Bilder aus der Produktion – Drei Beispiele: Hände in Großaufnahme

von Ronny Günl

Vor ein paar Tagen kaufte ich ein altes Pressefoto des Österreichischen Filmmuseums. Es zeigt die Schlussszene von Sergei Eisensteins Bronenosec Potemkin. Matrosen, mit dem Rücken der Kamera zugewandt, winken mit ihren Mützen zu den Schiffen der Admiralsflotte hinüber. Sie haben sich im Aufstand gegen den Zarismus verbrüdert. Ich hatte es aus keinem bestimmten Grund gekauft, außer dass mich das Motiv ansprach. In einem Bilderrahmen hängt es nun an der Wand. Seltsamerweise scheint es dem Film, den ich in Erinnerung hatte, zu widersprechen. Nichts daran verweist auf die eigentümliche Revolutions-Rhetorik. Stattdessen das weite Meer, der angeschnittene Rücken eines Matrosen und eine stillgestellte Bewegung. Keine Spur von ausgezehrten Gesichtern in Großaufnahmen oder den gewaltigen Symbolen der Insurrektion. Einzig, eine verschwommene Hand, die eine Mütze geballt gen Himmel streckt.

*

Harun Farocki spricht in seinem Film Der Ausdruck der Hände davon, dass zuerst die Gesichter in der Geschichte des Films in Großaufnahmen aufgenommen worden wären, dann die Hände. Während uns die Gesichter bekannt erschienen, zeigten sich die Hände, isoliert von der Handlung, rätselhaft, so als hätten sie ein puritanisches Eigenleben, wenn sogleich das Gesicht, abgetrennt von Körper und Szene transzendiere. Die Hände sprächen eine eigene Sprache, die aber für das Auge fremd bliebe. „Diese Lust, mit der das Kanonenrohr durch die Hand gleitet, das lässt daran denken, dass das Kino kein Medium der Berührung ist. Vielmehr leitet es sich vom Augensinn ab. Die meisten tastenden Empfindungen übersetzt das Kino in Blicke“, stellt Farocki am Ende des Films fest. Die Hand auf der Leinwand schafft in einer gespenstischen Weise eine Verbindung vom Sehen zum Tasten.

Nie weiß man im Kino wohin mit den eigenen Händen. Gleichzeitig wirken die Hände auf der Leinwand, als hätten sie ihren Besitzer oder ihre Besitzerin verloren. Es könnten auch die eigenen sein, die auf einmal eine unvermittelte Berührung erfahren. Indem das Kino die Hände in die Großaufnahme zwängt, macht sich diese vorbewusste Empfindung zu eigen. Sie sind jetzt keine einfachen Hände, sie sind zu Dingen geworden, wie Volker Pantenburg im Wörterbuch kinematographischer Objekte über die Hand schreibt. Immer ist ihnen eine besonderer Aufgabe zugeteilt. Die meisten Hände, die in bzw. an einem Film arbeiten, bekommt jedoch niemand zu Gesicht. Offenbar gibt es Hände, deren Abbildung für das Kino entscheidender ist als andere. Es stellt sich die Frage, ob sie tatsächlich handeln oder eher denken?

I

Arbeit ist für den Film kein Fremdwort. Im Gegenteil: Man könnte fast sagen, überall wird im Film gearbeitet. Nur spielt das meist keine Rolle für die sogenannte Handlung. Vielmehr ist die Arbeit die notwendige Bedingung des Geschehens. Man könnte glauben, dass die Arbeit nur in der Ästhetik der Großaufnahme eine filmische Funktion erfülle. Der Irrtum überrascht: In Charlie Chaplins Modern Times gibt es keine einzige Großaufnahme von arbeitenden Hände. Selbst unter dem Takt-Regime der Maschinen hält es Chaplin nicht für notwendig, die Arbeit visuell vom Menschen zu trennen. Für Chaplin bleibt in der Halbtotalen ein errettendes Residuum des Komischen bestehen, wo sich die Kamera nicht opportunistisch mit der Entfremdung identifiziert.

Das Verb Arbeiten wird erst in der Großaufnahme zum Substantiv der Arbeit. Viel zu oft heißt es, ein Film sei besonders realistisch, wenn er vor allem kein Detail der Arbeit ausspart. Aber lässt er sich so nicht von einer Bewegung vereinnahmen, die nicht seine eigene ist? Macht sich selbst zum Laufband, auf dem die Güter mittels Montage hergestellt werden? Dafür sind die durch die Kadrierung abgeschnittenen, anonym-arbeitenden Hände nur noch verstummte Werkzeuge. Es sind nicht immer nur die Hände, die am Laufband an einem Werkstück hantieren im Kino. Meist sind es eher die Hände an Knöpfen, Reglern oder vor allem Schreibmaschinen. Jerry Lewis wusste dies zu karikieren.

Die Hände büßen die metaphysische Bedeutung der Großaufnahme für das Gesicht. Das heißt, sie werden nur noch zu bloßen „Schnittbildern“ reduziert, die den Fluss der Handlung erhalten sollten. Die Bilder arbeitender Hände gleichen den tayloristischen Studien, wo der Film als Medium zur Rationalisierung industrieller Produktion diente. Diese Hände verkörpern weder den abstrakten noch den konkreten Ausdruck der Arbeit. Sie sind das allgemeine Mittel der Produktion, nicht der Zweck des filmischen Bildes. Womöglich ließe sich dieses Verhältnis umkehren, wenn der Film die Hand sinnlich begreifen würde. Aber nicht im Sinne des übertragenen Fühlens bzw. Spürens, sondern mit einer Erfahrung, der das Publikum unvermittelt ausgesetzt wird.

II

Zögerlich, als kämpfe sie gegen etwas an, legt Claudia ihre Hand auf Sandros Haar am Ende des Films ‌L’avventura von Michelangelo Antonioni. Ein Film voller Enttäuschungen: Bei einem Ausflug auf eine einsame Insel vor Sizilien verschwindet Anna, Sandros Verlobte. Während er sich auf die Suche nach ihr begibt, entwickelt sich die platonische Freundschaft von Claudia und Sandro in eine romantische Beziehung. Nach einer ausgelassenen Feier am Ende des Films findet Claudia Sandro, mit einer anderen Frau umschlungen, wieder. Ergriffen flüchtet sie aus dem Hotel. Die beiden treffen schließlich auf einem erhöhten Platz im Morgengrauen über dem rauschenden Meer wieder zusammen. Die Blicke der beiden überschneiden sich in dieser Szene nie. So sehen wir die Großaufnahmen der beiden weinenden Gesichter, die verloren in die Ferne schauen.

Die Halbtotale bringt sie zueinander ins Bild. Obwohl die Handlung bislang nur aus den Positionen beider gezeigt wurde, ergreift auf einmal eine fremde, dritte Perspektive die Macht über die Handlung. Ein Schnitt, wie ein Schauder, zeigt Claudias Hand, aufgenommen aus einem unbekannten Blickwinkel. Die Kamera verfolgt ihre fast schon gelähmte Bewegung. Es ist ganz so, als wäre die Hand besessen von etwas und müsse sich gegen der betrogenen Vernunft widersetzen. Die Hand, die vom Einsatz der Musik pointiert, Sandros Kopf und Nacken streichelt, scheint wie eine Allegorie zu sein. Keine idealistische Versöhnung, sondern der Schmerz willfähriger Verzweiflung ist dort zu sehen. So schreiben Ulrich Gregor und Enno Patalas über diesen Film: „Betrachtet man L’avventura im Zusammenhang von Antonionis Gesamtwerk, so zeichnet sich thematisch das generelle Versagen des Mannes angesichts seiner gesellschaftlichen und zivilisatorischen Aufgaben ab, eine Situation, in der sich Antonioni weibliche Figuren eher für die Einsamkeit als für die Mediokrität einer Bindung entscheiden; allenfalls das gegenseitige Mitleid vermag als Brücke zwischen den Geschlechtern zu bestehen.“ 

Claudias Hand scheint sanft zu sein, doch die zerrüttete Beziehung zwischen den beiden Figuren, hebt sich nicht auf. Die Großaufnahme wirkt eher wie ein Fremdkörper, der etwas verdeutlicht, was die abschließende Totale nicht einzulösen vermag.

III

Vielleicht spielt in keinem anderen Film eine Hand in Großaufnahme eine gewichtigere Rolle als in Fritz Langs M. Ebenso wie der Buchstabe „M“ selbst treten die Hände des Kindermörders als eine Chiffre hervor. Einerseits sind es die Hände des Mörders, die im Verborgenen das Verbrechen verüben. Andererseits wird erst durch den Abdruck einer mit Kreide beschriebenen Hand der Mörder Hans Beckert identifiziert. Die Hände, besonders die von Peter Lorre, sind nicht einfach Teil des Geschehens: Sie führen ihr eigenes abgetrenntes, gestisches Spiel. Ob es noch die von Peter Lorre oder schon die Regiehände Fritz Langs sind, scheint zu verschwimmen.

Wahrscheinlich ist die letzte Szene des Filmes schon in jeder erdenklichen Facette analysiert und all ihren historischen Zusammenhängen interpretiert worden. Womöglich aber noch nicht unter dem Aspekt der Hand, die hier geradezu paradigmatisch in Erscheinung tritt: Händisch wird M alias Hans Beckert vor das Tribunal gezerrt – Es ist die Hand des blinden Ballon-Verkäufers, die den Mörder ertastet – Und dann sind es immer wieder Hände die M von hinten antippen oder mit Schlägen drohen – Seine Hände verkrampfen zu Krallen – Alle Mitglieder des Tribunals erheben ihre Hände, als die Polizei das Versteck entdeckt – Schließlich ergreift die Hand des Staates den angeklagten Mörder.

In Fritz Langs Film bestätigt sich, das Prinzip der Übertragung, das Farocki in seinem Fernsehbeitrag beschrieben hat, und geht darüber hinaus. Die Hand beziehungsweise die Hände werden zu autonomen Handlungsträgern. Hans Beckert ist sozusagen nur noch ein Anhängsel seiner Hände, wenn er mordet. Man könnte wohl sagen, dass es Lang in diesem Film gelingt, die Erfahrung einer Hand abzubilden. Er versucht sie, in ihrer Widersprüchlichkeit als unversöhnlich zu begreifen. In der Großaufnahme ist sie nie einfach nur ein filigranes Instrument, sondern stets eine Metapher für den Gegensatz von Kopf und Hand. Das Bild macht damit etwas begreiflich, das weder arbeitende noch fühlende Hände herstellen können.

*

Nie würde ein Magier freiwillig den Zauber seiner Kunststücke verraten. Doch um ihn zu durchschauen, muss man auf seine Hände blicken. Hände in Großaufnahmen lassen trotz ihrer Rätselhaftigkeit etwas Wahres durchscheinen. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass sie der Teil eines Ganzen sind. Die Großaufnahme ist sich dessen nur selten bewusst. Unbemerkt nimmt sie diese Trennung – eine Amputation – vor, indem sie die Hand zum bloßen Gebrauch einer beweglichen Geste degradiert. Bei Robert Bresson wird dies schließlich zur bildenden Form des Films L’Argent, wie Hartmut Bitomsky in einer Ausgabe der Filmkritik 1984 schreibt: „Hände, die eine Sache ergreifen, halten, übergeben, annehmen, verbringen. Man könnte dem Film auch als einer langen gewundenen Kette von Handreichungen nachgehen. […] Bresson führt mit diesem Film die Hände als Gegenstände des Kinos ein, so wie die Maler des Quattrocento die Hände in die Malerei eingeführt haben.“ 

Auf der Leinwand ringt die Hand den Gesichtern etwas von ihrer vergeistigten Vorherrschaft ab. Im selben Moment läuft sie jedoch Gefahr, zu ebendiesem schematischen Abbild zu werden. Einmal mehr auf die Hände zu schauen und das, was sie zu verbergen scheinen, anstatt sich von psychologischen Taschenspielertricks hinreißen zu lassen, wäre notwendig. Das würde nämlich bedeuten, die Hand in ihrer sensiblen Virtuosität und nicht zugerichtet in einer Kadrierung zu verstehen. Wenn ich jetzt erneut das Bild des Matrosen betrachte, fällt mir auf, dass gerade die stillgestellte Bewegung in ihrer fragilen Uneindeutigkeit das zu offenbaren scheint. Der Hand gilt hier nicht die Aufmerksamkeit einer einsilbigen Bedeutung. Vielmehr verkörpert sie Gedanken und Empfindungen eines ganzen Zusammenhangs, der sich nicht mit einem bloßen Wort übersetzen lässt. Der Ausdruck wird nur lesbar in der Sprache des Films. In seiner Simplizität birgt das Bild eine ergreifende Schönheit, die so alles hinter sich vergessen lässt. Aber die schreibenden, stemmenden, windenden oder montierenden Hände dahinter lassen mich dabei in Gedanken nicht los.

Il Cinema Ritrovato 2016: Unsere hohen Lichter

Zum Abschluss unserer Texte aus Bologna eine Übersicht unserer Highlights vom Festival und einige Schlussworte. Zur Übersicht noch mal unsere Tagebucheinträge:

Barbara Bouchet

Modern Times

Heiß wie ein Vulkan

Pferde schwimmen in Farbe

Feuer, Wasser und die schwarze Stadt

I Pugni in Tasca

My Way

PATRICK

les portes de la nuit

Mehr noch als das Kino bleibt von Bologna das Erleben einer Kinokultur. Dabei begegnet man nicht nur in Bologna einem interessanten Paradox: Die Liebe zum Kino wird oft durch ein einzelnes, unbewegtes Bild ausgedrückt. Warum? Tragen diese Screenshots, Poster und Fotos in sich das Versprechen oder Geheimnis ihrer Bewegung? Sind sie unserer Erinnerung doch ähnlicher als das Laufbild? Oder ist das Laufbild nur so fest zu halten? Wie die Erinnerung. In Bologna ist dieses Bild das Schlussbild aus Modern Times. Es ist doppelt verewigt und restauriert. Es zu sehen, löst die Erinnerung an die Bewegung selbst aus.

Ansonsten drei dieser Erinnerungen, die mich so schnell nicht verlassen:

Der Rauch abgefeuerter Pistolen in Flesh & the Devil von Clarence Brown. Er dringt aus dem Off links und rechts in das stumme Bild, Silhouetten erstarren und bewegen sich und wir wissen einen langen Augenblick nicht, wer lebt und wer stirbt; nur wer liebt.

Ein anderer Rauch im Nebel von Les portes de la nuit von Marcel Carné. Eigentlich bleibt von diesem Film weniger als ein Bild. Was bleibt, ist ein Gefühl; man träumt und kann mit dem Leben gar nicht gegen diese Träume ankämpfen. Im Nebel verbinden sie sich.

Schwindel in I pugni in tasca von Marco Bellocchio. Die Kamera zu nah.

ANDREY

touchez-pas-au-grisbi

Dreimal sehe ich in Bologna die „allererste“ Kinovorführung, das Lumière-Kurzfilmprogramm, das am 28. Dezember 1985 im indischen Salon des Grand Café in Paris lief. Einmal beim Eröffnungsabend vor Casque d’Or, digital auf Riesenleinwand und mit Livekommentar von Thierry Fremaux, einmal in der Lumière-Ausstellung in DVD-Qualität an die Wand projiziert, später auf der Piazzetta Pasolini vor Jean Epsteins großartigem Coeur fidèle, von einem historischen, handgekurbelten, lärmenden Projektor gespielt, im originalen Kleinformat, ruckelnd und zuckelnd wie man es sich vorstellt. Die Atmosphäre eines cinephilen Himmels. Arbeiter verlassen die Fabrik. Ein Baby wird gefüttert. Der Gärtner mit dem Schlauch kriegt eine kalte Dusche. Ein Soldat scheitert lustig an der Pferdbesteigung. Kinder springen in die Gischt. Eine Stadtansicht. Botschaften aus einer Zeit, als es noch keine schlechten Filme gab. Dass das alles passiert ist, ist eine unheimliche Gewissheit. Immer wieder schauen Leute in die Kamera, und ich fühle mich zuweilen an Youtube-Clips erinnert. Das Wesen der Schaulust hat sich nicht verändert, nur das Staunen ist dahin, und das Wissen um die Singularität jeder einzelnen Aufnahme. Wird man in 100 Jahren einen Laptop aufstellen und dem entzückten Publikum Katzenvideos präsentieren?

Die letzte Einstellung von Jacques Beckers Montparnasse 19, einer in vielerlei Hinsicht klischeehaften Künstlerbiografie, deren brutales Finale mich dennoch getroffen hat, hallt nach. Der mephistophelische Kunsthändler Morel (gespielt von Lino Ventura) hat soeben dem Tod Modiglianis beigewohnt – einem Tod aus Hoffnungslosigkeit, wie einem der Film nahelegt. Jetzt ist er in einer dunklen, kargen Wohnung. Zuhause bei Modiglianis Verlobten, die vom Ableben des Malers noch nicht weiß. Er bietet ihr an, sämtliche Bilder ihres Mannes zu kaufen. Bald werden diese sehr viel wert sein, auch das ahnt sie nicht. Die glückliche Fügung treibt ihr Tränen in die Augen, endlich etwas Abgeltung für alle die Mühen und Entbehrungen. „Ich verstehe“, sagt Morel, und beginnt dann völlig unvermittelt, die Gemälde einzupacken, mit schnellen, schroffen Bewegungen, ein kurzer Blick auf jedes Bild genügt ihm, als würde er Ersatzteile am Fließband prüfen, während die Kamera auf ihn zufährt und die Musik – wie eine melodramatische Version von Mihâly Vigs Soundtrack zu A torinói ló – anschwillt bis zur Unerträglichkeit. So dreht man das Messer in der Wunde um. Becker ist ganz allgemein ein Filmemacher klarer, starker, glatter, harter Gesten – trotzdem fällt mir, denke ich an Touchez Pas Au Grisbi, immer wieder das Adjektiv „süß“ ein. Irgendwas am Bild Jean Gabins und René Darys, die als alternde Gangster zuhause an trockenem Brot herumknabbern, lässt mich an Jarmusch und Kaurismäki denken.

Auch niederschmetternd: Der Schluss von Vasilij Ordynskijs Četvero, düsteres Tauwetter: Ein Held, der keiner ist, stirbt umsonst, und ein Ersatz ist schnell gefunden. Da helfen auch die Farbe und der beschönigende Voice-Over nichts, der Zynismus ist nicht zu übertünchen. Ein Film, der sich vehement dagegen sträubt, das zu tun, was die Zeit von ihm verlangt. Das Negative findet sich überall, in allen Ländern und fast allen Epochen, in den genannten Beispielen wie auch in den erstaunlich finsteren Gesellschaftsporträts der Laemmle-Junior-Universal-Jahre (gegen Afraid to Talk kann House of Cards einpacken), in der existentialistischen Hysterie von „Les Abysses“ (den ich nicht ausgehalten habe, aber nicht vergessen werde), in der iranischen Dämmerung von Ebrahim Golestans Khesht o Ayeneh. Aber wenn man wieder an die Lumières denkt, fragt man sich, ob die Negativität im Kino erst erfunden werden musste, ob das Kino nicht von Natur aus positiv ist. Denn diese Filme freuen sich über alles, was sie sehen, weil sie nur das ansehen, was sie freut. Eigentlich: Sollte nicht jeder Film aufhören wie Modern Times, laut Peter von Bagh das vollkommenste Bild menschlichen Glücks, das je auf Film gebannt wurde? Aber dann gäbe es Taipei Story nicht mit seiner fantastischen Edward-Hopper-Schlusseinstellung. Und bei einem Festival wie dem Cinema Ritrovato will man sich nicht entscheiden müssen.

IOANA

taipei-story

Gesehen und wiedergesehen

Cœur fidèle von Jean Epstein

Le quadrille von Jacques Rivette

Khaneh Siah Ast von Forough Farrokhzad

I pugni in tasca von Marco Bellocchio

Taipei Story von Edward Yang

Modern Times von Charlie Chaplin

Les portes de la nuit von Marcel Carné

Fat City von John Huston

Casque d’or von Jacques Becker

Flesh and the Devil von Clarence Brown

•Filme von Gabriel Veyre

Touchez pas au grisbi von Jacques Becker

Shin Heike Monogatari von Kenji Mizoguchi

A house divided von William Wyler

The kiss before the mirror von James Whale

(1 regret – Ugetsu Monogatari nicht wieder gesehen zu haben, aber wir haben ihn auf Film gesehen)

RAINER

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Der prägende Moment in Bologna war für mich eine Zäsur. Als mich der stete Wechsel zwischen unerbittlicher Hitze und Klimaanlagen dahinraffte und mich fast drei Tage außer Gefecht setzte. Davor hatte ich bereits einige sehr gute Filme gesehen: Marnie von Alfred Hitchcock (als Technicolor Vintage Print), Le Trou von Jacques Becker, der apokryphe Vingarne von Mauritz Stiller, die faszinierenden Reisebilder des Lumière-Kameramanns Gabriel Veyre aus Mexiko; The Wild One von Laszlo Benedek hat mich sogar die Ikonizität Marlon Brandos besser verstehen lassen. Als ich mich aber dann am dritten Tag meiner krankheitsbedingten Pause spätabends zu Last Tango in Paris schleppte, in der Hoffnung die zwei Stunden zu überstehen, ohne ohnmächtig zu werden, war das eine überwältigende Erfahrung. Aus dem stickigen, fiebrigen Appartement in die fiebrigen Bilder des Films (sind sie tatsächlich fiebrig, oder war das meiner Tagesverfassung geschuldet?): Liebe, Verzweiflung, Erotik, Butter – danach musste ich mich gleich wieder hinlegen. Der nächste und letzte Tag beginnt mit dem Korruptionssumpf einer amerikanischen Großstadt (Afraid to Talk von Edward L. Cahn) und endet mit einem Schusswechsel im Schneesturm (McCabe & Mrs. Miller von Robert Altman). Nach der Zwangspause sind diese Filme viel klarer in Erinnerung, als ich es von Filmen, die ich Festivals sehe, gewohnt bin. Die Freude darüber wieder im Kino sitzen zu können hat das Gefühl von Festival-Fatigue ausgestochen. Hoch lebe Bologna (und seine Tagliatelle) und Butter!

Il Cinema Ritrovato 2. Tag: Modern Times

Vor jedem Screening empfehlen wir einen frisch ausgepressten Orangensaft zur besseren Erhaltung des Immunsystems während Festivaltagen. Zunächst bewegen wir uns mit der kompletten Gruppe in Kenji Mizoguchis Shin Heike Monogatari, einer von zwei Farbfilmen, die der große japanische Filmemacher kurz vor seinem Tod inszenierte. Beim Gedanken an die Mizoguchi-Retrospektive im Österreichischen Filmmuseum vor einigen Jahren falle ich noch immer in einen fieberhaften Zustand, der niemals ganze Filme in die Erinnerung rufen könnte, sondern nur Klänge, Bewegung und dieses Gefühl des sanften und brutalen Schwebens durch Sterblichkeit und Liebe. Der Film handelt von einem jungen Samurai und kommt aus einer Zeit (Mitte der 1950er), in der Samurai-Filme auf dem Höhepunkt ihrer Popularität waren. Mizoguchi, der sich immer sehr für die japanische Geschichte interessierte, siedelt seinen Film um 1000 n.Chr. an. Es geht um die Suche nach einer Identität, eine Vater-Sohn-Beziehung inmitten eines brutalen Bürgerkriegs. Sofort fällt einem das auf, was die Amerikaner gerne als “scale“ bezeichnen. Mizoguchi und die Massen. Hunderte Statisten wandern durch einen Welt, die Kamera gleitet sanft als wären es nur zwei Liebende, dann doch das Chaos, in dem er immer die Übersicht behält. Am meisten beeindrucken mich einige fast traumartige Implosionen, die von den unsicheren Übergängen zwischen dem Hier und dem Jetzt sowie der Nacht und dem Tag Handel. das sind manchmal mit einer gleitenden Kamera inszenierte Erinnerungen, etwa an eine verbotene Nacht aus der unser Held womöglich entstammt und manchmal statische Einstellungen der Natur, die dieses Schauspiel beobachtet. Der Film wird im Rahmen einer Technicolor-Japan-Schau gezeigt und die Farben sind tatsächlich sehr schön, was man von der digitalen Kopie nicht immer sagen kann. Am Abend jedoch sollte beim großen Orchester-Screening von Chaplins Modern Times noch mal eine ganz andere Frage an die Vorführpraktiken des Festivals gestellt werden. Was gar nicht geht, so viel ist klar, sind die Kopfhörer, die man ähnlich eines Museums vor den Screenings nehmen kann, um  Simultanübersetzungen aufs Ohr zu bekommen. Zum einen nimmt diese Apparatur dem Kino so einiges von seiner sozialen Komponente, zum anderen hört man bei jedem Zwischentitel funkendes Grunzen und verzerrte Stimmen durch die Kopfhörer im ganzen Kinosaal. Das ist furchtbar und gehört neben einigen anderen Unsitten bei den Projektionen, die nur mit großen Problem ablaufen (eine Taschenlampe aus dem Projektionsraum erhellte den zurecht meckernden Zuseherraum für mehr als eine Minute z.B.), sicherlich zu den Schwachstellen dieses sonst wunderbaren Festivals. Auch die erste Begegnung mit Marie Epstein, Peau de Pêche war ein großartiges Kinoerlebnis. Der Film harmonierte prächtig mit der Beobachtung von Thierry Frémaux zu den Gebrüdern Lumière, also vom Interesse an der Kindheit im Kino und der Kindheit des Kinos. Mit welcher Unschuld Epstein und Jean Benoît-Levy diese Unschuld filmen, wie Nahaufnahmen ähnlich wie bei Jean Epstein einen ganz eigenen Zauber versprühen und wie sich den ganzen Film hindurch eine nie falsch wirkende Melancholie hält, erzählt sich ein Versprechen des Kinos, das heute eher ein Versprechen an das Kino ist: Wir zeigen dich weiter.

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In der Zwischenzeit vor dem Kino: Andrey begeistert uns mit Rückenübungen, die angeblich gut für den Rücken sind. Auf dem Boden liegt Regen, den wir kaum glauben können. Er verdampft schon in der Luft. Ein Lachen mit breitem Grinsen dampft durch unsere Erinnerung an den zweiten Tag. Es ist einer der durchgeschossensten Filme, die ich seit langer Zeit gesehen habe: Gado Gado von S. Roomai Noor. Ein comic-haftes Stück Over-Acting-Slapstick-Zirkus-Geschrei über einen amüsierten jungen Mann (zu Beginn sehen wir ihn laut lachen), der einen Job sucht, aber nichts kann. Letzteres erinnert natürlich an Modern Times von Charlie Chaplin, der am Abend auf dem Piazza Maggiore gezeigt wurde. Es war ein unvergessliches Ereignis, das ich noch immer verarbeite. Ich habe den Film zum vierten Mal gesehen und doch war es wie eine Taufe. Tausende Menschen versammelten sich nicht nur auf den Sitzen, sondern standen auch den ganzen Film über rings um die Anlage herum. Es gab ein großes Orchester, Szenenapplaus, ein Film, der vor 80 Jahren gedreht wurde, begeisterte die Menschen. Ein kleiner Gag und alles fällt. Man staunt. Die Kamera steht so richtig bei Chaplin, dass sie überhaupt keine Zeit kennt. Es fällt mir sehr schwer, die Gefühle zu beschreiben, die mich zu Tränen rührten, obwohl ich dauernd lachend musste. Vielleicht war es das Gefühl, dass es so was wie Chaplin heute nicht mehr gibt, nie mehr geben wird. Vielleicht war es die Anerkennung, die für einen kleinen Einfall unsterblich geworden ist. So übertrieben das klingen mag: In diesem Moment habe ich mich gefragt, wieso es Kriege gibt, wenn es solche Filme und Vorführungen gibt. Man sagt ja gerne, dass Film die Zeit überdauern oder überlisten kann, aber hier was es tatsächliche Vergegenwärtigung und zu meinem Erstaunen schien mir dafür das Medium nicht relevant. Natürlich ist das Medium Film etwas entscheidendes und das müsste so auch konsequenter kommuniziert werden. Modern Times war hier nicht Modern Times, sondern nur eine digitale Kopie. Aber in dieser Kopie und in der Versammlung der Menschen an diesem Ort schlägt eine Seele, die über das Medium hinwegfegt mit der Emotion der Filmgeschichte, die lebendig ist. Darum geht es natürlich hier, aber so stark habe ich diese Gefühle nicht erwartet. Wobei ich wirklich befürchte, dass ich im Moment dieses Wunders bereits dessen Verlust spürte. Denn was sehen wir in 80 Jahren?

Wir saßen noch einige Zeit auf dem Platz. Es gab Standing Ovations, es gab zwischendurch Szenenapplaus, es gab Liebe zum Kino.

Fabriken im Film

Es gibt einen Rhythmus der Arbeit im Film. Rauchende Schornsteine, Motoren rattern, mechanische Bewegungen spielen Musik in der Montage und sie dynamisieren ganz nach den Eisenstein-Ideen unsere Wahrnehmung: Ja, agitatorische Fabriken im Film, ihre Bewegung zieht sich über das Land, durch die Stadt bis hinauf in den Himmel bis sogar der sinnlich-religiöse Dovzhenko sich in den kraftvollen Blick der Maschinen verliebt. Erstaunlicherweise trifft sich dieses extrem linke Propagandamaterial in seiner dynamischen Ästhetik mit jener des Propagandakinos im nationalsozialistischen Deutschland. Man denke an einen Film wie Metall des Himmels von Walter Ruttmann. Die Arbeit hängt an Fabriken und diese Fabriken werden als Motor für politische Systeme verstanden, die Arbeit wird glorifiziert und eine Fabrik ist der heilige Tempel, in dem jedes Rad in das nächste greift für einen Fortschritt, doch wohin? In seinem Fabrica nimmt Sergei Loznitsa die ikonischen Bilder des sowjetischen Kinos auseinander. Die Arbeit hat etwas Ermüdendes und Grausames bekommen hier. Die Maschinen sind unerbittlich, der Mensch wankt. Während das Fließband unaufhaltsam in ein schwarzes Nichts läuft, behindert eine aggressive Wespe Charlie Chaplin bei seiner Arbeit in Modern Times. Immer wieder hängt er in den Maschinen fest, die Automatisierung des Menschen, die Fabriken gewinnen Macht über uns. Vor dem Auge erscheinen die bizarren Schläuche in Jacques Tatis Mon oncle, die merkwürdigen Geräusche, wohin führen all diese Wege, was machen all diese Apparate? Es ist heiß in den Fabriken, ein Höllenschlund. In Michael Ciminos The Deer Hunter wird man gleich in den ersten Bildern mitten hinein geworfen in das Feuer, die sengende Hitze des Untergangs, die sich letztlich im Wahnsinn auf der anderen Seite des Planeten finden wird, aber hier ihr Echo und natürlich auch ihren industriellen Ursprung findet. Man denke nur an diese sarkastische Eröffnungssequenz in Lord of War von Andrew Niccol, in der ebenfalls eine Melodie der Fabriken erzeugt wird, eine Hand in die andere greift bis eine hergestellte Munitionskugel im Kopf eines Menschen landet. Eine Fabrik zu besitzen, bedeutet Macht wie man zuletzt auch in A Most Violent Year von J.C. Chandor sehen konnte. Macht, die im Film oft zu Gewalt führt.

Modern Times von Charlie Chaplin

Modern Times von Charlie Chaplin

Cristi Puiu bewegt sich verdeckt von Fenstern und Mauern durch seinen isolierenden Arbeitsplatz in Aurora, eine Fabrik. Sein Umgang mit Mitarbeitern ist schroff, in den Pausen sitzt er alleine am Rand der Fabrik, er bewegt sich so, dass er niemand begegnen muss. Damit ähnelt er tatsächlich Jacques Tati (man muss darüber nachdenken…). Auch Christian Bale ist ein solcher Isolierter in einer Fabrik in The Machinist von Brad Anderson. Aber in seinem Fall offenbart sich eine andere Eigenschaft von Fabriken im Film, nämlich die Gefahr eines Unfalls, das Schicksal und die Bedrohung am Arbeitsplatz. Besonders schwer wiegt das im Fall der verheimlichten Augenerkrankung in Dancer in the Dark von Lars von Trier. Es geht um Menschen, die nicht mehr in der Lage sind, die Maschinen zu bedienen, aber deren Existenz daran hängt. Fabriken im Film, das ist auch Überleben und Ökonomie. Besonders heftig ist da natürlich die Arbeit in einem Atomkraftwerk wie sie in Rebecca Zlotowskis Grand Central gezeigt wird. Ein Fehler kann tödlich sein, die Bedrohung ist in diesem Fall nicht sichtbar. Der giftige Rauch in Michelangelo Antonionis Il deserto rosso, diese entfernten und doch nahen Geräusche, was passiert dort, was haben wir damit zu tun? All diese Beispiele stehen für eine Entfremdung vor einer Arbeit, die aus immer gleichen Bewegungen besteht, die zeigen wie schwer es ist die Konzentration aufrecht zu erhalten und wie wichtig die Bedingungen dafür sind. Stumpfer Wiederholungsdrang, der glückliche Sisyphos könnte sich sein Bein brechen, wenn er ausrutscht, was dann? Es sei darauf verwiesen, dass sich die vielleicht ultimativ funktionale und entfremdete Fabrik im Haushalt von Jeanne Dielman, 23, Quai du Commerce, 1080 Bruxelles von Chantal Akerman findet. Die Fabrik als Lebensweise.

Aurora von Cristi Puiu

Aurora von Cristi Puiu

Il deserto rosso von Michelangelo Antonioni

Il deserto rosso von Michelangelo Antonioni

Die Landschaften um die Fabriken sind meist ein endzeitliches Ödland, Antonioni scheint mit seinem nebeligen Giftsümpfen in Il deserto rosso, in denen Schiffe am Horizont erscheinen und kein Leben möglich ist, in der Wunde einer industriellen oder post-industriellen Welt zu baden. Doch auch der Metall-Schick von James Camerons The Terminator, die tristen Schornsteine am Horizont der Stadt in Koridorius von Sharunas Bartas, die vergeblichen Leidensgeräusche einer verlassenen Industrie bei Béla Tarr, ja die Fabriken verschwinden, ihr Klang ist nur mehr ein Echo. Das gilt für die Schicksale der Arbeiter wie sie Nikolaus Geyrhalter in seinem Über die Jahre beobachtet und für die Fabriken selbst wie man es oft in den Filmen von Jia Zhang-ke (zum Beispiel 24 City, A Touch of Sin oder Still Life) sehen kann, in denen Fabriken geschlossen werden und die letzten Arbeiter wie Geister durch ein China ohne Bestimmung torkeln. Leere Fabriken, sie sind Geschichte und Erinnerung. In IEC Long von João Pedro Rodrigues und João Rui Guerra da Mata ist die Fabrik endgültig ein Geisterort und damit finden Fabriken vielleicht eine filmische Bestimmung, die sie endgültig völlig entfernt hat von den mechanischen Festen vernichtender politischer Systeme, in eine filmische Welt, in der Platz sein kann für die Menschen, ihre Hände, Gesichter und ihre Zeit, die an diese speziellen Orten und in den speziellen Relationen zur Musik der Maschinen zwischen Überlebensdrang, Hässlichkeit, Hoffnung, Gefahr, Macht und der Schönheit von getrocknetem Öl in den Händen eines Geists führen kann. Elia Kazan hat in seinem The Last Tycoon bereits dieses Gefühl der Vergänglichkeit auf die Fabriken der Filmindustrie selbst gelegt, die leeren, funktionslosen Studios, kein Wind aus den Maschinen, kein Mondschein aus den Scheinwerfern, das Ende der Fabriken, das Ende der Illusion?

The Machinist von Brad Anderson

The Machinist von Brad Anderson

IEC Long von João Pedro Rodrigues und João Rui Guerra da Mata

Vielleicht kann man so verstehen, warum Willy Wonka im Angesicht seiner Fabrik in Willy Wonka & the Chocolate Factory von Mel Stuart von seiner Imagination singt:

Come with me and you’ll be
In a world of pure imagination
Take a look and you’ll see
Into your imagination

We’ll begin with a spin
Trav’ling in the world of my creation
What we’ll see will defy
Explanation

If you want to view paradise
Simply look around and view it
Anything you want to, do it
Want to change the world, there’s nothing to it

Cinemañana: How to disappear completely

Clips/Idee: Ioana Florescu
Text: Patrick Holzapfel

Modern Times

Ioana Florescu hat sich wieder auf die Suche gemacht. Diesmal hat sie Menschen gefunden, die uns am Ende von Filmen den Rücken zukehren und gehen. Wir werden sie nicht mehr wieder sehen,

That there, that’s not me, I go where I please,I walk through walls,I float down the Liffey

Gycklarnas afton von Ingmar Bergman

Un condamné à mort s’est échappé von Robert Bresson

In solchen Momenten zerfließen die Filme vor unseren Augen: Film is The Art of Absence. Was davor, danach, daneben, dahinter, darüber, darunter, dazwischen passiert ist entscheidend. Ein solches Ende macht uns klar, dass wir Filme nicht einfach betreten und schon gar nicht besitzen können. Wir können sie nur betrachten so lange sie uns lassen. Aber der Raum und die Zeit im Off werden nur in uns existieren und in den Figuren, nicht aber auf der Leinwand, dieser riesigen Lupe, dieser wahren Lüge; fängt Blicke wie andere Schmetterlinge,

Ich werde aufstehen und in die Leinwand springen, um den Figuren zu folgen. Ich will an der Leinwand kleben wie eine tote Spinne und langsam darin versinken. Vielleicht kann ich den Figuren dann folgen? Ich renne Chaplin hinterher. Ich verfolge ihn durch die Nacht. Hoffentlich kann ich ihn nie berühren,

Es muss ein Leben hinter den Bildern geben,

I’m not here,This isn’t happening,I’m not here, I’m not here

Le Bonheur von Agnès Varda

La grande illusion von Jean Renoir

Ungreifbar und unbegreiflich schweben schwarze Silhouetten ins Nichts. Narren glauben, dass diese Bilder von einer ungewissen Zukunft sprechen, obwohl sie eindeutig in der Gegenwart verankert sind. Danach ist nichts mehr. Es wird irgendwann schwarz werden. Die Zukunft ist eine Illusion im Kino. Diese Geister sterben am Ende ihrer Filme. Die Filme auch. Aber sie werden wiedergeboren. Wer sich in seinem Sitz bewegt und glaubt, dass dies nun das Ende des Films sei, weil Filme nun mal so enden, verpasst den letzten Blick des Kinos. Unfähig sich zu rühren, unfähig weiter zu folgen,

Hat die Kamera ihre Lust verloren? Sind diese Bilder ihr letzter Lebenshauch, vielleicht ein letztes trauriges Blinzeln, die letzte Erinnerung an eine Welt?

Orphée von Jean Cocteau

Das Kino braucht keinen Vorhang, denn es gibt den Off-Screen und die Tiefe des Bildes. Und es gibt noch mehr,

Sie kehren mir den Rücken zu. Ich sehe ihre zuckenden Schulterblätter, ich sehe Punkte in der leidenschaftlichen Landschaft. Ihre Füße sind echt. Jeder Schritt hinterlässt eine Spur in meiner Pupille, eine glühende Narbe unter meinen Lidern,

Wer genau hinhört, kann den letzten Atemzug der Filme vernehmen. Es ist ein langes Seufzen, das wie ein verlorener Wind über die Ewigkeit der Vergangenheit treibt, ein feuchter Film, der sich auf den Augen bildet und unmerklich über die Wangen brennt wie ein sanfter Reifen auf Asphalt. Ein Film setzt niemals einen Punkt sondern immer Kommas,

In a little while, I’ll be gone, The moment’s already passed, Yeah, it’s gone

Professione:reporter von Michelangelo Antonioni

In Another Country von Hong Sang-soo

Film ist gemacht für den Übergang von Tag auf Nacht und Nacht auf Tag. Immerzu sehen wir in den Filmen die Geburt und den Tod des Lichts. Ein Zustand in dem noch alles möglich ist. Diese gehenden Gestalten am Ende des Films sind der endgültige Übergang als Geister aus der Maschine. Sie könnten auch fliegen. Ihre Langsamkeit sagt mir, dass ich sterben werde. Mit ihnen oder ohne sie, langsam oder plötzlich. Es ist der Horizont, indem sie verschwinden bevor er selbst verschwindet. Vielleicht klammert sich der Blick an die Dauer der Entfernung, vielleicht hetzt er ihnen nach, aber auch der Blick wird sterben.

Irgendwann kann man nichts mehr sehen.

Wie der Expressionist ein Romantiker ist, die Angst der Natur nicht länger ertragen kann, so ist die verschwindende Filmfigur eine romantische Angst, die ihren Rahmen nicht mehr ertragen kann. Aber diese Figuren verlassen den Rahmen nicht. Sie verschwinden in ihm. Ich verstehe nicht wohin sie gehen. Das liegt daran, dass sie nicht im Raum verschwinden sondern in der Zeit.

Being There von Hal Ashby

Of Freaks and Men von Alexei Balabanov

What Time is it There? von Tsai Ming-liang

I’m not here, This isn’t happening,I’m not here, I’m not here

Eine wunderschöne Mücke saugt mir das Blut in Zeitlupe aus. Ich sehe ihr zu und spüre den langen Schauer meines platzenden Blutes, das in den Körper der Mücke fließt und weiß, dass dieser Moment in meinem Gedächtnis bleiben wird, wie das letzte Echo eines Hilfeschreis in den Bergen, wie der Geschmack eines letzten Kusses auf den Lippen verweilt. Die Erinnerung an diese Bilder ist jene des empfundenen Schmerzes bei ihrer Betrachtung.

Strobe lights and blown speakers

Rocco e i suoi fratelli von Luchino Visconti

Fireworks and hurricanes

Modern Times von Charlie Chaplin

Bilder des Bedauerns. Ich hätte besser sehen können. Ich bedauere nicht, dass sie gehen. Ich bedauere, dass ich sie nie gesehen habe, nicht so geküsst wie ich sie küssen wollten, nicht so gekannt wie ich wollte. Warum drehen sie sich nicht noch einmal um? Ich wollte nie mehr blinzeln. E.E. Cummings,

or if your wish be to close me, i and
my life will shut very beautifully,suddenly,
as when the heart of this flower imagines
the snow carefully everywhere descending;

Out of the Past von Jacques Tourneur

I vitelloni von Federico Fellini

Warum tanze ich auf dem Gedächtnis von Geistern? Im Sonnenuntergang, jemand spielt ganz zufrieden eine Violine, Boccherini, ich sitze auf einer Veranda, es ist warm genug und ich kann einmal den Zweifel vergessen, die Angst, weil ich begreife, dass ich keine Bedeutung habe.

Ich werde irgendwann aufstehen. Die Lichter gehen an. Sie sollten nicht. Ich werde eine Jacke tragen und den anderen Zeitmenschen aus dem Kino folgen. Ich werde der Leinwand den Rücken kehren, sie kann meine zuckenden Schultern sehen, meine echten Füße, die den Boden noch nicht berühren können. Man kann mich noch eine ganze Weile sehen. Dann werde ich zu einem Punkt in einer Landschaft. Nur mein Blick ist geblieben. Bis auch er stirbt.

I’m not here, This isn’t happening, I’m not here, I’m not here

Ladri di biciclette von Vittorio De Sica

The Searchers von John Ford

We’re gonna live forever,