Filmfest Hamburg 2015: The Assassin von Hou Hsiao-Hsien

Vor einiger Zeit durfte ich einen Programmtext zu einer Hou Hsiao-Hsien Retrospektive schreiben. Das Lektorat hat mir dabei meinen letzten Satz gestrichen, mit der Begründung, dass dieser zu poetisch sei und man lieber Klarheit wolle. Wenn man sich die Filme von Hou ansieht und insbesondere The Assassin, der ihm dieses Jahr in Cannes den Preis für die Beste Regie einbrachte, dann kann man mir schlicht nicht erzählen, dass es menschlich ist, nicht in lyrische Formulierungen zu fallen. Die Erfahrungen, die man mit Hou macht, sind jenseits nüchterner Beschreibungen. Dennoch werde ich mich zusammenreißen.

Acht Jahre sind vergangen seit Hous letztem Langfilm, Le voyage du ballon rouge. „Vergangen“ ist auch ein gutes Stichwort für das Kino des Taiwanesen…

Es ist schwer, wenn man nicht schwärmen darf. Wie soll ich mich halten? Ich gebe nach zwei Zeilen auf.

The Assassin

Gegen Ende des Films stehen zwei Frauen auf dem Gipfel eines bewaldeten Berges. Nebel dringt aus der Schlucht zum Himmel, man fühlt sich erinnert an das titelgebende und im Vergleich irgendwie billig wirkende Wolkenphänomen bei Hous Freund Olivier Assayas in dessen Clouds of Sils Maria. In seinen bisherigen Arbeiten konnte man durchaus davon sprechen, dass Hou das Vergehen von Zeit wie den Wind filmt, ein Wind, in dem sich Erinnerungen und die Gegenwart umschlingen zu einer bloßen Präsenz. In The Assassin nimmt Hou das wörtlich. Es ist – und ich verweise da gerne auf diesen Text von Serge Daney – der vielleicht dritte Film nach The Wind von Victor Sjöström und Trop tôt/Trop tard von Jean-Marie Straub & Danièle Huillet, der den Wind filmt. Wir sehen den Wind in den Blättern der Bäume, den Gewändern, den seidenbehangenden Räumen, in die Vorhänge wie von anmutiger Geisterhand zitternd geschoben werden, Seide, die vor Bildern weht, die unseren Blick selbst zum Wind macht und schließlich die Kamera, die Kamera des größten Kameramanns unserer Zeit, Mark Lee Ping Bin, die wieder hypnotisch und in einer derart scharfen Klarheit, dass man glaubt, zum ersten Mal zu sehen, zwischen den Figuren schwenkt, nicht wirklich auf der Suche, sondern bereits mittendrin. In 35mm und im alten Academy Ratio, das mehr Platz für den Wind außerhalb des Bildes lässt, filmt dieser auch die beiden Frauen auf dem Gipfel, der kein wirklicher Gipfel ist, sondern eine Zwischenebene. Muss man wissen, wer diese Frauen sind? Vielleicht später, zunächst muss man die bloße Erhabenheit und Dynamik dieses Bildes erfassen, das wie fast jede Einstellung des Films zu viel ist, zu viel für meine Augen. Die eine Frau steht schon von Beginn an dort, sie steht auf einem Felsen, es ist eine Unmöglichkeit, dass sie dort steht und wer die übermenschlichen Bewegungen des übersinnlichen wuxia-Genres hier und da vermisst, hat nicht hingesehen. Sie ist die Meisterin. Nennen wir es so. Ganz in weiß gehüllt, wie eine Erscheinung, thront sie über einem Abgrund, den wir nur durch die aufziehenden Wolken erahnen können, Wolken, die gelenkt scheinen. Hinter dem Felsen erscheint die Protagonistin, ein schweigender Schatten, der wie ein Licht in schwarz durch die Bilder schwebt und deren inneres Leben Hou in jedes einzelne Bild zu legen scheint: Die titelgebende Nie Yinniang gespielt von Hous Muse Qi Shu.

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Wie habe ich das gemeint, mit dem inneren Leben und dessen Verhältnis zur Bildsprache Hous? Pier Paolo Pasolini, ein Mann, der Hou sehr beeinflusst hat, hat einmal einen Text geschrieben über die freie indirekte Rede im Film. Dabei geht es – sehr vereinfacht – um die Möglichkeiten eines Filmemachers, durch den Stil etwas über das Innenleben von Figuren auszudrücken. So hängt etwa die Wahl des Objektivs in Il deserto rosso von Michelangelo Antonioni am nervösen Seelenleben der Protagonistin. Und wie zeigt sich das jetzt in The Assassin, ein Film, der meiner Meinung nach beständig von einem solchen inneren Konflikt erzählt? Nicht alleine in der Schönheit der Bilder, sondern auch in diesem harrenden Schwebezustand, diesem zögernden Warten und der Antizipation der Gewalt, die Hou viel mehr interessiert als die tatsächlichen Kampfszenen, die er fast im Stil eines Robert Bressons nur in ihrer Essenz zeigt. Nie Yinniang hängt ebenfalls in dieser Antizipation, sie ist zerrissen zwischen ihrer Aufgabe, ihrer Emotion und ihrem eigenen Urteilsvermögen. Der Film beginnt in drei Vignetten in den Farben schwarz und weiß (wie Godard einst über Bresson geschrieben hat) und erzählt vom Töten und Nicht-Töten-Können der Protagonistin. Zunächst wandelt sie tänzerisch in einem Wald mit nackten Bäumen, um einen Mann mit tödlicher Eleganz zur Strecke zu bringen. Der Martial Arts Aspekt ist hier eher eine Drohung, ein Versprechen, als ein ästhetisches Vergnügen. Wie seine Hauptfigur, so will auch der Film diese Kämpfe umgehen, sie minimalisieren… Nie Yinniang will auch nur das Nötige tun, sie ist wie der Wind, wie der Film. In der zweiten Vignette kann sie einen König nicht töten, weil dieser gerade mit seinem Kind spielt. Sie lässt ihn am Leben. Es ist als würde plötzlich die Schönheit der Welt zwischen ihr und der Gewalt stehen. Diese Dinge sind Hou offensichtlich wichtiger als wuxia Verweise, die in diesem China des 9. Jahrhunderts inspiriert von der chuangi Literatur eher einen Rahmen bilden. Hou geht es in diesem Genre um zwei Dinge: Die Moral und die Frage wie sich die Geschichte in eine Gegenwärtigkeit übersetzen lässt.

Nie Yinniang, das schwarze Licht (solche Formulierungen könnte man streichen, aber wer, der den Film kennt, würde nicht sagen, dass man die Protagonistin so beschreiben muss?), die sich oben auf dem Berg unter die Meisterin auf dem Felsen stellt, wird für ihr Versagen bestraft. Sie soll ihren Cousin Tian Ji’an töten, dem sie einst versprochen war. Von diesem Augenblick an folgen wir ihr und mit ihr dem Leben des Cousins mit seiner Familie und seinen politischen Entscheidungen, wir können uns nicht wirklich nähern, weil wir tödlich sind. Es ist eine derartige Konzentration in den Bildern, in denen das Beiläufige und Zwingende zu einer absoluten Notwendigkeit verschmelzen. Es ist eine Notwendigkeit, die jedes Bild mit Leben füllt und es dennoch über dasselbige hebt. Dabei entsteht das Bild einer Zeit vor unseren Augen. Zeit wird erfahrbar, weil wir den Wind spüren, weil wir die Töne hören (Hou drehte zwar in mandarin, aber angeblich in einer völlig befremdlichen Syntax, die selbst für jene, die diese Sprache beherrschen, nicht verständlich ist, aber genau darum geht es auch nicht, es geht darum diesen Rhythmus zu hören und in ihm zu verschwinden während man sich gleichzeitig einer unendlichen Distanz bewusst sein muss) und weil wir die Materialität der Orte, Kleider und Menschen fühlen. Hou hat wie in City of Sadness, The Puppetmaster oder Flowers of Shanghai eine Möglichkeit gefunden, dass die Re-Präsentation einer Zeit gleich einem Wind durch unsere Augen weht. Es ist zugleich Erinnerung, Präsenz und alles dazwischen. Es geht nicht um die Informationen der Geschichte, sondern um das Leben in und wegen der Geschichte. Immer wieder sehen wir das einfache Leben, Kinder, die spielen, ein Gespräch, Arbeit. In diesen Bildern treffen sich die Moral und die Vergegenwärtigung. Die Moral ist der Zweifel, ob man im Angesicht dieses Lebens töten kann und die Vergegenwärtigung ist die akkurate Beiläufigkeit einer Distanz, die wie ein schüchterner Beobachter nicht eingreifen will in diese Welt, sondern sie schlicht sehen und hören will.

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Zum Sehen und Hören gibt es einiges zu sagen. Wir sind zurück am nebeligen Abgrund. Immer wieder tauchen diese Aufnahmen auf, in denen Hou Landschaften wie Körper zelebriert. Etwas lebt in ihnen und sie sind ein Spiegel der Zeit, des Innenlebens einer Geschichte und einer Figur, der Zeit und Geschichte dieser Figur. In ihnen liegt die ganze Präsenz dieser Vergänglichkeit, die ihr Ebenbild einzig in den melancholischen Augen der Figuren findet. Nein, es gibt nichts konkreteres in diesem Film, weil es konkreter gar nicht geht. Dabei wird The Assassin keineswegs von derselben Dekadenz heimngesucht wie Flowers of Shanghai. Vielmehr ist es eine Abkehr, ein Untertauchen in diesen massiven Bildern von Perfektion. Man kann sagen, dass Hou, der im Vergleich zum anderen großen Vertreter des Neuen Taiwanesischen Kinos, Edward Yang, immer als ein Filmemacher der Natur und Ländlichkeit galt, hier zum ersten Mal tatsächlich mit der Landschaft atmet statt sie im Stil seiner frühen Arbeiten, als pastoralen Hintergrund einer Erinnerung zu verwenden. In dieser Ländlichkeit erfährt The Assassin die Meisterschaft eines Filmemachers, der es geschafft hat eine eigene Sprache nicht nur zu finden, sondern zu meistern. Das ist aber auch gefährlich. Die Perfektion der Bildsprache ist derart hoch, dass dem Film trotz seiner fragmentarischen Ezählweise, in der wichtige Ereignisse zum Teil im Off geschehen oder nur ganz kurz an einem vorbeihuschen wie die Schleier im Wind, manchmal an Kantigkeit fehlt. Statt der jugendlichen Desorientierung, die sich auf die Bildsprache von Goodbye South Goodbye oder Millenium Mambo übertrug, gibt es hier eine überzeugte Zerbrechlichkeit. Alles ist perfekt. Wie könnte man das kritisieren? Man kann nicht. In dieser Hinsicht erinnert mich der Film an ¡Vivan las Antipodas! von Victor Kossakovsky. Ein Film, über den der Filmemacher sagte, dass es nicht (mehr) um Realismus ginge, sondern um etwas Größeres. Hou scheint hier auch an etwas Größerem interessiert zu sein als bisher.

Außer der Natur gibt es Räume, die verwinkelt sind mit Farben, die Fieber haben. Immer wieder filmt Mark Lee Ping Bin durch Seidentücher und erzielt hypnotische Effekte mit Kerzen vor seinen Linsen…es brennt in unseren Augen, der Schleier der Zeit, der Hauch der Unsicherheit. In einer der unfassbarsten Sequenzen, die ich je im Kino gesehen habe, unterhält sich der Cousin mit seiner Konkubine während die Kamera hinter den Vorhängen ganz zart bewegt lauert. Wir wissen lange nicht, ob es ein Point-of-View-Shot der Auftragsmörderin ist oder nicht. Es ist ein Spiel mit Blicken und der Distanz, die sich mal vor uns schiebt und dann wieder verschwindet. Hier liegt die Sehnsucht nach einem anderem Leben und der Horror der drohenden Gewalt derart greifbar vor uns, dass wir nicht anders können, als sie gemeinsam in ihrer Gleichzeitigkeit oder gar gelöst von Zeit oder gar mit der Zeit verwoben zu begreifen, obwohl wir das niemals könnten. Wir spüren diese Welt und die Unsicherheit einer Figur, die wir erst später als eine Silhouette, als fremden Eindringling in ihrem eigenen eigentlichen Leben erkennen. Sie erscheint wie der Nebel aus der Schlucht. Man blinzelt und sie ist da, man blinzelt und sie ist weg. Sie wäre wohl am liebsten ganz da oder ganz weg.

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Der Ton ist das leise Flüstern aus der Schlucht, aus der dieser Nebel dringt. Jedes Geräusch ist klar und voller Kraft und Zerbrechlichkeit. Manche Sachen hören wir nicht, weil wir sie nur sehen können, andere Sachen sehen wir nicht, weil wir sie nur hören können. Es ist eine Abstraktion, die etwas entstehen lässt, was man vielleicht mit „Gefühl für die Umgebung“ umschreiben könnte. Für die Musik war wieder Lim Giong zuständig. Vor allem ein beständiges Trommeln ist beeindruckend. Zweimal hören wir es ganz klar und laut bevor ein Schnitt in einen Innenraum es in ein Trommeln aus der Distanz transformiert. Abstände werden uns bewusst, zeitlich und räumlich. Auf einer Zither spielt eine Frau in einer Mischung aus Aggresivität, hinbgabe und vollkommener Zärtlichkeit ein Lied. Dazu singt sie von einem Vogel, der nicht singen konnte bis er seine eigene Reflektion sah und dann so lange vom Leid sang bis er starb. Im Film sehen wir so manche Reflektion. Einmal in einem See, dann in den Lichtern von Kerzen und schließlich in diesem Leben, dass Nie Yinniang nicht haben konnte, jene Frau, die nicht töten konnte, weil sie sich selbst nie gesehen hat oder weil sie sich immerzu gesehen hat und deshalb so lange töten musste, bis sie den Gesang des Lebens hörte. Ein anderes Mal sehen wir einen Tanz, der mit uns tanzt und/oder mit Farben.

Nie Yinniang gesteht ihrer Meisterin am Abgrund stehend, dass sie den Cousin und seine Familie nicht töten konnte. Sie liefert ein politisches Argument (kein emotionales). Sie wird als schwach bezeichnet. Inzwischen verdeckt der Nebel den gesamten Bildhintergrund. Ist das Magie? Dann verschwindet sie im Wald. Ein harter Schnitt, von denen es ein paar in The Assassin gibt, wirft uns mitten in einen Kampf zwischen ihr und ihrer Meisterin. Doch Nie Yinniang kehrt sich ab, sie erstickt diesen Kampf erneut. Sie hat kaum etwas gesagt, wir haben sie kaum gesehen, sie ist nur ein Schatten und genau deshalb das Licht dieses Films, der vielleicht letztlich auf einer Suche nach einer zeitlosen Moral und deren Gegenwärtigkeit erfolgreich ist, in dem er sich von der Welt abkehrt und in eine unfassbare Reinheit taucht, die wiederum vom Wind wie ein flimmernder Schimmer am Leben gehalten wird, sei es durch die Vergangenheit oder Gegenwart. Irgendwie habe ich nur ein Bild des Films beschrieben. Und weil das vielleicht zu poetisch klingt, ende ich mit einem Zitat des Filmemachers: „Hollywood-style films are popular all around the world nowadays, and they need a strict story structure. If the story is not told that way, not continuous enough, the audience will have difficulty following along. But that’s only one of the many ways of telling a story: there are hugely different ways of filmmaking in world cinema. Only because of the huge impact of Hollywood, young people want to imitate that style. Actually, almost all filmmakers want to imitate the style of Hollywood. But I don’t see it that way. A good film is when you continue your imagination [of it] after seeing it.”

Ist die Vergangenheit des Kinos seine Zukunft?

Egal ob man apokalyptischen „Ende-des-Kinos“-Gedanken oder hoffnungsvollen Fortschrittsdenkern folgt, scheint in vielen Auseinandersetzungen mit dem kinematographischen Wesen immer dessen historische, ästhetische und emotionale Vergangenheit eine Art Ideal oder Rechtfertigung zu sein. Der Blick zurück ist fester Bestandteil des Kinos. So begründete Adrian Martin unlängst seine Rückkehr in die Arbeit als freier Autor mit der Beobachtung, dass Cinephilie rückwärtsgewandt sei. Dazu zitierte er wie so oft Serge Daney: “Serge Daney once defined cinephilia as „the eternal return to a fundamental pleasure“. A pleasure whose constitution is somewhat different for each culture, each generation and, finally, each individual. But whatever it is that forms the core of the cinephile passion for any of us, it is to that, apparently, we shall return.” Filmemacher berufen sich natürlich fast zwangsläufig auf die Vergangenheit, wenn es um Einflüsse und Vorbilder geht. Sie können sich schlecht an der Zukunft orientieren und den Einfluss zeitgenössischer Filmemacher gibt man nicht gerne zu. So ist es kein Wunder, dass auch hier die Vergangenheit eine große Rolle spielt und sich bei manchem Filmemacher auch deutlich in Form und Inhalt wiederspiegelt. Nuri Bilge Ceylan ist dafür ein sehr gutes Beispiel, wird ihm doch von manchen Betrachter vorgeworfen, dass er sich sehr frei an Filmemacher wie Andrei Tarkowski oder Michelangelo Antonioni bedient. Man könnte eine ganze Liste aufstellen mit den großen Filmemachern von damals und ihrem Überleben im Werk anderer Filmemacher. Aber zum einen verkommen solche Ansätze zu unfertigen Spielereien und zum anderen ist klar, dass ein Einfluss nicht einfach nur ein Einfluss ist, er ist weder mehr noch weniger als das, ohne es jemals nur zu sein. Oft wird so getan als gäbe es die Vergangenheit des Kinos wie einen schwebenden Punkt in der Zeit völlig ohne Relation. Ein gutes Beispiel dafür hörte ich in einem Seminar zum Dokumentarfilm, in dem hintereinander Gerhard Friedls Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen? und der berühmte britische Propagandafilm The Battle of the Somme gezeigt wurden und man sich begeistert auf Parallelen in der Art und Weise der Schwenks in beiden Filmen stürzte. Dabei verstehe ich, dass es diese Verbindungen gibt, aber mir fehlen die Brücken, die es ja zweifellos zwischen 1916 und 2004 gegeben hat mit tausenden ähnlichen Schwenks. Dann gibt es da Filmemacher wie Béla Tarr, von denen man immer wieder hört, dass sie sich an einer Ästhetik des Stummfilms bedienen. Das halte nicht nur ich für ziemlichen Schwachsinn, da Kamerabewegungen, Tondesign und das Schweigen in den Filmen von Tarr grundverschieden von der eigentlichen lauten, handlungsfreudigen Ästhetik vieler Stummfilme sind. Dennoch erging es mir selbst so, dass ich vor kurzem Parallelen zu entdecken glaubte, zwischen Tarr und Werner Hochbaums Morgen beginnt das Leben. Ist dieser Drang also eine Folge eines ganz anderen Drangs, der darin besteht, dass man ständig einordnen will, Brücken und Vergleiche schlagen möchte und sich sowieso ständig an seinen eigenen Seherfahrungen abarbeitet? Würde das umgemünzt auf das Kino bedeuten, dass es seit einiger Zeit ein Gedächtnis hat, das von einer solch immensen Größe ist, dass es beständig die Gegenwart durchdringt? Oder anders gefragt: Kann man überhaupt noch beziehungsweise konnte man jemals einen Film machen, der isoliert von jedweder Verbindung zur Vergangenheit des Kinos ist? Wenn man frühe und enthusiastische Theoretiker wie Jean Epstein liest, fällt einem auf, dass sie das Kino immerzu als Potenzial verstanden haben. Begeistert wird da von Möglichkeiten und Innovationen der Wahrnehmung gesprochen, die darauf warten in die Praxis umgesetzt zu werden. Heute werden nur mehr Versuche unternommen, das Kino neu-zu-denken, nicht es neu-zu-machen. Immerzu beschleicht einen das Gefühl, dass alle Wege schon gegangen worden sind, alle Ideen nur eine Wiederholung der immer gleichen und letztlich gleichermaßen scheiternden und in Kraft tretenden Utopien des Kinos sind. Dabei gleicht die Kinolandschaft dann tatsächlich einer apokalyptischen Welt, nicht weil sie völlig zerstört oder leer wäre, sondern weil man auf lauter Einzelkämpfer und Überlebenskünstler trifft, die klagen und jammern und sich von allem abgrenzen zur Gegenwart und zu allen anderen.

Serge Daney

Serge Daney

Ist das alles nicht Resignation? Als junger Mensch muss man sich schon und beständig fragen, warum man heute ausgerechnet im Filmbereich arbeiten will. Es ist eine Branche der Verzweiflung (egal ob Praxis oder Theorie), obwohl das Kino immer noch so vital scheint und auch als solches beworben wird. Nur wenn man sich umsieht, dann kann man eigentlich kaum ignorieren, dass dies eine der aufregendsten Phasen in der Geschichte des Bewegtbildes ist. Wir haben einen übermäßigen Output an Filmen, Festivals en masse und jedes Jahr große und kleine Filme, die absolut großartiges vollbringen und viele der Innovationen und Utopien des Kinos erfüllen. Ein junger Kritiker bekommt bei dieser schieren Masse und Verfügbarkeit ganz neue Möglichkeiten und eine ganz neue Wichtigkeit, da er theoretisch weitaus freier und vielschichtiger Vermittlungsarbeit betreiben muss. Für Filmemacher dagegen ist es eine unfassbar aufregende Zeit, da wir uns in lauter Übergangsphasen befinden, in medialen Übergängen, in Übergängen bezüglich des Dispositivs Kino und schließlich auch neue Vertriebsmöglichkeiten und Diskussionen entstehen. Es sollte eigentlich eine Zeit der puren Kinomanie sein, aber da gibt es einige Probleme. Die gesellschaftliche Wichtigkeit von Film wird marginaler und marginaler. Andere Medien haben die Welt überrollt. Ich spreche bezüglich der Marginalisierung von Film als Kunst. Und damit ist selbstverständlich nicht allein der Kunstmarkt gemeint, sondern auch eine Betrachtungsweise industriellen Kinos als Kunst. Fast lächerlich scheinen mir die Versuche vieler Kritiker, Filme auf ihre gesellschaftliche oder politische Relevanz hin zu analysieren. Es ist deshalb lächerlich, weil es an der völlig falschen Stelle ansetzt und die zunehmende Marginalisierung von Film eher befördert als verhindert (selbst wenn es gegenteilig gemeint ist). Der Ansatz dieser Kritiker und Vermittler ist, dass sie Filme dekonstruieren und damit aufzeigen wie diese arbeiten und was sie über uns und die Gesellschaft aussagen. Das klingt an sich nicht falsch. Nur kann ein Film heute noch was über eine Gesellschaft sagen, wenn er jenseits ihrer Wahrnehmung stattfindet beziehungsweise hilft es den Filmen, wenn man sie so betrachtet? Es scheint mir immer noch fruchtbarer sich für einen filmbezogenen, formalistischen und konstruktivistischen Ansatz stark zu machen und zwar sowohl in der Praxis als auch in der Theorie. Denn nur über ein Interesse und eine Begeisterung für Film jenseits seiner Thematiken und Botschaften, kann man diesen wieder ein öffentliches Gehör schenken. Und genau an diesem Punkt stellt sich die Frage, ob das Kino doch über sein Ende hinaus ist und was dies bedeuten würde. Denn was hat die Form von Film noch mit sich und uns tun?

Haben wir vielleicht bereits eingesehen, dass es keine Zukunft mehr gibt und versuchen uns jetzt alle zu retten, wir berufen uns auf die Geister des Kinos wie Apichatpong Weerasethakul oder Gilberto Perez, jene Phantome, die so fest in die Wirkung und Technik von Film einwirken, dass man sich fragen kann, ob die Vergangenheit nicht sowieso in jedem Bild wiederkehrt. Wir berufen uns auf die verbitterten Handwerker des Kinos wie Pedro Costa, auf den Surrealismus wie Bruno Dumont oder das Ende des Kinos wie Godard. Dieses traurige Gefühl einer Nostalgie ist dominant. Nostalgieabende werden veranstaltet, „alte“ Filme werden gezeigt und man betont, was für eine Besonderheit es doch ist, dass man sie noch einmal auf Film projiziert zeigen wird. Das zieht sich von Retrospektiven auf Festivals, die zunehmende Bedeutung von Il Cinema Ritrovato in Bologna bis hin zu der unglaublichen Begeisterung für die Einfallslosigkeit eines neuen Star Wars Films. Man darf sich schon fragen, ob diese ganze Glorifizierung der Vergangenheit, das Schwärmen und die Nostalgie nicht der ultimative Sieg der Hollywoodmaschinerie mit ihren Remakes und Sequels ist, die Filmgeschichte als eine Spirale, 120 Jahre Hoffen auf die Vergangenheit. Damals war alles schöner? So einfach kann es gar nicht sein, schließlich war es doch irgendwie von Beginn an klar, dass Film sich nicht vergessen kann, schließlich hat er sich selbst (neben all den anderen Dingen, die darauf zu sehen und hören sind) gespeichert. Film ist nun mal eine einzige Erinnerung an sich selbst. Nur darf man heute noch an die Utopie des Kinematographischen glauben, an jenes Potenzial unsere Wahrnehmung zu verändern und alles umzuwälzen, uns zu erfinden im Licht der Leinwand oder des Laptops? Oder ist der Weg nach vorne kürzer als der nach hinten und deshalb ist es das Zeitalter der Zyniker, der nostalgischen Brüder, die sich nicht durch ihre Weltsicht verbinden sondern dadurch, dass sie Zynismus zu einer Marke gemacht haben. Gibt es noch Möglichkeiten im Kino? Natürlich! Technische Innovationen, Reaktionen auf eine Welt, die sich zwar nie total verändert, aber immerzu so tut als ob und die bereits angesprochenen Übergangsphasen, die neues Potenzial freilegen und in extrem versierten Interpretationen wie bei Albert Serra oder in Sergei Loznitsas Maidan wirken bereits heute und deuten auf eine Zukunft des Kinos hin. Das Kino stagniert sowohl bei einem filmischen Purismus, der Film nur im Kino und an seine ursprüngliche mediale Form gebunden sieht (vor kurzem erwischte ich mich in einem Gespräch dabei zu sagen, dass die einzige mögliche Rebellion im Kino heute sei, auf Film zu drehen) als auch bei einer formalen Nonchalance, die sich nicht bewusst ist, was sie benutzt, um zu drehen oder zu projizieren und die diese Medialität und Form nicht automatisch zu einem Gegenstand des Films oder seiner Aufführung/Besprechung macht. Letzteres wäre eine Sache der Bildung und da gibt es hierzulande und überall extreme Defizite in diese Richtung. Selbst an Universitäten werden Filme nach wie vor kommentarlos gezeigt, um geschichtliche Ereignisse zu veranschaulichen. Das ist der völlig verfehlte Turn einer Vergangenheitsbezogenheit, weil er so tut als würde Film eine Welt vermitteln, obwohl Film immer in erster Linie sich selbst und einen eigenen Zugang zu einer Welt vermittelt. Man kann daraus natürlich Informationen oder Beobachtungen filtern, aber man muss sich die Arbeitsweise des Films bewusst machen. Wie die Sache auf Filmschulen oder im Bereich der Filmwissenschaften aussieht wurde an dieser Stelle schon häufiger skizziert. Man darf davon ausgehen, dass es kein größeres Interesse an einem formalen Zugang gibt, wenn, ja wenn dieser nicht geschichtlich verifizierbar ist und man ihn in Schubladen stecken kann.

Maidan von Sergei Loznitsa

Maidan von Sergei Loznitsa

Praxis darf nicht mehr einfach nur eine Selbstverwirklichung sein, es muss wieder den Idealismus einer Kinoverwirklichung geben, die sich individuell, rebellisch und abgrenzend verstehen darf, aber nicht nur mit dem egoistischen Touch einer Willkürlichkeit argumentieren sollte, sondern Fragen stellen muss an das, was da getan wird und wie es getan wird. Was man braucht sind Kämpfer für das Kino, keine Politiker, keine eingebildeten Einzelkämpfer oder Opfer eines kapitalistischen Überlebensdrangs. Das Kino braucht idealistische Realisten, die nicht zynisch sind, weil zynisch cool ist, sondern wenn dann, weil sie es wirklich fühlen. Die ökonomischen Maschinen, die uns sagen wie ein Film auszusehen hat, welcher Film besprochen werden muss und welcher gar nicht erst ins Kino kommt, müssten abgerissen werden. Sie werden es nicht. Sie sind wie eine Selbstvernichtungsmaschine. Aber ein paar Angriffsflächen bietet jedes System.

Wo könnte ein Umdenken stattfinden? Es gibt nicht viele Anhaltspunkte, aber zwei sind mir schon seit einiger Zeit zumindest als abstraktes Konstrukt bewusst. Das erste Umdenken würde die Filmpraxis selbst betreffen, es geht um ein Umdenken bezüglich der narrativen Form. In den zahlreichen Inhalt VS. Form Debatten, die man in Filmkreisen führt, kommen immer wieder unterschiedliche Zugänge zu Begriffen wie „Handlung“ oder „Geschichte“ an die Oberfläche. Ein Grund für diese porösen Grenzen ist sicherlich die Unterscheidung des „Wie“ und des „Was“ bezogen auf den Plot eines Films. Worin es eine erstaunliche Armut gibt sowohl im Kunstfilm- als auch im Mainstreambereich sind Veränderungen in der narrativen Form. Wie anders ist zu erklären, dass Non-Fiction derzeit einen so hohen Stellenwert genießt als damit, dass dort neue narrative Möglichkeiten offenbar werden? Wie anders ist zu erklären, dass ein mittelmäßiger Film wie Boyhood von Richard Linklater derart gefeiert wird, als damit, dass ein innovativer Zugang zur Produktion eines Films mit einer innovativen Erzählform verwechselt wird? Der Film gibt vor etwas Neues und Aufregendes mit der narrativen Form zu machen, tut es aber nicht. Nun mag man mir sicherlich mit einiger Berechtigung widersprechen, denn schließlich arbeiten viele Filmemacher immer wieder an interessanten narrativen Formen. Genannt seien nur Filmemacher wie James Benning, Sergei Loznitsa oder Claire Denis. Der Hunger, den man dennoch hat auf Veränderungen hängt vielleicht mit den frühen Utopien eines Jean Epstein zusammen. Denn dort wurde Kino als eine Möglichkeit begriffen, die Erfahrung der Realität sichtbar zu machen. Heute dagegen ist der bessere Film oft eine Antwort, ja ein Gegenkonzept zu dieser Wahrnehmung. Die Entschleunigung eines Tsai Ming-liang, eines Ben Rivers oder eines Lav Diaz, die mancherorts unter dem Begriff Slow-Cinema zusammengefasst wird (wieder so ein Schubladendenken), wird als Antwort auf unsere Wahrnehmung verstanden nicht als ihre Repräsentation oder gar Realität (darüber ist unser Zynismus nun wirklich schon lange hinaus). Die Mischformen spielen wohl eher unserem Zweifel und dem Versagen gegenüber einer emotionalen Abbildung der Realität in die Karten (Stichwort: spekulativer Realismus), als dass sie das Kino als Möglichkeit verstehen. Film scheint am Limit zu sein, wenn es darum geht, unsere Weltwahrnehmung wiederzugeben. Aber ist das wirklich so. Vor kurzem forderte unser Kollege hier auf Jugend ohne Film, Andrey Arnold in einem Gespräch einen Film, der ihm diese Wahrnehmung und Welt im Facebook-Zeitalter nahebringt. Nach einiger Zeit dachte ich, dass man sich vielleicht mit Chantal Akermans Toute une nuit (1982) an diese Art der Erfahrung heranmachen könnte und später vielen mir noch Michael Snows Presents (1981) oder gar So Is This (1982) ein, alles Film die über ihre Form von einer Wahrnehmung erzählen. Also wieder in der Vergangenheit suchen? Genau hier würde ein zweites Umdenken einsetzen, das damit aufhören muss zu fragen, ob ein Film alt oder neu ist. Natürlich spielen historische Gegebenheiten eine große Rolle im Umgang mit Film, man kann daraus ästhetische, produktionstechnische und politische Richtungen erkennen, analysieren und ja, einordnen, aber für die Erfahrung und Wahrnehmung des Kinos wäre es viel interessanter, wenn man einen Film in der Gegenwärtigkeit seiner Projektion oder Wiedergabe betrachtet und sich endlich eingesteht, dass das Kino, das wir heute sehen können nicht die Vergangenheit sein kann. Stattdessen schauen sich viele Zuschauer ältere Filme an, um sie mit neueren Werken vergleichen zu können beziehungsweise um die Entwicklung eines Autors nachzuvollziehen. Warum sollte es eine Entwicklung geben? Wer sagt mir in welche Richtung sie läuft? Es gibt ein immerzu gegenwärtiges Gesamtwerk. Epochen werden analysiert und als abgeschlossen betrachtet und mehr als genug junge Filmschaffende haben mir schon gesagt, dass sie sich schwer tun mit Filmen von „früher“. Wie könnte ein Medium überleben, das sich so stark mit der Vergangenheit identifiziert, wenn von ihm eine Aktualität verlangt wird, die es zwar immer hat, aber nie bezogen auf den Inhalt haben kann. Historiker töten das Kino. Vielmehr ist die Filmgeschichte doch ein Netz an Visionen, Inspirationen und Verbindungen, das immer wieder eine neue Straße offenbart und eine neue Möglichkeit über etwas zu erzählen, etwas zu beobachten oder es einfach nur zu lieben, bereithält. Wenn man die Vergangenheit des Kinos als seine Gegenwart begreift, dann kann man es wirklich kennenlernen.

Toute une nuit von Chantal Akerman

Toute une nuit von Chantal Akerman

In diesem Kino ist Nostalgie ein Gefühl, das sich im Jetzt verankert. Hou Hsiao-Hsien hat in seinem Millenium Mambo auf unfassbar geniale Weise genau diese zeitliche Verdrehung der Gefühle im Kino kommentiert. Ein Szenario in der ganz nahen Zukunft wird mit dem bedauernden Ton eines Flashbacks erzählt. Das Kino erzählt von der Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart zugleich. Das muss sich weder in existenziellen Sci-Fi-Spielereien äußern noch in großen Gefühlen. Es darf auch eine ganz nüchterne Feststellung sein. In diesem Kino kann es nicht die Aufgabe eines Filmkritikers sein, sich exklusiv mit zeitgenössischen Filmproduktionen zu befassen, da es vielleicht Filme gibt, die über das Hier und Jetzt des Kinos und der Welt mehr sagen als Filme des Jahres 2015, die das aber gar nicht sagen müssen, weil sie für sich selbst vielleicht genug sind und damit auch genug für jede Art der Vermittlung, Programmierung und Besprechung. Ich betone, dass eine öffentliche Besprechung aktueller Filme so oder so unabdingbar ist. Es ist eher eine Frage des Umfangs und der Alternativen, aus dieser Sklavenhaltung auszutreten. Nun gibt es in dieser Hinsicht ja bereits viele Auswüchse und versuche im Internet. Nischen für Unbezahlte, Hobbies für Leidenschaftliche. Aber wenn die Kritik den Filmen folgt, dann werden weitere Schritte in diese Richtung womöglich unumgänglich. Sieht man sich an in welcher Regelmäßigkeit große Filmemacher sich in der Zwischenzeit auf vergangenes Kino berufen und dabei dessen Unvergänglichkeit betonen, sich sowohl formal als auch inhaltlich in einem Austausch mit diesem Kino befinden, dann wird es Zeit, dass man das weder als verklärte Nostalgie betrachtet noch als Romantik sondern schlicht akzeptiert, dass das Kino nur in der Gegenwart sein kann.

Millenium Mambo von Hou Hsiao-Hsien

Millenium Mambo von Hou Hsiao-Hsien

Diese Vergangenheit ist kein Punkt ohne Verbindung. Ein Filmemacher, der sich an der Ästhetik von Schwenks versucht, kann daher nie nur in Relation zu einem Film aus den 10er Jahren gesetzt werden. Der Schwenk hat eine Geschichte, die kein Filmemacher ignorieren darf. Natürlich kann nicht jeder Filmemacher sehr viele Filme gesehen haben und obwohl das eigentlich verlangt werden müsste, wird er sich dieses Wissen sozusagen über einen Schneeballeffekt aneignen können, denn sieht er zum Beispiel einen Schwenk bei Visconti, bekommt er eine Ahnung eines Schwenks bei Renoir und so weiter. Das hat natürlich nichts mit dem wirklichen Dreh zu tun, wenn man im Wind steht, Hunger hat und es unheimlich schwer ist, die Schärfe zu halten. Aber was hat einen eigentlich dazu veranlasst, einen Schwenk zu machen? Welchem Gefühl folgt man, wenn man sich für eine Geschwindigkeit und eine Perspektive entscheidet? Da wir in einer Welt leben, in der das Bild schon lange die Realität überholt hat, beruht unsere Seherfahrung auf Bildern. Die Bilder eines Schwenks, bekommen wir am ehesten im Kino oder Fernsehen zu sehen. Selbst ein Filmemacher wie Lisandro Alonso, der sich ganz bewusst von den Orten, also der Realität inspirieren lässt, der seine Einstellungen mehr oder weniger organisch aus der Welt filtert, thematisiert mit einer Beständigkeit die Fiktionalität seines eigenen Werks (insbesondere in Fantasma und Jauja), dass klar sein muss, dass der Realismus immer ein Bild ist und ein Bild kann nicht einfach sterben. Mit Leos Carax, der sich immer wieder von den Ursprüngen des Films inspirieren lässt, kann man die Welt durch die Augen des Kinos betrachten. Dazu muss man aber hinsehen, nicht zurückblicken.

Jauja von Lisandro Alonso

Jauja von Lisandro Alonso

Taiwan-Threesome: Hou und Tsai im Dialog

Wer Jugend ohne Film in den vergangenen zwei Monaten verfolgt hat, der hat so einiges über das taiwanesische Kino gelesen. Zuerst haben wir uns in den feuchten Zimmern von Tsai Ming-Liang verloren und dann haben wir mit Hou Hsiao-Hsien durch Türen geblickt. In der Folge hatten wir irgendwie das Gefühl, dass viele Fragen offen geblieben sind, viele Gefühle drohten in den sommerlichen Gewittern zu verschwinden ohne jemals offengelegt zu werden. Man sieht eine Menge an Filmen und trägt sie mit sich. Vielleicht reicht dieser Zustand, vielleicht ist es genau das, um das es geht. Aber die Vergänglichkeit der Filme war und ist für unsere Kinowahrnehmung keine Lösung. Für uns lebt das Kino weiter. Und wir wollen das ausdrücken. Unbeholfen, emotional und leidenschaftlich. Daher habe ich mich zusammen mit meinen Kollegen Rainer Kienböck und Andrey Arnold einen knappen Monat lang per Mail über das Schaffen dieser beiden Künstler unterhalten. Dabei haben wir nochmal versucht unsere individuellen Eindrücke widerzugeben, haben Vergleiche angestellt und Unterschiede in unserer Wahrnehmung diskutiert. Auch mussten wir feststellen wie schwer ein Dialog über das Kino sein kann und wie sehr man ihn gerade deshalb suchen muss.

The Wayward Cloud

The Boys from Fengkuei

Patrick: Ich wollte euch fragen, ob ihr mehr mit Tsai Ming-Liang oder Hou Hsiao-Hsien anfangen konntet? Oder würdet ihr da keine wertende Trennung vornehmen?

Andrey: Es fällt mir schwer, hier eine klare Distinktion zu treffen. Wenn die Frage lautet, welcher Filmemacher mir emotional „näher“ ist, eher zu mir „spricht“, müsste ich wohl Tsai den Vorzug geben, schlicht weil seine Sensibilität, die Gefühlslagen seiner Filme mir universeller und zeitgemäßer scheinen als jene Hous. Aber das hat Gründe, die nicht unbedingt mit ihrer jeweiligen künstlerischen Qualität zusammenhängt: Tsai und sein Werk sind jünger und in einen historischen Kontext eingebunden, der sich in meinen Augen leichter verallgemeinern lässt als jener der Erinnerungsfilme Hous. Die Einsamkeit des Großstadtmenschen ist ein Topos, bei dem für unsere soziale Schicht und Generation weltweit wenig Erklärungsbedarf besteht; das Schicksal von Hakka-Chinesen im Taiwan der 60er hingegen… Aber Tsais Oeuvre ist auch homogener als das Hous (zumindest an der Oberfläche), und im Grunde hatte ich nach der Retro das Gefühl, von einem Boot gestiegen zu sein, dass mich eine Zeit lang einen einzigen filmischen Fluss entlanggeführt hat, der nun in meiner Abwesenheit weiterläuft (wollte man böse sein, könnte man sticheln, sein Schaffenszyklus mit Lee Kang-sheng sei das wahre „Bohyood“-Projekt). Hou zieht im Vergleich trotzt der ganz spezifischen Zeitlichkeit und des eigentümlichen Blicks seiner Kamera stilistisch und motivisch verschiedenste Register im Laufe seiner Karriere, und es wäre verfehlt, Filme wie „A Summer at Grandpa’s“ und „Millenium Mambo“ in einen Topf zu werfen, nur um sich ein geschlossenes auteuristisches Urteil bilden zu können. Und es muss gesagt sein, dass die Arbeit und der periodische, mitunter auch kommerzielle Erfolg Hous in gewisser Hinsicht radikaleren taiwanesischen Künstlern wie Tsai zweifelsohne den Weg geebnet hat.

Rainer: Schwierige Frage: Tsai ist ein großer Brocken und voll am Puls der Zeit – selbst seine etwas älteren Filme. Es scheint mir, dass er sich mit ganzer Kraft gegen die Beschleunigung der (urbanen) Welt stemmt, indem er versucht dem Blick des Zusehers „Atempausen“ zu gewähren – bei Tsai findet der Film tatsächlich im Kopf des Zusehers statt (wenn ich diese alte Weisheit hier aufwärmen darf). Wie Andrey schon gesagt hat, ist Tsais gesamtes Oeuvre auch weitaus kohärenter, Hous Gesamtwerk kann man hingegen in verschiedene Schaffensperioden einteilen. Mit seinen früheren Filmen komme ich persönlich weniger klar – zur Frage nach dem warum werden wir vermutlich noch kommen, da möchte ich nicht vorgreifen – „Flowers of Shanghai“ habe ich in die Riege meiner Lieblingsfilme aufgenommen. Hou ist groß, facettenreich und weniger fassbar, oszillierend, während man Tsai finde ich, relativ gut sezieren kann. In anderen Worten: Rationale Analysen stoßen bei Hou an ihre Grenzen, da macht in meinen Augen ein persönlicher, emotionaler Zugang mehr Sinn – Tsai kann man „denken“. Zusammenfassend möchte ich sagen, dass ich Tsai für einen der wichtigsten Regisseure des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts halte. Das heißt, ich würde ihn als Beispiel für die Weiterentwicklung der Filmkunst in dieser Zeit anführen. Hou ist ganz einfach groß und somit schwer zuordenbar. Über die Vergleichbarkeit der beiden habe ich mir noch nicht allzu viel Gedanken gemacht. Ihre Sicht auf Taiwan erscheint auf den ersten Blick total unterschiedlich, ihre Erzählweisen ebenfalls, andererseits ist wohl nicht zu leugnen, dass Tsai der ersten Welle der Taiwanese New Wave (und damit Hou) einiges zu verdanken hat – zumindest neue Produktionskontexte.

Dust in the Wind2

Goodbye Dragon Inn

Patrick: Ich finde es sehr spannend, dass Andrey von der Möglichkeit der Verallgemeinerung spricht. Geht es in Hous Filmen nicht sehr viel, um das Nebeneinander von Leben und Sterben, Freude und Leid? Und gibt es etwas Allgemeineres? Für mich findet sich der offensichtlichste Unterschied zwischen den beiden Filmemachern in ihrem Umgang mit Zeit. Tsai scheint mir die Zeiterfahrung zu intensivieren, er betont kurze Perioden, die er dann dehnt und uns sozusagen in die Zeit eintauchen lässt, während Hou oft große zeitliche Abläufe aus einer Distanz abhandelt. Tsai springt in die Welt, während Hou oft außen bleibt. Deshalb kann ich nicht verstehen, inwiefern man Tsai denken kann. Mehr oberflächlichen Inhalt gibt es sicherlich bei Hou. Er versteckt diesen Inhalt mit seiner Form, aber am Ende des Tages setzt er sich mit melodramatischen Geschichten vor dem Hintergrund nationaler Geschehnisse auseinander. Das ist für mich einfacher zu denken als Tsai, der von-wie Andrey sagt-allgemeinen Dingen, wie dem Gefühl einer Begierde, Einsamkeit und Langeweile erzählt. Also Dinge, die man zumeist nicht denkt sondern fühlt. Deshalb tue ich mir auch mit dem Begriff der Verallgemeinerung bei Tsai etwas schwer, weil es mir doch ein sehr individuelles, persönliches Gefühl zu sein scheint. Natürlich füllen wir diese Filme mit uns selbst auf, aber ich glaube kaum, dass wir dieselben Erfahrungen mit den Filmen von Tsai hatten. Der Hou von „Flowers of Shanghai“ oder „Millenium Mambo“ scheint mir übrigens deutlich näher an Tsai zu sein als Tsai am frühen Hou.

Rainer: Es wundert mich nicht, dass du mir widersprichst. „Denken“ ist für dich ein Unwort, ich meine es aber nicht im negativen Sinne. Würdest du mir aber nicht zustimmen, dass man einen Tsai-Film formal relativ einfach auseinandernehmen kann? Gerade wie Tsai mit Zeit umgeht und welche Symboliken und Themen er immer wieder verwendet (Vater, Wasser, Zeit,…) und anspricht, lässt sich doch schön Stück für Stück aufarbeiten. Filmen wie „Flowers of Shanghai“ oder „Millenium Mambo“ komme ich hingegen weitaus näher, wenn ich sie als Gesamteindruck und Gesamtgefühl deute. Ich erinnere mich noch, als Andrey nach „The Wayward Cloud“, das Bild der Ameise angesprochen hat, die für Einsamkeit steht. So eine Art von Symbolismus wäre mir bei Hou nicht aufgefallen. Natürlich kann man Hou inhaltlich rational analysieren – ich würde sein Gesamtwerk sogar als eine Art taiwanesische Nationalchronik sehen – aber formal tu ich mir schwer.

Patrick: Ich habe das gar nicht als Widerspruch gemeint. Ich finde man muss aufpassen, dass man nicht Form mit Motivik verwechselt. Mit Form meinte ich tatsächlich die filmische Darstellung und nicht das, was er zeigt. Genau in dieser eindeutigen Art ein Bild zu lesen, also hier ist etwas und das hat das oder das zu bedeuten, liegt für mich ein Problem und ich bin mir ganz sicher, dass man sich Tsai so nicht nähern kann. Das liegt zum einen an kulturellen Unterschieden, zum anderen an der Ambivalenz von Bildern generell. Formell tue ich mir tatsächlich bei Hou leichter. Diese Distanzierung in der Bildsprache, die Rahmungen und das Spiel mit seiner tranceartigen Kamera, das es ab „Goodbye South Goodbye“ immer wieder gibt. Dagegen ist Tsai-wie das ja angesprochen wurde-irgendwie mit der Arbeit an einem einzigen Film beschäftigt (zumindest ab einem gewissen Zeitpunkt seines Schaffens). Das macht die Form bei beiden sehr spannend wie ich finde. Aber bei Tsai kann ich nicht so leicht sagen, warum er welche Entscheidung getroffen hat. Es wirkt irgendwie intuitiver, ja weniger gedacht, sondern mit mehr Bauchgefühl. Das ist aber weder besser noch schlechter für mich.

Andrey: Die Differenz zwischen Denken und Fühlen, die hier nicht zum ersten Mal aufgeworfen wurde – ihr seid in dieser Angelegenheit ja fast wie Spion & Spion – entsperrt natürlich eine philosophische Pandorabüchse, die auszuräumen unseren Rahmen (und meine Befähigung) weit übersteigen würde. Nur so viel sei gesagt: Wissen wir nicht spätestens seit Nietzsche, dass jedes „Denken“ auch immer ein „Fühlen“ ist und jedes „Fühlen“ immer ein „Denken“? Dass die sogenannte Ratio nichts anderes ist als ein Prozess, der unser Fühlen strukturiert und es so erst erträglich und fassbar macht? Jedenfalls glaube ich, dass Rainer mit seiner „Tsai-denken“-Formulierung weniger die emotionale Komplexität von Tsais Kino kleinreden wollte als darauf hinweisen, dass es sich aufgrund seiner vergleichsweise homogenen Motivik (und „Motivik“ ist zweifelsohne von „Form“ zu trennen, obwohl es Überschneidungen gibt) leichter zusammenfassen und nach auteuristisch/symbolischen Kriterien analysieren ließe als das Hous; eine Analytik, deren Ergiebigkeit tatsächlich enden wollend ist. Man kann sich Tsai (und anderen) so zwar durchaus nähern – und warum sollte es ein Gebot geben, dies nicht zu tun, solange das Bewusstsein um Ambivalenz gewahrt bleibt? – allzu weit wird man damit aber nicht kommen, ohne sich wieder von den Filmen selbst zu entfernen. Natürlich sind die Wassermelonen bei Tsai nicht einfach nur Symbole für Sexualität. Das können sie zwar sein und sind es auch in einem bestimmten Referenzrahmen (den „The Wayward Cloud“ etwa narrativ konsolidiert), aber sie sind weit mehr als das; Wassermelonen z.B., mit ihren spezifischen materiellen und sinnlichen Qualitäten, die Tsai bewusst in Szene setzt und an die wieder andere gedachte/gefühlte Assoziationsketten geknüpft werden. Zur Frage nach der Verallgemeinerung: Mir ist klar, dass die besten Filme – ach je, das böse Wert-Wort! – der narrativen Domäne nie nur eine konkrete Geschichte von konkreten Menschen erzählen, die in ihrer repräsentativen Funktion gefangen sind, sondern immer auch etwas Allgemeines mitschwingen lassen. Das ist auch bei Hou der Fall, nicht zu knapp. Aber es bleibt dennoch Erzählkino, mit Psychologie, Kontext und allem Drum und Dran, und gerade dieses Drum und Dran ist dann bei Filmen wie „City of Sadness“ oder seiner Coming-of-Age-Trilogie einigermaßen spezifisch. Muss es auch sein, fungiert(e) es doch besonders bei Ersterem auch als nationales Dokument und historisch-politisches Statement. Tsai hat das weniger, da er Plot und Charakterzeichnung mitunter komplett über Bord wirft, um Kino einfach Kino sein zu lassen, und das ist neben seinem Umgang mit Zeit – wie Patrick treffend vermerkt hat – der wesentliche Unterschied zu Hou. Denn diesen lässt das Bedürfnis, zu erzählen und Figuren zu entwerfen selbst in seinem „loseren“ Spätwerk nie ganz los. Wobei mir Patricks Engführung von „Millennium Mambo“ bzw. „Flowers of Shanghai“ mit Tsais Schaffen spannend erscheint. Wie ist das – über das Motivische hinaus – zu verstehen?

Visage

Millenium Mambo

Patrick: Ich habe mich wohl wirklich missverständlich ausgedrückt. Ich habe keine prinzipiellen Aversionen gegen Denken im Kino oder sonst was. Ein äußerst absurder Vorwurf an eine Person, die über Film schreibt. Ganz im Gegenteil. Ich glaube, dass man Kino denken muss und Kino unglaublich lebt vom Denken sowie das Denken vom Kino. Ich will nicht ewig darauf herumreiten, aber was ich eigentlich sagen wollte und was ihr beide sehr anders gedeutet habt, ist dass ich Hou anscheinend im Gegensatz zu euch beiden viel eher nach diesen Mustern durchsuchen kann. Da sind für mich ganz klassische Autorenmerkmale zu finden wie die Behandlung von Kindheit/Jugend/Familie, Vergangenheit, Züge (insbesondere Phantom Rides), naive von Emotionen übermannte Männer, diegetische Chronisten wie Tagebücher/Voice-Over Narrationen/Fotos, immer wieder ähnliche Schnittfolgen und Raumauflösungen. Dagegen scheint mir Tsai viel weniger leicht durchdringbar. Natürlich, auf den ersten Blick sind da auch solche Dinge: Die angesprochenen Wassermelonen, Tiere, Musicalnummern (schräger Humor allgemein), Uhren, selbstverständlich Wasser in allen Facetten und die Thematisierung von Zeit/Kino. Aber diese werden so virtuos durcheinander geworfen und so unterschiedlich konnotiert in den einzelnen Filmen, dass es mir schwer fällt über Tsais Filme diese relativ festen autorenbezogenen Aussagen zu tätigen. Vielmehr-und das hat Andrey wunderbar formuliert-fahre ich mit ihm auf einem Boot, da kommen immer wieder Dinge vorbei, ich will sie berühren. Bei Hou habe ich das Gefühl, dass ich mich sehr wohl hinsetzen kann und mir Gedanken zu den Motiven machen kann. Tsai scheint sich sehr bewusst zu sein, dass das passiert und arbeitet ein wenig dagegen meiner Ansicht nach. Und noch auf einer allgemeineren Ebene: Tsai hat einen Umgang mit dem Sinnlichen, den Andrey ja angesprochen hat, der sich für mich derart stark jenseits aller Motivik und von mir aus Symbolik vollzieht, dass es mir gar noch schwerer fällt seine Filme nicht als einzigen Fluss wahrzunehmen. Und wenn ich in einen Fluss springe, dann ist das jedes Mal ein anderer Fluss. Bei Hou ist es da konkreter, weil er durch seine distanzierte Betrachtung schon die Denkrichtung vorgibt. Aber auch mit ihm konnte ich mich wie in einem Fluss fühlen. Und das bringt mich zu Andreys Frage bezüglich der Nähe von „Flowers of Shanghai“, „Millenium Mambo“ und womöglich noch „Three Times“ bzw. „Daughter of the Nile“ bzw. „Goodbye, South Goodbye“ zum Schaffen von Tsai. Ich würde sagen, dass es mit dem Licht beginnt. Das Licht wird in diesen Filmen ganz ähnlich wie bei Tsai nicht mehr nur zur Darstellung einer naturalistischen oder stimmungsvollen Welt gesetzt, sondern es beginnt ein Innenleben anzuzeigen. Außerdem sind die Filme hermetischer, sie scheinen mir nicht mehr so narrativ nach vorne zu gehen, sondern eher im Moment zu verweilen, ganz genauso wie ich es bei Tsai empfinde. Das Framing beziehungsweise die Kamerabewegungen scheinen dort einen tentativen Touch zu bekommen, wogegen sie in den anderen Hou Filmen mehr auf Simplizität und Notwendigkeit aus sind. Sie scheinen mehr im Bewusstsein zu entstehen, dass sie Kunst sind. Auf narrativer Ebene ist es ja auch so, dass Hou lange Zeit als Country-Boy galt und Tsai als City-Boy. Das dreht sich in den genannten Filmen natürlich auch ein wenig. Würdet ihr dem zustimmen?

Rainer: Nun kommen wir der Sache schon näher, wobei ich denke, dass wir hier anstehen. So wie Andrey das zusammengefasst hat, sehe ich es auch in Bezug auf Motivik und Symbolik. Auch wenn Tsai intuitiver ist (da würd ich mich deiner Beobachtung anschließen) und seine Motive bunt zusammenwürfelt, wie du sagst, erscheint mir eine Analyse eines Tsai-Films weitaus fruchtvoller, als die eines Hou-Films, gerade weil ich sein Oeuvre als Chronik deute, und innerhalb dieser Chronik wiederum Chronisten auftreten. Das macht Hou für mich undurchdringlicher, dass man das große Ganze eigentlich immer mitdenken muss. Das Konzept ist elliptisch wenn du so willst, sobald du glaubst ihn irgendwo gepackt zu haben, öffnet sich eine neue Dimension, wenn man einen Blick zurück aufs große Ganze wagt. Aber wie gesagt, ich denke an dieser Stelle kommen wir nicht wirklich weiter, da wir die Filmemacher anscheinend alle sehr unterschiedlich wahrnehmen. Bei Andreys Frage bezüglich der Nähe von „Flowers of Shanghai“, et al bin ich näher bei dir Patrick. Hous Frühwerk ähnelt Tsais Schaffen wenig. Selbst die inhaltlichen, autobiographischen Aspekte werden auf so unterschiedliche Art und Weise inszeniert, dass es für mich wenig Sinn macht, hier Parallelen zu ziehen – die wären nur aufgesetzt. Später, in den 90ern wird Hou spielerischer, leichtfüßiger. Er verzichtet zunehmend auf den neorealistischen Gestus, der sein Frühwerk geprägt hat und macht seine Filme visuell effektvoller, seine Kamera wird beweglicher, Licht setzt er als Stilmittel ein, anstatt sich einem naturalistischen Filmbild zu unterwerfen, seine Filmen werden ab diesem Zeitpunkt stimmungsvoller und weniger grau. Tsai erzeugt Stimmung zwar auf ganz andere Weise, aber, wie du bereits erwähnt hast, beim Licht treffen sie sich. Licht spricht in Tsais Filmen, selbst, oder vor allem, in seinen düstereren Filmen. Auch habe ich das Gefühl, dass sich Hou ab diesem Zeitpunkt auch seinen Figuren nähert – zwar nicht so extrem wie Tsai, der über zwanzig Jahre jede Falte an Lees Körper erforscht, aber doch findet man erstmals Charaktere, die zur Identifikation einladen und nicht mehr unscheinbare Protagonisten inmitten gesichtsloser Familienangehöriger. Nur deshalb wirkt „Three Times“ an manchen Stellen leicht kitschig, nur deshalb wird auf einmal ein Schauspieler wie Tony Leung zum Dreh- und Angelpunkt eines Films wie „Flowers of Shanghai“. Ja, das neue Interesse an Charakteren, anstatt an Ereignissen, die mehr oder weniger anonymen Charakteren wiederfahren, haben meiner Meinung nach eine Annäherung Hous an Tsai gebracht. Das wahrscheinlich sogar stärker als auf formaler Ebene. Alles in allem tue ich mir aber sehr schwer, hier eine Synthese zu ziehen. Die beiden Filmemacher sind so verschieden, nicht nur was das jeweilige filmische Endresultat angeht, sondern auch ihre Konzepte und ihre Herangehensweisen. Der Impetus des Filmemachens ist ein anderer – das soll nicht heißen, dass es keine Filmemacher gibt, deren Filme ähnlich sind, obwohl sie unterschiedliche Backgrounds haben, aber in diesem Fall sehe ich ganz einfach wenige Überschneidungen: der Cowboy und der Intellektuelle, Nationalchronik und Charakterstudie.

A City of Sadness

Stray Dogs

 

Andrey: Ich glaube, wir sind uns im Wesentlichen alle einig, dass das Werk dieser beiden Filmemacher grundverschieden ist und vornehmlich aufgrund ihrer Nationalität, ihrer (kaum vergleichbaren) „Langsamkeit“ und dem cinephilen Willen zur Welle gegenübergestellt wird. Ich kann Patricks Argumentation in Bezug auf die von ihm genannten Filme Hous und ihrer subtilen Annäherung an the Art of Tsai nachvollziehen, nur scheint mir die Ferne zu groß, um sie mit so kleinen Schritten zu überbrücken. Es stimmt, dass die narrative Vorwärtsbewegung gleichmütiger in ihrem Fließen wird und den Zwischenstellen und unerheblichen Momenten mehr Gewicht verleiht; es stimmt auch, dass sich die Kameraführung und Lichtsetzung verändern, wobei letzteres der sukzessiven Verlagerung des Blicks vom Tag in die Nacht, vom Land in die Stadt, aus den lichtdurchfluteten Zimmern und pastoralen Vorhöfen in die hermetischen Boudoirs eines Bordells und die beengenden Klausen und Clubs Taipehs geschuldet ist („Café Lumiere“ sieht ja, nomen est omen, fast wieder ein wenig aus wie seine älteren Filme). Aber sie sind allesamt einer Diegese verhaftet, in dem Sinne, dass sie von Menschen, Orten, Psychen und Zeiträumen zeugen – man darf hier auch den Drehbuchbeitrag T’ien-wen Chus nicht vergessen – die sich aus dieser heraus benennen und Großteils auch erklären lassen, wenn man denn will, gleichwohl sich vermehrt Elemente einschleichen, die die Kontiguität der Dinge zerrütten (der eigenwillige Tanz des roten Ballons, die seltsame Übertragung zwischen den Zeitebenen in „Good Men, Good Women“ und „Three Times“, der Voice-Over und die Riesen ins verschneite Japan in „Millennium Mambo“, die Art, wie in „Café Lumiere“ die Züge gefilmt werden). In Tsais enigmatischen Geisterwelten sind die Grenzen indes immer schon unwiederbringlich verwischt, zwischen Traum und Wirklichkeit, Geste und Verkörperung, Figur und Darsteller, Dokument und Phantasma, Ding und Symbol, Zeit und Ewigkeit, umso mehr, wenn man sie im Kontext des Gesamtwerks betrachtet. Man kann ab „The River“ eigentlich jeden Film als Beispiel bringen, vielleicht auch schon die davor. Wer „sind“ diese Leute? Wovon „handeln“ diese Filme? Wann „spielen“ sie? Man könnte versuchen, diese Fragen zu beantworten, und würde doch unweigerlich viel zu kurz greifen. Allerspätestens seit dem Walker-Zyklus ist klar, dass dies bei aller Gegenständlichkeit kein Erzählkino mehr ist (was bei Gott nicht heißen soll, es „erzähle“ nichts mehr).

Patrick: Gibt es einen Moment oder auch mehrere bei Tsai Ming-Liang, an den ihr euch besonders erinnert, der euch besonders bewegt hat, ein Bild, ein Gefühl, ein Ton?

Rainer: Spontan würd ich sagen: Der Typ in „What Time Is It There?“, der die Uhr stiehlt und sich dann aufs Klo flüchtet, wo er halbnackt auf Lee Kang-sheng wartet. Etwas profunder: Die letzte lange Einstellung in „Stray Dogs“ – ein großer kontemplativer Kinomoment.

Andrey: Die vorletzte Einstellung aus Stray Dogs – meine erste Tsai-Begegnung – werde ich niemals vergessen. Jetzt könnte man einwenden: „Was Wunder, wenn er sie eine Viertelstunde hält…“ Wie dem auch sei: So ist es. Sonst, spontan? Ich wüsste nicht, wo anfangen. Schon nach kurzer Überlegung merke ich, dass sich beachtlich viele Bilder, Szenen, Eindrücke stark ins Gedächtnis geprägt haben, so dass sich eine Aufzählung schnell überschlagen würde. Vielleicht wäre es einfacher, jene Gedächtnisfilme zu benennen, die mir derzeit die größten Lücken aufzuweisen scheinen: Vive L’Amour, The River, I Don’t Want To Sleep Alone, in absteigender Reihenfolge. Gibt es ein Muster? Vielleicht, weil es seine „unspektakulärsten“ Arbeiten sind? Patrick würde mir wohl widersprechen. Wenn ich mir eine Kinoerfahrung als Ganzes aussuchen müsste, wäre es wohl „Goodbye, Dragon Inn“: Wegen der unheimlich schönen und ganz schön unheimlichen Doppelung im nahezu leeren Künstlerhauskinosaal, wegen des mürrischen Herren ein paar Reihen hinter mir, der den ganzen Film über seine Missgunst in sich hinein murmelte und doch nahtlos in der Atmosphäre aufging, wegen King Hu via Tsai und wegen Lee Kang-sheng im schummrigen Götzenlicht.

The River

Cafe Lumiere

Patrick: Bei mir ist es die finale Sexszene in „The River“ und vor allem auch die Sekunden danach, der Schmetterlingsmoment in „I don’t want to sleep alone“ und selbstredend die Begegnung von Jean-Pierre Léaud und Lee Kang-sheng in „Visage“. Nach der Zeit mit Tsai hatte ich das Gefühl, Einsamkeit stärker wahrzunehmen. Momente, in denen man seine Zeit mit Warten oder Herum-Strolchen verbringt, wurden plötzlich intensiver, ja schöner. Die Frage welche Filme einem weniger im Gedächtnis bleiben, kann ich kaum beantworten, da ich manche der Filme zum zweiten Mal gesehen habe und diese dann weitaus stärker hängengeblieben sind beim zweiten Sehen. Ich frage mich gerade, ob es eigentlich gut oder schlecht ist, wenn man sich an wenig erinnern kann, zumindest wenn man sich an wenig konkretes erinnern kann. Ich habe diesen Effekt bei „City Lights“ von Chaplin. Das ist mein absoluter Lieblingsfilm von Chaplin und trotzdem vergesse ich jedes Mal (außer jetzt, da ich ihn vor 3 Tagen zum zigsten Mal gesehen habe) die Boxszene. Und daher liege ich jedes Mal wieder auf dem Boden vor Lachen, der Film schockt mich jedes Mal wieder mit seinen verschiedenen konkreten Ereignissen, weil in meiner Wahrnehmung nur bestimmte Gefühle festgehalten werden. Und da geht es mir bei Tsai eigentlich fast bei jedem Film gleich. Ich sehe Haut und Augen, ich sehe Lee Kang-sheng mit Sehnsucht, ich spüre Sehnsucht. Ich finde es auch spannend, dass ich all die Bilder, von denen ihr so erzählt habt sehr deutlich vor mir sehe. Das müsste man mal in einem halben Jahr wiederholen. Bei Hou sehe ich ähnlich viele Bilder, aber ich kann sie nicht so leicht einzelnen Filmen zuordnen. Rainer hatte das ja schon ein bisschen geschildert. Ich glaube sogar, dass wir das schon ein bisschen begründet haben, oder geht es euch da anders?

Rainer: Ich weiß nicht, einerseits sind Tsais Filme homogener, wie wir ja schon besprochen haben, und das müsste konsequenterweise bedeuten, dass man seine Filme schwerer zuordnen kann. Wie du richtig festgestellt hast, ist aber das Gegenteil der Fall. Erst letzte Woche habe ich mich zwar dabei ertappt eine Stelle aus „Three Times“ „Millenium Mambo“ zuzuschreiben, aber die Verwechslung ist mir bald aufgefallen. Kommt es nicht auch ein bisschen darauf an, in welcher Verfassung man die Filme gesehen hat, bzw. welchen Gesamteindruck sie auf einen gemacht haben? Einen eher mittelmäßigen Film (und die gab’s zumindest bei Hou) vergisst man in der Regel schneller als einen, der tiefen Eindruck hinterlässt. „Dust in the Wind“ und „The Time to Live and the Time to Die“ sind zum Beispiel zwei Filme, die sich gerne in meinem Kopf vermengen, obwohl sie eigentlich sehr unterschiedlich sind. Das liegt einerseits daran, dass es schon länger her ist, seit ich sie gesehen habe und andererseits an dem Umstand, dass ich irrsinnig Mühe hatte den Filmen meine Aufmerksamkeit zu schenken, da sie mich überhaupt nicht anzusprechen wussten. Bei Tsai ist mir das bis dato noch nicht passiert. Kurz, ich bin überfragt. Noch mal kurz zurück zu Andrey. Die vorletzte Einstellung aus „Stray Dogs“ ist legitim erinnerungswürdig…Was mich mehr schockt, ist, dass du „The River“ unspektakulär nennst! Da brauchst es gar keinen Patrick dazu, um dir zu widersprechen. „The River“ war, ganz im Gegenteil, für mich sein mächtigster Film (von denen, die ich gesehen habe). Die Fülle an familiärer und sexueller Spannung (die Grenzen verschwimmen), die unerträglichen Nackenschmerzen von Lee Kang-sheng und der Regen. Es wundert mich, dass du das so anders wahrnimmst.

Andrey: „Ich weiß nicht, einerseits sind Tsais Filme homogener, wie wir ja schon besprochen haben, und das müsste konsequenterweise bedeuten, dass man seine Filme schwerer zuordnen kann. Wie du [Patrick] richtig festgestellt hast, ist aber das Gegenteil der Fall.“ Das stimmt. Ich bin mir nicht sicher, woran das liegt. Vielleicht muss ich meinen Homogenitäts-Begriff nochmal überdenken. Bei Tsai ist die Motivik homogen und die formalen Grundparameter. Die Bilder, die er daraus formt, sind aber meistens äußerst markant, und dass ist auch das, was ich mit „spektakulär“ meine, ein Wort, das ich nicht umsonst in Anführungszeichen gesetzt habe. Ich verstehe darunter in diesem Kontext eine visuelle Prägnanz, die sich durch Überraschung oder Ungewöhnlichkeit kennzeichnet. Gute Beispiele dafür wären: Der Schlüssel, der aus dem Asphalt entfernt einen Quell freilegt. Der Fuß, der einsam durch das Loch in der Decke lugt. Der Melonen-Sex in „The Wayward Cloud“. Die abrupten Musical-Einlagen aus „The Wayward Cloud“ und „The Hole“. Patricks Schmetterlingsmoment. Die Uhrenumstellungen in „What Time Is It There?“. Meine Szene aus „Stray Dogs“, Kraft ihrer Länge und Nähe. Die Tränen am Ende von „Vive L’Amour“. Gewissermaßen auch der Schluss von „The River“ mit seinem „Twist“ (wobei ich ihn natürlich nicht darauf reduzieren möchte). „Visage“ in seiner Gesamtheit. In diesem Sinne, und in keinem anderen, erscheinen mir die drei von mir genannten Filme en gros weniger spektakulär (wenngleich sie wie gerade erwähnt keineswegs frei von Spektakel sind) – Regen kommt in fast allen Filmen Tsais vor und repräsentierte Nackenschmerzen sind visuell schlichtweg nicht sonderlich prägnant, auch wenn sie es emotional durchaus sein können. So weckten deine Zeilen in mir sogleich die Erinnerung an das emotionale Gewicht dieser Aspekte, aber kaum klar konturierte Bilder (doch: Lees Zusammenbruch im Krankenhaus). Hous Historienfilme bedienen diese Art visueller Prägnanz in geringerem Maße. Auch in meinem Kopf vermengen sie sich (tatsächlich ein bisschen wie bei Ozu; ein müder Vergleich). Familien in hellen Durchgangsräumen. Menschen beim gemeinschaftlichen Mahl. Halbdistanzierte Totalen. Grün. Nicht dass sie kein „Spektakel“ zu bieten hätten. Bei „City of Sadness“ fallen mir spontan zwei spektakuläre Szenen ein: Jene, in der die weibliche Zentralfigur des Films im Abseits einer Mittagsgesellschaft unvermittelt ein stummes Gespräch mit Tony Leung initiiert, und die verhängnisvolle Messerstecherei, die auf der Männertoilette ihren Ausgang nimmt (nicht nur, weil sie in der Assayas-Doku wiederholt wird). Den Rest des Films habe ich, wie ich gestehen muss, fast vollständig vergessen, wobei die Sichtung bei mir auch etwas länger zurückliegt als die Retro. Ich freue mich darauf, ihn wiederzusehen. Es wird im Historien-Hou zudem einfach wesentlich mehr gesprochen als in Tsais Filmen, auch weil es um konkrete Geschichte und konkrete Figuren geht (diese Filme, vor allem „City of Sadness“, wurden zwar natürlich auch, aber nicht vornehmlich für uns gemacht, sondern für die Menschen Taiwans). Für mich heißt das zwangsläufig, und da können die Filme selbst klarerweise gar nix dafür: Mehr lesen, mehr Kopfarbeit, mehr kontextuelles Vorwissen erforderlich. Tsais Werk ist für mich in dieser Hinsicht wohl oder übel entspannender. Dabei muss man ja nicht lesen, man kann auch einfach nur hinsehen, spricht wenig dagegen, aber ich kann’s mir nicht verkneifen, ich will auch wissen, was mir da erzählt werden soll, was leider manchmal zur Folge hat, dass beide Wahrnehmungsebenen darunter leiden. Später nimmt die visuelle Prägnanz bei Hou zu, während der chronikalische Charakter zurücktritt. Aber dafür eignet diesen jüngeren Filmen oftmals eine gewisse Verschwommenheit, die Kamera tastet eher Texturen ab, als dass sie Konturen zeichnet. Eine weitere Frage, die sich mir stellt, ist die, inwieweit die Besetzung eines Kinosaals auf meine Rezeption Einfluss hat. Mit Tsai waren wir – eigentlich leider – zumeist nahezu alleine. Man könnte die Atmosphäre im Künstlerhauskino durchaus „intim“ nennen. Hou war hingegen immer gut besucht. Das macht für mich als Zuschauer einen Unterschied, aber ich kann noch nicht genau festmachen, worin er besteht.Ob das alles jetzt gut oder schlecht ist, da bin ich überfragt. Ich hab mir die Boxszene aus „City Lights“ – die mir auch entfallen war – jedenfalls gleich auf Youtube angesehen und trotz miserabler Bildqualität herzhaft gelacht.

The Puppetmaster2

Walker von Tsai Ming-liang

Patrick: Ich glaube, was zum Thema „spektakulär“ noch dazu kommt, ist der Begriff der Notwendigkeit und erneute auch jener der Zeit. Bei Hou geht es doch viel darum eine gewisse Alltäglichkeit einzufangen, das Treiben-wenn man so will-von Zeit, während Tsai eben jeden Moment betont, selbst aus alltäglichen Momenten eine intensivierte Erfahrung rausholt. Daher treiben auch die Filme von Hou mehr vor sich hin als jene von Tsai, die einen packen und mitreißen. Das hängt zum einen mit der visuellen Prägnanz zusammen, die beschrieben wurde, aber eben auch damit, dass die Notwendigkeit einer Einstellung bei Hou ihre Gleichgültigkeit ist und bei Tsai ihr Gefühl. Damit meine ich, dass es bei Hou genau um diese Verschwommenheit geht und bei Tsai um eine emotionale Mitte. Das zeigt sich zum Beispiel auch im Sound-Design. Da dringt bei Hou immer die ganze Welt in die Bilder während ich bei Tsai das Gefühl habe, dass man oft den Herzschlag hören kann und andere solche isolierten Geräusche. Ich denke an das Ende von „Vive L’amour“, wenn man fast nur die klackernde Schritte der Frau hören kann in der Stadt. Natürlich gibt es in beiden Fällen Ausnahmen immer wieder. Daher kann ich auch nicht teilen, dass „The River“ weniger „spektakulär“ sein soll. Der Film ist für mich wie ein Fiebertraum, ein unheimlich intensives Erlebnis. Die Filmdrehszene am Anfang nach der Rolltreppenbegegnung, die Sexszene im Hotel, der Sturz vom Scooter, die beschriebenen Nackenschmerzen, die nächtliche Begegnung mit der Mutter, der Vater im Dark Room, später mit Vater und Sohn im Darkroom, Lee auf dem Balkon, das Verschwinden der Frau aus dem Film. Viel spektakulärer geht es nicht. Und visuelle Prägnanz bedeutet eben nicht nur außergewöhnliche Bilder zu haben, sondern vornehmlich mal Bilder, die sich ins Gedächtnis brennen. Finde es etwas irritierend, dass man Tsai auf besonders aufregende, ungewöhnliche Szenen reduzieren will. Dazu ist er doch viel zu sehr ein Beobachter der Zeit. Wenn ich daran denke wie oft Menschen laufen, wie oft Menschen warten, wie oft Menschen essen. In diesem Vakuum des Alltags zeigen sich dann die Gefühle beziehungsweise ihr Verdrängen. Also ich bin ein großer Freund davon, Kino in Momenten zu fassen. Aber man darf nicht den Lauf der Zeit vergessen, wenn man schon in einem Boot sitzt auf einem Fluss. Ich glaube übrigens auch, dass man sowas wie Prägnanz nicht annähernd objektiv bestimmen kann. Manchmal habe ich Angst, dass sich diese emotionale Prägnanz durch das darüber Nachdenken, Einordnen und beim Schreiben solcher Texte sogar verläuft. Ich will damit nicht sagen, dass alles subjektiv ist, weil ich finde, dass es schon Wahrheiten gibt, die eben von den Filmen selbst ausgehen und nicht von den Betrachtern, aber wenn es um Prägnanz geht, dann wird es womöglich schwierig. Vielleicht sollten wir sowieso langsam zu einem Ende kommen. Daher noch die Frage: Habt ihr Hous Filme als körperlich wahrgenommen? Ich frage das, weil es bei mir ganz komisch war. Er zeigt ja kaum körperliche Szenen. Es gibt wenige Naheinstellungen, es gibt ganz wenig sexuelle Szenen, Blut, Schweiß, Tränen was weiß ich. Alles ist immer in diesem Filter. Trotzdem fängt er dann irgendwann an Konturen zu betrachten wie Andrey das richtig formuliert hat, er wird irgendwie enger und da habe ich zum Beispiel in „Three Times“ eine unheimliche Körperlichkeit gespürt, die sich mehr zwischen Kamera und Figuren offenbarte als zwischen den Figuren selbst.

Rainer: Diese Frage lässt sich meines Erachtens recht klar mit Nein beantworten. Hous körperliche Distanziertheit führte soweit, dass ich schließlich bei „Three Times“ geradezu schockiert war, als zum ersten Mal so etwas wie eine Sexszene in einem seiner Filme „gezeigt“ wurde (oder sagen wir lieber angedeutet). Ich weiß nicht ob es Prüderie ist, oder ob Hou ganz einfach kein Interesse an Körpern und Sex hat, aber das fehlt mir in seinen Filmen tatsächlich ein wenig – vor allem in den späteren die doch stärker emotional aufgeladen sind näher an den Charakteren erzählen (wie „Three Times“ oder auch „Millenium Mambo“). Was du am Ende geschrieben hast, kann ich nicht ganz nachvollziehen. Gerade die Charaktere im ersten und letzten Segment von „Three Times“ sind sich doch nahe (auch im Sinne von körperlich nahe) – ganz anders als z.B. die Pärchen in „Goodbye South, Goodbye“ – da war für mich Körperlichkeit zwischen den Charakteren in einem Hou-Film am stärksten fühlbar, während Körperlichkeit zwischen Kamera und Figuren für mich z.B. ein prägendes Merkmal für „Flowers of Shanghai“ gewesen ist, wo die Kamera quasi als Liebhaber der Charaktere agiert, ihren kleinsten Bewegungen folgt, sie nie aus den Augen lässt, nur um schließlich langsam die Augen zu schließen (Schwarzblende). Dass was du angesprochen hast, sehe ich also eher in „Flowers of Shanghai“, wo sich die Charaktere nicht wirklich nahe kommen und nahe kommen können (hat wohl auch mit der Zeit zu tun, in der der Film spielt), die Kamera aber die emotionale Verbindung aufrecht erhalten, oder vielleicht sogar entstehen lässt. Wenn wir nun schon so weit sind, würde ich sogar die Behauptung aufstellen, dass Körperlichkeit, das entscheidende Kriterium ist, dass Hou von Tsai unterscheidet. Tsais Filme sind außerordentlich körperlich, Hous kaum.

Rebels of the Neon God2

Flowers of Shanghai

Patrick: Die erste Geschichte von „Three Times“ ist für mich etwas Unglaubliches. Da geht es genau um diese Frage des Berührens und Nicht-Berührens. Eine halbe Stunde lang sehen wir die beiden, Mann und Frau man muss nicht mehr wissen, kaum im selben Frame. Es ist ein Tanz, der die beiden trennt. Immer wieder. Geschichte trennt sie, Schüchternheit, Umstände. Und nach dieser halben Stunde berühren sich ihre Hände. Dieser ganze Aufbau läuft auf diesen Moment zu. Und für mich entsteht dieser Aufbau vor allem durch die Kamerabewegung. Das ist ganz ganz großes Kino. Die Körperlichkeit kommt einfach aus dem Schock der Berührung am Ende. Man wird sich der Körperlichkeit da erst bewusst. Bei „Flowers of Shanghai“ hast du natürlich auch völlig Recht. Aber Körperlichkeit haben sowohl Tsai als auch Hou. Nur eben einmal durch ihr Auslassen und einmal durch ihr Betonen.

Andrey: Wiederum bin ich mir nicht sicher, was unter „Körperlichkeit“ zu verstehen ist. Ist es die eindringliche Darstellung von menschlichen Körpern als natürliche Organismen, die sich über eine sinnliche und sichtbare Körper-Sprache (darunter auch Blut, Schweiß, Tränen) als solche zu erkennen geben? Ist es die Kamera, die sich als Körper gebiert, agiert und reagiert, die tastet, wandelt, zuckt, liebkost? Oder ist es der Körper des Zuschauers, um den es geht, darum, was die Kinoerfahrung mit meinem Körper macht, wie sie ihn ansteckt und mit ihm spielt? All das ist wohl auf die eine oder andere Art körperlich, ich denke bei der Frage aber gemeinhin an Letzteres, und so gesehen hat mich Tsai wesentlich stärker erfasst als Hou, alleine schon aufgrund der intensiven Wahrnehmung meiner eigenen Leiblichkeit, der Masse im Kinosessel, die mir die meisten seiner Filme in ihrer berauschenden Trägheit beschert haben. Ich denke da etwa an die Walker-Reihe, bei der meine Beine irgendwann jeden Schritt des Mönchs im Kopf mitgingen, oder an „Goodbye, Dragon Inn“, der so kraftvoll spürbar macht, was es heißt, im Kino zu sitzen. Und obwohl ich das, was Patrick über die erste Episode aus „Three Times“ gesagt hat, nur unterschreiben kann – wobei ich zugeben muss, dass der besagte „Schock der Berührung“, retrospektiv nachgerade unausweichlich und eben tatsächlich „ganz großes Kino“, mich beim Sehen verfehlt hat, da ich mich in meiner Hoffart doch allzusehr auf die ungewohnte Kitschigkeit dieser zarten Geste eingeschossen hatte – verschaffte mir diese Szene doch eher das Verständnis einer Vorstellung von Körperlichkeit, vom Abstand und der Spannung zwischen zwei Körperorbits, als dass es meinen eigenen Körper wirklich angegriffen hätte. Vielleicht könnte man folgende Unterscheidung treffen: Tsai als Körperfilmer, Hou als Berührungsfilmer. Aber auch das wäre näher auszuführen.

Hou Hsiao-Hsien Retro: Millenium Mambo

Der Weg vom Kinosaal auf die Straße ist äußerst kurz im Österreichischen Filmmuseum. Man erlebt die Dunkelheit und Leere, einen Moment wie ohne Zukunft nach dem Film. Sekunden, manchmal nur einen Atemzug wartet man bis die reflektierende Leinwand den Kinosaal erleuchtet, man richtet sich auf, vielleicht tauscht man kurze Blicke mit seinen Begleitern und geht dann langsam die Treppen hinab. Das Sprechen im Kinosaal selbst sollte noch tabu sein. Dann geht man durch die große Tür, die ins Foyer führt, wo einen Stimmengewirr und manchmal Musik von der Filmbar erwarten. Das Licht erscheint einem unangenehm. Immer blicke ich mich um und schaue auf die Uhr, die über dem Eingang hängt, hier beginnt sie wieder zu ticken, erbarmungslos scheint sie sogar weitergelaufen zu sein als man sie vergessen hat. Dann muss man die schwere Tür öffnen, die nach draußen führt, wenn man Glück hat, wird sie einem aufgehalten und das ist insbesondere deshalb ein Glück, weil dann die ersten Worte nach dem Film „Danke“ sein werden. In der Regel stehen wir dann in kleineren Gruppen vor dem Filmmuseum, manche rauchen, andere essen, viele solche kleine Gruppen stehen herum und beginnen über den Film zu reden. Eine veränderte Luft erinnert einen an die alte, gleiche Welt. Dieser Moment ist voller Druck, denn was soll man nur als erstes über einen Film sagen? Es gibt jene, die scheinen sich schon während des Films ganze Argumentationsketten überlegt zu haben, andere wollen oft mit einer lockeren Bemerkung starten, wieder andere wollen nach Filmen am liebsten nicht über den Film reden, viele stellen Fragen zum Inhalt, zu Hintergründen. In diesen Momenten hängt jeder zwischen seiner gerade erlebten subjektiven Erfahrung und der Erinnerung an das, was man gemeinhin Realität nennt. Mancher muss reden, um zu verarbeiten, um einzuordnen, andere wollen gerade das nicht, wollen, dass die Illusion, die Magie oder Direktheit aufrechtbleibt. Unterschiedliche Meinungen direkt nach einem Screening drohen der noch angehenden Erfahrung mit einem Film zu schaden, machen ihn plötzlich kleiner und zu einem Objekt der Diskussion. Andererseits kann auch die gemeinsame Faszination, das gemeinsame Unbehagen zum Ausdruck kommen und man kann dort stehen und zusammen fühlen, eine kollektive Faszination, die sich eben nicht wirklich auslöschen lässt, sondern sogar bestärkt wird dadurch, dass jeder Zuseher in einer ähnlichen Situation war und ist. Wenn das Sterben im Kino von einer besonderen Relevanz ist, weil es ein absoluter Moment ohne ein Danach ist, dann ist es auch das Sterben des Films in einem selbst. Das klingt vielleicht etwas härter als man erwartet, weil ein Film ja nie wirklich stirbt, sondern immer in einem weiterlebt. Aber er transformiert sich, die Erfahrung, die tatsächliche Vorstellung des Kinoerlebnisses wird zu einem abstrakten Erinnerungsbild, das durch jedes gesprochene Wort nach dem Kino, in der Phase des Absterbens noch weiter manipuliert wird, zum Guten oder zum Schlechten. Am längsten lebt ein Film, wenn man nach dem Abspann stirbt.

Millenium Mambo

Ich schreibe das, weil meine erste Assoziation nach dem Film „Millenium Mambo“ im Rahmen der Hou Hsiao-Hsien Retrospektive ein Porthishead-Konzert war. Ich war in einem trance-transzendentalen Rauschzustand im Neon-Schwenk Schneeparadies auf der Kinostraße in meiner Zeitlupen-Seele. Daher versuche ich den Film auch so weiterleben zu lassen.

Try to reveal what I could feel: To treat this fantasy, openly, naked, the show has begun. Storm…in the morning light with the dark underneath. Ooh this uncertainty, is taking me over like a fool. This ain’t real but no one should fear what they cannot see, no one should fear the dark underneath cos this life is like a farce. So breathe on, little sister, breathe on. (slow-motion opening shot, she is looking at me)

Millenium Mambo

Did you realize, no one can see inside your view? Did you realize, for why this sight belongs to you? I still try to reveal what I could feel but I am too scared to sacrifice a choice, please recognize the poison in my heart. (man leaves a woman late at night, watches her sleeping, disappears)

As she walks in the room (woman in the film does often walk) , disappointed and sore, she is like the dark underneath, scented and tall, hesitating once more. She can’t see the light. Can anybody see the light? No one should fear what they cannot see, and no one’s to blame. It’s just hypocrisy cos the child roses like Millenium. (woman in the film laughs, death of a century)

Millenium Mambo

Sin, slave of sensation, oh sensation like a fool. It’s written in her eyes, and how she despises herself and she can’t deny how I feel. Will she ever fall in love again? She’ll never fall in love again. It’s all over now, a turning, a turning from deceit. But the desire is totally undenied, ohh so strong. Wild, white horses let me breathe through this mask. She breathes on and reveals what she could feel.

Did you know when you lost? The pace, the time, she can’t survive. Can’t you see?