Rückbilder

Ein Rückbild in einem Film, das ist, wenn in einem Bild plötzlich etwas offenbar oder zweifelhaft wird, was man schon vorher gesehen hat. Als würden die Bilder in einem Film aus sich hervorgehen wie die Blüten eines wiederkehrenden Echos. Man spürt, dass es etwas in diesen Bildern gibt, das sie bindet an eine Zeitlichkeit, der man selbst zunächst gar nicht gewahr war. Bis sich eben exakt in diesem Bild, diesem Rückbild etwas Unbestimmtes manifestiert, das weder mit Erinnerung noch mit Effekthascherei zu tun hat, sondern schlicht die Dunkelheit mit einem weiteren Schatten durchzieht, sodass man den Eindruck hat jemand würde einem mit einem Finger in die Augen tippen. Dabei sind Rückbilder nie narrativ, sie beleuchten eher den Rand des Bildes, eine kleine Geste, vielleicht gar eine Leere, ein Nichts und aus diesem schält sich in der Folge eine Wiederkehr. Sie ermöglichen einen Rückwurf des Betrachters. Nicht auf sich selbst oder etwas jenseits des Kinos, vielmehr eine Art Flashback, der nicht auf der Leinwand, sondern im Auge des Betrachters stattfindet. Als würde die diegetische Welt einmal ausatmen.

Ein Rückbild, das können mehrere Bilder sein (zum Beispiel bei Apichatpong Weerasethakul und seinem Cemetery of Splendour, als man in einer Montagesequenz plötzlich zu bemerken beginnt, dass man womöglich träumt), das können wiederkehrende Bilder sein (zum Beispiel bei Nicolas Roeg, der Rückbildern eine Zukunftsform geben kann, weil sie vor und nach ihrer narrativen Gegenwart existieren) und das können auch einzelne Bilder sein (etwa bei Tsai Ming-liang und seiner Einschlafszene in What Time is it There?, bei der man förmlich hypnotisiert wird, sich selbst verlässt und wieder zurückkehrt). Nun ist es sehr schwer über diese Phänomene zu schreiben, denn ihnen liegt der einfache Verdacht bei, dass sie Teil einer subjektiven Seherfahrung sind. Das mag in vielen Fällen sicherlich zutreffen, jedoch unterliegt die Positionierung dieser Bilder und auch das Halten ihrer Dauer eine sehr bewussten Entscheidung in den genannten Fällen und so stellt sich sehr wohl die Frage, ob es Kriterien gibt, in denen ein Bild zu einem Rückbild wird, Augenblicke, in denen Bilder rückwärts wirken.

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Im Kontext einer Dauer der einzelnen Einstellung vermag sich ein langsames Aufklaren vollziehen. Dieses Aufklaren ist zum Beispiel in Bela Tarrs Sátántangó bezeichnenderweise eine Verunklarung, denn sie wird vorangetrieben durch einen kommenden und gehenden Nebel, der gleichermaßen unwirklich und zufällig wirkt. Aus dem Off hört man die Erzählstimme die Gedanken des jungen Mädchens wiedergeben. Darin geht es um die Verknüpfung verschiedenster Elemente des Lebens und je länger man dieses Bild mit einem Baum im Vordergrund, einer Ruine im Hintergrund und Nebelschwaden, die sich dazwischen bewegen, betrachtet, desto stärker spürt man, dass etwas im Bild davor passiert sein muss, was man womöglich gar nicht so realisiert hatte. Nicht, dass man verpasst hätte, wie sich das Mädchen tödlich vergiftet und auf den Tod wartend hinlegt, aber der Tod selbst, seine nicht darstellbare Existenz und Konsequenz wird einem erst im Rückbild bewusst. Das Musterbild eines Todes in der Kamera findet sich womöglich in Professione: reporter von Michelangelo Antonioni, in der berühmten vorletzten Einstellung des Films, als die Kamera sich durch das vergitterte Fenster nach draußen bewegt, ja schwebt und den Protagonisten aus der Präsenz verliert. Es wurde viel über diese Szene nachgedacht, manche sahen darin die Autonomie der Kamera bei Antonioni, andere eine spirituelle Darstellung der Seele, die den Körper verlässt. Womöglich handelt es sich aber nur um die zeitlich verzögerte Darstellung eines eintretenden oder bereits eingetretenen, eines in jedem Fall unumgänglichen Moments, der eben nach einem solchen Rückbild verlangt. Eben jenes legt Cristi Puiu in seinem Moartea domnului Lăzărescu in das Schwarz nach dem Film. Hier wirkt das Ende des Film rückwirkend wie der Tod der Figur. Der Mann liegt und hört auf zu atmen. Man bleibt bei ihm, dann wird das Bild schwarz. Der Tod möglicherweise. Allgemein bieten sich schwarze Frames oder längeres Aussetzen von repräsentativer Bildlichkeit an, um ein Rückbild zu ermöglichen. Entleerte Bilder, die in sich das Reichtum der Informationen ihrer eigentümlichen Präsenz bergen. Diese Bilder zeichnen sich vor allem bei längerer Einstellungsdauer oft schlicht dadurch aus, dass sie gemacht wurden und an dieser oder jener Stelle im Film platziert wurden beziehungsweise so und so lange gehalten wurden, nicht durch das, was sie zeigen. Ein Beispiel sind wiederkehrende Bilder, wiederholte Handlungen in unterschiedlichen Bildern oder unterschiedliche Bilder zu gleichen Tonspuren.

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Man könnte zum Beispiel behaupten, dass manche Filme von Marguerite Duras einzige Rückbilder sind. La Femme du Gange oder Son nom de Venise dans Calcutta désert tragen in sich die Verlorenheit einer möglichen und/oder vergangenen Handlung, diese Filme existieren nur, weil sie schon vorbei sind, wenn die Kamera dort ist. Man sieht Figuren (wenn man sie sieht) und kann sich nicht sicher sein, dass sie von der Handlung wissen, die im Off dialogisch erzählt wird. Dabei filmt Duras mit Vorliebe gegen das Licht. Sie blickt auf Fenster, Kronleuchter und die Sonne hinter dem Meer und in diesem Licht ermöglicht sich ein Rückbild, das kein Bedauern zulassen will, weil es von Beginn an eine Hoffnungslosigkeit, ja eine Sinnlosigkeit etabliert und klar ist, dass das was wir hören schon vorbei ist, während das was wir sehen nur mehr das blasse Echo einer Vergänglichkeit ist, die uns so stark berührt, weil sich in ihr der Ozean dessen öffnet, was hätte sein können, was war, was nie mehr wieder kommt. Das Licht spielt nicht umsonst auch in Cemetery of Splendour eine entscheidende Rolle, der Lichtwechsel, das Surren. Ohne sich zu sehr auf freudianisches Gebiet zu begeben könnte man diese Lichter und ihre Betrachtung durchaus mit der Urszene des tanzenden Feuers und den Blicken, die man als Kind darauf wirft vergleichen. Es ist in diesen Flammen, dass Sehen etwas Pures hat und den Betrachter zugleich auf sich selbst zurückwirft. Ist das Feuer in der Gegenwart? Man kann es schwer sagen, wenn man sich nicht gerade verbrennt. Es ist vielmehr ohne Zeit. Daher ist es auch so gut, wenn sich etwas im Bild sturr bewegt, womöglich in Kreisen wie die Rolltreppen bei Apichatpong Weerasethakul oder eine Wassermühle bei Tsai Ming-liang. Bewegen, die einen davontragen, obwohl man sich in ihnen verliert.

Duras filmt etwas Abwesendes und letztlich geht es genau darum in Rückbildern. Der Unterschied zur Erinnerung ist, dass diese noch darstellbar ist, während das Rückbild von den Dingen handelt, die es nicht sind. Daher spielt auch die Montage so eine essentielle Rolle für das Rückbild, das was zwischen zwei Bildern passiert. Das Rückbild ist eher ein Bild des Vergessens als der Erinnerung.

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Ein sehr einfaches Beispiel: In The Illiac Passion von Gregory J. Markopoulos sieht man in einem Bild wie Schauspieler Puder/Sternenstaub aus ihren Händen fallen lassen und pusten. In einem nächsten Bild (es muss nicht das allernächste sein) sieht man wie dieser Staub über die Köpfe anderer Menschen fällt wie eine Botschaft aus dem Himmel. Man versteht die erste Handlung durch das zweite Bild. Das ganze geht über die simple Verkettung aus Ursache und Wirkung hinaus, da die beiden Bilder offensichtlich nicht wirklich räumlich zusammenhängen. Vielmehr verändert das zweite Bild das Potenzial des ersten Bilds, setzt es in ein neues Licht. In narrativeren Filmformen geschieht eine solche verzögerte Erkenntnis oft durch Perspektivwechsel. Man sieht die gleiche Szene aus einer anderen Perspektive. Dabei entsteht dann so etwas wie ein Meta-Rückbild, dem die Suggestivkraft des einfachen Rückbilds abhanden gekommen ist. Denn wie bereits erwähnt, hängt das Rückbild auch immer an einer Unklarheit, nicht an einer Aufklärung. Es hängt daran, dass wir das, was dazwischen passiert, nicht sehen, selbst wenn es keinen Schnitt gibt. Etwa das Einschlafen von Lee Kang-sheng vor dem Fernseher in Tsai Ming-liang. Ein suspendierter Augenblick wie das Einschlafen im normalen Leben. Ein Rückbild ist so etwas wie die Darstellung der Erinnerung an den Moment des Einschlafens. Dass was wir davon wissen ist: Wir sind eingeschlafen.

Duras ist auch insofern ein gutes Beispiel, weil sich diese Echowirkung oft zwischen Bild und Ton vollzieht. Das Offenlassen einer Verzögerung zwischen dem Text und dem Bild wie etwa bei Gerhard Friedl, Chantal Akermans Je tu il elle oder Straub, Huillets Trop tôt/Trop tard bewirkt genau dieses Gefühl eines Rückbilds. Die Möglichkeit einer rückwirkenden Wirkung tut sich immer dann auf, wenn Ton und Bild beide autonom agieren, nebeneinander, unabhängig voneinander statt übereinander liegen. Ein wenig wie das Liebesspiel von Echo und Narziss, bei dem sich etwas auftut genau weil es diese Verzögerung gibt. Bilder, die zu spät kommen. Darin liegt auch ein großes Drama, eine große Melancholie. Bei Duras kommt noch hinzu, dass sie ihre Rückbilder über verschiedene Filme hinweg etabliert. Wenn Depardieu in La Femme du Gange immer wieder die Melodie aus India Song summt verändert das sämtliche Wirkungen beider Filme und ihrer Bilder. Als würde die eigene Erinnerung an den anderen Film entweichen und durch Depardieus Körper, das Auge von Duras fließen. Natürlich finden sich solche Echos zwischen Filmen ständig und überall, sie sind im besten Fall auch ein wichtiger Bestandteil kuratorischer Arbeit mit Film. Statt sich auf das zu Fokussieren, was zwei Filme gemeinsam haben, funktioniert das Kuratieren oft viel besser, wenn man sich auf die dunklen Flecke zwischen den Filmen konzentriert, das was sie trennt. Der Raum zwischen zwei Filmen ist letztlich das, was sie besonders macht in ihrer Kombination.  Vor kurzem wurden beispielsweise neue Filme von James Benning im Österreichischen Filmmuseum gezeigt. Dazu gehörten die beiden Werke Spring Equinox und Fall Equinox. Beide zeigten, wie der Titel verrät, eine bestimmte Jahreszeit an einem bestimmten Tag. Für sich stehend waren es faszinierende Beobachtungen von Licht und Natur. Aber in der Kombination handelten sie auch vom Sommer, von der Jahreszeit dazwischen, der Zeit, die wir nicht gesehen haben, deren Folge wir nur noch erkennen konnten. Derart legte Benning den Fokus auf die unfilmbare Veränderung.

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Was ein Rückbild ist, ist damit nur unzureichend erklärt. Vielleicht liegt das daran, dass ein Rückbild gar nicht sein kann, sondern nur sein könnte. Der Konjunktiv des Kinos, der in einer Welt des Zweifels und der Fiktionen wichtiger denn je scheint. Dabei geht es nicht um die pseudo-moderne Multiperspektivität wie etwa bei Bertrand Bonello oder Brian De Palma, sondern genau darum, dass es gar keine Perspektivität mehr gibt oder besser: Eine Unsicherheit der Perspektive. Die Wahrnehmung davon, dass man immer erst zu spät versteht. 

Le Horla oder filmen, was man gar nicht sieht

Le Horla von Jean-Daniel Pollet nach einer Erzählung von Guy de Maupassant hat ein altes Verlangen in mir geweckt: Die Idee, etwas zu filmen, was man gar nicht sehen kann, was es womöglich gar nicht gibt. Wie das so ist bei Maupassant. Erstmal ist da Laurent Terzieff von allen Leuten. In ihm entwickelt sich eine Krankheit, der wir folgen können, weil er uns von seiner Wahrnehmung erzählt. Er erzählt sich auch selbst davon. Einem Tagebuch, einem ertrinkenden Audiotape. Schizophrenie, ein unheimlicher Besucher, den es vielleicht gar nicht gibt: Der Horla. Wenn er uns von seiner Krankheit erzählen würde, hätten wir seiner Wahrnehmung nicht besser folgen können. Ein Horla ist etwas, was man filmen muss.

Es gibt zwei erstaunlich falsche Aussagen über das Kino, die immer wieder getätigt werden und die nur deshalb falsch sind, weil sie gesagt werden. Eine dieser Aussagen hat damit zu tun, dass Figuren etwas tun müssen, um interessant zu sein. Handlung, Handlung, Handlung. Welch ein beengender, bescheuerter Gedanke. Kochrezepte! Béla Tarr dagegen hat einmal gesagt, dass man den Zusehern nicht das Gefühl geben sollte, das etwas passiere, das wäre nämlich gelogen (natürlich ein doppeldeutiger, politischer Verweis). Nun ist es natürlich nicht so schön, eine Aussage gegen eine Aussage zu stellen: Handlung oder nicht. Ich vermag mich nur im Auslassen einer Bewegung, im Verweigern einer Reaktion, in der Stille einer Erregung genauso zu entdecken wie in ihrem Gegenteil. Als praktischer Tipp, also das Schauspieler „natürlicher“ wirken, wenn sie etwas zu tun haben, taugt diese Idee allerdings noch weniger, denn wer sagt, dass das Kino „natürlich“ sein muss? Die andere Aussage hat mit dem Visuellen zu tun. Man müsse Dinge zeigen. Lange war ich selbst ein Verfechter dieser Theorie bis ich für mich beschlossen habe, dass man auch gar nichts zeigen kann. Vielleicht ist in Tagen der visuellen Überflutung derjenige ein herausragender Filmemacher, der einfach keinen Film macht. Was hier klingt wie eine Aussage von Fernando Pessoas Hilfsbuchhalter ist in Wahrheit nur das Ende des ersten Kapitels.

(Man denke nur an Marguerite Duras: Hat sie jemals etwas gefilmt, was da war? Hat sie jemals etwas gefilmt, was nicht da war? Kino bei ihr ist Vergegenwärtigung von Dingen, die keine Gegenwart kennen und auch keine Vergangenheit, wenn Vergangenheit etwas ist, was nicht mit der Gegenwart verwechselt werden könnte. Figuren stehen bei ihr. Sie schlendern durch Flure. Handeln sie? Manche sagen, dass sie keine kinematographischen Filme mache, als wäre nicht alleine die Differenz zwischen Schrift und Bild die Eröffnung eines kinematographischen Universums.)

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Le Horla beginnt mit einem Mann und einem Mikrofon. Er spricht, aber wir sehen seinen Mund nicht. Vielmehr liest er und wir lesen mit seiner Stimme. Gedanken von ihm oder von einer Person, die wir nicht sehen? Ja, er verbessert etwas. Er geht auf und ab. Er verbessert. Kein Anfang kann ohne Verbesserung bleiben. Man überlegt noch mal. Wie fängt man an? Ich habe diesen Text mit meinem Verlangen begonnen. Verlangen über einen Film zu schreiben, ist auch eine Arbeit, die man nicht sieht. Sie verschwindet im Bedürfnis. So wie der beschwerliche Weg zu einer Geliebten. Was also könnte stehen, wenn man etwas filmt, was es nicht gibt? Was steht am Ende des Weges? Liebe, Angst, etwas dazwischen. Etwas, was man nicht ausdrücken kann. Es geht darum, dass es durch das Filmen erst entsteht, als wäre Film die Geburtsmaschine der Dazwischenheit, es geht um Greifbarmachen von Flüchtigkeit und Verflüchtigen von Greifbaren. Es geht darum, dass man nicht sicher ist (keine Belehrung, nur Emotion). Gibt es den Horla? Machen wir den Versuch und schließen die Augen im Kino. In Le Horla schläft der Protagonist ein, um am nächsten Morgen festzustellen, dass jemand von seiner Milch getrunken hat. Schließen wir die Augen im Kino. Stellen wir fest, dass sich etwas verändert? Was sehen wir mit geschlossenen Augen? Victor Kossakovsky hat einmal gesagt, dass immer etwas passieren würde, wenn man eine Kamera aufstellt. Als wäre die Kamera ein Magnet (eine berühmte Geschichte von Maupassant: Magnetismus).

Wir stellen die Kamera also in einen Raum. Was wir hören ist vielleicht nur der untergehende Tape-Recorder. Jemand drückt und die Worte wiederholen sich. Pollet, ein Verschollener des französischen Kinos (bezeichnet sich selbst als junger Bruder der Nouvelle Vague), so verschollen, dass man sich fragen könnte, ob es ihn wirklich gibt. Am Ende seines Lebens konnte sich Pollet aufgrund eines schweren Unfalls kaum mehr bewegen. Er drehte weiter Filme. Mit seinem Auge und vor seinem inneren Auge. Sein erster Kurzfilm Pourvu qu’on ait l’ivresse sorgte für großes Aufsehen in Paris. Sogar Jean-Pierre Melville meldete sich bei dem damals 21jährigen und sagte ihm etwas, das vielleicht zum Horla des Kinos passt: „Vielleicht machst du nochmal etwas, was genauso gut ist, aber du wirst nie etwas besseres machen.“ Später arbeitete Pollet unter anderem als Assistent bei Robert Bresson. Wir stellen die Kamera also in einen Raum. Ein Schnitt auf das Meer. Der Stil in Le Horla erzählt beständig vom Innenleben der Figur, er erzählt uns schon von der Krankheit bevor sie beginnt. Die Darstellung des Innenlebens hängt eng an der Darstellung dessen, was wir nicht sehen können, man könnte auch sagen: Die Darstellung von Zweifel. So fragt nicht nur Maupassant in seinen Texten immer wieder, was es denn sei, das uns steuert: Die Vernunft oder etwas, das über uns kommt, dass es vielleicht gar nicht gibt? Nicht nur aus diesem Grund ist Le Horla trotz aller stilistischen Unterschiede ein Seelenverwandter von Michelangelo Antonioni, der mindestens in seinem Il deserto rosso ebenfalls den Horla gefilmt hat. Beide Filmemacher wählen unterschiedliche Strategien für die Besessenheit, die Paranoia, die ebenso die Realität sein könnte. Beide finden sich aber am Meer, am Treiben im Meer, der Ungewissheit. Ansonsten bewegt sich die Kamera bei Antonioni wie vom Horla gesteuert. Sie zersetzt die  zitternden Nerven einer Hauptfigur, die sie mehr ist als beobachtet. Dagegen fährt Le Horla das Prinzip: Kamera = Vernunft/Montage=Horla.

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Zumindest könnte man auf diesen Gedanken kommen. Im Wald aber dreht sich das Spiel. In einer bemerkenswerten Bewegung umfährt die Kamera Laurent Terzieff nicht ganz. Sie bleibt hinter ihm und folgt ihm gleich einer Videospielkamera oder doch eines Schattens. Wenn wir filmen, was es nur vielleicht gibt, müssen wir den Film selbst spüren, sein Innenleben, seine Seele. In einem Licht oder Schatten verbirgt sich eine Emotion, die sich nur dadurch manifestieren kann. Dasselbe gilt für einen Schnitt, eine Bewegung der Kamera oder sämtliche Details von Bild und vor allem Ton. In diesen Mitteln – das ist natürlich keine neue Erkenntnis – steckt das, was man nur filmen kann, was es anders gar nicht gibt. Nicht in Worten. Oft fühle ich im Kino Dinge, die ich nur dort fühle. Wenn ich sie später in der Realität fühle, dann nur, weil ich es aus dem Kino kenne. (Das geht auch andersherum tatsächlich, aber diese Art des Zusehens zielt auf Identifikation und Identifikation kann es nicht geben in einem Kino, bei dem man sich nicht sicher ist, wer man ist oder ob man ist.) Hier geht es nicht um ein beschränktes Mindfuck-Kino im Stil von Fight Club. Hier geht es um die Schizophrenie des Kinos per se. Wir stellen die Kamera also in einen Raum und sehen hindurch. In Antonionis Blow-Up geht es um Dinge, die man dann sieht, die es nur vielleicht gibt. Hier sind wir bei der Evidenz des Filmischen oder der bazinesquen Ontologie der Kinematographie. Film als Beweis. So werden Bewegtbilder nach wie vor verwendet. Wir glauben, was wir sehen. Warum also etwas filmen, was es gar nicht gibt? Vielleicht weil die Evidenz des Films nicht gleich Film als Evidenz sein kann.Die Evidenz des Films (so auch ein Titel eines Buches von Jean-Luc Nancy über Kiarostamis Close-Up) liegt vielleicht genau (auch das sagt Nancy) in dieser Unsicherheit. Der Moment, in dem das Licht diese Unsicherheit küsst. Ein kurzer Augenblick und etwas kann manifest werden, was sich nur im Filmischen erkennen lässt. Damit meine ich nicht unbedingt die Zeit, die uns ermöglicht etwas zu sehen, was uns sonst entgangen wäre. Damit meine ich auch nicht die Nähe oder Distanz der Perspektive, die dasselbe vermag. Nein, ich meine damit tatsächlich, das was man gar nicht sehen kann. Photogenie oder auch: Etwas dazwischen, etwas zwischen (Nancy) dem Licht und seiner Abkunft. Konsequent lässt Pollet den Schriftzug des Titels „Le Horla“ auf einem Spiegel erscheinen. Das Kino: Ein Fenster, in dem wir uns selbst sehen können, ein Spiegel in die Welt.

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Auf dem schwankenden Boot fällt der Tape-Recorder und wie durch einen Zufall, etwas, das man nicht beeinflussen kann, beginnt das Tagebuch. Ein schöner Tag, der 8. Mai. Später, als die Angst beginnt, kommen wir zurück in den Wald. Dieses Mal erzählt uns eine Stimme vom Innenleben der Figur. Fühlen wir jetzt anders als zuvor? Sind die durch die Bäume dringenden Lichtfetzen auf dem Pullover oder die Worte hier entscheidend? Vielleicht ist es auch etwas anderes, dieses Unbehagen des Kinos. Eine Verbindung zu einem selbst. So wie dieser Magnetismus bei Maupassant, also: Ich habe etwas im Kino gesehen und seitdem glaube ich, dass es mir selbst passieren wird. Klar, man denkt dabei an das Duschen nach Psycho, der Strandurlaub nach Jaws und so weiter. Das geht auch ohne Angst und mit Liebe, Sexualität und Gewalt. Aber was wäre, wenn ich im Kino etwas sehen würde, von dem ich weiß, dass es das nicht gibt und plötzlich würde es in mir sein? Auch das gibt es, wir kennen es. Das Kino ist infiziert und hochansteckend. Nicht nur wegen der Begeisterung, auch wegen der Nebenwirkungen. Aber wie kann man den Horla filmen?

In einer Szene liegt der Protagonist im Bett. Es knarzt überall, er hat Angst. Die Kamera ist über ihm wie eine Bedrohung. Es gibt einen minimalen Achsensprung und eine dieser subtilen Stummfilmgesten, die nur große Filmemacher weitertragen (Die Finger greifen an die Unterlippe, man denkt an die Abwehrhaltung der Nacht in Tabu von Murnau und Flaherty). Die Bedrohung in der Nacht wird gefilmt. Sie ist kein plötzlicher Schock, keine konkrete Gefahr, sie ist etwas, das es gar nicht gibt, ein beständiges Versinken, ein Flüstern, das Bewusstsein eines Schattenreichs. Wenn ich höre, dass das Kino mit Licht zu tun hat, vermisse ich genau diesen Schatten. Das Kino soll verunklaren statt aufzuklären, verschleiern (dieses Wort sollte für Hou hsiao-hsien reserviert bleiben) statt beleuchten.

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Der Horror in Le Horla liegt im Verschwinden. Der Protagonist erwacht und sein Wasser ist verschwunden. Der Film zeigt das, was es gar nicht gibt, also durch eine Folge. Wenn dies eingetreten ist, muss es etwas gegeben haben. Jedoch gibt es eine zweite Ebene, denn das was die Folge ist, ist womöglich nur eine Wahrnehmung. Die Wahrnehmung des Verschwindens. Blickt man ins interessantere moderne Kino spielt das Verschwinden eine Hauptrolle. Wenn man sich Cemetery of Splendour von Apichatpong Weerasethakul, From What is Before von Lav Diaz, Cavalo Dinheiro von Pedro Costa oder Kaili Blues von Gan Bi ansieht, dann finden sich überall Ideen zum Verschwinden und damit auch zur Zeit, die dieses Verschwinden verschuldet. Die genannten Filme wehren sich alle gegen diese Zeitlichkeit, wenden sie, drehen sie um. Es ist ein Kino zwischen Ruinen und Erinnerungen, Melancholie und Zerfall. Es ist dies der Horror, den das Kino am meisten spürt, weil dann etwas gezeigt wird, was nicht (mehr) existiert: Die Vergangenheit.  Im Widerspruch zwischen dem, was wir sehen können und dem was wir erleben können, findet sich der Horla des Kinos. Es gibt auch die Idee des „kurz zuvor“ und „kurz danach“ wie bei Velazquez und seinem Porträt von Petrus. Das Kino verführt uns wie Echo Narziss. Nicht aus dem Hier, sondern aus dem Gewesen: Too Early, Too Late. Das Kino ist eine Revolution, die es nie gab. Solche post-cinephilen Godard-Gedanken hängen eng an diesem modernen Kino. Doch die Filme wehren sich dagegen und filmen das, was sie noch filmen können, wobei die Betonung auf dem „noch“ liegt. Die Dämonen in ihren Filmen kommen aus der Konfrontation des Verschwindens oder des Erinnerns. Olivier Assayas hat einmal gesagt, dass das ganze Kino von Marcel Proust inspiriert sei. Man kann zumindest feststellen, dass man das ganze Kino mit Proust denken kann. Das Verschwinden und das Erinnern schlagen sich in diesen Filmen nieder auf die Körper. Oft wird in entscheidenden Augenblicken auf Schnitte verzichtet. So können wir die Folgen sehen, wir können sie an den Körpern, Blicken, Gesten und ja, Taten sehen. Aber auch am Ausbleiben der Taten. So sehen wir, was es vielleicht nur in den Figuren gibt. Es gibt aber auch Dinge, die es nicht mal in den Figuren gibt, die einfach nicht existieren. Die muss man auch filmen können.

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Die Kamera zögert in Le Horla mit dem Protagonisten in einer Parallelfahrt. Als er fragt, ob er er selbst sei, verschwindet die Figur (oder die Kamera) kurz hinter einem Baum. Wer auf der anderen Seite erscheint, wissen wir nicht. Womöglich ist dem so, weil er es selbst nicht mehr weiß. Er verschwindet. Nun hängt das Verschwinden und die Abwesenheit im Kino oft am Off-Screen. Der Off-Screen existiert, ohne dass man ihn sieht. Aber was dem Off-Screen fehlt ist Verlorenheit. Wenn man sich einen Bresson-Film ansieht, also einen Film des Meisters des Off-Screens, wird man eine Bestimmtheit merken, eine wundervolle Poesie dessen, was man nicht sieht, sodass man sich eigentlich beständig sicher ist, dass es das, was man nicht sieht, gibt. Es unterliegt nur der Auswahl des Filmemachers, es nicht zu zeigen.Verweigerung, ein Blick in eine andere Richtung, der Striptease der Möglichkeiten des Kinos, sodass eine Sinnlichkeit nicht aus sinnloser Überfüllung entsteht, sondern aus der absoluten Notwendigkeit dessen, was wir (gerade noch) sehen. Wie ein Film, den es nur noch auf einer leidenden, zerbrechlichen Kopie gibt. Wir sehen die Dinge gerade noch, dann wenn sie laut Bertrand Bonello am schönsten sind: Kurz bevor sie sterben. Dieses „gerade noch Sehen“ schiebt das Sehen und zum Teil auch das Handeln auf ein Minimum und macht es dadurch auf eine neue Art zum Zentrum des Kinos. Denn jetzt sind wir wirklich abhängig von dem, was wir noch sehen. Es ermöglicht uns auch die Schwärze, den Off-Screen, das Verschwinden, die Abwesenheit mit unseren Gedanken und Fantasien anzureichern.

Die Kamera lauert. Der Protagonist sitzt in seinem Zimmer auf einem Stuhl. Aus leichter Übersicht umkreist die Kamera ihn, aber nie ganz, die Kamera umkreist ihn immer nur im Ansatz und so wird unser Sehen erstickt. Die Kunst der angedeuteten Bewegung. Ich denke an Serene Velocity von Ernie Gehr. Dazu J. Hoberman:  “Serene Velocity is a literal „Shock Corridor“ wherein Gehr creates a stunning head-on motion by systematically shifting focal lengths on a static zoom lens as it stares down the center of an empty, modernistic hallway–also plays off the contradictions generated by the frame’s heightened flatness and severe Renaissance perspective. Without ever having to move the camera, Gehr turns the fluorescent geometry of his institutional corridor into a sort of piston-powered mandala. If Giotto had made action films, they would have been these.“ Man bewegt sich und man bewegt sich nicht. Ein Raum verändert sich dadurch, Dinge entstehen, die es nicht gibt. Keine Spezialeffekte oder Einbildung, einfach nur Bewegung und das Licht. Das Kino als Zustandsbeschreibung, das sich so verhält wie es sich fühlt, wie die Figuren es fühlen. Es gibt Ekstase oder Puritanismus. Bei Dreyer gibt es beides zugleich. Wenn Grandrieux seine Figuren berühren lässt, dann berührt er sie auch. Sinnlichkeit ist keine Frage von oberflächlichen Holzhammermethoden, die beständig sagen: Schaut her wie sinnlich ich bin. Nein, Sinnlichkeit entsteht dort, wo Sinne gefilmt werden. Man denke an die berühmte Busszene in Mauvais sang von Leos Carax. Denis Lavant entdeckt in ihr Juliette Binoche. Die oberflächliche Sinnlichkeit, also Einstellungen auf den Nacken und die Gesichter funktioniert nur deshalb, weil der ganze filmische Raum in den Zustand des Verliebens fällt. Das Licht verwandelt die Situation in einen Tanz der Silhouetten, die Schnitte streichen nur mehr über das Begehren, man erahnt die Dinge für Sekunden, dann verschwinden sie, ersticken und atmen mit dem nächsten Bild, das sich nicht nur hier bei Carax wie eine Metapher für das Kino an sich zusammenfügt. Kann man Liebe sehen? Sinnlichkeit ist auch Grausamkeit.

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Noch etwas in Le Horla. Ein Lauf durch den Wald begleitet von walshesquen fernen Trommeln, dann ein fließender Übergang mit der gleichen Bewegung in das Zimmer. Die kontinuierliche Bewegung über den Schnitt hinweg oder auch einfach nur: Das Fließen. Darin verbirgt sich etwas, worüber man nie spricht, wenn man über das Kino diskutiert. Die Gefühle, die man im Moment des Sehens hat, die sich aber danach nicht ausdrücken lassen. Eine Beobachtung, die in ihrer Gegenwart schon wieder verschwindet. Ein Gedanke, der uns entgleitet. Man hilft sich mit Adjektiven, die Hilflosigkeit sind. Das Stocken des Atems, der Übergang, die kurze Assoziation. In der Flüchtigkeit dieses Fließens kann man nicht festhalten, was man gefühlt hat. Vielleicht verlässt Abbas Kiarostami deshalb regelmäßig Kinos bevor der Film endet. Er hat etwas gesehen, womöglich etwas, das es gar nicht gibt. Ich stelle die Kamera also in einen Raum. Dann stelle ich sie an einen Strand. Ich filme eine Bewegung, die beide Bilder verbindet. Ich habe Schnitte bei Robert Beavers gesehen, die von Dingen handeln, die es ganz sicher nicht gibt. Etwas ist dazwischen. Ich stelle die Kamera in einen Raum und bin mir nicht sicher, dass ich in diesem Raum bin. Szene am Strand: Was in die Filme drückt ist die Welt. Sie kann nicht nicht in die Filme drücken. Es gibt sie. Aber so wie es bei Duras Text und Bild gibt, so gibt es bei jedem Film Konstruktion und Realität. Irgendwo dazwischen oder wenn sich beide küssen gibt es das, was es nicht gibt.

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Die Vogelperspektive verändert die Objekte, abstrahiert sie. Die Kamera dreht sich in der Luft über einem gelben Ei in Le Horla. Man glaubt, dass sich das Ei von alleine dreht. Es bewegt sich genau wie Laurent Terzieff, dessen Augen im Film ab und an komisch zum Himmel blicken, sodass man das Weiß der Augen kurz spürt, gar nicht richtig sieht, vielleicht sogar erahnt, was sich dahinter verbirgt, der Wahnsinn, aber, um zurück zu Maupassant zu gleiten, kann man so einfach sagen, dass es Wahnsinn ist? Der Ton setzt sich immer mehr aus merkwürdigen, irritierenden und bisweilen störenden Geräuschen zusammen: Knarzen, Zirpen, Krachen. Etwas wankt. Was wir sehen und was wir hören ist nicht das Bild, ist nicht der Ton. Es ist der Horla. Ich ahne, dass das Kino jetzt in dieser Sekunde, in der ich diesen Text bei schwachen Licht in meinem dunklen Zimmer schreibe, hier ist. Es beobachtet mich, es lebt. Es geht hier nicht um die Kamera als Waffe à la Kittler, es geht um das Kino als Wahrnehmungsgefängnis. Wenn Carax sagt, dass er alles so sehen wolle wie das Kino (durch die Augen des Kinos), dann klingt das schön, ist aber grausam. Vor kurzem haben ich einen Baum gesehen. Ich war erschrocken, weil er größer war, als meine Augen ihn sich auf einer Leinwand vorstellen konnten. Es passierte zu viel in und an diesem Baum. Dort waren Dinge, die man gar nicht sehen konnte. So wie das Licht oder dieser eine Moment, der nie wiederkehren wird und der Filmemacher deshalb in Verzweiflungen stürzt. Nein, man muss schon filmen, was man gar nicht sehen kann. Wenn Laurent Terzieff von einem riesigen Schmetterling (einer fliegenden Blume) schwärmt, wendet sich sein Kopf langsam uns zu. Er blickt durch uns hindurch und spricht von einer Ekstase der Freuden. Wie in einem Spiegel in die Welt, durch ein Fenster, in dem er sich selbst sucht in dieser Ekstase, die er kaum mehr zu sein vermag.

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Es folgt der Versuch den Horla zu töten. Etwas zu töten, was man nicht sehen kann. Man sperrt es ein und lässt eine Granate explodieren. Der Blick zurück von Laurent Terzieff erinnert an jenen in Kiss Me Deadly. Dort passieren ebenfalls Dinge, die es nicht gibt. Wie in jedem großen Stück Kino. Aber kann man sie bewusst filmen? Es liegt in der Andeutung, nur der kurze Lichtschweif der Zerstörung auf dem erschrockenen Gesicht, man bekommt keine Zeit – ja, das ist ganz entscheidend – zu verarbeiten oder aber man bekommt zu viel Zeit, man kann nicht verarbeiten, weil es zu viel ist oder zu wenig, zu genau, genau alles, alles, was es braucht.  Das Kino muss in sich dieses Geheimnis tragen. Deshalb ist man gekommen: Der dunkle Raum, das, was man nicht kennt, nur ahnt. Wo man sich fragt wie es weitergeht. Die Hand von Laurent Terzieff wischt ganz nah an der Linse vorbei, es gibt einige Blicke in den Spiegel, es ist der gleiche Mann, es ist ein anderer Mann, der Horla zersetzt ihn, das Kino zerstückelt ihn. Was er gesehen hat, haben wir auch gesehen, obwohl wir es nicht gesehen haben. Pollet hat es geschafft, er hat gefilmt, was es nicht gibt, weil es alles, was es nicht gibt doch gibt und doch geben kann.

Ich stelle die Kamera in einen Raum und sehe das Meer. Es lügt mich an mit seinen Schreien. Ich schneide nicht mehr, ich lüge nicht mehr, die Wahrheit kommt 24 Mal in einer Sekunde, das ist öfter, als ich zählen kann.

Die Fahrt in den Raum ist ein lauernder Tiger

An manchen Tagen stellt man sich die Frage, warum einen ausgerechnet das Kino verführt hat.

(Eigentlich stellt man sich diese Frage jeden Tag, denn man verliebt sich immer wieder neu)

Ich glaube immer wieder mal, eine Antwort für mich gefunden zu haben. Heute und gestern ist diese Antwort: Die Fahrt in den Raum. Damit meine ich jene Entscheidungen der Kamera, näher zu gehen, etwa zu suchen, einzudringen. Es ist in diesen Bewegungen, in denen die Illusion geboren wird, hier kommt es zur Berührung meiner Augen mit der Leinwand. Es gibt ganz unterschiedliche Ausprägungen einer solchen Fahrt. Es gibt seit jeher den Phantom Ride, jene Methode, in der wir uns mit der Kamera auf einem sich bewegenden Fahrzeug befinden und mit ihr in die Welt, die Welt des Films fahren. Hier versteckt sich die Möglichkeit einer Reise ohne Bewegung, das bewegungslose Driften ist ein Träumen in den Augen des Kinos, ich kann völlig unbeweglich sein, krank und verfault und doch mit der Kamera in die weite Welt hinaus. Es reicht mir manchmal nicht, wenn diese weite Welt durch einen Schnitt plötzlich vor mir liegt. Ich muss den Weg spüren, sehen, hören. Ich habe viel über die Züge und Phantom Rides bei Hou Hsiao-Hsien geschrieben, aber der ultimative Phantom Ride seines Kinos ist gar kein Phantom Ride und findet sich in Goodbye, South Goodbye, eine lange Motorradfahrt auf einer schmalen Bergstraße. Es ist deshalb ein so gelungener Phantom Ride, weil er sich selbst in seiner Bewegung verliert. Bei einem solchen Phantom Ride geht es nicht um das Ziel der Bewegung, die Bewegung selbst ist das Ziel. Bei besseren Griffith Filmen wie Way Down East verlegt sich diese Bewegung sogar in die Montage, die wie Eisschollen durch die Filme treiben. Ist es also die Bewegung durch den Raum, die mich verführt?

Oder ist es vielmehr die Zeit, die in diesen Raum geschrieben wird? Filmemacher wie Belá Tarr oder Jia Zhang-ke arbeiten beständig mit dieser Verzeitlichung der Bilder. Bei ihnen bedeutet eine Fahrt in den Raum auch nicht zwangsläufig eine Fahrt nach vorne. Sie kann seitlich verlaufen wie zu Beginn von Sátántangó, sie kann sich diagonal-schwenkend vorwärtsbewegen wie häufig in Still Life. In diesen Kamerabewegungen sammeln sich die Geschichte, die Politik und die Poetik der Figuren und ihrer Umgebungen. Vor allem sind es wohl die Erinnerungen. Es gibt aber eine ganz andere Frage an solche Bewegungen, die man mit der berühmten vorletzten Einstellung in Michelangelos Antonionis Professione: reporter diskutieren kann. In der Szene dreht sich die Kamera durch ein Gitter hindurch um 360 Grad und lässt wichtige Handlungen Off-Screen passieren, obwohl man sich fragen kann, ob das entscheidende Element der Szene nicht die Bewegung der Kamera selbst ist. Die Frage lautet, ob solche Kamerabewegungen ein distanziertes Schauen des Filmemachers bedeuten, in dem die autonome Kamera sozusagen die Freiheit der Auswahl des Blicks beleuchtet oder ob wir in diesen Bewegungen die Bewegung der Seele des und der Protagonisten nachempfinden, eine Zustandsbeschreibung, die eben mit Filmemacher wie Tarr an der Zeit hängt, bei anderen an der Sinnlichkeit, spirituellen Erhebungen, Erotik und Lust oder doch dem kinematographischen Selbstzweck, einer Masturbation der Bewegung (wie bei Hou Hsiao-Hsien, obwohl dieser auch gerne mit der Geschichtlichkeit arbeitet). Die fließende Kamera ist also ein Ausdruck innerer Zustände und der Macht der Sichtbarmachung zugleich. Sie vermag eine Erfahrung der Gefühle zu geben (das gilt immer wieder auch für Statik) und gleichzeitig hinter den fragilen Schleier blicken, der diese Gefühle verbirgt.

Der Schuss danach: Professione: reporter

Der Schuss danach: Professione: reporter

Einzig der nervöse Zustand scheint mir in der Montage besser aufgehoben, aber ein Schnitt nimmt ihm auch das Erdrückende der Zeit. Das Fiebrige, Nervöse, Panische zeichnet sich weniger dadurch aus, dass man die Zeit verliert wie in den schnellen Schnitten, die manche Filmemacher dafür verwenden, sondern gerade dadurch, dass die Zeit nicht aufhört, nicht unterbrochen wird, sich nicht verändern lässt. Das Fließende müsste also verstört werden. Hier kann der Ton eine enorme Rolle spielen, denn auch er bewegt sich durch die Zeit und den Raum. Carl Theodor Dreyer hat mal geäußert, dass ein Verständnis für die Existenz von Tönen, die immer existieren auch in dramatischen Szenen wichtig wäre. Es geht also darum, dass man das Flugzeug am Himmel auch hört, wenn man stirbt, es geht um eine Unaufhaltsamkeit der Welt und eine individuelle Nichtigkeit im Strom der Zeit. Töne dringen beständig in die Räume ein und das Kino tut gut daran, das zu dokumentieren statt – wie so oft im industriellen Kino – das Drama zu isolieren.
Die Gleichzeitigkeit der Dinge wie sie auch in einer statischen Einstellung, die sich durch den Raum bewegt, findet, nämlich jener Tischszene in Cristian Mungius 4 luni, 3 săptămâni și 2 zile ist entscheidend für die Wahrnehmung des Kinos. Hände und Stimmen greifen in den Kader, sie oszillieren zwischen On- und Off-Screen, unser Blick wird gelenkt, aber er wird mitten im Chaos gelenkt. Es geht hier um die Kontrolle des unkontrollierbaren Lebens. Dieses Gefühl erweckt sich bei mir nur, wenn das Leben auch dort ist, das Leben auf Film. Erst dann machen Dinge wie Framing, Sound-Design oder Lichtsetzung Sinn. Es geht nicht darum, einen Dialog oder ein Gesicht aus dem Film zu nehmen und es nach vorne zu holen, sodass wir es alle sehen können, es geht darum das Gesicht oder den Dialog im Film so zu inszenieren, dass wir sowieso dort hinsehen, auch wenn wir in jeder anderen Ecke auch etwas spannendes sehen würden. Ähnlich verhält es sich in der Malerei, nur dass es im Film die Macht der Bewegung gibt.

Die Zufahrten in There Will Be Blood von Paul Thomas Anderson (wie in jedem seiner Filme) sind pures Kino. Sie existieren exakt zwischen der absoluten Kontrolle eines Filmemachers im Stil eines Stanley Kubricks und der völligen Offenheit der Welt. In diesen Fahrten in den Raum offenbaren sich die Sicherheit eines manisch ausgelöschten Zweifels (Kubrick) und die Essenz dieses Zweifels selbst (Tarkowski). Anderson zelebriert den Rausch der Bewegung, um im Gesicht einer Emotion zu landen. Aber auch die Fahrt selbst berührt schon die Wahrheit und die Hintergründe dieser Emotion. Was hier etwas abgehoben klingt, soll eigentlich nur heißen: Eine Kamerafahrt auf ein Objekt zu, erzählt immer zur gleichen Zeit, von dem, was es filmt und von der Fahrt selbst. Was bedeuten diese Fahrten? Sind sie der neugierige Blick, der schweifende Blick, der suchende Blick, der täuschende Blick, sind sie ein Blick? Oder sind sie tatsächlich eine Penetration, eine Aggressivität, ein Tabu wie Jacques Rivette das über Gillo Pontecorvo geschrieben hat. Es ist mit Sicherheit so, dass man nicht immer auf etwas zufahren sollte, oder? Man muss vorsichtig sein. Für das rustikale Sehen schienen mir immer Schnitt oder Zoom geeigneter. Eine Zufahrt ist etwas zerbrechliches, sie ist wie das erste Wort an eine schöne Frau, der erste Kuss, die Zehenspitzen im kühlen Wasser nach einem langen Winter. Genau darin liegt ihre Schönheit. Sie kann zugleich vom Zögern und der Vorsicht des Kinos erzählen als auch von der Überzeugung und dem Mut. Wenn ein Filmemacher Fahrten ganz bewusst und nicht andauernd einsetzt wie beispielsweise Manoel de Oliveira oder Apichatpong Weerasethakul (unterdrückte Gefühle als perfektes Interesse für eine Kamerafahrt, die zugleich entblößt und bekleidet?), dann wirkt der Einsatz dieser Stilistik wie der mutige Schritt in ein neues Leben oder ein erster Atemzug nach einer Dürre. Einen ähnlichen Effekt erzielen Filmemacher immer wieder mit Musik, die erst spät im Film einsetzt. Beispiele hierfür wären Jauja von Lisandro Alonso und El cant dels ocells von Albert Serra. Die Kamerafahrt in den Raum ist wie ein lauernder Tiger. (wenn sie richtig eingesetzt wird: bewusst, behutsam, zärtlich, gewaltvoll).

Den Raum für die Fahrt finden: There Will Be Blood

Den Raum für die Fahrt finden: There Will Be Blood

Die erste Einstellung in Man Hunt von Fritz Lang, mehr eine Kranfahrt denn eine Zufahrt und doch beides zugleich: Eine Aufblende und ein Titel: „Somewhere in Germany- shortly before the War“ und schon bewegen wir uns durch ein für Deutschland eher untypisches Gestrüpp, ganz so als wären wir in The Thin Red Line von Terrence Malick, Gräser fassen in unser Augen, sie neigen sich im Wind der sich bewegenden Kamera. Nebel steigt auf vom Boden, die Mitte des Bildes ist erwartungsvoll leer, eine unerträgliche Spannung und Konzentration liegt in den Sekunden. Sonnenlicht drückt durch den dicken Wald und Nebel, die Kamera richtet sich langsam auf den Boden, als würde sie Spuren suchen. (eine ähnliche Einstellung zu Beginn eines Films findet sich in The Big Lebowski von den Coen-Brüdern). Eine fließende Blende und nun entdecken wir tatsächlich eine Spur auf dem Boden, eine menschliche Fußspur auf sandigem Untergrund. Die Kamera bewegt sich kontinuierlich in der gleichen Geschwindigkeit weiter und eine weitere fließende Blende bringt uns zum Held des Films, einem Jäger im Wald, einem lauernden Tiger (wir denken an Tropical Malady von Apichatpong Weerasethakul, aber trauen uns nicht zu sprechen, ob der greifbaren Spannung, die uns auch an die Fahrt des Bootes in das Lager von Brando in Apocalypse Now denken lässt mit Trommeln aus der Ferne und einem Tiger im Film). Die Kamera und der Jäger verharren, sie blicken sich um, ein leichter Schwenk. Ein Geräusch. Der Jäger weicht zurück und hält sich an einem Baum fest. Die Kamera schwenkt leicht nach unten. Sie hat ihre Beute, den Helden längst im Visier, sie ist im Vorteil. An dieser Stelle schneidet Lang zum ersten Mal in einen POV seiner Hauptfigur, also just an der Stelle, an der er diese gefunden hat. Erst die Kontroller durch die Fahrt hat den Weg frei gemacht für eine bewusst-klassische Montage. Wie der Jäger selbst hat sich die Kamera durch den Wald herangepirscht. Viele Filme beginnen bei der Jagd, viele Filme beginnen mit einer Fahrt.

Man Hunt von Fritz Lang

Man Hunt von Fritz Lang

Die besten Filme finden ihre Beute nie. Sie streifen umher, lösen sich wieder, sehen etwas, sehen nichts, wollen etwas sehen, sie sind zu weit weg, zu nah, sie haben eine richtige Position, sie warten, sie suchen, sie schlafen, sie bewegen sich und bewegen sich und bewegen sich und irgendwann schießen sie uns direkt ins Herz.

Widerwillen im Film

Einige skizzenhafte Gedanken zum Widerwilligen im Film, vielleicht auch zum Verachtenden.

Wir denken an die abweisenden Küsse von Jeanne Moreau. Ihre Augen hassen die Welt und in ihren Augen verliebt man sich. Diese Szene im Regen bei La notte von Michelangelo Antonioni, diese mächtige Hilflosigkeit, dieses Nicht-Wollen und dennoch über die nächtlichen Jazz-Straßen gehende in Ascenseur pour l’échafaud von Louis Malle. Es ist eine Würde und Schönheit, die diese nicht akzeptieren kann. Deshalb ist es auch so unüberlegt, wenn Filmemacher sie manchmal als „Schönheit“ verwenden. Jeanne Moreau muss sich selbst hassen. Louis Malle, ein Filmemacher, der immer wieder das Widerwillige einfängt, jenes Widerwillige, das immer dann die Seele touchiert, wenn es auf das Leben an sich gerichtet ist wie in Le feu follet. So wie es sich mit Jeanne Moreau und dem Sex verhält, so ist es mit Gary Cooper und der Gewalt. Gary Cooper geht einen Schritt aus der Leinwand in den Zuschauersaal, wenn er Gewalt anwenden muss, er drückt dabei eine Unbeholfenheit und Stärke zugleich aus und genau darin liegt die Bedeutung dieses Widerwilligen, es ist eine zweite Ebene auf klaren Überzeugungen, es ist der Zweifel vor der Angst, der bei Cooper in Filmen wie Friendly Persuasion oder High Noon so deutlich zum Vorschein tritt. Es ist auch eine amerikanische Idee: Der Mann, der tut, was er tun muss. Jede Gewalt, die angewendet wird, will vermieden werden und daraus entsteht das Aufplatzen der Illusion, die man von sich selbst aufbaut, es entsteht Selbsthass, der im amerikanischen Kino oft vergessen wird, nicht aber bei Gary Cooper.

Gary Cooper Grace Kelly

Dieser Zweifel am Tageslicht in den letzten Stunden der Nacht, das Vergessen der Nacht in der Sonne; großes Filmemachen findet die Dunkelheit im Glanz der Sonne. Es ist die Müdigkeit der Bewohner von Fontainhas bei Pedro Costa, die nicht wie in Hollywood von A nach B gehen können, da sie zu müde sind, zu müde, um einen Liebesbrief zu schreiben, es sind die versteckten Frauen bei Mizoguchi, die Frauen bei Mizoguchi, auch wenn sie sich nicht verstecken, sie scheinen nie gefilmt werden zu wollen, es sind die Figuren bei Renoir, die keine Lust auf das Framing haben, die das Bild verlassen wollen, oft auch die Welt verlassen wollen im Anflug von Gewalt oder Liebe, es ist die Art wie Jacques Tourneur in Canyon Passage einen Western inszeniert, als hätte er keine Kraft, keine Lust auf dieses Genre, die Beiläufigkeit des Lebens, die Geschwindigkeit, die keinen Film zulässt, Film, der den fatalen Augenblick festhalten kann und der fatalen Schönheit in ihrem Zerfall beisteht und sie dabei doch entblößt. Die Schönheit des Kinos ist widerwillig, sie ist eine Illusion. Widerwillige Illusionen wie bei Abbas Kiarostami, bei dem der Zweifel am Licht jederzeit mitschwingt und ein neues Licht generiert. In Canyon Passage scheinen die Figuren schneller zu gehen, als in anderen Western, sie sprechen ihre Zeilen trocken herunter, aber das Trockene ist nicht unbedingt das Widerwillige, denn das Trockene strahlt eine gewisse Souveränität aus, eine Abgeklärtheit gegenüber der Machtlosigkeit, während das Widerwillige deutlich mehr leidet und deutlich weniger akzeptiert.

Nehmen wir drei Szenen, in denen das Widerwillige hervortritt. In Opening Night muss Gena Rowlands betrunken auf die Bühne treten. In ihrem Widerwillen und ihrer Verachtung taucht ihr Wille auf, ihre Kraft und Würde, denn das Widerwillige ist keineswegs die Ausnahme, es ist die Regel und das nicht nur in diesem Film. Film ist hier in der Lage einen unsichtbaren Kampf gegen innere Kräfte sichtbar zu machen. Selbsthass, Trägheit oder Angst können (im Kino) zu Hindernissen werden, die weit über die billigen Drehbuchkniffe von teuren Drehbuchratgebern hinausreichen. Es ist die Zeit, die nicht nur in Opening Nights dieses Hindernis bedingt, Zeit als auf uns zukommender Druck, als Schwüle, der wir uns nicht entziehen können, Schwüle, die unsere Schönheit zerfließen lässt; es ist Film, der dieses Zerfließen in Schönheit verwandeln kann. Die zweite Szene stammt aus Anchorman: The Legend of Ron Burgundy von Adam McKay. Steve Carell als Brick Tamland ist an der Reihe mit dem Versuch, ein Date mit der neuen Nachrichtensprecherin Veronica Corningstone zu bekommen. Er will das gar nicht. In dieser herrlich komischen Szene offenbart sich die ganze Absurdität des Widerwillens, der eben nicht zuletzt darin besteht, dass man so viele Dinge tut, die keinen Sinn ergeben. Beim Sprechen seines fehlerhaft auswendig gelernten Anmachspruchs bewegt sich Carell schon leicht nach hinten, hier wird der Widerwille zur Flucht während man nach vorne geht, ein Vertigo-Effekt des menschlichen Verhaltens. Gibt es einen Schwindel im Widerwillen? Schwindel als Lüge, Schwindel als Krankheit. Es ist sicher eine Lüge dort, eine Lüge, die sich selbst belügt, aber noch viel mehr den Gegenüber, denn der kann – im Gegensatz zur Kamera – den Widerwillen oft nicht erkennen. Das ist es auch, was den Widerwillen so geeignet für das Kino macht. Es ist eine Chance für den Kinematographen etwas Unsichtbares zu entdecken, was sich nur durch die Kamera festhalten lässt; nur durch das Kino können wir den Widerwillen in einer fremden Person wirklich spüren und ihre Lüge zu unserer Wahrheit werden lassen. Mit dem anderen Schwindel verhält es wie in Vertigo von Alfred Hitchcock, denn das Vertrauen in Überzeugungen und Bilder löst sich mit der Zeit und in der Zeit und durch die Zeit auf. Dieses schwindende Vertrauen bricht den Willen, es ist als würde man den Partner beim Betrug erwischen, dann schwindet der Wille zur Liebe wie am Ende von La notte, bei dem der Widerwille allerdings schon vor dem Betrug kommt. Wenn Jimmy Stewart am Ende auf den Turm klettern muss, dann ist da ein Wille und das Wider liegt im Ungreifbaren, in der Erinnerung, im Psychologischen. Hitchcock verbindet den Widerwillen auch mit dem Glauben an das Übernatürliche, Übersinnliche. Ohne diesen Glauben herrscht oft ein Zweifel, der das Überwinden des Widerwillens nicht zulässt. Das Kino als Über-Sinn, also müssen wir ans Kino glauben, um unseren Widerwillen aufzuheben, aber das Kino ist tot, also glauben wir noch an die Präsenz seiner Geschichte? Ein Widerwille gegenüber der Gegenwärtigkeit der Gegenwart, eine Emotion des Museums so wie Vertigo.

Gena Rowlands Opening Night

Wir denken an den Widerwillen zur sozialen Interaktion in Cristi Puius Aurora, an die fehlende Bereitschaft zu einem normalen Leben in Filmen wie Casino von Martin Scorsese oder Zero Dark Thirty von Kathryn Bigelow, wir denken an die Selbstzerstörung von Erich von Stroheim, bei dem sich Widerwillen gegenüber des Anderen in jeder Geste manifestiert und der Kleidung immerzu abschätzend trägt und wie Jeanne Moreau genau darin seine Würde findet, die driftende, treibenden Gestalten des Kinos, die nicht genau wissen, wohin es sie führt, wie Mouchette, die konsequent nur im Selbstmord sein kann, wie die Erinnerung (oder mehr) einer Liebe in Solaris von Tarkowski, die wir hinter Türen sperren, gewaltvoll, im Kino ist Widerwillen immer viel gewaltvoller als im echten Leben, weil im Kino das Gefühl, der Impuls reagiert, wie in den Melodramen von Douglas Sirk, in denen ein riesiger Spalt zwischen dem was man will und dem was man rational tun muss, klafft.Und dann gibt es da Ingmar Bergman. Bei ihm spielt sich immerzu ein Melodram und die Vernichtung dieses Melodrams zur gleichen Zeit ab. Das Melodram, das sind seine Naheinstellungen und die Schreie in seinem Kino, diese Blicke in die Seele, plötzliche Panik, Ausbrüche des Gefühls, der Trauer. Und der Rest, das ist immerzu der Widerwille, jenes Element, das diese Gefühle nicht herauslassen will, das abgehärtete oder abgeklärte Versteckspiel der Emotionen, das sich vielleicht mit Existentialismus beschreiben oder zumindest damit erklären lässt. Der heftigste Ausbruch dieses Widerwillens sind das Schweigen, das Lachen und das Spielen der Figuren bei Bergman. Ihr Lachen versteckt oft ein Grauen, ihr Spielen vergisst es und transformiert es und macht es dadurch greifbar und ihr Schweigen ist genau jener Druck der Zeit, der uns verstummen lässt, ein Widerwille zu sprechen, ein Widerwille gegenüber sich selbst, es ist nicht nur Persona, dieses Echo einer Selbstverachtung, einer Angst und eines unterdrückten Melodrams, das selbst zum Melodram wird, findet sich von Kris bis Saraband. Der Unterschied scheint mir nur, dass Bergman manchmal den Willen hatte, diese Gefühle zu filmen und manchmal den Widerwillen zu filmen, selbst gefilmt hat. Letztere sind seine besseren Filme.

Erich von Stroheim

Dieser Konflikt dominiert das Kino und egal was einem schlaue Industrielehrende verkaufen wollen, das Kino ist dafür geboren, diesen inneren Konflikt darzustellen: Was man will und was man nicht kann, was man kann und nicht will. Darunter liegt die zitternde Schwäche einer Wahrheit, die zerfließt und die wir nur für flüchtige Momente der Einsamkeit erspüren können, in einem Schnitt bei Godard, den Augen Gary Coopers, dem Gang von Jeanne Moreau oder Robert Mitchum oder einer Kamerabewegung bei Josef von Sternberg.

Three Men of Wisconsin: Johnny Guitar von Nicholas Ray

Just als man vergessen hat, wie gut ein Film wirklich ist, drängt er sich mit den drehenden Rädern einer stetigen Erinnerung zurück oder besser von Neuem in das Bewusstsein. Ein solcher Film muss nicht davon leben, dass man ihn sofort nachdem man ihn gesehen hat, wieder sehen will (er könnte trotzdem), ein solcher Film ist wie ein Duft, den man nie vergisst und immer bei sich trägt, auch wenn man ihn gar nicht riechen kann, so ein Film muss prinzipiell gar nichts, er ist ein stetiger Rhythmus, indem sich alles dreht, immerzu alles dreht: Das Spielrad, das leere Whiskeyglas, Joan Crawford mit einem Revolver in unsere Richtung. Sie dreht sich so, dass man kurzerhand einen menschlichen Körper mit einer Elegie verwechseln könnte. Ein Film, der einem scheinbar den kalten Rücken zeigt und dann voll ins Herz trifft: Dieser Film ist Johnny Guitar. (play again)

Alles dreht sich in diesem Licht des vor Farben pulsierenden Ozeans von Nicholas Ray. Ein Chip zwischen den Fingern von Scott Brady als Dancin‘ Kid, ein auf dem Boden liegender Revolver, auf den geschossen wird oder Joan Crawford (again) als Vienna (was für ein Name!). Immer steht sie mit ihrer Schulter und ihrem Rücken gegen die Musik von Johnny (Sterling Hayden), der eines Tages mit einem Sturm in ihrer Bar eintrifft, unbewaffnet und mit jenen Sprüchen und jenen Gesten (man achte darauf wie er sich vor einer Schlägerei entkleidet) ausgestattet, die ein ganzes amerikanisches Genre im Bruchteil einer Sekunde zum Kern führen. Vienna hat alles richtig gemacht und genau daraus entsteht eine Bedrohung. Sie ist Besitzerin eine Saloons im staubigen Nirgendwo, aber genau durch dieses staubige Nirgendwo wird die Eisenbahn fahren. Und plötzlich wird ihr Besitz zur Bedrohung. Der nahende Reichtum wird ihr streitig gemacht von einer Horde gieriger Männer und einer Furie. Ihr Name ist Emma und sie ist eifersüchtig, weil Dancin‘ Kid auf Vienna steht und nicht auf sie. In Johnny Guitar existiert ein Verlangen, das nie einfach nur materiell oder einfach nur sexuell ist. Es ist immer beides zugleich, verwinkelt, verschränkt und ja, sich drehend. Wie wir bald erfahren werden nachdem der Film seine kompletten Konflikte in einem Gefühl von Echtzeit im Saloon offenlegt, kennen sich Johnny Guitar, der eigentlich Johnny Logan heißt und Vienna von früher. Zwischen ihnen gibt es ein Geheimnis, ein Verlangen, eine Geschichte, doch zugleich auch einen klar formulierten Auftrag. Vienna hat den guten Mann (he wasn’t good, he wasn’t bad) zum Schutz anreiten lassen, er ist „gun crazy“, ein verrückter, aber brillanter Schütze, einer der nicht so aussieht, als ob, so wie vieles im Film, denn immer wieder drehen sich die Vorzeichen im Film. Das gilt zum Beispiel für die Wahrnehmung von Männlichkeit und Weiblichkeit, die immer dort zum Vorschein kommen, wo man sie nicht erwartet hat (zum Beispiel in den angeschnittenen Schultern einer Over-Shoulder Einstellung). Johnny Guitar ist ein Film, in dem sich Menschen umdrehen, um nicht ihre Liebe verraten zu müssen, zugleich ein Film über die Verdrängung der Zufriedenheit, die in uns allen schlummert, um Liebe in Hass zu verwandeln. Ein Hass, der aus einer Sehnsucht entsteht, die nicht mehr erreichbar scheint.

Sterling Hayden Joan Crawford

Viel frischer ist diese Sehnsucht noch in der Bande um Dancin‘ Kid. Dort wird nach einem Ritt durch einen Wasserfall (so ist das bei Ray, das ist ein Establisher, Cowboys reiten, aber sie reiten eben nicht einfach so vor einem schönen Hintergrund, sie reiten durch einen Wasserfall und man darf bestaunen wie sie sich Regenmäntel über ihren Kopf halten und darauf warten, dass dieser Wasserfall eine Bedeutung bekommt) eine Flucht geplant. Einer der Vier ist Lungenkrank, man will nach Kalifornien. Die Frage ist nur wie man an das notwendige Gold kommt. Doch die eigentliche Sehnsucht von Dancin‘ Kid ist Vienna, die nicht genug bekommen kann vom Geräusch des „spinning wheel“, das wie das Kino selbst läuft und klingt und in sich Träume und Geschichten vereint. Darin liegen die Narben einer verloren geglaubten Beziehung zu Johnny. Doch dieser ist zurück (what took you so long?) und er will diese Leere zwischen damals und heute als bösen Traum vergessen. Johnny und Vienna küssen sich unter Tränen. Es ist der Flug eines Melodrams, der meist endet wie Ikarus.

Haben wir schon die Farben erwähnt? Gelbe Kutschenräder, rote Halstücher, roter Lippenstift, gelbe Hemden, ein grünes Kleid bei Mercedes McCambridge, ein grüner Türrahmen, es ist so als würde jeder Farbspritzer für eine Erschütterung des Kinos stehen bei Ray. Das ist fast in all seinen Farbfilmen der Fall, aber in dieser kargen Wüste der Hoffnungslosigkeit wirken die Farben tatsächlich wie der Traum nach der Freiheit des Kinos selbst. Sie sind dieses Begehren nach etwas anderem, das nicht zuletzt auch im Filmemacher schlug. Hollywood, so hörte man später, war nicht die Welt von Nicholas Ray. Aber es sind auch Farben, die nach Blut verlangen.

Dann ein Samstagmorgen in einer Bank. Vienna und Johnny heben Geld ab, es ist die trügerische Stille der Romantik danach und die Brutalität dieser Welt stellt sich schon bald von Neuem gegen diese Liebe als die Gang um Dancin‘ Kid ausgerechnet in diesem Moment die Bank überfällt. Ausgerechnet der junge Turkey (Ben Cooper) bewacht den scheinbar unbewaffneten Johnny vor dem Eingang. Er weiß um die Fähigkeiten des Mannes mit dem Revolver, er hat Angst. Doch nichts passiert, Dancin‘ Kid verschwindet mit dem Geld und in einer letzten verzweifelten Geste küsst er Vienna, die ihn hindern wollte und wieder einmal gefangen ist zwischen ihrer Stärke und Schwäche, zwischen dem was sie will und mit welchen Waffen sie es bekommen kann. Nun gibt es ein Problem. Die Horde um McIvers und Emma will Vienna und ihre frühere Liebe Dancin‘ Kid schon lange in einen Topf stecken. Für Emma ist das eine Chance zur Rache, für McIvers eine Chance den Saloon zu bekommen. Nun waren Vienna und Dancin‘ Kid gleichzeitig in der Bank. Im Gesicht von Johnny regt sich zugleich Eifersucht und Sorge.

Johnny Guitar4

Nun wird der Staub der Gewalt endgültig entfesselt, Trauerschleier fliegen durch den Dreck und Emma und Konsorten beginnen ihre Jagd auf Dancin‘ Kid und schließlich auch Vienna. In einem flüchtigen Moment schreit ein Mann in den Bergen. Wir hören sein Echo. Die Gewalt hallt jetzt über die Zeit hinweg, die zuvor noch von Gefühlen einer verlorenen und wiedergefundenen Liebe beschallt wurde. Wir hören nur noch Wut und einen Sturm. Im Dämmerlicht erwartet Vienna mit Lederhandschuhen ihr Schicksal. Explosionen sind zu hören, der Weg über den Pass wurde gesprengt, es ist das Donnern nahender Gewalt. Langsam bewegt sich die Kamera auf die Überzeugung von Vienna zu und lässt dadurch ihre Fragilität darunter aufblitzen. Diese Blitze und Donner müssen natürlich in einem Gewitter enden. Pferde trampeln auf der Kamera herum, während wir, wie in Zabriskie Point dem Rhythmus von Explosionen lauschen und die durch die Luft wirbelnde, rote Erde wie Sternschnuppen am Himmel bestaunen, die von einer unmenschlichen Kraft erzählen. Es ist die Kraft der Vernichtung, die von der ersten Sekunde über diesem Film hing. Für Johnny ist der Weg aus dieser Vernichtung eine andere Vernichtung, nur Vienna will etwas anderes, ihre Tränen sprechen von der Unmöglichkeit dieses Andere zu erreichen. Jetzt verschließen sich die aufgeplatzten Narben ihrer Liebe wieder wie von selbst. Kühl zahlt sie Johnny aus. Keine Spur mehr aus der vergangenen Nacht wäre da nicht diese Titelmelodie, dieses Motiv einer anderen Zeit und Sehnsucht. Und wären da nicht die Schultern von Vienna, die sich immerzu umdrehen wollen, es aber nicht tun.

Am Wasserfall (den wir schon kennen) fällt Dancin‘ Kid und seinen Begleitern auf, dass Turkey fehlt. Wir haben ihn bereits gesehen, sein Hals ist voller roter Farbe. Sie müssen weiter, es geht durch den Wasserfall hindurch hinein in ein Finale, das uns schon früher durch ein musikalisches Signal angedeutet wurde: Die Silbermine. Es ist auffällig, dass alle verfeindeten Gruppierungen untereinander Konflikte austragen. Es geht um jedes Individuum, jedes Überleben, jeder für sich und die Liebe und Geld gegen alle. Die Haltung von Emma, der rachedurstigen Furie, leicht gebückt als wäre sie Richard III., eine Rage, die zur Hysterie der Verfolgung passt. Der Film wurde von der Leine gelassen an einem bestimmten Punkt und all die Nostalgie und Melancholie schlägt um in blanke Panik. Die komplett in schwarz gekleidete Trauergesellschaft verwandelt sich spätestens mit Emmas Monolog des Hasses gegen Vienna in eine Jagdgesellschaft. Boys who play with guns have to be ready to die like men…

Als die nächtlichen Jäger an Viennas Saloon ankommen, vermischt sich das Blut ihres Lippenstifts mit dem Make-Up der Wunde von Turkey. Es ist nicht einfach nur Nacht geworden bei Nicholas Ray. Es ist eine emotionale Finsternis und eine Erwartung in der Dunkelheit. Und dann passiert es. Emma stürmt als erste den Saloon (vielleicht tut sie es gar nicht, aber in meinem Kopf muss sie es tun) und in einem weißen Kleid sitzt Vienna am Piano und spielt jene Melodie des Herzens, würdevoll und stolz ihr weiß gegen das schwarz von Emma. Welcher Wind weht durch diesen Augenblick! Und dann brechen aus Vienna alle Ungerechtigkeiten, die ihr in diesem Amerika widerfahren, einer Welt – nicht so fremd von unserer – in der Besitz und Nationalität komische Gemeinsamkeiten bekommen haben im Denken der Menschen. Doch Ray muss den Schock des Verrats inszenieren, er verrät seine Figur, um sie zu stürzen. Turkey fällt und macht sich bemerkbar. Er lügt, um seine Haut zu retten und verrät damit Vienna als mitschuldig am Bankraub. Ray zeichnet hier gnadenlos die Methoden einer Verfolgung, die in jener Zeit in den Vereinigten Staaten an der Tagesordnung waren. Es sind diese Szenen, in denen das pure Kino von Ray in den ideologischen Bewachern der repräsentativen Möglichkeiten des Kinos seine Befürworter findet. Dabei greifen diese Szenen weit über ihr politisches Gehalt hinaus, denn wenn man auf die Gesichter der Kläger blickt, dann spielen sich hier weit mehr Emotionen ab, als dass man diese alleine im Politischen greifen könnte. Alleine die Haltung von Turkey deutet auf eine religiöse Konnotation hin, seine Arme weit ausgestreckt, er wird gekreuzigt, trotz oder gerade wegen seiner Verleumdung. Die Unschuld selbst sitzt im Hintergrund in Weiß und erträgt das Geschehen, ängstlicher Schweiß steht im Gesicht von McIvers. Es ist eine allgemeine Orientierungslosigkeit, die sich letztlich nur in jener Sinnlichkeit entfalten kann, die Ray in jeder dieser Sekunden entfesselt. Was wir sehen, ist nicht eine politische Parabel sondern die pure Präsenz ihrer Bedeutung.

Johnny Guitar3

Es kommt zu einer Schießerei. Tom, der Vienna retten will, stirbt. Er sagt, dass alle ihn ansehen würden. Es wäre zum ersten Mal, dass er sich wichtig fühle. Jetzt ist er völlig da im Kino von Ray, weil er in ebendiesem verschwindet. So ist es bei diesem Filmemacher. Und weil es so ist, muss der Saloon auch brennen. Emma entflammt ihn. Die Furie, ihr Schatten in den Flammen, das Gewitter, die Explosion, die Musik ist auch entfacht, ein Rausch der emotionalen Gewalt. Es ist klar, dass sie sich dreht im Moment ihrer größten Bösartigkeit, als ein Lachen der Zerstörung über ihr Gesicht fällt. Alles dreht sich. Turkey wird gehängt. Erstaunlich die Verzögerung in der Reaktion von Vienna und auch bemerkenswert das Entsetzen auf den Gesichtern der Täter. In der Folge soll Emma auch gehängt werden. Emma besteht darauf. Aber niemand will es tun. Sie schreit, dass sie 100 Dollar bezahlen würde, wenn es jemand erledigen würde. Ihre Stimme bekommt ein Echo aus den abgekühlten Felswänden der Nacht. Es ist ein einsamer Schrei, ein verzweifelter Schrei und es ist die Täterin, die hier nach Hilfe schreit. Emma muss es selbst erledigen, aber Johnny (my Johnny) hat die Schnur durchtrennt. Gemeinsam reiten Johnny und Vienna durch die Nebelschwaden der Kinonacht. Sie verstecken sich. Why did you come back?-First chance I ever could have been a hero.

Jetzt zeigt Ray wie man einen Raum filmisch dynamisiert. Zuerst glauben wir, dass sich Vienna und Johnny in einem kleinen, engen Versteck befinden. Eine nahe Kameraposition, links und rechts ist geschlossen, keine Bildtiefe. Dann plötzlich ein Schnitt, ein Schwenk, wir befinden uns in einem ganzen unterirdischen System, Gänge verlaufen dort und dort hängt auch Wäsche. Vienna rennt zur Wäsche und von oben bricht plötzlich ein brennendes Stück in das Versteck. Viennas Kleid fängt Feuer und während am unteren Bildrand die Flammen tanzen, löscht Johnny die Flammen in einer Hysterie, die jetzt keine Sicherheit mehr zulässt. In ihr besteht die unter all der Gewalt treibende Eifersucht und während sich Vienna endlich in ihr Rot kleidet (ihr Rot, weil ihre Lippen danach lechzen seit sie zum ersten Mal auf der Leinwand erscheint), gesteht sie Johnny in ihrer typischen Art ihre Liebe. Ray trennt die beiden Protagonisten räumlich in diesem Dialog, aber als sie in das Bild kommt, gibt es diese Sekunde einer Sicherheit, die Johnny und die Liebe leben lässt. Am Ende der Nacht fliehen die zwei Liebenden durch die Müdigkeit des Tageslichts. Sie schwimmen (lächeln) und rennen durch den Wasserfall. Es ist erstaunlich wie schnell und explosiv Ray seinen Rhythmus variieren kann, ohne dabei die Seele seines Films zu verletzen. Das liegt unter anderem daran, dass die Seele von Johnny Guitar in der puren Bewegung liegt. Johnny und Vienna kommen an der Silbermine an. „All dressed up and looking mighty dangerous“, ein Dialogfetzen aus dem Film, der auch als Beschreibung desselben herhalten würde. Nochmal ein eifersüchtiges Abtasten zwischen Dancin‘ Kid und Johnny Logan, Logan ist der Name, wie auch der schluckende Tänzer feststellen muss. Es ist beachtlich, dass wir hier einen Westernhelden haben, der tatsächlich mehr mit Gene Kelly als mit John Wayne zu tun hat. Vielleicht kann er deshalb auch nicht der wirkliche Held sein, aber manches an ihm könnte. Er dreht sich, ein Kampf mit Johnny, sie umkreisen sich. Die unbeholfene Rauheit eines herzensguten Mannes gegen die elegante Angst eines undurchschaubaren Mannes. In der Zwischenzeit finden die Verfolger mit Hilfe des Pferdes von Turkey das Versteck. Sie schreien durch das Echo der Bergwand, sie würden nur reden wollen.

Schließlich entfesselt sich die Hässlichkeit eines morallosen Überlebenskampfes im durstigen Staub über den charakteristischen Hügeln des Genres. Emma entlädt ihre Frustration auf das Glas hinter Vienna. Sie darf noch nicht treffen, denn die Angst muss jederzeit greifbar sein hier. Emma wird treffen, sie wird getroffen, sie fällt. Wheter you go, wheter you stay, I love you. Am Ende sehen Johnny und Vienna so aus als würden sie am liebsten diese Welt verlassen: There was never a man like my Johnny, like the one they call Johnny Guitar.

Bei einem solchen Film stellt sich durchaus die Frage, ob man mehr den Mythos darum liebt als den Film selbst. Es ist Johnny Guitar, das bedeutet auch die Liebe von Jean-Luc Godard, João Bénard da Costa oder Jeanne Balibar. Lange Zeit hatte ich den Film nicht gesehen und war mit den Worten und der Musik dieser Vermittler und Künstler alleine geblieben, in ihrer euphorischen Zuneigung hat sich auch bei mir das Bewusstsein jenes Films weiterentwickelt. Jedoch konnte mich tatsächlich nichts auf die tatsächliche Begegnung mit jener Bewegung vorbereiten. Johnny Guitar ist ein Film über den man gerade deshalb ins Schwärmen gerät, weil man immer wieder von seiner Präsenz überrannt wird, eine Präsenz, die in einer Liebe aufgeht, für die es keine Worte gibt. Vielleicht ist es die Titelmelodie, die wie ein Echo die Bilder jagt und von jener Ebene erzählt, die nicht nur zwischen den Figuren stattfindet sondern schließlich auch zwischen dem Film und dem Zuseher und dadurch am ehesten jenem Gefühl Ausdruck verleihen kann, das so viel Schönheit in sich trägt. Ein Film, in dem sich alles dreht.

Landscape (for Manon) von Peter Hutton

In Peter Huttons Landscape (for Manon) führt die Natur ein romantisches Eigenleben. Hutton erschafft eine seelenvolle Engführung von Film, Landschaftsmalerei und Träumen. Wie üblich beim Filmemacher konzentriert er sich dabei ganz auf die Bilder, denn die Tonkulisse bleibt stumm. Dieser Verzicht auf Ton kommt einer druckvollen Zärtlichkeit bei Hutton gleich, da sich in der Suggestivkraft der Bilder so erst die Bedeutung des Tons erzählt. Da wir nicht hören, beginnen wir zum einen hinzusehen und zum anderen hinzuhören. Wie würde es eigentlich klingen? D.W. Griffith hat einmal gesagt: “What the modern movie lacks is beauty, the beauty of the moving wind in the trees.” Dieser Ansage folgend beobachtet Hutton, wie der Wind das Licht in den Blättern von Bäumen berührt. Landscape (for Manon) ist eine Abfolge von bewegten Landschaftsbildern. Wir sehen Bäume im Wind, Sonnenstrahlen, die über den Boden wandern und aufreißende Wolkendecken. Dabei können wir tatsächlich spüren wie Bilder unser Opium sind. Man hat das Gefühl einer höheren Kraft, sei sie im Leben der Natur oder in einer religiösen Interpretation. Die Natur bewegt sich von selbst und mit ihr der Film. Woher kommen diese Bewegungen? Wie die Found Footage Wolkenstraße in Olivier Assayas‘ Clouds of Sils Maria geht eine große Faszination davon aus, wenn sich die Natur von selbst bewegt. Das ist natürlich eine Faszination, die man oft leider bereits als Kind ablegt, aber gebannt auf Film können wir uns ihrer Schönheiten wieder bewusst werden. Es ist sogar mehr, weil gebannt auf Film und kombiniert mit den richtigen Perspektiven, Schnitten und Tönen (oder deren Auslassen) entsteht eine neue Wahrnehmung von natürlich existierenden Phänomenen. Diese Wahrheiten erscheinen uns im Kino (im Gegensatz zur Physik, Chemie oder Geographie etc) wie Illusionen, weil wir mit Film ihr Entstehen nicht filmen können sondern nur ihre Bewegung, ihr Ergebnis. Warum sich diese Wolken bilden, warum der Wind die Blätter bewegt, warum das Licht den Schatten verdrängt bleibt für Film ein ewiges Geheimnis. Eine unsichtbare Kraft darf im Kino noch arbeiten und man sollte sich dort nicht die wissenschaftlichen Fragen nach den Gründen für diese Phänomene stellen sondern die poetischen Fragen an ihre Wirkung, ihre Ähnlichkeiten, ihre Schönheit. Wenn wir die Natur in Bewegung sehen, in gespeicherter Bewegung, dann erahnen wir auch ihre Sterblichkeit, weil jedes Bild von Hutton in diesem Film von einer Flüchtigkeit beseelt ist. Was wir sehen, kommt vielleicht so nie wieder oder nur äußerst selten vor. Es sind diese Sekunden in der Ewigkeit. Film macht sie unsterblich, aber was ist mit dem Mann der verrückt wurde, als er feststellte, dass die Vögel, für die er sich auf Fotografien so sehr begeisterte, schon lange tot sein mussten? Das Ende ist immer schon da und gewissermaßen erinnert die Montage dieser Bilder auch an das Ende von Michelangelo Antonionis L’eclisse. Das Licht könnte gehen, eine Bedrohung in dieser unschuldigen Idylle, eine Romantik im Nichts.

Dennoch ist alles ein Traum. Oder? Zwischen den atemberaubenden Naturbildern in Landscape (for Manon) gibt es schwarze Bilder, man könnte von ausgedehnten Blenden sprechen, ein Augenschließen, ein Schlafen ein langes Zwinkern und verdauen der Bilder. Am Ende dann eine lange Doppelbelichtung. Der Kopf eines schlafendes Kindes (die Tochter von Hutton) und dahinter ein Spiel aus Schatten und Licht. Als würde dieses Spiel im Kopf des jungen Mädchens stattfinden. Aber die schwarzen Bilder könnten auch für den Schlaf stehen und die Bilder der Landschaft selbst für das zwischenzeitliche Erwachen. Dann wäre der Traum das Gegenteil vom Bild, aber gleich dem Schnitt. Dieser Gedanke ist dem Kino gar nicht so fern, denn der Schnitt hebt erst die Bilder auf andere Ebenen, ist in der Lage ganz beiläufig und fließend die Kausalität zu entfernen. Zwei Bilder lassen uns träumen, eines lässt uns sehen. Aber ein Film ist immer zugleich sehen und träumen. Vielleicht ist der ideale Zuseher für Hutton ein träumendes Kind im Schatten und Licht der Welt, vielleicht muss man ins Kino gehen als würde man an einem warmen Sommertag am Waldrand einschlafen, um zwischendurch aufzuwachen und die Bäume im Wind zu sehen. Erschrocken von ihrer Schönheit. Auch Leos Carax arbeitet mit diesen Schwarzblenden als Blinzeln (zum Beispiel in Mauvais Sang). Auch er macht Filme über das Kino.

Landscape Peter Hutton

Inspiriert scheint der Film offensichtlich von der Landschaftsmalerei. Die 22 Einstellungen entstanden alle in Hudson Valley, jener Wirkungs- und Lebensstätte des großen Thomas Cole, der mit seinen Landschaftsbildern einen Stil prägte. Totalen stehen im Kino oft für eine gewisse Neutralität. Sie werden entweder als Establishing Shots verwendet, um eine räumliche Orientierung zu bieten oder eben als zurückhaltende Distanz (wie beispielsweise bei Sergei Loznitsa) oder als Verunsicherung gegenüber den tatsächlichen Ereignissen (zum Beispiel in Antonionis Blow-Up oder Alain Giraudies L’inconnu du lac). Bei Hutton jedoch ist die Totale selbst von einer surrealen Romantik gefüllt, denn nur durch diese Perspektive können wir die Schönheit und Geisterhaftigkeit einer Bewegung in ihrer vollen Blüte erkennen. In dieser Hinsicht steht Hutton wirklich in der Tradition der Hudson River School um Thomas Cole. Nur er arbeitet mit Filmen, Träumen und der Vergänglichkeit seines Mediums, seiner Welt und seiner Fantasie.

Visionary Nostalgia: Der Stand der Dinge von Wim Wenders

Rückblickend betrachtet, wirkt Wim Wenders Der Stand der Dinge wie eine visionäre Verzweiflung. Der Film entstand noch in den letzten Atemzügen einer deutschen Filmblüte, die schneller verwelkt ist, als sie wiederbelebt werden kann und berichtet von einer medialen Transition, die sich inzwischen mit einer Wucht entfaltet, die jeden überfordern muss. Aber gedreht ist der Film noch im Stil und mit dem Gestus eines großen Kinos, eines Kinos, in dem Kunst nach Größe streben durfte. In diesem Sinn praktiziert Wenders hier eine gegenläufige Bewegung. Da ist auf der einen Seite die Schönheit des Kinos, die Erhabenheit und Spiritualität von Bild und Ton in Verbundenheit mit einem handwerklichen und theoretischen Verständnis der Materie, einer offenen Umarmung der Kunst und all ihrer berauschenden Möglichkeiten. Auf der anderen Seite lauert die Unmöglichkeit dieser Herangehensweise, das Unverständnis der Welt, die Hoffnungslosigkeit und kleine Geldcomputer, die Film in Daten verwandeln. Wenders inszeniert die zweite Welt mit dem Gefühl der ersten und hat damit – so traurig das ist – einen Film über unsere Gegenwart (die gleichzeitig die Vergangenheit und Zukunft ist) gedreht, den man heute so nicht mehr drehen dürfte. Der Stand der Dinge gewann 1982 den Goldenen Löwen und 1982 starb auch Rainer Werner Fassbinder, der zuvor mit dem wundervollen Die Sehnsucht der Veronika Voss den Goldenen Bären in Berlin gewann. Werner Herzog sicherte sich mit seinem unfassbaren Fitzcarraldo den Preis für die Beste Regie in Cannes. Es wäre etwas zu forciert dieses Jahr als einen Wendepunkt zu nehmen, denn schließlich geschahen in der Folge noch wunderbare Dinge in den 1980er Jahren von Syberberg bis wieder zurück zu Wenders, aber es war sicher ein Hochpunkt der späten Phase eine deutschen Kinos, das Sinn machte.

“Life is in colour, but black and white is more realistic.”

Der Stand der Dinge Wenders

In den traumähnlichen Zartheiten, die sich zwischen dem Licht und dem Schatten der famosen 35 Millimeter schwarz-weiß Bilder bei Wenders entblößen, geht es um das Sterben einer Welt, die eine Illusion ist: Film. Damit wird im Film erst mal ganz nüchtern die mediale Ausprägung des Begriffs beschrieben, denn eine internationale Filmcrew mit allerhand Prominenz vom zigarrerauchenden Kameramann Sam Fuller bis zu Isabelle Weingarten, dreht in Portugal einen SciFi Film und kämpft sich in der Nähe von Lissabon über Sandhügel als ihnen das Filmmaterial ausgeht. Verlassen von ihrem Produzenten warten Cast und Crew nun in einem leeren Hotel am rauschenden Meer auf eine Rettung. Alles ist in einen somnambulen, fast alkoholischen Rausch gekleidet, der gleichermaßen das Kino von Jean-Luc Godard, als auch jenes von Michelangelo Antonioni oder John Ford zitiert und dabei trotzdem ein eigenes Gefühl im Nirgendwo eines verlorenen Filmdrehs benennt. Spätestens im zweiten Abschnitt des Films, der in Los Angeles spielt, wird der Tod des Films dann auch noch durch das Geld und die Produktionsbedingungen benannt. Das Ende Hollywoods, des Ende eines Glaubens an Kunst. Der SciFi Film hinter dem SciFi Film ist eine realistische Dystopie als Produzenten den Geldhahn zudrehen, weil sie nichts mit Schwarz-Weiß anfangen können. In einer weiteren Sequenz in einem nebeligen Versteck wird ein Computer eingeführt, der alle Finanzen und Daten des Films berechnet und damit jede Form von Menschlichkeit aus dem Herstellungsprozess entfernt. Alles wird zu einer Statistik, zu Zahlen statt einem organischen Vorgang. Die filmischen Bilder beginnen sich aus groben Pixeln zusammenzusetzen, alles ist planbar, alles ist kalkuliert. Die Energie von New Hollywood, in dessen Neurosen Der Stand der Dinge schwimmt, ist besiegelt. Wenders agiert als verbitterter und doch träumender Zyniker, der mit autobiografischen Verweisen eine Sackgasse beschreibt, die unabwendbar für eine Filmwelt war, die es heute in den schlimmsten Ausprägungen der vom Film gezeigten Gegenwart gibt. Der Stand der Dinge stellt die Frage, ob es keinen Film mehr gibt, wenn es keine Story mehr gibt oder keinen Film mehr gibt, wenn es keinen Film mehr gibt. Mit seinen alltäglichen, entleerten Beobachtungen des Nichts einer wartenden Filmcrew beantwortet er beide Fragen zugleich und zeigt gleichermaßen, dass es nicht die Story ist, die den Film belebt, aber dass das Sterben von Film schon eine Story ist. In den scheinbar improvisierten Begegnungen einer Einsamkeit in und um das Hotel lernen wir eine Filmcrew kennen, die nichts mit dem dramaturgischen Esprit eines Truffauts zu tun haben. Vielmehr interessiert sich Wenders für eine existentialistische Verzweiflung, die er sowohl bezüglich eines Lebens mit Film als auch bezüglich eines Lebens zwischen Familie und Film offenbart. Das Begehren von Bildern und jenes der Sexualität fließt hier ineinander, wird aber auch getrennt (auch anders als bei Truffaut und auch Fellini). Beide beschreiben eine Sehnsucht, die sich nur in kurzen Augenblicken ihrer Vergänglichkeit erwehren kann.

Der Stand der Dinge Wenders

Wenders schiebt wie oft ein Gefühl von Nostalgie über und gegen die akute Realität und die beiden Dinge stehen sich fatal auf den Füßen. Da wäre zum Beispiel die Analogie des Schießens mit der Kamera und mit einer Waffe, die an mehreren Stellen im Film benannt wird, sei es durch Blicke durch ein Objektiv, die an ein Zielfernrohr erinnern, betrunkene Kommentare von Sam Fuller in einer Bar oder das pessimistisch-romantische Ende. Man schießt immer weiter und stirbt einen Heldentot? Der Schuss mit der Kamera steht für die Nostalgie, den Glauben an Film, der Schuss mit der Waffe ist der harte Schlag einer nüchternen Realität. Aber das Sterben von Film hängt auch mit der Beziehung von Kino und Tod zusammen. Die Narration wird dabei weder abgelehnt noch begrüßt, ihre Definition wird allerdings zwischen zwei Welten gestellt, die man nur sehr vereinfacht als ein gegensätzliches europäisches und amerikanisches Denken interpretieren kann. Dieser Film ist wie die Begegnung eines idealistischen Regisseurs mit einem zynischen Produzenten, aber Wenders inszeniert einen Glauben an das Kino über die Bilder. Die Kamera scheint oft autonom zu agieren. Ihre elegischen Fahrten, ihr gottgleicher Blick bewirken eine poetische Distanz, die etwas unter und über den Bildern erzählt. Diese Schönheit der Bilder wirkt wie ein hauchender Protest gegen das Ende des Kinos. Es ist ein Stil, der auf sich selbst aufmerksam macht, der sicherlich gewollt kunstvoll ist und sich selbst wichtig nimmt. Aber (und darüber habe ich ja bereits geschrieben) darin liegt eine Qualität und kein Missstand. Der egozentrische Blick des Neuen Deutschen Kinos war eine seiner unheimlichen Stärken. Diese Bilder, die Wenders selbst profund nennt, werden von den improvisierten Bildern unterstützt. Auf der anderen Seite gibt es aber auch jene notwendigen Bilder, die eben mit der Story zusammenhängen. Alle drei zusammen ergeben einen zugleich narrativen als auch poetischen Film, der Künstlichkeit und Lebendigkeit in jeder Sekunde wahrhaftig erscheinen lässt.

Die Realität ist vom Leben bestimmt, die Fiktion vom Sterben. In diesem Sinn spielen Tod und Vergänglichkeit auch eine überdominante Rolle im Film.

Hollywood, Hollywood, never been a place where people had it so good … What do you do with your days, my friend? What do you do with your nights my friend? in Hollywood, in Hollywood. Never been a place where people had it so good. What do you do with your wife my friend? What do you do with your life my friend, in Hollywood? What do they do with your head? When did you learn you were dead, my friend? In Hollywood, in Hollywood.

I made 10 movies … ten times, Same story I was doing. In the beginning it was easy because I just went from shot to shot. But now in the morning I’m scared. Now I know how to tell stories. Unrelentlessly. As the story comes in, life sneaks out. Life sneaks out … Everything gets pressured into images. Mechanism. Birth, as all stories can end, all stories are about death.

Zunächst liegt der Verdacht nahe, dass Wenders am Ende den Prinzipien des Geschichtenerzählens treu wird und damit einen ganz ähnlichen Ausgang wählt wie Spike Jonze in seinem Adaptation. Dies gilt aber nicht für seine Form und da liegt ein großer und reifer Unterschied, denn der Mechanismus eines Kinosystems wird von Wenders subversiv unterwandert mit einer in die Zukunft gerichteten Nostalgie, die einem Klageruf gleichkommt, der so auch in Filmen von Hou Hsiao-hsien oder Carlos Reygadas zu hören ist, aber den viele in ignoranter Manier nicht hören wollen, weil auf ihm die Schwere eines Bedauerns liegt, welches natürlich immer eine Frage des Blickpunkts ist. Und dieser Blickpunkt ist vielleicht das einzige was überlebt in Der Stand der Dinge, der Blick vom Wim Wenders.

Cinemañana: How to disappear completely

Clips/Idee: Ioana Florescu
Text: Patrick Holzapfel

Modern Times

Ioana Florescu hat sich wieder auf die Suche gemacht. Diesmal hat sie Menschen gefunden, die uns am Ende von Filmen den Rücken zukehren und gehen. Wir werden sie nicht mehr wieder sehen,

That there, that’s not me, I go where I please,I walk through walls,I float down the Liffey

Gycklarnas afton von Ingmar Bergman

Un condamné à mort s’est échappé von Robert Bresson

In solchen Momenten zerfließen die Filme vor unseren Augen: Film is The Art of Absence. Was davor, danach, daneben, dahinter, darüber, darunter, dazwischen passiert ist entscheidend. Ein solches Ende macht uns klar, dass wir Filme nicht einfach betreten und schon gar nicht besitzen können. Wir können sie nur betrachten so lange sie uns lassen. Aber der Raum und die Zeit im Off werden nur in uns existieren und in den Figuren, nicht aber auf der Leinwand, dieser riesigen Lupe, dieser wahren Lüge; fängt Blicke wie andere Schmetterlinge,

Ich werde aufstehen und in die Leinwand springen, um den Figuren zu folgen. Ich will an der Leinwand kleben wie eine tote Spinne und langsam darin versinken. Vielleicht kann ich den Figuren dann folgen? Ich renne Chaplin hinterher. Ich verfolge ihn durch die Nacht. Hoffentlich kann ich ihn nie berühren,

Es muss ein Leben hinter den Bildern geben,

I’m not here,This isn’t happening,I’m not here, I’m not here

Le Bonheur von Agnès Varda

La grande illusion von Jean Renoir

Ungreifbar und unbegreiflich schweben schwarze Silhouetten ins Nichts. Narren glauben, dass diese Bilder von einer ungewissen Zukunft sprechen, obwohl sie eindeutig in der Gegenwart verankert sind. Danach ist nichts mehr. Es wird irgendwann schwarz werden. Die Zukunft ist eine Illusion im Kino. Diese Geister sterben am Ende ihrer Filme. Die Filme auch. Aber sie werden wiedergeboren. Wer sich in seinem Sitz bewegt und glaubt, dass dies nun das Ende des Films sei, weil Filme nun mal so enden, verpasst den letzten Blick des Kinos. Unfähig sich zu rühren, unfähig weiter zu folgen,

Hat die Kamera ihre Lust verloren? Sind diese Bilder ihr letzter Lebenshauch, vielleicht ein letztes trauriges Blinzeln, die letzte Erinnerung an eine Welt?

Orphée von Jean Cocteau

Das Kino braucht keinen Vorhang, denn es gibt den Off-Screen und die Tiefe des Bildes. Und es gibt noch mehr,

Sie kehren mir den Rücken zu. Ich sehe ihre zuckenden Schulterblätter, ich sehe Punkte in der leidenschaftlichen Landschaft. Ihre Füße sind echt. Jeder Schritt hinterlässt eine Spur in meiner Pupille, eine glühende Narbe unter meinen Lidern,

Wer genau hinhört, kann den letzten Atemzug der Filme vernehmen. Es ist ein langes Seufzen, das wie ein verlorener Wind über die Ewigkeit der Vergangenheit treibt, ein feuchter Film, der sich auf den Augen bildet und unmerklich über die Wangen brennt wie ein sanfter Reifen auf Asphalt. Ein Film setzt niemals einen Punkt sondern immer Kommas,

In a little while, I’ll be gone, The moment’s already passed, Yeah, it’s gone

Professione:reporter von Michelangelo Antonioni

In Another Country von Hong Sang-soo

Film ist gemacht für den Übergang von Tag auf Nacht und Nacht auf Tag. Immerzu sehen wir in den Filmen die Geburt und den Tod des Lichts. Ein Zustand in dem noch alles möglich ist. Diese gehenden Gestalten am Ende des Films sind der endgültige Übergang als Geister aus der Maschine. Sie könnten auch fliegen. Ihre Langsamkeit sagt mir, dass ich sterben werde. Mit ihnen oder ohne sie, langsam oder plötzlich. Es ist der Horizont, indem sie verschwinden bevor er selbst verschwindet. Vielleicht klammert sich der Blick an die Dauer der Entfernung, vielleicht hetzt er ihnen nach, aber auch der Blick wird sterben.

Irgendwann kann man nichts mehr sehen.

Wie der Expressionist ein Romantiker ist, die Angst der Natur nicht länger ertragen kann, so ist die verschwindende Filmfigur eine romantische Angst, die ihren Rahmen nicht mehr ertragen kann. Aber diese Figuren verlassen den Rahmen nicht. Sie verschwinden in ihm. Ich verstehe nicht wohin sie gehen. Das liegt daran, dass sie nicht im Raum verschwinden sondern in der Zeit.

Being There von Hal Ashby

Of Freaks and Men von Alexei Balabanov

What Time is it There? von Tsai Ming-liang

I’m not here, This isn’t happening,I’m not here, I’m not here

Eine wunderschöne Mücke saugt mir das Blut in Zeitlupe aus. Ich sehe ihr zu und spüre den langen Schauer meines platzenden Blutes, das in den Körper der Mücke fließt und weiß, dass dieser Moment in meinem Gedächtnis bleiben wird, wie das letzte Echo eines Hilfeschreis in den Bergen, wie der Geschmack eines letzten Kusses auf den Lippen verweilt. Die Erinnerung an diese Bilder ist jene des empfundenen Schmerzes bei ihrer Betrachtung.

Strobe lights and blown speakers

Rocco e i suoi fratelli von Luchino Visconti

Fireworks and hurricanes

Modern Times von Charlie Chaplin

Bilder des Bedauerns. Ich hätte besser sehen können. Ich bedauere nicht, dass sie gehen. Ich bedauere, dass ich sie nie gesehen habe, nicht so geküsst wie ich sie küssen wollten, nicht so gekannt wie ich wollte. Warum drehen sie sich nicht noch einmal um? Ich wollte nie mehr blinzeln. E.E. Cummings,

or if your wish be to close me, i and
my life will shut very beautifully,suddenly,
as when the heart of this flower imagines
the snow carefully everywhere descending;

Out of the Past von Jacques Tourneur

I vitelloni von Federico Fellini

Warum tanze ich auf dem Gedächtnis von Geistern? Im Sonnenuntergang, jemand spielt ganz zufrieden eine Violine, Boccherini, ich sitze auf einer Veranda, es ist warm genug und ich kann einmal den Zweifel vergessen, die Angst, weil ich begreife, dass ich keine Bedeutung habe.

Ich werde irgendwann aufstehen. Die Lichter gehen an. Sie sollten nicht. Ich werde eine Jacke tragen und den anderen Zeitmenschen aus dem Kino folgen. Ich werde der Leinwand den Rücken kehren, sie kann meine zuckenden Schultern sehen, meine echten Füße, die den Boden noch nicht berühren können. Man kann mich noch eine ganze Weile sehen. Dann werde ich zu einem Punkt in einer Landschaft. Nur mein Blick ist geblieben. Bis auch er stirbt.

I’m not here, This isn’t happening, I’m not here, I’m not here

Ladri di biciclette von Vittorio De Sica

The Searchers von John Ford

We’re gonna live forever,