Glimpses at CHANTAL AKERMAN

PATRICK HOLZAPFEL: Stelle mir vor, obwohl ich das nicht kann, ich wäre Henri Dutilleux und würde eines Tages das Set von Chantal Akermans Trois strophes sur le nom de Sacher betreten. Sonia Wieder-Atherton, Cellistin und große Kennerin meines Werks hätte mich eingeladen, ich würde hingehen, obwohl ich die Stille lieber habe (im Kino oft zu wenig Platz zwischen den Zeilen, aber nicht bei Akerman, das gebe ich zu). 

Das Kino wäre mir ohnedies nicht fremd gewesen (kann das Kino jemals fremd sein?), ich hatte schließlich bereits die Musik zu L’Amour d’une femme von Jean Gremillon und kürzlich erst zu Maurice Pialats Sous le soleil de Satan komponiert. Ich hatte gehört, dass Akerman meine Musik durch den Bogen Sonias kennenlernte; es macht einen Unterschied, ob man Musik zuerst durch den Bogen hört oder von einer Platte.

Ich hätte Angst, dass der Film die falschen Töne spielen könnte; ein falscher Ton, das ist eine Frage zwischen Leben und Tod. Akerman, habe ich gehört, ist keine besondere Kennerin meiner Musik, irgendeiner Musik. Vielleicht gefällt mir das, ja es gefällt mir. Sonia sagte, dass es in meinen drei Strophen um die Suche nach den Instrumenten für das Leben gehe. Mit welchem Instrument man spielt, entscheidet vielleicht, ob man einen Ton trifft oder nicht. Das alles, sagt sie, entwickle sich in eine Explosion des Lebens. Vielleicht deshalb all die Farben an diesem Set, die Tänzer, die durch die Räume geisternden Sinne, die sich finden und wieder auflösen. Ein Licht, das ist auch ein Ton, würde ich denken.

Was ich an diesem Set vorgefunden hätte, wäre die Intimität meiner Musik. ein Raum am Abend, eine Frau, die sich zurückgezogen hat und mit der Musik geblieben ist. Sie verkörpert die unter allem schlummernde Suche und Verzweiflung. Im Bildhintergrund vollführen Nachbarn Schritte des Alltags, sie bügeln und leben und vergraben all das, was sie fühlen könnten. Das schöne an der Musik (und am Kino vielleicht): nicht alle können sie gleichzeitig hören, aber alle leben gleichzeitig. Die Musik ist immer da, aber wir können sie nicht immer hören.

Ich wäre also an dieses Set gegangen und hätte die Stille gefunden, die ich selbst komponiert habe. Bei Akerman spielt sich viel in der Nacht ab oder besser: in der Zeit nach den Tagen. Womöglich ist dann die Sehnsucht am größten oder die Möglichkeiten oder die Angst oder die Einsamkeit. Vielleicht ist es aber auch die Zeit, in der wir die Musik wirklich hören können (wenn wir nicht zu müde sind vom Tag). 

IVANA MILOŠHere’s a dance without partners, a reclamation of space and place, a redefinition of the fully marked, suggested, stipulated, and confined. It is called Saute ma ville, but it might as well be called break-this-place, chirp-without-measure, destroy-the-reduction or daisies-without-daisies, because you don’t need flowers to blow things up, but a scarf can be useful. On the other hand, flowers are brought into the minuscule kitchen Akerman inhabits in the film – in fact, they are the only object to enter it from the outside. Brought in at the very beginning in a whirlwind run up the stairs, they are also found in the heroine’s hand at the very end, reminiscent of bouquets handed to actresses after a star performance. These flowers, an emblem of the decorative, are another sign among many, a signifier without a body and, as such, something that invites destruction. But what is this passerine incantation that accompanies the blows dealt to the reduced existence of women? Mirthful and frenzied, Akerman’s chant fluctuates between laughter and sing-song, just like her movements, both levels together creating an orchestration of reveling and eruption. It is slapstick and tragicomedy, to be sure, but it is also a declaration: The opposite of functional needn’t be dysfunctional, for there are realms and choices to functionality just like there are to living. After all, the question remains: Is disappearance an explosion?

SIMON WIENER: There is something about D’Est which moves me profoundly, but I can’t pinpoint it. It feels as intimate as a film can possibly be, yet it is about vast landscapes, public spaces, anonymous faces. Maybe it is about being lost and lonely; or about resting strong and unfazed by destiny. Every image seems to weep. Every image is weeping, but without bemoaning itself, rather celebrating. Celebrating the tenaciousness of these trees amidst barren land, or the accidental but graceful interplay of lights during a rainy, sombre night. To weep, here, is to dance: to the wind, the light, the music.

SIMON PETRI: She will have to get up early to record the antagonistic blue that welcomes the underclass in the shivering hours of dawn. The first workers of the city form lines at bus stations to get to the factories, where circumstances of maintenance changed during these last years of historical tumult, but that doesn’t seem to improve a lot for the dawn’s crowd and the worst is yet to come. But that’s still more than a decade of a leap into the future. As for now, she doesn’t have to travel east, fear the frost and the burning eyes of the days’ loveless beginnings. As for now, she can have that juvenile, dreamy look – not a teenager anymore but still closer in spirit to the ingenious young girl who blew up a kitchen in a world too burdensome and uninspiring than a traveller of great discipline, stamina and political drive. As for now, she can forget about manners and self-imposed wakefulness, she can enjoy the caress, the food and the warm comfort of the Parisian living rooms. Dazed by satiety, she can slide into sleep. Maybe the sobering breeze between two apartments blows away the odour of pastry and perfume, so she can arrive neatly. Not that there would be any expectation, not that anything can break the deep kindness of old ladies – not even the recollection of the most harrowing evilness can shatter the adoration with which they look at her. As for now, she just has to listen. More or less. That will be good enough for a mitzvah.

RONNY GÜNL:

 

Eindrücke von La Chambre, Hotel Monterey, Là-Bas und Les rendez-vous d’AnnaBeschreibung eines Raumes:

Um was für ein Zimmer handelt es sich? Ein Hotelzimmer? Eine Wohnung? Ein Zugabteil? Wem gehört das Zimmer? Scheint es nicht bewohnt?

Was befindet sich im Raum? Wo ist das Bett? Wie viele Kissen? Gibt es ein Telefon? Gibt es ein Radio? Einen Fernseher? Hängen Bilder an der Wand? Oder Spiegel? Welche Farbe hat die Wand? Trägt sie eine Tapete? Wie gestaltet sich deren Muster? Wie ist der Boden beschaffen? Liegt ein Teppich aus? Säumen Gegenstände den Boden? Bücher? Zeitschriften? Ist es aufgeräumt?

Gibt es ein Bad? Eine Küche? Sind sie gefliest? Gibt es einen Tisch? Steht Essen auf ihm?

Ist es still? Weht der Wind herein? Hängt Rauch in der Luft?

Wo ist die Tür? Ist sie verschlossen? Ist sie geöffnet? Aus Holz? Ist sie alt? Befindet sich ein Schild an der Tür? Wo ist das Fenster? Ist ein Vorhang davor? Eine Gardine? Eine Jalousie? Lässt es sich öffnen? Wo ist der Lichtschalter?

Ist es Nacht? Oder Tag? In welchem Stockwerk befindet sich der Raum? Und in welcher Stadt? Wie klingt die Straße? Gibt es Nachbarn? Was tun sie? Strahlt Licht von außen herein? Die Sonne? Oder die Reklame? Welche Farbe hat es? Wie wirkt die Umgebung? Belebt oder verlassen? Welcher Tag ist heute? Wie is das Wetter? Sind Flugzeuge am Himmel zusehen? Kann man das Meer riechen?

Was ist nicht zu sehen? Gibt es einen Ausgang? Gehen oder bleiben? Wer lebt hier?

DAVID PERRIN: Jene Tage, an denen das Kino noch geholfen hat; als Mittel des Sich-Sammelns, des freien Durchatmens, des Augenaufgehens. Jene Filme, die einem den Appetit für die Welt wiedererweckt haben, nach denen man aus dem Kino trat und einfach nur geradeaus gehen wollte, oder mit der Straßenbahn zu einer Endstation fahren, in einer fremden Gegend der Stadt. Zum Beispiel, nachdem ich zum ersten Mal News from Home von Chantal Akerman sah und nur noch durch die Straßen gehen wollte, mit U-Bahnen und Bussen fahren, auf Bahnhofsgleisen und Haltestellen herumlungern bis spät in der Nacht, so lange bis ich mich in einen Niemand verwandelt hatte. (Was mir natürlich nie richtig gelungen ist.) Die ruhigen, langen Fahrten durch die Stadt New York, die unendlich langen Einstellungen, die auf den U-Bahnen und deren Stationen aufgenommen wurden sowie die im Morgengrauen menschenleeren Straßen in Downtown Manhattan – durch diese Bilder gewann ich eine Art Bewegungsfreiheit, die ich im Kino bisher kaum erlebt hatte. Es war, als ob die Stadt sich endlich zu einem Rhythmus verlangsamt hatte, in dem ich mich selber bewegen konnte, in dem Körper und Gefühl eins wurden. Das hatte sicher auch damit zu tun, dass ich zu der Zeit, als ich den Film sah, auch in New York lebte und in dieser übergroßen Reklame-Stadt nicht so richtig Fuß fassen konnte. Aber nach dem Erlebnis dieses Films, als ich abends aus dem Kino auf der 5th Avenue trat, rückte mir zugleich näher und ferner bis sie sich endlich zu einer tatsächlichen Weltstadt ausdehnte, einen Ort, wo man leben konnte.

Und dann gab es auch diesen anderen atemschöpfenden Film von Akerman, dessen Namen, als ich ihn zum ersten Mal hörte, sofort die Sehnsucht auslöste, am Schauplatz des Films sein zu wollen: Hotel Monterey. Das Porträt eines heruntergekommenen Hotels auf der Upper West Side in Manhattan und den einsamen, zumeist greisenhaften Bewohnern dort, vom Keller bis zum Dachboden, ein Film ohne Worte, Dialog oder Handeln. Oder doch: die Räume und deren Linien und Farben waren das Handeln; die leeren Flure, die Schlaf-, und Badezimmer, die Aufzüge verwandelten sich, unter den Blicken und sanften Schwenkungen der Kamera, in Orte der Kontemplation, zu Innenräumen der Einsamkeit. So sind sie seit den Bildern des Malers Edward Hopper noch nie erschienen. Und am Ende des Films, als die Kamera auf den Dachboden des Hotels die Skyline der Stadt im Morgenlicht aufnimmt, hatte ich das Gefühl, trotz des einen Schauplatzes, auf eine Weltreise gewesen zu sein.

Solche Kinoerlebnisse scheinen jetzt immer seltener zu werden (ob es den anderen auch so geht?), und das nicht nur, weil die Kinos mehr als ein halbes Jahr geschlossen waren. Die Bilder, die heute auf der Leinwand zu finden sind, haben, für mich jedenfalls, nichts Entdeckerisches an sich; sie sind einfach da, im Vorhinein fertig und festgelegt. Die Welt starrt einen einfach blöd an, statt zu erscheinen. Daher sind die Filme Akermans, und nicht nur die zwei, die ich oben erwähnt habe, wie ein zusätzliches Licht oder Luft, die einem durch das Leben wehen und es aufleuchten lassen. So weiterleuchten!

ANDREW CHRISTOPHER GREEN: The first film I saw by Chantal Akerman was, of course, Jeanne Dielman, 23, quai du Commerce, 1080 Bruxelles. I was 23 then, and it was the first ambitious European film I’d ever seen. I was struck by how evasive it was, how excluded I felt from it. It seemed like there were scenes missing, or as if it were a sequel to a film that had established the characters with whom I should have already been familiar, and I remember thinking the subtitles must have been mistranslated by a poet taking way too much license; the few times the characters spoke with one another the dialogue was far too intense, like everything stored up in the silence between came rupturing out with a violent force of repression. I thought there must be something European about this ambiguity and non-disclosure. I knew I’d be moving to Germany in a few months and this excited me, to get a taste of the world I’d become acquainted with.

It took a good four years for the experience of that film to germinate inside me. I was studying contemporary art and slowly growing disillusioned with it, and it’s as though without my knowing it, the little gaps and intensities I saw in Akerman’s film were becoming the antidote to the shortcomings of my field, which had resigned itself from all the little mysteries that make her works shimmer. At first, I thought myself capable of resolving this discrepancy in my work, but the more evenings I spent with her and then Straub-Huillet and Ford and Ozu, the more I felt myself compelled to take them seriously, until the gap had grown so wide that I looked behind and saw I could never go back. Then it was as though one day a door between my apartment and the world outside silently clasped behind me and I resolved to myself: “Now I’ll just watch films, now I will finally do nothing but just watch films.” And I haven’t stopped since. Every night I spend my time behind a digital projector looking for the little gaps Akerman showed and hid from me for the first time in that film I saw now more than seven years ago, which, though once confusing, now illuminate the entry-points to the truth-content of the medium itself. And my appreciation of her work has grown exponentially as I witnessed her recreate such feats in not just so-called artistic films but, as if summoning the spirits of the Hawks’ and Langs’ and Walshes’ of bygone times, through a spectrum of romantic comedies, musicals, tragedies, documentaries, melodramas, and others forms I’d never have taken seriously on account of their beauty lying so dormant and opaque beneath a flashy surface we tend to only ever see ourselves reflected in.

JAMES WATERS: I’ve kept a document containing all the retrospectives of Chantal Akerman’s work held since her death. The number is approximately 257, including the repeats at the Cinémathèque française in Paris, CINEMATEK in Brussels, ICA in London and the TIFF Bell Lightbox in Toronto. Each is more definitive than the last, with a new kind of selling point. For the Cinémathèque française, in 2018, it was that Hangin Out Yonkers – long thought to be lost – had been discovered and digitized. A friend told me that this wasn’t the first showing of the film, as the previous retrospective at La Cinémathèque française screened a 35mm print in 2013, with Akerman present.

I have another document of all the Chantal Akerman retrospectives dating from May 1st, 1968 to October 1st, 2015. I don’t have an exact number, but it’s less than 200. There have been more of them in the past 5 ½ years than in the 47 – prior to 2015 – Akerman spent thinking seriously about and, henceforth, practicing filmmaking.

I ask Chantal what she thinks of this. Here’s the response I heard:

“Nous avons suivi Pina Bausch et ses danseurs pendant cinq semaines, de Wuppertal à Milan, de Milan à Venise, de Venise à Avignon. J’étais directement frapper au cœur par ces longues pièces, qui se mélange tous dans la tête. Il est le sentiment que les images que nous avons ramenées en transmettent peu, et la trahit souvent.”

“We have been following Pina Bausch and her dance company for the last five weeks, from Wuppertal to Milan, Milan to Venice and Venice to Avignon. I was deeply touched by her lengthy performances. I have the feeling, however, that the images we’ve brought back don’t convey their essence, and often betray it.”

The programmers of these retrospectives also heard this. One in Buenos Aires wrote to me – after having made my documentation public – of the above sentences and how they came to her in a dream. When she heard them prior to the dream, there was nothing remarkable about them. Even in the dream, there still wasn’t anything overtly remarkable about these words, but she woke up in a cold sweat regardless, as one does from a dream in which one trip’s over and, in waking, opens one’s eyes before this dreamed moment of impact. By the time she had this dream, it was already 2017.

Images and quotation taken from Un Jour Pina à Demandé

SEBASTIAN BOBIK: “Today is Saturday and I’m going to make a film about laziness”. With this sentence Chantal Akerman’s Portrait d’une Paresseuse begins. It’s the first film by Akerman I saw. I suppose that is a rather unusual start into her filmography. It was also the first time I saw her image, since she plays herself in this film. The opening sentence already tells us what the film will be: Akerman will make a film about laziness. She is still in bed. She looks as if she doesn’t want to get up. “In order to make cinema, one must get out of bed“ she says. And yet she stays in bed and the film is made. I understand that she couldn’t have made the entire film in bed: organizing, setting up the shot, editing… I doubt all of these steps were done from bed. Yet I enjoy this idea. A film made in bed. Of course, she doesn’t remain in bed. We see glimpses of a morning routine. She takes vitamins. We see several shots of her partner Sonia Wieder-Atherton practicing on the cello, while Chantal Akerman watches her, or just listens to her in a different room. The final 2 minutes of the film Akerman smokes a cigarette. We watch her in a close-up. The next time I saw Chantal Akerman was also in bed. I watched her film La Chambre, which pans 360 degrees through a room several times. For a brief moment, she is again in bed, looking at us. Years later I saw Je Tu Il Elle, in which suddenly a similar image struck me once again.

ANNA BABOS: 

As you set out for Ithaka

hope your road is a long one,

full of adventure, full of discovery.

Laistrygonians, Cyclops,

angry Poseidon—don’t be afraid of them:

you’ll never find things like that on your way

as long as you keep your thoughts raised high,

as long as a rare excitement

stirs your spirit and your body.

Laistrygonians, Cyclops,

wild Poseidon—you won’t encounter them

unless you bring them along inside your soul,

unless your soul sets them up in front of you.

 

Hope your road is a long one.

May there be many summer mornings when,

with what pleasure, what joy,

you enter harbors you’re seeing for the first time;

may you stop at Phoenician trading stations

to buy fine things,

mother of pearl and coral, amber and ebony,

sensual perfume of every kind—

as many sensual perfumes as you can;

and may you visit many Egyptian cities

to learn and go on learning from their scholars.

 

Keep Ithaka always in your mind.

Arriving there is what you’re destined for.

But don’t hurry the journey at all.

Better if it lasts for years,

so you’re old by the time you reach the island,

wealthy with all you’ve gained on the way,

not expecting Ithaka to make you rich.

 

Ithaka gave you the marvelous journey.

Without her you wouldn’t have set out.

She has nothing left to give you now.

 

And if you find her poor, Ithaka won’t have fooled you.

Wise as you will have become, so full of experience,

you’ll have understood by then what these Ithakas mean.

/C.P. Cavafy: Ithaka, translated by Edmund Keeley/

Milieustudien: Batang West Side von Lav Diaz und Putty Hill von Matthew Porterfield

Manchmal programmiert der cinephile Zufall zwei völlig unabhängige Screenings in kurzer Abfolge, die dann beginnen, miteinander zu sprechen, als hätte sie jemand absichtlich hintereinander in einen Tag projiziert. Ein solches Doppel hielt jener späte, milde Februartag bereit, an dem das Österreichische Filmmuseum ihre wundervolle Eigenrestaurierung des ersten Mammutfilms von Lav Diaz, Batang West Side spielte und ich zuvor in den privaten Genuss von Matthew Porterfields Putty Hill gekommen bin. Zwar bin ich der Meinung, dass sich fast zwischen allen Filmen Parallelen aufzeigen lassen würden, aber in diesem Fall waren sie doch äußerst prägnant und boten einen Einblick in unterschiedliche filmische Strategien zur Erforschung eines Milieus und zur Entstehung von kontemplativen Stimmungsbildern zwischen subjektiver Wahrnehmung und fiktionalen Wendungen.

Batang West Side beginnt als Stimmungsbild einer bewegungskargen Trostlosigkeit. Isolation, Einsamkeit und das ewige Schweigen des kalten Schnees, der fast unablässig vom New Jersey-Nachthimmel fällt. Lav Diaz betrachtet zunächst philippinische Existenzen an der Ostküste der Vereinigten Staaten. Dort hat sich die Sehnsucht nach dem amerikanischen Traum in die Sehnsucht nach der verlorenen Heimat verkehrt. Eine Heimat, die viele der Figuren mit und wegen Gewalt hinter sich lassen. Damit verlieren sie auch ihre Identität. Der Film zeichnet dies sehr deutlich anhand der Figur, des in einem Todesfall im Drogenmilieu ermittelnden Polizisten, Juan Mijares, der fast alles änderte, um seine Vergangenheit hinter sich zu lassen: Aussehen, Namen, Lebensstil. Die West Side Avenue ist bevölkert von solchen Gesichtslosen, Heimatlosen bei Diaz, der angesprochene Schneefall, der New York in einen Winterschlaf hüllt, hat etwas meditatives, betörendes, aber in ihm erzählt sich auch eine Kälte und eine Differenz zwischen den USA und Südostasien. Das Volk ist in einem Winter gelandet, der so sehr für die Entfernung zur Heimat steht wie sonst vielleicht nur die Sprache, die Diaz oszillierend zwischen Englisch und Tagalog bedient und durch die er Wunden zwischen den Figuren und auch innerhalb der Figuren etabliert, die kaum schließbar sind. Wie so oft wird Heimat durch jene fühlbar, die sie verloren haben beziehungsweise durch jene, die wandern. Das nachdenkliche Nichts, das sich vor allem in den vielen Straßenszenen des Films findet, erinnert in Stimmung und auch im Framing der einsamen Stadtlandschaft New Jerseys an News from Home von Chantal Akerman. Statt Briefwechsel mit der Heimat und Vergangenheit gibt es bei Diaz Träume und Psychologie. Verdrängung scheint gar nicht erst möglich in diesem Milieu. Und so scheint es nur konsequent, dass eine hypnotische Musik mit philippinischen Klängen die Bilder heimsucht. Sehr subtil und selten, aber sie hallt wie ein Echo durch den gefrorenen Schnee auf dem nächtlichen Asphalt.

Batang West Side2

Ähnlich trostlos trägt sich auch Putty Hill durch Baltimore. Wie in Batang West Side geht es um das Ableben eines jungen Mannes im Drogenmilieu. Dort wo Diaz eine entschleunigte Thrillerhandlung als Vorwand für seine Milieustudie einsetzt, bedient sich Porterfield der Ästhetik des dokumentarischen Filmschaffens. Es wäre allerdings zu einfach, wenn man behauptet, dass Porterfield so tut als wäre er eine Dokumentation, obwohl er eine Fiktion ist und Diaz so tut als wäre er eine Fiktion, obwohl er eine Dokumentation ist. Vielmehr – und das gilt sowieso für jeden wertvollen Film in gewisser Hinsicht – sind die fiktionalen sowie die dokumentarischen Elemente hier Mittel um zu einer Wahrheit zu gelangen. Diese Wahrheit hängt bei Diaz deutlich mehr an philosophisch-politischen Fragen nach einer philippinischen Identität und Vergangenheitsbewältigung als bei Porterfield, der sich mehr auf eine Gesellschafts- oder Generationsstudie der Gegenwart besinnt. Beide Filmemacher jedoch studieren ein Milieu in ihren Werken, indem junge Menschen oft orientierungslos driften und sich zwischen hoffnungslosen und hoffnungsvollen Ansätzen verlieren. Putty Hill ist ein durch und durch verlorener Film. In sehr klaren Bildern folgt man verschiedenen Personen in den Stunden vor der Beerdigung des 24-jährigen Cory, der an einer Überdosis Kokain gestorben ist. Zwischen Paintballspielen, Tatoostudios, ungepflegten Rasen neben desinteressiert in der Landschaft stehenden Häusern und Hinterhöfen entsteht auch hier das Stimmungsbild einer geografischen Zone, die sich tatsächlich – und das scheint mir das zu sein, was diese beiden Filme so relevant für ihr Medium macht – über ihre Stimmung und damit auch die intime Wahrnehmung der Filmemacher definiert. Putty Hill ist ein Film voller kleiner Inseln (der Jugend), indem das Trauma nicht wie bei Diaz aus narrativen Verweisen entsteht, sondern tatsächlich auf den Gesichtern der Figuren. Im Umgang mit dem Tod liegt eine unschuldige Unbeholfenheit, die derart verschwimmt mit dem Alltag und dem „Weiterleben“, dass man sich beginnt zu fragen, wo ein Raum für Emotionen sein soll und sein darf.

Putty Hill Porterfield

In Batang West Side zersplittert sich unsere Wahrnehmung der Zeit nicht nur aufgrund der schieren Laufzeit (302 Minuten) des Films, sondern auch aufgrund der unterschiedlichen Zeitebenen auf denen Diaz seine eigentlich sehr kohärenten Geschichten erzählt. Im Stil eines Noirs gibt es Flashbacks, aber Diaz ist auch Traumlogiken und surrealistischen Verweisen nicht abgeneigt. Das Fragmentarische bei Porterfield dagegen ist ganz wie in Pine Ridge von Anna Eborn etwas Nicht-Erzähltes, Unfertiges, Spontanes. Der ganze Film gleicht mehr einem Eindruck, der keine linearen Nacherzählungen zulässt, sondern von Anfang an auf eine Erkundung ausgelegt ist. Ein unsichtbarer Dokumentarfilmer beobachtet die Menschen und stellt ihnen unaufdringliche Fragen. Durch ihn kommt auch jene Frage der subjektiven Kamera in den Film, die auch bei Diaz eine entscheidende Rolle spielt. Über sie stellt sich nämlich auch die Frage nach der Wahrheit. Der Dokumentarfilmer in Putty Hill ist die Kamera selbst und eine unsichtbare Stimme. Sie zeichnet sich durch Unaufdringlichkeit aus und einen respektvollen Abstand, der zugleich eine Nähe erzählt, da jede Öffnung, jeder Blick mit einer inneren Reaktion verwechselt werden kann statt mit einem Spiel. Die Kamera wird von den gelangweilten, ratlosen oder verzweifelten Personen adressiert oder ignoriert, sie wird zu einem Teil dieser Welt, einem Stilmittel, um Wahrheit zu behaupten und sie womöglich auch zu finden.

Die subjektive Kamera in Batang West Side dagegen eine Analogie zwischen der Ermittlungsarbeit eines Polizisten und der Suche nach Wahrheit eines Filmemachers. Sie wird sowohl als Point-of-View der dokumentarischen Kamera als auch dem Blick des Polizisten eingesetzt. Häufig schwenkt oder bewegt sich die Kamera tatsächlich suchend durch verlassene Räume oder leere Straßen, wir folgen Blicken und blicken selbst und immer wieder überlagern sich die subjektiven Blicke des Ermittlers mit jenen eines Dokumentarfilmers, der durch die nächtlichen Straßen streift, fast gleich einem Nightcrawler, mit den ethischen Fragen von Wahrheit und Lüge. Das Kino ist hier ein Blick, dem man sehen will, um glauben zu können, dem man glauben muss, um sehen zu können. Der Filmemacher als Ermittler eines Milieus und einer Wahrheit dieses Milieus. Löst sich diese Suche bei Porterfield in jener unklaren Rätselhaftigkeit auf, in der sie begonnen hat, so bleibt uns bei Diaz die Schonungslosigkeit einer Wahrheit, die jede Trostlosigkeit verdrängt, indem sie diese verstärkt. Beide Filme fragen also nicht nur was wir dort sehen, sondern auch wie wir es sehen. Dabei genügt in beiden Filmen kein Realismus. Vielmehr sind diese Milieustudien durchdrungen von Erinnerungen, Geistern, Ängsten und Träumen. Doch diese Elemente werden in den Filmen als Teil einer Realität verstanden, als flackerndes Licht in einem verlassenen Haus oder als nacherzählter Traum. Durch die Etablierung einer Verunsicherung gegenüber der Narration entwickeln die beiden Filmemacher eine Brüchigkeit und Verletzlichkeit, die sich auch auf ihre Protagonisten auswirkt.

Lav Diaz Batang

Dabei scheuen beide Künstler nicht davor zurück, die Albernheit einer bemühten Coolness im Kleingangstermilieu beziehungsweise die unschuldige Selbstrechtfertigung einer Andersartigkeit ihrer jugendlichen und auch erwachsenen Figuren ohne Urteil zu zeigen. Damit laufen die Filme natürlich Gefahr beim einen oder anderen Zuseher selbst als bemüht cool oder naiv anders angesehen zu werden, aber in diesem Fall ist die Suche nach einer Wahrheit, ganz wie in Hou Hsiao-Hsiens Goodbye South Goodbye, eben mit dem urteilsfreien, formal sympathisierenden Zeigen dieser Verhaltensweisen gleichzusetzen. Statt ihre eigene Position zu den Aussagen und Handlungen der Figuren zu betonen, werden diese einfach in einem festgelegten Rahmen als solche akzeptiert und Urteile oder Sympathien werden dem Zuseher überlassen. Dennoch ist es Diaz, der sich zu deutlich vehementeren Statements hinreißen lässt und insbesondere in der Figur eines drogendealenden Karaokeclubbesitzers durch Überzeichnung doch ziemlich klare politische Ideen in seine Figuren legt. Bei Porterfield gibt es nur die Idee einer Perspektivlosigkeit, die sich nicht wirklich äußert sondern, die nur so dahintreibt, in einem Swimmingpool oder bei einer Zigarette. Aber auch in Putty Hill gibt es Ausbrüche,solche die Porterfield in einen Rhythmus eingliedert (ganz ähnlich wie in seinem I Used to Be Darker); es wirkt immer ein wenig so als würde ein HeavyMetal-Artist ein Unplugged-Konzert mit Balladen geben…es könnte jederzeit aus ihm brechen. Für manchen mag diese Zurückhaltung und dieses vorsichtige Spiel mit emotionalen Ausbrüchen etwas angestrengt wirken, ich sehe darin eine kinematographische Strukturierung des Alltäglichen, des Unnützen und eine Reduktion einer Gefühlswelt, die für weit mehr steht als filmisches Selbstgefallen sondern vielmehr die Unfähigkeiten und Fähigkeiten Gefühle zu spüren und mit dem Leben umzugehen. Dabei gelingt es Putty Hill gar die Verlorenheit und Unentschlossenheit seiner Figuren zu einem formalen Prinzip des Films zu machen, der genauso zwischen den Welten fließt, unentschlossen und perspektivlos, aber dabei eben etwas Echtes findet.

Putty Hill Porterfield

In beiden Milieus, Baltimore und New Jersey spielt Raum eine essentielle Rolle. Diaz und Porterfield filmen ihre Protagonisten gegen die Hintergründe einer Welt, die nicht als Set dient sondern als eigenständiger Charakter. In häufigen Totalen nimmt der Bildhintergrund eine wichtige Rolle ein. Die Wohnblocks, der Himmel, das Licht, die vorbeidonnernde Autobahn hier, die verlassenen Bahnhöfe dort. All das erzählt von dieser Isolation oder anders: All das ist die Isolation, die auch deshalb so stark ist, weil sie einfach ist. Bei Diaz wird zwar durchaus mit narrativen Verweisen (seien es Zeugen, die durch die beleuchteten Fenster blicken oder betont erzählte Lebensverhältnisse) gearbeitet, diese verlaufen sich allerdings mit der Zeit (sie existieren in der Zeit), sodass man schlicht sieht wie man dort lebt und so direkte und indirekte Schlüsse vom Milieu auf die Figuren gezogen werden können. Die beiden Filme zeigen, dass eine Milieustudie im Film weder eine Frage des Genres noch der Form ist, sondern vielmehr eine Frage des Blickens und des Zuhörens. Beide Filmemacher arbeiten mit aus dem Milieu stammenden Darstellern, sie achten auf Sprache, Aussehen und eine Stimmung, die eben auch immer mit einer subjektiven Wahrnehmung zusammenhängt. Man könnte Batang West Side und Putty Hill auch als Studien einer Lebenserfahrung in bestimmten sozialen und geografischen Umgebungen verstehen. Der Raum für die Emotionen ergibt sich aus dem Verhältnis von denjenigen, die sehen, zu dem was sie sehen. Hier beginnen sich dann Erinnerungen, Realitäten und Vorstellungen zu überlagern und die verschwundenen Männer, beginnen deutlich mehr Verschwundenes in unsere Wahrnehmung zu spülen. Ihr Verschwinden ist eines, das auf soziale und politische Missstände aufmerksam macht, auf Kommunkationsdefizite und auf das Fehlen einer Identität.