Über Werden und Geworden-sein im Coming-of-Age-Film

Coming-of-Age-Filme, denen die Berlinale ihre diesjährige Retrospektive gewidmet hat, sind Filme über das Werden. Sie werfen ihren Blick auf den bedeutsamen wie flüchtigen Übergangszustand des Heranwachsens, für den das Auge der Kamera wie gemacht zu sein scheint. Doch nur die wenigsten dieser Filme setzen sich der Fragilität und Ambivalenz der Alterungsprozesse in dieser Zeitspanne wirklich aus. In den meisten Fällen wird das Werden vielmehr aus der allzu sicheren Distanz eines Geworden-seins betrachtet. So wie nahezu jeder Coming-of-Age-Film durchweg von Erwachsenen geschrieben, gedreht und geschnitten wurde, so spielt der Prozess des Heranwachsens in der Regel erst dann eine Rolle, wenn die Schwelle des Erwachsenseins überschritten ist. Der Veränderung wird ihre Bedeutung erst retrospektiv verliehen, wenn sie sich in der Erzählung der gelernten Lektion, des gereiften Lebens weiß. Es verwundert nicht, dass sich das Genre im Wesentlichen in den USA ausdifferenzierte, wo jeder Drehbuchratgeber vom Mythos der linearen Charakterentwicklung fabuliert. Der auf den ersten Blick in der Berlinale-Retrospektive deplatziert wirkende Groundhog Day steht in diesem Sinne emblematisch für die konventionelle Logik des Genres ein. Das Werden selbst, das Fortlaufen des Tages, stellt sich für Phil Connors (Bill Murray) als Albtraum einer endlosen Dauerschleife dar. Jeder Morgen bietet einen schier unendlichen Spielraum möglicher Entwicklungen, die doch alle ins selbe Nichts münden. Eine Erlösung bietet sich dem zum ewigen Werden Verdammten erst, als er einen bleibenden Sinn für sein Leben findet. Erst nach seiner Transformation vom nihilistischen Zyniker zum geläuterten Liebenden darf er wieder am gewöhnlichen Leben der Gesellschaft teilnehmen. Die zunächst noch unbestimmte Verlaufsform „coming“ wird auf das zu erreichende „age“ hin begradigt.

Unter den zu erreichenden Meilensteinen des Coming-of-Age gehört das Überschreiten der Schwelle zur Sexualität zu den wichtigsten. Kaum ein Moment der Lebensgeschichte wird ähnlich stark mystifiziert wie das „Erste Mal“. Schon der Name verkürzt einen oft mehrjährigen und widersprüchlichen Entwicklungsprozess auf einen einzigen Moment, mit dem ein ganzer Lebensabschnitt enden und ein neuer beginnen soll. Die Figuren in The Last Picture Show von Peter Bogdanovich kreisen um diesen Augenblick, der ihre Bewegungen lenkt wie ein Gravitationsfeld. Dabei ist der eigentliche Vorgang weniger von Bedeutung als die Ausrichtung auf ihn, seine Antizipation in den Fantasien der Adoleszenz auf der einen, wie sein Nachhallen in der Erinnerung der Eltern auf der anderen Seite. Als das große Ereignis für Duane (Jeff Bridges) und Jacy (Cybill Shepherd) endlich bevorsteht, erweist es sich als Traumgebilde. Sie finden an einem abgelegenen Motel zusammen, weit entfernt von der Enge ihrer Kleinstadt. Die Kamera wartet mit ihm vor der Tür auf ihre Erlaubnis, die Schwelle übertreten zu dürfen. Zweimal enthüllt sich der Blick auf sie aus seinem Point-of-View – erst mit dem Öffnen der Tür, dann beim Aufknöpfen ihres Nachthemdes. Beide Male wird ein das Bild verdeckender Vordergrund wie ein Vorhang beiseitegeschoben. Der dahinter verborgene Körper erscheint sowohl wie ein verbotener Anblick, wie auch als zur Schau gestelltes Objekt der Begierde. Auch sie versucht eher der Realität zu entfliehen in diesem Moment, der ihr eigentlich eine neue Wirklichkeit offenbaren sollte. Eins, zwei, drei Mal schließt sie die Augen, jedes Mal ein wenig stärker, als würde der große Moment dadurch schneller in Erfüllung gehen. Doch es passiert nichts. „I don’t know what happened“, stammelt er wieder und wieder, während sie bereits um Schadensbegrenzung der gescheiterten Initiation bemüht ist: „Don’t go out there! We haven’t had time to do it. They’d know! I don’t want one soul to know. You’d better not tell one soul! Just pretend it was wonderful!“ Beim Weg nach draußen wird sie tatsächlich von zwei Klassenkameradinnen erwartet, die alles über den geheimen Vorgang wissen wollen, der nicht stattgefunden hat. Jacy rettet sich aus der Situation, indem sie behauptet, ihre Erfahrung nicht in Worte fassen zu können. Sie vertieft damit den Eindruck einer absoluten Grenze zwischen sich und den anderen, obwohl sie durch ein Nichts voneinander getrennt sind.

Die Bewegung des Coming-of-Age besteht in diesem ständigen Aufstellen und Überschreiten von Grenzen, die nie einfach gegeben und immer brüchig sind. The Last Picture Show erzählt davon, wie konstruiert jede Vorstellung einer absoluten Grenze ist, die allein über innerhalb oder außerhalb der Sexualität entscheiden soll. Der Film entfaltet ein ganzes Panorama wirklicher und imaginärer Grenzverletzungen, die mal diesseits, mal jenseits des „Ersten Mals“ liegen, aber in ihren Auswirkungen nur selten vorhersehbar sind. Jacys und Duanes Erfahrungswelten finden beim zweiten, erfolgreichen „Ersten Mal“ nicht etwa zusammen, sondern brechen endgültig entzwei: Er sieht sich bloß in der eigenen Potenz bestätigt, für sie scheint der Geschlechtsakt nur noch der Form halber vollzogen worden sein. Ein eigenes Bild bekommt Sex für sie erst im One-Night-Stand mit einem älteren Mann, durch das sie schlagartig in die Desillusionierung geworfen wird, die ihre Mutter schon lange auf sie projiziert hatte. Alles ändert sich, doch kann die Veränderung nie im Vollzug erfasst werden. Zu Bewusstsein kommen sie und ihre Bedeutungen erst im Nachhinein, mit der Schwere einer überwältigenden Melancholie über all die verpassten Möglichkeiten des Lebens. Immer schiebt sich ein resignatives Zu-spät oder ein verfrühtes Noch-nicht vor den Blick auf das Werden selbst.

Umso bemerkenswerter ist ein Film wie À nos amours von Maurice Pialat, der sich der Offenheit und Unbestimmtheit des Werdens völlig ausliefert. Auch das Leben von Suzanne (Sandrine Bonnaire) dreht sich um Sexualität, doch lässt sich ihr Handeln unmöglich in eine Entwicklungslogik zwängen. Ihre sexuelle Erweckung liegt bereits in unbestimmter Vergangenheit, von Beginn an navigiert sie sich durch ein verworrenes Beziehungsgeflecht mehrerer Liebhaber. In ihren Interaktionen mit den verschiedenen Männern können Momente der Unabhängigkeit kaum von solchen toxischer Manipulation unterschieden werden. Im Umgang mit dem eigenen Körper schwankt sie zwischen Selbstbestimmtheit und kindlicher Naivität. Unmöglich zu entscheiden, wann sie sich noch diesseits, wo schon jenseits des gesellschaftlich Erlaubten bewegt. Ein klares Bild ihrer Identität versuchen höchstens die Anderen von ihr zu gewinnen. Die Mutter, die sie als Sünderin verteufelt – der Bruder, der ihr seine Autorität aufzwingen will – die Liebhaber, die sie idealisieren – und all die anderen Männer, die sie permanent umzingeln wie ein Insektenschwarm. Jeder dieser Projektionen übt Gewalt auf sie aus und scheitert doch an der sturen Unbestimmbarkeit von Suzannes eigenem Verhalten. Die Reaktionen ihres Umfelds verkehren sich ständig in ihr Gegenteil, Gesten der Zuneigung schlagen blitzartig um in exzessive Gewalt. Auch Pialat selbst scheint unfähig – oder unwillig – eine Haltung zu dem Geschehen zu entwickeln, die richtig von falsch, gut von schlecht zu trennen wüsste. Das gilt sowohl für seine Funktionen als Regisseur und Ko-Autor des Films als auch für seine Rolle innerhalb der Handlung als Vater Suzannes. Als einziges Familienmitglied ist er in der Lage zu einem vertrauten Zwiegespräch mit ihr, doch führen diese nicht zu Einsicht oder Umlenken. Von ihm geht der erste und letzte Akt häuslicher Gewalt aus. Überhaupt ist der familiäre Raum immer anfällig für plötzliche Eskalationen. Türen stehen offen, Arbeitsfläche und Privaträume gehen nahtlos ineinander über, Menschen gehen beliebig ein und aus. Am Ende kann der Vater nach monatelanger Abwesenheit problemlos mit dem alten Schlüssel durch die Eingangstür hereinspazieren, weil sich niemand die Mühe gemacht hat, eine neue Grenze zu ziehen. Die permanenten Kollisionen sind hier kaum mehr als eine unausweichliche Konsequenz eines Zusammenlebens, in dem es keinen sicheren Rückzugsort gibt, wo die einzige Möglichkeit zur Abgrenzung in der Konfrontation liegt.

Dieses radikale Werden, in dem jeder Zustand prekär bleibt, jede Entwicklung ins Ungewisse führt und kein Ziel in Aussicht gestellt werden kann, macht À nos amours zu einer oft unerträglich schmerzhaften Erfahrung. Suzannes unermüdliches Aufbegehren gegen ihre Umgebung wird begleitet von einer tiefen Depression, die sie fast taub macht für das eigene Erleben. Der Film behauptet bis zum Schluss – und ohne die Illusion seiner Idealisierung – den Zustand permanenter Grenzüberschreitung, von dem alle Coming-of-Age-Filme handeln, obwohl die meisten von ihnen vor allem an seiner Überwindung interessiert sind. Denn am Ende liegt der größte Grenzübertritt des Genres im Erwachsenwerden selbst, mit dem der transgressive Akt selbst hinter sich gelassen werden soll.

Altern und Spielberg widersprechen

It is only that youth is still able to believe
It will get away with anything, while age
Knows only too well that it has got away with nothing

(aus The Sea and the Mirror von W.H. Auden)

Ich möchte Steven Spielberg widersprechen. Das heißt, ich möchte ihm begegnen, entgegnen. Ich möchte etwas zu seinen mich nachhaltig störenden Filmen sagen, was nicht gesagt wurde oder etwas verneinen, widerlegen, anzweifeln, auflösen. Ich kann und möchte nicht, seine Bedeutung für das Kino hinterfragen. Ebensowenig soll sich das hier wie eine Kritik an seinem Schaffen lesen, dafür fehlen mir die Instrumente und die Laune. Vielmehr möchte ich über ihn verstehen, was mich am Kino stört. Sein neuer Film The Fabelmans bietet sich als perfektes Beispiel für diese Unternehmung an, schließlich liefert er eine selbstmythologisierende, irgendwie alles zusammenfassende Genese seiner durch die Filme schimmernden Persona, seiner überlappenden Vision eines Kinos und der durch das Kino verformten Welt. Wann immer hier also von The Fabelmans geschrieben wird, ist eigentlich und unbedingt das Werk Spielbergs an sich gemeint.

Ich kann mich noch genau erinnern, ich muss fünf Jahre alt gewesen sein, als ich den Namen Spielberg zum ersten Mal bewusst hörte. Bei einem Abendessen im Nachbarhaus erzählten sich die allesamt älteren Kinder von weißen Haien und Dinosauriern und in meinem Kopf entstand neben manch furchterregender Phantasie ziemlich schnell eine Verbindung zwischen Namen und Beruf. Spielberg und Regisseur. Ein bisschen so wie Becker und Tennisspieler, Matthäus und Fußballspieler, Clinton und Präsident. Meine erste Begegnung mit einem Film Spielbergs habe ich vergessen, da muss ich ihm also gleich widersprechen, da er in The Fabelmans doch allzu dick aufgetragen von bestimmten Filmen erzählt, die ihn geprägt hätten. So ganz stimmt das natürlich nicht, denn auch ich hatte solche Erlebnisse im Kino. Die aber kann ich kaum mit weit aufgerissenen Augen und Lichtstrahlen verknüpfen. Vielmehr erlebte ich sie, zum Beispiel bei meiner ersten Begegnung mit Antoine Doinel ganz bei mir selbst, gar nicht so stark auf die Leinwand fixiert, sondern mehr von ihr durchdrungen, das, was sie zeigte, durch mich fließend erspürend. Ich entdeckte das Kino weniger im Kino als in dem, was von ihm in mir fortlebte. Für mich hängt das Altern an den geheimsten Momenten, dann, wenn ich alleine bei mir erahnte, dass es etwas gab, was ich nicht kannte.    

Spielberg aber zeigt Erkenntnisgewinn in penetrant lichtdurchfluteten Nahaufnahmen, er behauptet, dass man (ich, du, die Kamera und vor allem ein ominöses Wir) sieht und deshalb empfindet. Das war immer anders für mich. Gerade weil ich dem Sehen so viel Bedeutung beimesse und stets beigemessen habe, empfinde ich stärker in der Erblindung, dann also, wenn sich etwas über das Sehen stülpt, sei es eine Berührung, ein Geräusch oder ein körperliches Erinnern (die leichten Zuckungen, mit denen ich einschlafe, der Phantomschmerz, der sich gegen das innere Vergessen sträubt, ein plötzlicher, verlorengeglaubter Geruch, der mich am Leben hält). Wenn je etwas in mir gereift ist, dann geschah dies in der Dunkelheit, eben dort, wo mich niemand sehen konnte, am wenigstens ich selbst, in einem Zustand entblößter Intimität, geborgener Vertrautheit, mich umgebender Sicherheit. In diese Dunkelheit, die es bei Spielberg schlicht nicht gibt, weil er alles ausschließt, was sich nicht erzählen lässt, zerre ich bis heute meine Ängste und Begehren. Diese Dunkelheit ist paradoxerweise das Kino für mich. Ich weiß aber nicht, ob das so widersprüchlich ist. Es spielt auch keine Rolle, es führt nur letztlich dazu, dass mir die Formen des Erinnerns, des Konstruierens eines Lebens in The Fabelmans unerträglich falsch vorkommen, ein bisschen so, als hätte Proust geschrieben: Ich sah den Sandteig und alles war klar. Spielberg filmt immer nur die Blüten und behauptet, dass sie Samen wären. Warum? Wahrscheinlich weil die Blüten den größeren gemeinsamen Nenner erzeugen, sie lösen die Emotion aus, die er einfangen will, während die Samen viel zu unberechenbar und ehrlich wären für dieses Kino der Gefühlskontrolle. 

Nun mag man mir entgegnen (ich kann mir keinen Dialog mit Spielberg vorstellen, weil ich tief in mir überzeugt bin, dass ihm das alles egal ist), dass dieser Mann nun mal filmt und wenn man filmt, dann geht es ums Sichtbare und dann kann ich nicht erwarten, dass er das filmt, was man nicht sieht. Das ist wiederum mir egal. Mal abgesehen davon, dass ich glaube, dass es Filme über das Heranwachsen gab, die diese Dunkelheit erahnt haben (zum Beispiel von Maurice Pialat), behaupte ich im Gegensatz zu diesem Regisseur keineswegs, dass meine Form des Älterwerdens kollektive Gültigkeit hat; ich bin nicht dazu in der Lage und ich bin nicht dazu bereit, mich selbst so sehr zu entleeren, dass andere sich auf mich, in mich projizieren sollen. Diese Form der Projektion (in diesem Wort werden jene, die Spielberg zusprechen, die gewünschte Doppeldeutigkeit finden) beseelt beziehungsweise pervertiert jede Sekunde in The Fabelmans, einem Film, der angeblich aus Kindheit und Jugend seines Machers berichtet, während man dazu eingeladen wird, in jedem Bild sich selbst zu entdecken. Man blickt in den großen, alles überblendenden Spiegel der westlichen Mittelklasse. Die daraus folgende Rührung ist lediglich narzisstische Flucht in überladene und schlichtweg falsche Bedeutungen von Familie, Mutter, Vater, erste Liebe, die auch deshalb so anwidernd effektiv arbeiten, weil diese limitierte, auf eine bestimmte Bildungsschicht zielende Art des Fühlens längst den Ereignissen vorausgeht. Wie ich bereits erwähnte, kannte ich Spielberg bevor ich mich in eine Klassenkameradin verliebte und bevor ich mich ins Meer wagte. Sein larger than life Kino erzeugt Erwartungen an das eigene Leben. Bis zur Verwechslung. Spielberg würde mir, so denke ich, ohne mit der Wimper zu zucken, sagen, was es bedeutet, meinen Vater zu lieben. Aber er kennt meinen Vater nicht und das macht mich stutzig.

Das Älterwerden in The Fabelmans ist ein sentimentales Unterfangen. Dagegen habe ich nichts einzuwenden, auch wenn die im Film vorherrschende Sentimentalität eher der überhöhten Erinnerung an die Jugend, als dem tatsächlichen Durchleben selbiger geschuldet scheint. Das Sentimentale, Glorreiche, Überwältigende der Jugend äußert sich auch nicht stilistisch, wie das zum Beispiel in den Kindheitserinnerungen von Danilo Kiš geschieht, dafür ist Spielberg viel zu industriell, brav. Er behauptet (und viele folgen ihm), dass man in diesem industriellen, von bekannten Grammatiken beherrschten System persönlich erzählen kann. Das muss man sich erstmal trauen. Aber seis drum. Spielberg behauptet auch, dass man entlang einer nachträglich nachvollziehbaren Linie altert, dass sich das, was zählt, aufeinander schichtet und ergänzt, dass es einen Ariadnefaden gibt, entlang dessen man sich irgendwann zurück durch das eigene Leben bewegen kann. Eine Begegnung hier, ein Scheitern dort, ein Trauma, eine Erfahrung, ein Erfolg und schon ist man wer und kann davon erzählen. Mein Älterwerden dagegen bestach stets dadurch, dass das, was mir eben noch wichtig schien, kurz darauf bereits wieder vergessen war. Das ist auch heute noch so, schließlich werde ich noch immer älter und möchte mich auch weigern, je so alt zu werden, dass ich zurückblicke auf etwas, das ich als abgeschlossen erzählen möchte. Wenn ich unter Einfluss von unerwünschten Gefühlsregungen doch einen Blick zurückwerfe, dann empfinde ich meist Entfremdung. Meine Ich-Erzählungen lassen keine Fäden erkennen, sie verirren sich ununterbrochen, enden in Sackgassen und ja, es sind diese Sackgassen, in denen ich vielleicht etwas von mir erkenne. Eine Begegnung mit meinem jüngeren Ich würde nicht diese von Hollywood propagierte Lebensweisheit auslösen, sondern schlicht Irritation. Jedes Jahr ist letztlich eine Aneinanderreihung genuiner Fehler, die mich ein bisschen mehr verstehen lassen, dass ich nicht bin, wer ich glaubte zu sein. Es mag ein Bild geben, das dadurch entsteht, aber ich könnte dieses Bild nie selbst erzeugen, empfinde mich vielmehr im ständigen Widerspruch zu diesem Bild. Ich muss ständig Rollen aus meiner Vergangenheit spielen, die mir keineswegs entsprechen. Spielberg dagegen bedient sein eigenes Bild, er erschafft es gleich mit, weil er weiß, dass die Mythenbildung Teil der Filmwelt ist. Es lässt sich bestimmt auch besser leben, wenn man sich selbst narrativeren kann. Wer nun sagt, dass es nun mal zum Kino gehört, ein Leben in Plot-Points und derlei Stumpfsinn einzuteilen, hat nie Filme gesehen. Und irgendwann muss auch ernsthaft darüber diskutiert werden, dass Filme enden, das Älterwerden aber nicht. Es fällt auf, dass kaum ein Film je über die dust to dust Religiosität hinweggegangen ist, um wirklich zu zeigen, was passiert, wenn man immer weiter altert, selbst wenn man schon tot ist. Körper scheinen ohnehin nicht so wichtig für das Kino-Altern, zumindest bei Spielberg, bei dem nie wer müde wird oder lasch, bei dem es nie das Gefühl gibt, dass vor drei Jahren noch schmerzfrei war, was heute höllisch wehtut. Auch das ist vergeistigt, spirituelle Blicke in den hell strahlenden Himmel. Das wahre geistige Symptom des Alterns jedoch, das sich an sich selbst berauschende Selbstmitleid, spart er aus. Es ist zu wenig tröstlich für seine Art des Kinos. Er überlässt es den Zuschauern, die unterstützt von penetranter Musik weinen sollen. Diese Musik entspricht selten dem Raum des Geschehens, sie kommt aus dem Raum des Betrachtens. Spielberg zeigt wiederholt sein Alter Ego beim Setzen von Musik auf bereits existierende Bilder, man könnte es musikalische Untermalung nennen, nur dass die Bilder hier eher die Musik untermalen; hier verrät er sich, denn sein Erinnern ist nicht subjektiv, es sucht nach einem allgemeingültigen Effekt. Und was ist daran schlimm? Gar nichts, nur dass eben nichts gezeigt und gesagt wird. The Fabelmans ist reines Suggestivkino, eine leere Samthülle, in die sich jene (vor allem Männer) einkuscheln können, die ihren eigenen Bezug zur Kindheit verloren haben. Kind sind ohnehin alle geblieben, nur die Jugend verliert man zu schnell (auch dieser Satz lässt mich schneller altern). Es ist nicht wirklich traurig, dass sich die Eltern des jungen Fabelmans oder Spielbergs trennen, traurig ist, dass ein Gefühl der Geborgenheit nicht haltbar ist, und das haben letztlich alle schon, aber alle anders erlebt. Würde einer schreiben: Wir alle verlieren das Gefühl der Geborgenheit, würde man ihn als Schriftsteller kaum ernst nehmen. Im Kino dagegen scheint dieser Allgemeinplatz auszureichen, weil das Kino nur allzu gern die Wahrheit betrügt, für ein egal wie billiges Gefühl kollektiver Erinnerung.

Zum Spielberg-Mythos gehört beispielsweise, dass er als kleiner Junge gerne Züge kollidieren ließ und weil er das immer wiederholen wollte, zum Kino gekommen ist. Ist es nicht spannend, dass ein destruktiver, auf die reine Freude an der unvorhersehbaren, zerstörerischen Bewegung gerichteter Impuls zu einem Kino führte, das für sich beansprucht, alles fügen, in runde Formen gießen zu können? Was ist aus diesem Jungen geworden, der angeblich einen Zug in die Luft sprengen wollte für das Kino? Jemand, der glaubt rückwirkend alles zusammenfügen zu können, einer, der schwelgerisch lügt über das, was angeblich irgendwann alles Sinn ergibt, statt einfach weiter zu erkennen, dass das mit dem so innig geliebten Licht am schönsten ist, wenn es durch die Risse und Narben dringt. Einer, der klebt, statt sprengt. Spielbergs angeblich jüngeres Ich hat viel mehr über mein Älterwerden verstanden als dieser alte Mann, der darüber Filme macht. Am Ende steht dann auch in The Fabelmans eine Art offene Erkenntnis, etwas Erbauliches, mit dem man weiter altern kann. Ich muss nicht betonen, dass mir Derartiges noch nie widerfahren ist. Je älter ich werde, desto unabgeschlossener jede Erkenntnis. Jeder Abschluss führt nur zu weiteren Verästelungen. Kann man darüber nicht erzählen? Ist es so viel wichtiger, das Gegenteil zu behaupten? Für jede letzte Einstellung, in der wer auf einen wie auch immer kadrierten Horizont zusteuert, stirbt jemand, weil von rechts oder links zufällig genau dann ein Auto kommt. Es war John Ford, der in seinem Young Mr Lincoln verstanden hat, wie man eine solche, dem Horizont zugeneigte Schlusserkenntnis zeigen könnte: in einem Gewitter, in dem klar wird, dass das, was kommt, alles was war, wegwischen wird.

Die Tür zum Himmel: Le Sel des Larmes von Philippe Garrel

« Ecoute cette mélodie qui court entre les nuits, écoute le temps qui passe, le vent qui nous enlace, ce froid qui nous tracasse » (Jean- Louis Aubert, Va où ton cœur te dit)

Es gibt Filme, die muntern einen auf, einfach weil sie schön sind, auch wenn sie traurig sein mögen. Nachdem man Imitation of Life oder The Bridges of Madison County gesehen hat, spürt man in sich eine Art emotionale Zufriedenheit: ja, das Kino ist schön, das Kino ist gross – und die Liebe gibt es, auch wenn sie schmerzt und zerbricht. Seltener sind die Filme, von denen man sich wünscht, nachdem man sie gesehen hat, man hätte sie nie gesehen – obwohl, oder vielleicht gerade, weil sie schön sind, weil ihre zu stark strahlende Schönheit einer dunklen Wahrheit unterliegt, die einen geradeaus verletzt und zerbricht.“ [Frei umformulierter Ausschnitt aus einem gelauschten Gespräch zwischen zwei nicht identifizierten Zuschauerinnen vor einer Filmvorführung an der Cinémathèque, Juni 2018]

In den Filmen von Philippe Garrel geht es weniger darum, einen in die ekstatische Stimmung der Liebe zu versetzten, als vielmehr um die Sehnsucht nach dieser Ekstase. Am Ende von L’Enfant secret oder J’entends plus la guitare, gibt es nichts außer dieses Vakuums, das schon immer vor und nach der Liebe existierte. Selbst das anscheinend glückliche Ende in L’Ombre des femmes oder L’Amant d’un jour fühlt sich fragil an, als wäre dieses Glück das Versprechen einer Geschichte, die nie wirklich geschrieben worden wäre, beziehungsweise geschrieben werden würde.

In seinem letzten Film, Le Sel des Larmes, erzählt der Filmemacher von diesem Versprechen und der Kehrseite dieses Versprechens wie selten zuvor. Im Mittelpunkt der Erzählung steht Luc (Logann Antuofermo), ein wortkarger Junge aus der Provinz, der in Paris ankommt, um die Aufnahmeprüfungen der berühmten École Boulle abzulegen. Gerade der U-Bahn entstiegen, trifft er auf die schüchterne Djemila (Oulaya Amamra). Die zufällige Begegnung zwischen den zwei jungen Menschen, im fast expressionistischen Schwarzweiss von Renato Berta, wirkt elektrisch : „Das Gesicht Djemilas, die überrascht zu sein scheint, plötzlich auf einer Busfahrt mit dem schönen Fremden zu sein, strahlt trotz des Gegenlichtes – eine Spezialität Renato Bertas – eine Vielfalt von Ausdrücken aus, die sich langsam von den dunklen Augenringen aus erstrecken.“ [Charlotte Garson, „Ce pays en noir et blanc“ – Cahiers du Cinéma n° 767]. So ist es eben im Kino: etwas Elektrizität genügt, und gleich kann (man) eine Geschichte beginnen. Nur ist das Kino dem Leben nicht gleichzustellen, und umgekehrt: eine unerwartete Aussage von einem Filmemacher, der einst meinte, er besäße anstelle eines Herzen eine Kamera im eigenen Leib. Das wird Luc allerdings später noch lernen müssen, einmal als Geneviève (Louise Chevillotte) ihm plötzlich ankündigt, sie erwartet ein Kind von ihm und zum zweiten Mal mit Betsy, der Frau mit der Luc später im Film in einer Beziehung ist (Souheila Yacoub), die ihm eine Art Liebesdreieck auferlegt. Der Film seines Lebens setzt sich vor seinen Augen fort, doch Luc verpasst das: als er sich von Djemila unter einem Baum verabschiedet, weiß er nicht, dass dieser Abschied endgültig ist, und wenn er am Ende auf einmal erfährt, dass sein Vater gerade verstorben ist, kann er nur in der Abstraktion seiner selbst verschwinden – hinter einer Tür, der Tür zum Badezimmer, in den Himmel schauend:

« Luc alla dans la salle de bains et, comme il voyait le ciel à travers la lucarne, il se rendit compte que, puisqu’il ne croyait pas en Dieu, son papa n’était pas au ciel – mais tout simplement ne serait plus jamais là. »

Luc ging ins Badezimmer und, als er den Himmel durch die Lukarne sah, wurde er sich dessen bewusst, dass, da er nicht an Gott glaubte, sein Vater nicht im Himmel war – sondern einfach nicht mehr da sein würde.“

An der letzten Szene und der sehr einfach, fast nackt aussehenden Einstellung der geschlossenen Tür, mit der der Film endet, merkt man wie geschickt Garrel im Umgang mit dem Voiceover ist – ein Merkmal seiner letzten Filme –, denn obwohl der unsichtbare Erzähler noch vor der tatsächlichen Ankündigung das traurige Ereignis mitteilt, kann man erst nach diesem allerletzten Satz die bittere Trostlosigkeit konkret spüren, die den ganzen Raum einnimmt, in dem Luc sich nun befindet. Durch diese Spalte, die sich zwischen dem, was man rein visuell sehen kann, und dem, was nur literarisch angedeutet wird, auftut, wird gerade jener Raum umrissen, der ganz am Ende des Weges der Hauptfigur steht. Luc wird letztendlich in der Einstellung eingesperrt: auf dieses Schicksal verweisen schon der von Luc und seinem Vater gebaute Sarg sowie sein reduziertes Modell (ein kleiner Holzkasten mit Esswaren und Zigaretten, den Lucs Vater seinem Sohn schickt).

Wie bei vielen seiner Filme hat Garrel das Drehbuch zu Le Sel des Larmes zusammen mit – unter anderem – Arlette Langmann geschrieben, die lange mit Maurice Pialat zusammengearbeitet hat. Das Leben der jungen Suzanne, von Sandrine Bonnaire im mythischen A nos Amours gespielt, beruht sogar direkt auf der Jugend der Drehbuchautorin. Mehr als der Einfluss der Nouvelle Vague (etwa der Jean-Luc Godard von Une femme mariée, Masculin Féminin, Vivre sa vie wegen des prächtigen Schwarzweisses, oder der François Truffaut von Baisers volés wegen der Erziehung der Gefühle-artigen Erzählung) ist es gerade das Kino von Pialat, das man etwas umgestaltet, entfremdet, weil in einer irgendwie ruhigeren Form wiedergegeben – aber doch sehr deutlich – in diesem letzten Spielfilm von Garrel wiederfindet. Denn wie bei dem Pialat von A nos amours und dem Pialat von Le Garçu, wird hier gleichzeitig von der Liebe zwischen jungen Menschen und von der Liebe des Vaters erzählt, in einem Paris, der ganz anders aussieht als in den Filmen der Nouvelle Vague. Nicht die tatsächliche Stadt an sich zählt, sondern der halb geträumte, halb wach erlebte Zwischenraum zwischen den eigenen Wünschen und der rohen Wirklichkeit, zwischen der Hauptstadt, den Vororten und der Provinz, sei es im engen Hof vor der geöffneten Tür zur Strasse, vor dem einsamen Fenster in einem leeren Hotelzimmer, in dem man ewig auf die Liebe warten könnte, oder in der spartanischen Wohnung, die man sich zu dritt teilt.

« Ce qui préoccupait Luc, à cette époque, c’est qu’il n’était pas sûr que l’amour existe, car ce qu’il avait connu avec Djemila, comme ce qu’il avait connu avec Geneviève, il ne pouvait après coup nommer cela l’“amour“. Ou encore, s’il se demandait s’il avait connu l’amour, il était bien obligé de se dire que non, cela n’avait pas dépassé ses ambitions, ni atteint l’importance de l’amitié qu’il portait à son père. Mais un jour, Luc allait trouver devant lui une femme qui lui apparaîtrait comme son égale. »

Was Luc zu dieser Zeit beschäftigte war, dass er sich nicht sicher war, ob die Liebe existiert, denn sowohl das, was er mit Djemila erlebt hatte, als auch das, was er mit Geneviève erlebt hatte, konnte er nachher nicht als Liebe bezeichnen. Oder, als er sich fragte, ob er der Liebe schon begegnet sei, konnte er nicht umhin, zu dem folgenden Schluss zu kommen: nein, weder war es über seine Bestrebungen hinausgegangen noch hatte es die Stärke der Freundschaft erreicht, die ihn und seinen Vater verband. Doch eines Tages würde Luc eine Frau kennenlernen, die sich ihm als ebenbürtig erweisen würde.“

Ob Luc diese Frau wirklich kennenlernt, bleibt unbeantwortet. Viel wichtiger ist es, dass die geschlossene Badezimmertür etwas mehr verspricht, als sie tatsächlich zu verbergen scheint.

The Middle Distance

Pierre Bonnard Autoportrait

Pierre Bonnard autoportrait

Bonnard Examining Leaves, Marthe Bonnard, 1900

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„Bonnard, the great master of the blur. To create the blur in art, the hand must be precise, firm, like that of a surgeon.“

– David Perlov

yoman-naomi-perlov

„It is necessary to see them in the middle of the field, moist fingers raised to catch the wind and ears pricked up to hear what it’s saying. So the most naked sensations serve as a compass. Everything else, ethics and aesthetics, content and form, derives from this.

–  Serge Daney on  Trop tôt / Trop tard  (trans. Jonathan Rosenbaum)

 

The Mouth Agape: Mrs. Fang von Wang Bing

Eines der großen Themen im Werk von Wang Bing ist das Überleben. Umso dringlicher erwartet uns, dass es in seinem neuen Film Mrs. Fang, der in Locarno verdient mit dem Goldenen Leoparden ausgezeichnet wurde, um das Sterben geht. Man könnte auch sagen, dass es um das Leben mit dem Sterben geht. Die Kamera begleitet und verlässt Fang Xiuying, eine 67jährige Frau, die im Kreise ihrer Familie in eine dem Tode nahe Starre verfällt, die durch eine unheilbare Alzheimer-Erkrankung bewirkt wird. Nun hat das Kino dem Tod schon manches Schnippchen geschlagen, auch in dem es ihn gefilmt hat, aber mit Mrs. Fang geht es vielmehr um eine Suche nach dem Verstehen desselben. Ein versuchtes Verstehen, das im selben, unerbittlichen Starren gefangen ist wie die paralysierte Frau.

Mit La gueule ouverte, einem heftigen, zugleich sensiblen und unsensiblen Film über das Sterben, hat Maurice Pialat vor einigen Jahrzehnten womöglich den perfekten Titel für den neuen Film von Wang Bing gefunden. Denn das körperlichste und eindringlichste Bild in der Begegnung mit Frau Fang und ihrer Familie ist die wiederkehrende, mysteriöse Nahaufnahme ihres wie eingefrorenen Gesichts. Es wirkt zugleich entrückt und ganz bei sich. Immer wieder blicken auch die Verwandten ins Antlitz von Frau Fang und fragen sich, ob sie noch bei Bewusstsein ist oder nicht. Darin liegt auch das Mysterium, denn ihre Unfähigkeit zur Reaktion, ihr offener Mund und die dennoch wachen Augen, die sich von Zeit zu Zeit zu bewegen scheinen, ergeben ein unfassbares Bild. Es ist schwer, diese Nahaufnahme als etwas wahrzunehmen, was die wehrlose Frau bloßstellt, weil sich etwas in und hinter ihrem Gesicht zu verbergen scheint, das sich jedem Aussaugen ihrer Situation entzieht. Der ethische Balanceakt, der durch die Nähe zu dieser Person und ihrer Familie automatisch entsteht, wird paradoxerweise durch die größtmögliche Intimität aufgehoben. In dieser Intimität verbirgt sich etwas, es wird klar, dass nicht alles gezeigt werden kann. Im Gegensatz etwa zu Allan Kings Dying at Grace gibt es hier keine Behauptung einer Erfahrung des Todes. Stattdessen wird klar, dass man immer außen steht, dass man zwar erfahren will, aber nicht kann. In diesem Sinne gelingt dem Film etwas ganz unerhörtes mit den Prinzipien der Nahaufnahme. Unter dem Blick von Bing wird sie weder zu einem Eingang in die Seele der passiven Protagonistin, noch kommt es zu einer Identifikation. Die Bilder des regungslosen Gesichts verneinen den Kuleschow-Effekt. Denn statt der Freiheit einer Interpretation, die durch die Relation zu einem Zwischenbild bewirkt wird, erzählt sich hier die Ohnmacht einer Interpretation, die durch das unbedingte Fehlen eines Zwischenbilds bewirkt wird. Da ist nichts, da ist alles: Die Frau, ihr Gesicht und ihr Sterben. Die Nahaufnahme wirft hier zurück, auf den, der sie betrachtet beziehungsweise herstellt. Man findet dort nichts, man sucht nur und genau das rechtfertigt die Nähe. Was aus größerer Entfernung (die Bing im Augenblick des Todes einnimmt) nur das emotionale Bild einer sterbenden Frau sein kann, wird aus dieser Nähe zu einer Unsicherheit über Leben und Tod, also genau jenem Zwischenreich, in dem das Kino zu Hause ist.

Man denkt dabei an Fotografien und Roland Barthes. Wie beunruhigend ist es aber, dass diese Nahaufnahme keine Fotografie ist. Gerade im Potenzial zur Bewegung, gerade in den kleinen Regungen wie einer plötzlichen Träne auf den Wangen von Frau Fang, vermittelt sich die Unglaubwürdigkeit des Sterbens. Man könnte sogar so weit gehen und sagen, dass man durch diese Nahaufnahme die Bedeutung mancher Religion versteht. Denn es gibt etwas, das nicht filmbar ist an diesem körperlichen und seelischen Vorgang. Nichts wird dabei festgehalten außer der eigenen Ohnmacht im Angesicht dieses Gesichts.

Mrs. Fang von Wang Bing

Ab und an fokussiert sich der Film auch auf die Geschehnisse rund um diese Paralyse, was entfernt an Frederick Wisemans Near Death erinnert. Er zeigt Familienmitglieder und vor allem das nächtliche Fischen, das den Ort, in dem Frau Fang gelebt hat und sterben wird, prägt. Dabei ist zu bemerken, dass Bing erst ganz am Ende seines Films mit gewohnt ruckelnder Handkamera die Verbindungen zwischen den unterschiedlichen Räumen des Films offenbart. Er folgt einem Familienmitglied durch die Gänge des kahlen Hauses nach draußen. Es wird klar, dass Frau Wang im hintersten Zimmer des Hauses liegt, dass die bereits eingeführte Straße tatsächlich direkt vor dem Haus liegt und es von dort auch nur einige Meter zum Wasser sind. Durch diese Verzögerung eines Etablierens der räumlichen Zusammenhänge ist auch in diesem Film, trotz der deutlich geringeren Laufzeit (86 Minuten) als zum Beispiel Tiexi qu (556min) oder auch Ta’ang (148min), die Dauer ein entscheidendes Kriterium. Man bekommt das Gefühl einer vergehenden Zeit, die eben nicht nur auf den Tod wartet, sondern weiter geht. Dadurch, dass Räume erst spät zusammengeführt werden, wird dieser Effekt verstärkt. Man bemerkt, dass alles, was man sieht innerhalb eines kleinen Universums abläuft. Nichts ist künstlich montiert und dadurch in der Zeitwahrnehmung unzuverlässig. Bing scheint seine Bilder zu machen, seinen Impulsen zu folgen und dann in einem zweiten Schritt mit wenigen Eingriffen eine Struktur zu finden, die sich immer wieder mit den Fragen beschäftigt: Was kann und muss das Kino zeigen? Wie kann ich verstehen?

Grob die letzten sieben Tage im Leben der Frau zeigt der Film. Dabei gibt es keine großen filmischen Ideen, sondern schlicht und brilliant den Alltag einer Familie, die mit dem baldigen Tod eines Mitglieds konfrontiert wird. Wie so oft im Werk von Bing geht es dabei auch um das Geld. Die Kosten der Pflege werden frustriert geäußert und es wird diskutiert, was man bei der Beerdigung zum Essen bereiten wird. Dass dabei sowohl die Kamera als auch Frau Fang im Raum sind, wird ignoriert. Die Familie schaut Fernsehen, ab und an blickt jemand ins Gesicht der Frau, man rätselt, ob sie schläft oder wach ist. Es geht so dahin und die emotionale Kraft jener Einstellung, die aus dem Zimmer der Frau nach draußen geht, liegt auch darin, dass einem klar wird, dass man diesen Tod nicht unbedingt spüren muss. Man trifft eine bewusste Entscheidung hinzusehen, wenn jemand stirbt. Jedem ist freigestellt, sich abzulenken. Im Kino gab es oft Diskussionen rund um diese Entscheidung hinzusehen. Pedro Costas No Quarto da Vanda ist ein gutes Beispiel, auch dort wurden ethische Zweifel bezüglich der Nähe des Filmemachers zu seiner drogenabhängigen Protagonistin geäußert. Eine intime Nahaufnahme, die eine Zärtlichkeit für die Schwäche offenbart, scheint nicht für alle Zuseher akzeptabel. Dabei liegt hier doch eine der großen Fähigkeiten des Kinos. Es wird uns nicht nur erlaubt hinzusehen, sondern eben auch eine Befreiung durch die Kraft der Kamera evoziert, die einen anderen Blick ermöglicht als jenen der Abkehr, Ausgrenzung und Angst. Welche Arbeit und Behutsamkeit in einem solchen anderen Blick steckt, wird schnell vergessen. Zu leicht wird Intimität im Kino als abstoßend empfunden, obwohl man bemerken sollte, dass Intimität eine Ausnahme ist, kein Verbrechen.

Mrs. Fang von Wang Bing

„La Putain“ Maurice Pialat

Maurice Pialat, das sind Körper, die sich reiben, Hindernisse, an denen man hängen bleiben muss. Immer wieder vergisst eine Figur etwas, die Kamera schwenkt mit ihr, der Weg zurück, der doppelte Weg. Man bleibt hängen, an Gegenständen, an anderen Körpern, am Vergessen. Alle Räume sind zu voll. Dann ein Sprung in der Zeit. Ein Schnitt, das sind manchmal Monate, manchmal nur Sekunden. Pialat behandelt beides gleich. Beides als Schnitt. Was dazwischen passiert ist, passiert wirklich. Pialat, das ist ein Schlag ins Gesicht, ins Gesicht von Frauen und damit ins Gesicht von Männern. Es ist schwierig. Pialat, das ist wunderschön, einfach, das kann ein Hund sein, ein Schluck Wein. Wie in Van Gogh, dem schönsten und grausamsten Film des Mannes, weil Schönheit bei ihm Einsamkeit erzählt. Man verbringt Zeit mit Pialat. Zeit miteinander, die einem bewusst macht, wie einsam man ist.

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Pialat hat Angst vor dem Naturalismus und wie seine Kollegen John Cassavetes und Cristi Puiu ist sein Ausweg nicht in die Abstraktion oder Kadrierung, nein, der Ausweg von Pialat ist hinein in die Natur. Diese Filmemacher zeigen, dass es einen Naturalismus gibt, der so weit geht, dass er nicht mehr nur ein Spiel ist, nicht mehr bloß Theater. Wie sonst meist. Es gibt Körper, ja, es gibt ihre Präsenz. Sie atmen, sie rennen, arbeiten, Pialat, das ist Körperarbeit. Manchmal denkt man fast an die Dardennes dabei, aber bei Pialat da existiert das Drama im Körper, nicht der Körper im Drama. Die Dardennes sind in ihrer besseren Zeit nahe rangekommen, aber haben es nie bis zum Anschlag gewagt. Das ist Pialat, ein Anschlag. Der Krieg bei Pialat, das ist der Körper, der nicht kann, der kann, der will. Es sind kranke Körper, sexuelle Körper, sie lächeln mit Hass und schlucken ihre Tränen. Sie können nicht und können nicht anders. Gérard Depardieu ist der perfekte Körper in diesem Tanz, ein gezwungener Tanz, der nicht tanzen kann, aber tanzen muss. Wenn sich die Körper reiben wie im Meer von Nous ne vieillirons pas ensemble, dann stehen Explosionen bevor. Wie er Depardieu und Sophie Marceau von Anfang an reibend, aneinander gekettet filmt in Police, das ist Pialat. Sie sind sich nahe ohne narrativen Grund. Etwas ist in diesen Körpern, etwas Ungreifbares. Es ist fast wie bei Bresson. Ein Drang in die Schuld, das Verbrechen, das Verdorbene. Woher kommt es? Die Kamera blickt an einer entscheidenden Stelle von oben in Sous le soleil de Satan. Aber er ist kein Gott, er ist unter ihnen, selbst verdorben, nur in der Lage das zu sehen. Pialat hatte diese Einstellung zuerst gehasst, den Kameramann (wie so oft) beschimpft. Denn man muss wissen, dass Pialat nicht wirklich eine Auflösung macht. Er schafft vielmehr eine Atmosphäre, in der die Auflösung aus einer Notwendigkeit entsteht. In Loulou ist er sogar verschwunden, es hat ihm gereicht, er hatte Tage nichts gedreht, es ging um die Szene, in der der Körper von Isabelle Huppert die Familie von Depardieu besucht. Produktionsleiter wurden entlassen, Kameramänner wurden entlassen. Jacques Loiseleux hatte Angst, er war von der Produktion als neuer Kameramann bestimmt worden, Pialat kommunizierte nur über seinen Assistenten mit ihm. Aber Loiseleux wagte es. Er dreht die Szene so gut es ging ohne Schnitt. Er hatte Glück, weil ein Hund ein Huhn jagte und Depardieu darauf ansprang. Pialat war nirgends zu sehen nach dem Take. Loiseleux hatte wieder Angst. Er fragte: „Wo ist Pialat?“ Man zeigte ihm, dass Pialat sich die ganze Zeit über im Decors versteckt hielt, in einer Garage, von der aus er das Treiben beobachtete. Er hatte Tränen in die Augen und sagte kein Wort zu Loiseleux. Er nahm ihn wortlos mit sich und ging mit ihm in eine Bar. Dort bestellt er zwei Whiskey und ließ sich ein Telefon bringen. Loiseleux dachte, dass er jetzt entlassen werden würde. Doch Pialat nahm den Hörer, rief den Produzenten an und sagte ihm: „Wenn du mir diesen Kameramann gleich geschickt hättest, wären wir seit Monaten fertig.“ Es endete nicht immer so. Bei Van Gogh wurde Loiseleux entlassen.

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Im Grunde, sagt Depardieu in Police in einem falschen Zitat, sei die Welt verdorben. Depardieu sucht in diesem Film eine Frau. Plötzlich kommt das. Er wird immer offensiver. Im Krankenhaus rammt er eine Krankenschwester, dann verliert er sich spielerisch im Stoffteil einer Bardame, dann greift er seiner jungen Kollegin an den Oberschenkel, will sie küssen und schließlich landet er bei der Verbrecherdame selbst. Keine Moral außer Geilheit hinter der sich die vollkommene Leere und Einsamkeit versteckt. Manchmal ist es nicht einmal Geilheit. Es ist einfach nur wie in L‘enfance nue. Die Erklärungen bei Pialat sind in den Bewegungen, den Körpern. Es gibt keine Wahrheiten, nur ihr Treiben.

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Das Wort „putain“ fällt in all seinen Varianten die ganze Zeit bei Pialat, der La Bête Humaine liebt und vieles nicht liebt. Godard wollte einmal ein Remake von Renoirs La chienne mit Pialat in der Rolle von Michel Simon machen. Das Wort „putain“ klebt an Pialat. Es fällt nicht einfach nur, man hört es, man hört wie es gesagt wird, von wem es gesagt wird. In À nos amours ist es Pialat selbst. Die Zärtlichkeit der Erniedrigung, der Verbitterung. Es ist ein Trotz, der eine Aggression rhythmisieren kann. Pialat kann einen brechen. Nicht nur durch seine Weltsicht, seine Konsequenz, sondern auch im Bezug zum Kino. Er macht überflüssig, was man sonst für notwendig hält. Er wirft es über Bord. Es gibt keine Bilder bei ihm. Nur ihren Fluss. Vielleicht ist der Anfang von À nos amours ein Bild und das Ende von La Gueule Ouverte. In letzterem verlässt ein Auto einen Ort und die Kamera blickt zurück, das Haus des Vaters, ein ähnliches Bild wie am Ende von Love Streams von Cassavetes. In beiden Bildern steckt etwas, was in beiden Filmemachern steckt. Das Atmen am Ende. Als müsste man sich erholen. Oft steht das Atmen bei ihnen auch am Beginn. Es gibt ein Einatmen und ein Ausatmen und dazwischen bricht es los, das was den Film vergisst. Nur bei Cassavetes gibt es einen unbedingten Willen zu Leben, zu Erleben während es bei Pialat jenen der Offenlegung gibt. Pialat, das sind Racheakte.

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Sie passieren, wenn man nicht zusieht. Im Off, man sieht ihre Folgen, den Hass, die Liebe, das Blut wie bei Van Gogh. Wenn man spürt, dass er sich umbringt, dann muss man es nicht mehr sehen. Pialat filmt auf diese Art den Tod, den Sex und den Fehler. Sie gehen irgendwo zwischen zwei Bildern verloren, um von dort aus zu existieren, wirklich zu existieren. In Nous ne vieillirons pas ensemble sind es wirkliche Wellen, die durch diese unbestimmte Zeit brechen. Die Quantität der Zeit wird dabei verwischt zugunsten einer Qualität. Nicht wie viel Zeit vergangen ist zwischen einem Streit und einer Versöhnung in diesem Film ist wichtig, sondern welche Zeit vergangen ist. Man sieht es an den Gesichtern, den Körpern, den Berührungen, der Gleichgültigkeit. Kaum ein Filmemacher hat so sehr gegen die leere Dauer und für deren Konsistenz gefilmt. Was die Dauer mit uns macht. Nicht mit dem Zuseher wie bei Tsai Ming-liang, sondern mit dem inneren Kampf, dem Banalen, dem, was man leben will und sucht. Es wird einem schlecht, weil man ein Gefängnis spürt in seinen Filmen, eine beständige Unmöglichkeit des Ausbruchs, der hier versucht wird. Pialat ist nahe an seinen Figuren, fast zu nahe. Er kesselt sie ein, erzeugt Fieber. Aber seine Kamera blickt nicht nur auf diese Eingekesselten. Sie ist selbst bei ihnen, mit ihnen, sie kann nur folgen, aufnehmen, kurz da sein, vielleicht nicht da sein. Es ist in dieser scheinbaren Einfachheit, in der sich die Verlorenheit einer Schönheit etabliert. Eine Verlorenheit, die nie schön ist. Jean-Luc Godard hatte Pialat in einem Brief zu Van Gogh gratuliert. Einer der schönsten Filme sei das für ihn. Schön in seiner Art und Weise, die uns entkommt wie im besten Kino, die uns entweicht, zwischen dieser Schönheit ist eine andere Geschichte. Sie existiert nur im Kino, man glaubt kaum, dass man sie gesehen, ja gespürt hat. Sie war da. Man kann dann nur sagen: Schaut euch diesen Film an. Obwohl man nichts gesehen hat, nur das Schöne. Man liegt im Feld, man tanzt, man trinkt.

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Verdorbenheit heißt Unschuld bei Pialat. Es ist ein Aufschreien der schwachen Identitäten, des Wankelmuts. Ich liebe dich, ich töte dich, eingebettet in einen Klassizismus, der alles tut, wirklich alles, um kein Klassizismus zu sein. Dabei ist es egal, ob die Protagonisten Stars sind, ob sie Kinder sind, Jugendliche wie in Passe ton bac d‘abord oder alte Männer. Man kann nichts von sich wegschieben bei Pialat. Man kann sein Kino nicht leugnen, nicht einfach als Kino bezeichnen. Was ihm vorgeworfen wurde und wird ist klar: Menschenfeindlichkeit, Frauenfeindlichkeit und so weiter. Als er die Goldene Palme für Sous le soleil de Satan entgegennahm gab es Buhrufe. Pialat streckte seine Faust in die Luft und sagte: „Wenn ihr mich nicht mögt, mag ich euch auch nicht.“. Dabei befreit Pialat all seine Figuren. Er befreit sie von den Rahmungen, er schenkt ihnen Freiheit. Pialats Kino, das ist die Freiheit, der beständig Versuch gegen eine Mauer zu rennen und auszubrechen. Er zieht die Figuren aus, ja, er macht es nicht immer zärtlich oder vorteilhaft, nein. Aber er zeigt uns und auch ihnen selbst, was darunter liegen könnte, es sind Möglichkeitsformen, die sich in sich brechen, gegeneinander springen, neues entstehen lassen. Wer man ist bei Pialat, das wird immer wieder neu verhandelt, man bekommt diese Freiheit. Vielleicht ist man ein letzter Blick, ein erster Blick, ein Kleid, ein Kuss, ein Schlag ins Gesicht, ein Lachen, eine Träne oder nichts von alldem, was man zeigen kann, zeigen will. Pialat, das ist die wilde Suche nach dem, was man ist. Sein Blick ist dabei gleichgültig, niedergeschlagen, wütend und euphorisch zugleich. Es bricht aus ihm. Pialat hat mehr gemacht als seine Filme. Er hat geschrieben, er hat gemalt, er hat gespielt. Pialat, das ist ein ehrliches Kino. Ein Kino, das einen daran erinnert wie verlogen Filme gemacht werden, wie verlogen Beziehungen geführt werden, wie verlogen man lebt. Nicht in den Gedanken und Idealen, aber in den Körpern. Körper, die schwer sind, aber sich schnell bewegen. Wie die Kameras, die es mal gab.

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Dann muss man wieder atmen. Am Anfang seiner Filme steht manchmal eine einzige Chance, sich zu überlegen was man sagt. Die Figuren sagen dann meist etwas Schlimmes, sie lügen, sie stellen sich provokante Fragen, sie äußern ihre Unzufriedenheit.  Es ist als würde Pialat ihnen für ein paar Sekunden die Chancen auf einen anderen Film geben. Aber am Ende kann es bei ihm nur den geben, den wir sehen.

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Does it matter with whom we watch our most formative films?

As of this very moment, I’m about to leave my mother [‘s house].

Within a couple of days, I will be somewhere somewhere else.

So it makes me think, after watching Dominique Auvray’s Marguerite, telle qu’en elle-même with her: have I been grateful enough for her openness to all the films which I did not show her, but what we watched in sync?

In sync not in the sense of intellectual comprehension. But more in the vein of: a life lived together. Jointly. Teamwise.

I somehow never truly experienced a physical form of cinephilia with my peers. For a long time, I asked myself: why? And more importantly: why was I not shipwrecked because of such a lack?

Yesterday I realized: because there wasn’t one. My mother was always there. Interested, open. Thoroughly invested. She was not able to understand everything, but she went along with whatever I had yet to see – though I also frequently showed her films I already watched, probably because it was a way of sharing or confiding something personal in her. What I grew to appreciate more and more, was how differently I started to see things. She noticed details, behavioural patterns that demanded life experience [of a different gender]. Especially when we saw films or movies that were so contrarian to her own history, I always knew we worked on our relationship in a way that was impossible to pin down. But nonetheless: some viewings felt like trials that confronted our differing sensibilities, specially because we always only had each other to share our lives with. No husband. No father.

The seperate act of watching a film with someone who, usually, would not take the time to seek such a film out, can result, depending on the context of both the viewer as that what is viewed, in a form of resistance. To circumvent the main ideology in which one is embedded takes effort (assuming we are all trapped in at least one). And if one does this with someone else – who also shares the wish to learn how to see otherwise – it enforces one to care for the viewpoint of, ideally, someone from the other end of a spectrum.

Cinema Blindspot: ‘’…A movie podcast where @midnightmovies [Tara Judah] and @timonsingh [Timon Singh] introduce films to each other that they wouldn’t normally watch (or have deliberately avoided).’’ Does exactly this. Both of them, with seemingly different agendas, do their best to build bridges by doing, basically, just one thing: caring. Or working (because I think it is also a question of labour) to learn how to understand and see at some point, in sync with another (not through the eyes of). Unsurprisingly, these rare moments are also the ones that keep me listening. Because this care-full (not careful) collision of realities is what leads to insights for both.

Working in logistics and as a housecleaner, my mother had so many other things to worry about. But she did care. Like Uncas Blythe recently tweeted: „What the difference boils down to is care. Langlois took ‚Care‘ to snag those cans; an algorithm has another agenda.“ She cared about the experience. Which is, I think, an incredibly fresh and empowering variation on traditional cinephilia, where one discusses and talks and talks. While with my mother, it was about feeling and sensing. For discourse, I had to go somewhere else. And I am sure I owe her for this. Though this doesn’t mean we did not watch films that did not, at points, imposes on one the necessity to evaluate critically.

All films tagged 'mama'

All films tagged ‚mama‘

These are all the films I remember watching in the presence of my mother, during the last three years at least. Which may imply her being in the kitchen while cooking or cleaning, and listening in. Shocked by the love-making scene in Je, Tu, Il, Elle. Or the opposite: watching while I’m in a dream state, herself fully immersed. Some of the inclusions may be made-up. There are a few doubts. But as I went through my film diary, an image appeared with almost every film I watched with her. The closing shot of Prénom Carmen, the tears she shed for Franz Biberkopf or the memories of her French vacations stirred up by Pialat’s Passe ton bac d’abord.

At their high points, these film viewings acquired… ‘’A vivid life of their own.’’

What attracts me to this, opposed to the usual forms of cinephilia, is that my mother knew things… And what matters to our mothers, also matters to us. ‘’…something perhaps we are very curious to learn.’’ Probably containing… ‘’things which have a vivid life of their own outside mine.’’

Therefore, they are hard to hold on to. Only now I start to know that this will form me more than a lot of other events. Sitting down. Spending time. Watching Jeanne Dielman making the bed. Or L’homme à la Valise, a film about a woman who is forced to share her intimate spaces with a man.  She recognized and talked and talked. Pointing out something here, telling me it was always such a fight to tell a man that he no longer had a place to stay.

What if I saw this film at some retrospective, or on television? Would there have been an imprint? The thought of my mother would have been inevitable, but in a cinemathèque that would have lasted only for a couple of frames. Now, it was picked out and freely spoken about. I do feel blessed.

What if our mothers can teach us cinema? What if they can teach us this like no other? That nobody ever said this before, does not at all mean it’s impossible. I’d even say that it is part of cinema’s being that this very beautiful and tender idea is being rejected… People used to go to the movies with their entire families… And nowadays young boys go to them with their dads. When do we ever hear stories about single mothers going to the movies with their sons? We did not go to the multiplex either. The idea did not even pop up in our minds. As if it was forbidden. We stayed home, the two of us. On the couch. Sensing cinema.

 

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Il Cinema Ritrovato Tag 4: Pferde schwimmen in Farbe

Am Vorabend stolpern wir in eine Restauranteröffnung und schnappen uns formidable Pizzastücke umsonst, das Licht in den schmalen Gassen ist gemalt, jemand brüllt laut vor dem Kino, als Italien gegen Spanien gewinnt. Ab und an winkt sogar Regen, der dann doch nicht wirklich kommt. Außerdem verschlägt es uns in die Bibliothek, in der so viele Buch- und DVD-Schätze liegen, dass man einfach zuschlagen muss. In den Pausen sitzen wir auf den Millimetern Schatten, die bleiben, die schrumpfen, die schmelzen. Jemand holt ein glühendes Eis. Die Klimaanlagen fühlen sich an wie Fieber.

Ioana und Rainer sind begeistert von einigen Chaplin-DVDs. Im Hintergrund kauft Patrick ein. (Foto: Lorenzo Burlando)

Patrick beschließt, dass sein nicht vorhandenes portugiesisch genug ist, um dieses Buch über João César Monteiro zu kaufen. Rainer schaut. (Foto: Lorenzo Burlando)

Zeit und Raum, die für das Kino so entscheidend sind, verlieren auf einem Festival oft an Bedeutung. Die Zeit ist das Kino, der Raum ist das Kino. Man wird förmlich initiiert und mitgerissen von dieser Bedeutung des Kinos, die erschreckend und doch erwartbar größtenteils (jenseits der Screenings am Piazza Maggiore) am breiten Publikum vorbeifliegt. Die Kinos sind übervoll, ja, es gibt große Begeisterung, ja, aber es ist eine cinephile Insel, man gehört gewissermaßen zu den Auserwählten, die verstehen wie wichtig das ist, was man da sehen kann. Zum Beispiel ein Besuch des deutschen Kaisers in Istanbul 1917, der im Rahmen einer kleinen Schau für das türkische Filmarchiv gezeigt wird. Oder aber mein persönlicher Liebling auf dem bisherigen Festival, ein Fundstück von purer Simplizität und Anmut. Die Kinemacolor-Restauration einer Soldatenübung aus dem Jahr 1912 mit dem Namen Plotoni nuatatori della III divisione cavalleria comandata da S.A.R. il Conte de Torino. Darin sieht man Soldaten, die mit Pferden einen Fluss überqueren. Die Kamera schwimmt mit ihnen, die Pferde streiken oder planschen, man verliert sich ähnlich wie im Kino von Jean Vigo in der reinen Freude dieser Bewegung. Luca Comerio heißt der Filmemacher, der die ersten farbigen Dokumentarfilme Italiens realisierte. Die Welt der Vergangenheit bewegt sich in Farbe. Dieses Wunder wirkt auf mich hier in Bologna noch viel stärker, als wenn man bewegte Bilder an sich sieht. Denn diese Farben war schon verloren. Es ist nicht einfach nur das Abbilden der Welt, sondern das Wiederherstellen einer bereits verlorenen Abbildung. Ich würde diese eigentlich logische und bekannte Arbeit gelassener hinnehmen, würde ich nicht derart von ihr begeistert sein. Es ist gewissermaßen eine Wiedergeburt dieser Bilder der vergangenen Welt. Die Einfachheit des Ganzen ist gleichzeitig die Komplexität. Man könnte sagen, dass die Gebrüder Lumière, denen auf dem Festival sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt wird, hier nach wie vor als Erinnerung dienen und eigentlich vor allem als Manifestation für das, was das Kino zu Leisten im Stande ist. Das große Drama, die Gefühle, sehr gerne, aber dieses Zeugnis über die Welt (das dann im Fall des türkischen Filmarchivs nur per Zufall mit dem Verweis “useless“ auf der Filmrolle überlebt) ist ein Hauptbestandteil einer Kinogeschichte, ohne die wir die Weltgeschichte deutlich weniger verstehen können. Wenn man sich die zeitgenössische Bilderflut ansieht, dann kann das Kino gar nicht mehr diese Rolle spielen. Heute sind badende Pferde, die eben auch in Baignade de chevaux, gedreht von Lumière-Kameramann Gabriel Veyre, vorkommen eine Sache der Sozialen Medien. Der Unterschied liegt leider in der flüchtigen Bedeutungslosigkeit dieser Bilder heute und der schweren Bedeutsamkeit dieser Bilder damals. Was wir brauchen würden, wäre ein sondierendes Archiv für die Bilderflut unserer Zeit. Damit nicht alles verloren geht. Aber die Bedeutung liegt auch in der Art und Weise, in der diese Bilder hergestellt werden.

João César Monteiro filmt.

Rainer dazu mit passenden Gedanken zur Lumière-Ausstellung:

Bevor der Lagerkoller in unserem viel zu kleinen Appartement zuschlägt, und wir uns alle gegenseitig nachts mit Klappspaten erschlagen, müssen wir noch einige Worte über die Lumière-Ausstellung verlieren, die parallel zum Festival in einer angenehm kühlen Kellerpassage in der Nähe des Piazza Maggiore zu sehen ist. Zum einen ist bemerkenswert, wie hier auf begrenztem Raum für eine temporäre Ausstellung sehr viel besser mit Ausstellungsstücken des Pre-Cinema umgegangen wird, zum anderen welche Poesie an Stellen entwickelt wird, wo man sie nicht erwarten würde. So werden auf Filme der Lumières aus unterschiedlichsten Orten der Welt Seite an Seite mit aktuellen Webcambildern der gleichen Orte. In diesem Kontrast wird deutlich wie wertvoll diese Aufnahmen der Brüder und ihrer Kameramänner als Dokumente aus einer Zeit sind, als die Welt noch nicht mit Bildern gesättigt war. Auffällig auch das heutige Städtebilder meist aus erhöhter Perspektive aufgenommen werden. Die Kameraposition hat sich der größeren Geschwindigkeit des Alltagslebens angepasst, nur mit diesem Abstand wird noch das wenige Leben fassbar, dass bei den Filmen der Lumières immer zum Greifen nahe erscheint und frivol auf der Leinwand tanzt (Autoabgase und Stahl tanzen nicht).

Ein auf die Wand gedrucktes Zitat von Maurice Pialat fasst die Qualitäten der Lumières sehr treffend zusammen: diese Filme haben bereits alles, was wir vom Kino erwarten und präsentieren es mit einer Einfachheit, die heute oft verloren gegangen ist. Freilich kann man diese Einfachheit leicht mit Primitivität verwechseln, aber es wäre ein Fehler die Brüchigkeit dieser Filme, ihre fehlende Geschlossenheit als Mängel zu bekritteln. Es sind gerade Filme wie Repas d’Indiens, die scheinbar scheitern, in denen das Kino der Lumières ihre größte Macht ausstrahlt. Da sitzt eine Gruppe von Indios im Halbkreis vor der Kamera, die Sombreros tief ins Gesicht gezogen und dahinter beginnt ein weißer Mann in schwarzem Anzug zunächst verhalten, schließlich wild, zu gestikulieren. Er möchte die Männer dazu bringen aufzublicken – in die Kamera –, ihnen die Hutkrempen aus dem Gesicht schieben. Ich stelle mir die Frage, warum diese Szene nicht einfach wiederholt wurde, oder warum sie überhaupt entwickelt und gezeigt wurde. Die Antwort damals wird nicht so anders gewesen sein als heute: erst das Eingreifen des Manns macht diesen Film interessant, erzählt in seinem Scheitern eine Geschichte, die von weit größerem Interesse ist, als die sozialanthropologische Dokumentation eines Abendessen einer Indio-Familie.