Deutschland in doppelter Hinsicht spielte damals aber keine Rolle. Auch wenn die Filme, die ich sah, unterschiedlicher nicht hätten sein können, schienen sie alle zur Beschreibung einer fragilen, unwirklichen Gestalt, der eines Grenzgängers, hin zu drängen.

Das Lamm, ein DEFA-Film gedreht im Schatten der Metallwerke des Ruhrgebiets, verfolgt einen eigenbrötlerischen Jungen auf Abwegen durch eine Nacht gemeinsam mit seinem Tier. Die Erfahrungen, mit denen er konfrontiert wird, bilden das ganze Spektrum einer Nachkriegsgesellschaft ab, die sich eigentlich auf dem Weg zum Wirtschaftswunder befindet. Das ist für Staudte aber zweitrangig. Wichtiger ist offenbar, dass sich der eigensinnige Junge gleich seinem Tier am Ende in das Kollektiv – also in die Gemeinschaft und nicht vorangig die Gesellschaft – einreiht. Die Rebellion greift diesen Impuls auf, aber wendet ihn augenblicklich ins Gegenteil. Gerade noch, wenn der Kriegsinvalide Andreas Pum integriert zu sein und seine Rolle gefunden glaubt, stößt ihn die Gesellschaft ab wie einen Fremdkörper. Zu Unrecht sitzt er im Gefängnis und verliert alles was ihm blieb. Sein unausgefülltes Leben endet schließlich an seinem untröstlichen Arbeitsplatz – von Versöhnung keine Spur. Der Film Zwischengleis beschreibt das Leben einer Person mit einer ähnlichen Biografie: Eine Frau die mit ihrem Trauma aus Kriegszeiten ringt, wird tot unter einer Brücke aufgefunden. Ihr Selbstmord stellt die Ermittler vor ein Rätsel. Allmählich rollt der Film vergangene Episoden auf, als wären sie Erinnerungen eines Lebens, das immer nur am Rand aber nie im Mittelpunkt gelebt wurde. Der Film versucht so, dem Trauma in all seinen widersprüchlichen Facetten ein Gesicht zu geben und doch bleibt er in bestimmten Weise undefiniert. Wie eine Antwort darauf verschwindet auch im Film Heimlichkeiten eine Frau auf bis zuletzt ungewisse Weise. Wie in den Filmen zuvor verkörpert der Film einen untergründigen diffusen Zustand, der die Menschen und das zeitgeschichtliche Geschehen zusammenhält. So spielt die Handlung am Goldstrand, also gerade dort, wo der politische Osten mit dem Westen gemeinsam während des Kalten Krieges seine Ferien verbringt.

An die Grenze zu gehen, bedeutet bei all diesen Filmen wohl kaum, die Extreme auszuloten, sondern sie zu verstehen und lernen mit ihnen umzugehen. Es gibt immer wieder diese Momente in Staudtes Filmen, die sich gerade nicht auf ein dezidiertes politisches, historisches oder ästhetisches Bewusstsein stützen. Diese klandestinen Augenblicke beschreiben eine unentschlossene, zögerliche Haltung. Sie drücken sich dabei in einer ebenso verspielten wie schwelgerischen Form aus. Das kann ein erotischer Tanz sein, den das frühreife Mädchen auf einer Hochzeit mit einer flüchtigen Bekanntschaft führt (Das Lamm). Zwei Augenpaare blicken tief einander an, während alles um sie herum verschwindet. Alles das, was zuvor als mühselig und ungewiss erschien. Wenige Augenblicke später sind beide tot. Vom Unfall ist nichts zu sehen, nur zwei leblose Körper liegen im feuchten nächtlichen Gras. Dieses Bild scheint genauso ein Verweis zu sein, auf die tote Frau zu Beginn des Films Zwischengleis. Sie ist unversehrt, nichts deutet auf die Gewalt eines Sturzes hin. Erst die letzten Einstellung offenbart dieses Geheimnis. Sanft, wie ein Laubblatt sinkt die Kamera kreiselnd von der Brücke zu Boden. Schließlich überblendet das Bild in die schier endlose Pirouette einer Eiskunstläuferin. Watteweicher Traum und steinharte Realität sind bei Staudte nie weit von einander entfernt. Es handelt sich dabei immer um Momente des Ausbruches. Plötzlich kann sich mittels eines Traums das gutbürgerliche Etablissement in einen surrealistisch überhöhten Gerichtssaal verwandeln (Die Rebellion). Staudtes Filme werden in diesen Momenten unvermittelt moralisch. Wo Verzweiflung herrscht, bleibt immer noch eine Spur Hoffnung erhalten. Leichtfertig ließe sich dies als Verkitschung hinstellen, jedoch in jedem dieser raren Bilder scheint sich für einen Wimpernschlag das Schicksal von den Figuren zu trennen und ihnen einen anderen Ausblick zu ermöglichen. Es wirkt fast so, als wolle sich Staudte gegen etwas auflehnen, das er anders nicht zu beschreiben weiß.

Immer wieder, wenn ich an diese verträumten, selbstvergessenen Bilder denke, merke ich, dass sie sich leicht verschieben und sich mir ihr Kontext nicht mehr ganz erschließt. Ich wünschte, ich hätte mir genauer notiert, was ich in ihnen gesehen habe. Allerdings frage ich mich, ob sich diese Bilder dann überhaupt so benennen oder beschreiben ließen. Oder würden sie nicht eher Gefahr laufen, zwischen analytischen Stichworten zu verschwinden, wie es den Menschen in den Filmen letztlich erging? Staudtes Film Heimlichkeiten handelt von dieser merkwürdigen Ungewissheit im Besonderen. Die Bilder ergeben zwar das ansehnliche Panorama eines Urlaubsparadieses, aber sie scheinen nicht recht zueinander gehören zu wollen. Jede Spur verliert sich im Sand. So konventionell Heimlichkeiten daherkommen mag, ist es vielleicht Staudtes radikalster Film, weil sich eine trügerische Normalität zu erkennen gibt. Das rätselhafte Verschwinden greift um sich, als würde jemand ein Stück der Wirklichkeit dem Zusammenhang entreißen und verstecken wollen. Jedes Bild wird damit automatisch zu einer Frage. Vom Verschwinden lässt sich so nicht absehen. Man könnte denken, Wolfgang Staudte versucht in diesen Filmen das Verschwundene zu bewahren.