Das Ende der Geschichte: Austerlitz von Sergei Loznitsa

Sergei Loznitsas Austerlitz ist ein trauriger Film über das Versagen der Erinnerungskultur in einer geschichtslosen Gegenwart. Oder zumindest will er das sein. Er wurde in Gedenkstätten gedreht – Sachsenhausen, Dachau und anderen ehemaligen Konzentrationslagern – handelt aber vom Scheitern des Gedenkens. Wie schon in The Event (2015) nutzt Loznitsa die Evidenzen dokumentarischen Materials und die Zuspitzungen einer minutiös durchkonzipierten Tonspur zur Formulierung eines Gedankens, einer Idee, vielleicht sogar einer Botschaft, deren Konturen hier noch wesentlich stärker hervortreten als in all seinen vorhergehenden Arbeiten. Am Ende ist sein Zugang immer noch zu offen und die Konstruktion zu feingliedrig, um auf eine avancierte Form von Pamphletismus reduziert zu werden. Aber als „stinklangweiliger Experimentalfilm in hässlichen Bildern, der alles und nichts bedeuten kann, weil hier alles im Auge des Betrachters liegt“ – so Rüdiger Suchslands Brachialurteil – kann „Austerlitz“ eigentlich nur erscheinen, wenn man es mit dem Betrachten nicht so genau nimmt.

Austerlitz von Sergei Loznitsa

Das zentrale Spannungsmoment von Austerlitz – ironisch benannt nach einem Roman W. G. Sebalds über einen Mann, der von seiner verdrängten jüdischen Herkunft erfährt und versucht, die Geschichte seiner Eltern im Zweiten Weltkrieg zu entbergen – liegt in einer Diskrepanz zwischen Geschichte und Gegenwart, zwischen der Realität der Massenvernichtung und der Surrealität des Holocaust-Tourismus. Dieser Konflikt zieht sich durch alle Bilder des Films, schon die ersten Aufnahmen sind damit aufgeladen: Touristenströme, die zwanglos vergitterte Tore mit der Aufschrift „Arbeit macht frei“ passieren, in den Gesichtern eine Mischung aus Neugier, Befangenheit und Indifferenz – Tore, durch die 70 Jahre zuvor Menschen unter völlig anderen Bedingungen in den Tod gehetzt wurden. Ähnlich seiner Revolutionsstudie Maidan (2014) wählt Loznitsa einen distanzierten, fast schon soziologischen Blick auf das Geschehen: Ausgedehnte Teleobjektiv-Totalen, wuselnde Wimmelbilder, diesmal in historisierendem Schwarz-Weiß.

Der erste Eindruck ist der einer Obszönität, die sich allein schon aus dem Kleidungsstil der Leute speist. Sommerliche Hemden, Shirts und kurze Hosen dominieren. Viele tragen Sonnenbrillen, zuweilen erkennt man ein Hitzeflimmern. Jemand fährt sein Schoßhündchen in einem Wagen umher. Manche können sich ein Gähnen nicht verkneifen. Die gemächlichen Massenbewegungen sind nicht zielgerichtet, wie Flaneure in einem Park scheinen einige der Nase nachzulaufen. Es herrscht eine entspannte, zerstreute und komfortable Atmosphäre. Ein Außerirdischer würde mit diesen Aufnahmen konfrontiert niemals auf die Idee kommen, es handle sich dabei um die Begehung eines Tatorts des schlimmsten aller Menschheitsverbrechen. Der zweite Eindruck verstärkt den ersten: So gut wie jeder hat hier eine Kamera, und das unablässige Knipsen der Hobbyfotografen – etliche ausgestattet mit Selfie-Sticks, den plakativsten Insignien zeitgenössischer Narzissmus-Kultur – verwandelt das Lager in eine bloße Sehenswürdigkeit, die statt kollektivem Gedenken nichts als personalisierte Andenken generiert.

Austerlitz von Sergei Loznitsa

Aber vielleicht ist dies ein Fehlurteil: Woher weiß man schließlich, was wirklich in diesen Menschen vorgeht? Die Deutung der demokratischen Kader Loznitsas ist hier zunächst noch ein heurisitscher Prozess ohne eindeutige Stoßrichtung, wie in Maidan. Aber die Haltung des Regisseurs macht sich bald deutlich, um nicht zu sagen überdeutlich bemerkbar. Seine Agenda mutete in The Event noch verhältnismäßig kryptisch an, konterkariert durch die Eigenheiten des Found-Footage-Materials. Die Anspielungen und formalen Marker schienen oft nur für Kenner des titelgebenden „Ereignisses“ einsichtig – die Vektoren von Loznitsas subtiler Argumentation offenbarten sich mir erst nach dreimaliger Sichtung und moderater Recherchearbeit. Austerlitz spricht überwiegend Klartext. Emblematisch steht hierfür der Einsatz eines fröhlichen, unüberhörbaren Pfeifens, das mehrfach durch Vladimir Golovnitskiys präzises Tondesign geistert. Mag sein, dass Loznitsa dieses Pfeifen tatsächlich gehört hat – aber seine Betonung ist kein Realismuseffekt, sondern eine künstlerische Prioritätensetzung.

Die „Beweislage“ eines Geschichtsbewusstseinsverlusts wächst sukzessive an. Von einer schrittweisen Enthüllung wie bei Loznitsas ästhetisch und thematisch verwandtem Kurzfilm The Old Jewish Cemetery (2014) kann aber nicht die Rede sein. Es steht schon früh geschrieben auf den T-Shirts der Besucher: „Cool Story, Bro“ – eine sarkastische Internetreplik auf öde Postings – hier, „Jurassic Park“ da. Der Kontext macht die harmlose Non-Kommunikation dieser Schriftzüge zur Selbstbloßstellung (wobei man anmerken muss, dass der Film nie einzelne Menschen vorführt – dafür sind schlicht zu viele im Bild, jeder ist ein Pars pro Toto – sondern stets nur die Bedingungen ihres Verhaltens). An manchen Stellen führt die Überlagerung von Bild- und Tonebenen zu intellektuellen Kontrastmontagen ohne Schnitt. Eine Gruppe lauscht den erläuternden Ausführungen ihres Guides, als sich eine andere vor sie schiebt. Im Vordergrund versucht eine lächelnde junge Frau, eine Wasserflasche auf dem Kopf zu balancieren, was den zweiten Gruppenleiter zu einer Anekdote aus seinem Indienurlaub animiert. Oft schraubt Loznitsa bestimmte Geräusche hoch, bis ins Lächerliche – das Quietschen von Türen, das Klicken von Auslösern – und lässt die periodisch aufbrandenden Vermittlungsbemühungen der (Audio-)Guides in der Banalität des Lärms ertrinken. Später greift er zu drastischeren Stilmitteln, präsentiert Bilder, deren Pointenhaftigkeit ihre dokumentarische Kontingenz auslöscht: Ein Mann, der wie ein Stummfilmkomiker mit ungelenkem Gefuchtel gegen eine Mücke ankämpft. Leute, die im Sitzen ihre Stullen verdrücken („Keine Sorge, es ist nicht die letzte Gelegenheit zum Essen“, tönt es im Off). Irgendwann erklingt ein Beethoven-Klingelton, einmal erläutert jemand den Touristen, sie kämen jetzt zum „düstersten Teil der Tour“. Besonders schneidend – aber paradoxerweise auch am Wenigsten gesetzt – wirken jene Momente, in denen sich die Frage zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung nicht mehr stellt, weil alles offen vor einem liegt: Grinsende Schnappschüsse vor dem Krematorium, Posen vor dem Marterpfahl, und zum Schluss eine Reihe von erleichterten Selfies am Ausgangstor. Hier manifestiert sich mit einer schockierenden Beiläufigkeit, was ein Kritikerkollege treffend notiert hat: Wie wenig sich der Besuch der Konzentrationslager inzwischen vom Besuch einer mittelalterlichen Folterkammer unterscheidet, wie weit weg das alles für viele historisch zu sein scheint und wie nahe an trivialer Schauerkatharsis.

Austerlitz von Sergei Loznitsa

Ist das also das Fazit des Films? Wenn ja, hat man es schon nach kurzer Zeit „begriffen“, und das Enttäuschende an Austerlitz wäre gerade seine eindeutige Lesbarkeit als Menetekel und (An-)klage. Loznitsa hält in Interviews nicht hinterm Berg mit seinen Intentionen und Meinungen und bestätigt diese Sichtweise. Im Vergleich zu Maidan fehlt es seinem neuen Werk fraglos an Ambivalenzen, was auch dem Thema geschuldet sein mag – die Fatalität historischer Ignoranz, die Unfähigkeit, die Zeichen vergessener Zeiten zu deuten, verleiht auch seinen Spielfilmen (My Joy) einen wutentbrannten Drall. Aber so einfach ist es letztlich trotzdem nicht. Zum einen gibt es da eine Passage, die heraussticht, in der sich der Kader verengt, einzelne Figuren vor dem Hintergrund eines Denkmals beim Innehalten, bei der – so scheint es – versuchten Reflexion fokussiert werden, das weiße Rauschen abflaut und die Möglichkeit einer Erkenntnis, einer Vergegenwärtigung spürbar wird. Und zum anderen ist Loznitsas dokumentarisches Kino von seiner formalen Anlage her immer noch partizipativ: Es fordert Arbeit und Aufmerksamkeit, um seine volle Wirkung zu entfalten, und es sind eher Fragen als Statements, die man darin vorfindet: Macht diese Erinnerungskultur in ihrer derzeitigen Form noch Sinn? Lässt sich die Shoah überhaupt „vermitteln“? Die Schlüsse zieht man immer noch selbst. Es gibt also – zum Glück – immer noch Raum für das „Auge des Betrachters“ in Loznitsas Kino. Aber am Schluss winkt er uns noch einmal zu, in Form einer freudig davonhüpfenden Besucherin, und es ist unmissverständlich ein sardonisches Winken: Ein Abschied nach dem Ende der Geschichte, die Zukunft ungewiss.

Vladimir Golovnitskiy – Tondesigner

Maidan Loznitsa

Stimmen verschlingen sich gegenseitig in der Kollaboration von Vladimir Golovnitskiy und Sergei Loznitsa. Kalter Wind und die wilden, klagenden Schreie einer Kuh. Die Lieder der Revolution und beständige Parolen aus den Lautsprechern. Die Landschaften werden spürbar in fast starren Portraitaufnahmen. Denn während das Bild in den Nebelschwaden einer fantastischen Entfremdung und Totalen einer sozialen Wirklichkeit kaum Rückschlüsse auf die Seele zu lässt, dringt der Ton tief in sie ein. Manchmal ist außer einem sanften Wind die einzige Bewegung im Ton hörbar, der Ton bewegt sich selbst unter den starren Bildern: Ein langsames Knarzen, ein trabendes Pferd, der Atem. Jeder Ton bedeutet etwas und die Bedeutung wird mit den Bildern assoziiert. So steht das Geräusch angehender Schweinwerfer für eine schnelles Schneiden mit dem Messer und wenn es eingesetzt wird, dann wird damit ein dramaturgischer Bruch betont. Auf bis zu 60 Tonebenen arbeitet Golovnitskiy, der so sehr an die Magie des Unsichtbaren glaubt wie Loznitsa selbst. Golovnitski arbeitet monatelang an Kurzfilmen, die er fast manisch durchkomponiert. Dabei steht an erster Stelle (und so sollte das bei jedem Tonmann sein) die Idee von Film als visuelles Medium.

Der Ton ist darin eine andere Ebene und so gehört es (zumindest in der Zusammenarbeit mit Loznitsa) zu den Selbstverständlichkeiten, dass es nicht darum geht Dialoge verständlich zu machen, Kommentare über die Bilder zu legen oder einen Naturalismus zu erzeugen. Vielmehr ähnelt der Ansatz des Duos jenem des großen Jacques Tati, der bekanntlich seinen Ton völlig unabhängig vom Bild gestaltete und gewissermaßen zweimal Regie führte. Zunächst für das Bild und dann für den Ton. Loznitsa und Tati (zum Teil in Zusammenarbeit mit dem großen Jacques Carrère) treffen sich im Gemurmel und der Klarheit ihrer Unverständlichkeit. Im hypnotisch-formalistischen Landscape erzählen sich wartende Menschen Geschichten, die wir nicht sehen, die aber gesprochen werden; sie spielen zwischen den abgeschwenkten Nahaufnahmen frierender Gesichter und liefern wie oft bei Golovnitskiy einen Kontext, ein Gefühl, aber nicht eine klare dramaturgische Linie. Die Alltäglichkeit und Gewalt des menschlichen Wartens drückt sich so auf der Tonebene aus und lässt uns erahnen und fühlen, was unter den Bildern liegt. Der Ton ist für ihn eine Imagination, die aus der künstlerischen Wahrheit der Dokumentationen entsteht. Das gilt für dringliche, politische Dokumentationen im Stil von Maidan genauso wie für Fiktionen wie My Joy. Golovnitskiy, der von Loznitsa als Genie bezeichnet wird, betont die Bilder nicht im Sinn einer Verstärkung sondern im Sinn einer neuen Ebene, die nicht autonom entsteht sondern aus den Bildern geboren wird, assoziativ, frei und nach einer Wahrheit suchend. Diese Wahrheit liegt eben nicht nur im objektiven Ton, über den insbesondere im deutschen Kino kaum hinausgereicht wird sondern im subjektiven Ton, im assoziativen Ton, im symbolischen Ton und im surrealistischen Ton. Manchmal wechselt sich die Erzählperspektive alleine im Ton, manchmal wird das Bild davon deformiert. Distanz und Nähe werden oft ausschließlich im Ton erzeugt in der Kollaboration von Golovnitskiy und Loznitsa. Dies ist insbesondere dann spannend, wenn Golovnitskiy an Found Footage Material arbeitet und dieses beispielsweise seiner propagandistischen Funktion beraubt. Das ist auch eine Umarmung der Manipulation, der Fantasie im Dokumentarischen, die allerdings immer von einer moralischen Strenge überwacht wird. Jener eines Künstlers, der nach Wahrheit sucht.

Am Anfang von O Milagre de Santo Antonio hören wie eine wehende Fahne (wir sehen sie auch). Außerdem Vogelgezwitscher und Grillen. Dann folgt eine Schwarzblende, die Loznitsa zur Rhythmitisierung seiner Filme gerne einsetzt. Wir hören eine Glocke, es klingt wie eine Kuhglocke. Dazu nach wie vor der Wind und die Vögel. Nun sehen wir einen Stier in einem Gebüsch. Er kaut und die Schmatzgeräusche sind sehr deutlich zu hören. Dazu rhythmisch und etwas schneller die Kuhglocke, entfernt bellt ein Hund. Langsam blendet das Geräusch von Trommelschlägen auf. Erst entfernt, dann immer lauter. Der Hirsch verharrt kurz reglos, das Bild wird schwarz. Der Titel erscheint, die Trommeln werden geschlagen. Dazu hört man männliche Stimmen reden.Und immer noch der Wind und die Vögel. Es gibt eine Überblendung im Ton. Wir hören jetzt andere Vögel, eine andere Stimmung. Ein junges Mädchen schaut uns hinter einem Absperrband genauso an wie vor ihr der Stier. Entfernt hören wir laute Stimmen und schwere Gegenstände, die bewegt werden. Sie klingen wie das Echo der Trommel. Hinter dem Mädchen ist ein Eingang. Kommen die Geräusche dort heraus? Die Geräusche werden hektischer, die Vögel werden lauter. Wie so oft geht die Geräuschkulisse über den Schnitt hinaus und zeigt damit an, dass sie nicht unbedingt zum Bild gehören muss. Wir sehen einen Eingang. Aus ihm kommt ein Arbeiter. Wir hören seine Schritte, sie sind synchron.Er wirft einen Karton auf einen Haufen und zieht eine Folie aus dem Dunkeln. Die Folie scheint endlos lang zu sein. Das Geräusch wird lauter als der Mann auf die Kamera zugeht damit und schließlich daran vorbei und es klingt nun wie das Meeresrauschen in einer Muschel. Eine weitere Blende im Ton, ein harter Schnitt im Bild. Nun sehen wir einen Mann mit einem Besen kehren. Wir hören das Kehrgeräusch und im Hintergrund nach wie vor die arbeitenden Männer. Nun auch Frauenstimmen. Kurz nach den Frauenstimmen, kommt ein Mann um die Ecke gelaufen und im selben Moment setzen Kirchenglocken ein. Sie spielen eine Melodie, die über den nächsten Schnitt (ein weiterer Mann mit einem Besen) hinweggeht. Überall Schritte, es entsteht das Gefühl eines gemeinschaftlichen Treibens. Die Vögel sind wieder zu hören. Das Geräusch eines grillenden Spatzes geht über in das hohe Geräusch einer Schnur, an der ein Mann zieht. Dazu weiter die Kirchenglocken. Der Mann mit der Schnur blickt ins Off und dort hört man ein Geräusch als wäre etwas umgefallen. Es rumpelt hier und da. Wir hören jetzt ein Fahrzeug im Off. Es bleibt stehen (nichts davon ist zu sehen, aber der Mann mit der Schnur blickt ins Off). Türen gehen auf, eine Schiebetür eines Sprinters. Das Vogelgezwitscher wird lauter. Ein metallenes Geräusch während wir nun im Bildvordergrund einen Mann mit einer großen Schnur sehen und im Hintergrund den Sprinter und zwei Männer. Golovnitskiy lässt uns oft das nächste Bild erahnen durch seine Tongestaltung.

Das waren die ersten drei Minuten des Films und das ist ganz großes Kino.