Die Sehnsucht nach Bewegungslosigkeit im Kino

Ein Text, der von der Bewegungslosigkeit des Kinos sprechen will, muss natürlich voller Widersprüche sein. Denn nicht zuletzt ontologisch betrachtet, besteht das Kino aus Bewegung: Bewegung des Films, Illusion der Bewegung auf der Leinwand, Bewegung in unseren Herzen. Serge Daney hat Film mit dem vorbeiziehenden Himmel verglichen: Die Wolken sind die Figuren, die vom Off-Screen beleuchtet werden. Selbst wenn man im digitalen Zeitalter durchaus einen Unterschied feststellen muss, so bleibt doch dieser unendliche Drang nach Bewegung, die Idee, im Dunklen sitzend die Welt zu umreisen. Nicht zuletzt arbeiten technische Entwicklungen wie 3D genau an dieser Illusion. Aber in der eigenen Bewegungslosigkeit einen sich bewegenden Spiegel zu suchen, ist bereits ein Paradox. Darin liegt die Illusion begründet, eine Lüge, aber auch eine Hingabe, bei der man gibt, indem man vertraut. Und es ist auch nicht weiter verwunderlich, dass man sich selbst beim Betrachten eines Standbildes oder einer Fotografie emotional bewegt, dann fließt man nicht mit dem Strom einer Folge von Bildern, sondern kann sich tief im Bild verlieren, an den Rändern suchen, in den Texturen schwimmend, alles bleibt eine Bewegung. Und genau das ist eine Sehnsucht vieler großer Filmemacher. Denn sie wollen ihre Bilder festhalten, die Zeit festhalten, nicht verlieren, was eigentlich zur Flüchtigkeit verdammt ist. Mindestens soll aber die Dauer manifest werden. Zum einen kann etwas immer wiederkehren, wenn es einmal gefilmt ist (so der Legende nach die Inspiration von Steven Spielberg, der einen Crash zweier Modelleisenbahnen als Kind festhalten wollte, damit er es immer wieder sehen kann), zum anderen kann es sich unendlich in der Zeit entfalten. Es geht hier also um eine im Projektor, in den Pixeln und im Kopf bewegte Bewegungslosigkeit.

L'Avventura Antonioni

L’Avventura von Michelangelo Antonioni

Und dann beginnt ein Kampf gegen die Flüchtigkeit der Bilder, der Erinnerung, dieser ewige Drang der nächsten Einstellung, die im Kino lauert, die oft erst die Poesie oder Bedeutung generieren kann: Das nächste Bild, ein unbekanntes Bild, das bei seiner Geburt logisch oder irritierend wirken kann, aber immer am vorherigen Bild arbeitet, obwohl es selbst schon lange heimgesucht wird von einem weiteren nächsten Bild. Wenn man jeden Tag an Filmen arbeitet, dann spürt man womöglich eine Erschöpfung der Bilder, gleich der erschöpften Liebenden, die nur mehr in ihrer umschlungenen Haltung verharren können, eine Bewegungslosigkeit, die man im Kino fast nie sieht, aber die in den Rhythmus der Bilder eingeschrieben ist. Ein Durchatmen, ein erschlaffen, gemeinsam zwischen Auge und Bild.

Nun gibt es einige unhaltbare Versuche, die Sehnsucht von Filmemachern nach einer absoluten Art des Sehens (die, die sich Zeit für das eine Bild nimmt), unter gemeinsamen Begriffen zu fassen. Einer der schlimmsten dabei ist „Slow-Cinema“, weil er genau diesen Widerspruch zwischen Bewegung und Bewegungslosigkeit aus dem Kino verbannt und so tut, als würde sich das Kino langsamer bewegen, wenn Bilder länger stehen. Nur, weil eine Fingerbewegung im Kino mindestens genauso viel Kraft haben kann wie eine Armee, ist dieser Widerspruch möglich. Es wird von einer Rebellion gegen die immerzu beschleunigte Welt der glatten Oberflächen gesprochen, Kino als Antwort, als Lehre des Wiedersehens und Wieder Sehen Könnens. Aber auch kann man von einem inneren Zustand sprechen, in dieser Zeit der Unsicherheiten und Unklarheiten, in denen Vergangenheit, Gegenwart, Traum, Realität, Bild und Schlaf schon lange in ein einziges Aussetzen ihrer Deutlichkeit eingetreten sind, ein schwarzes Loch, das nach zwei Dingen sucht: Sicherheit und Gefühl. Und dafür will man nur noch schauen und trotzdem ans Ziel kommen. Die Bewegungslosigkeit ist ein Weg an dieses Ziel, denn in ihr gibt es weniger Differenzen. In diesem Sinn ist das Kino also keine Rebellion sonder eine Deskription. (Eine Alternative über die man auch schreiben könnte, liegt in der Hyperbewegung bei Philippe Grandrieux.) Es gibt jene Differenz des Blickenden und des Angeblickten, aber es gibt auch eine bewegungslose Pose, die den Darsteller von seiner Darstellung befreit, die ihn von sich selbst befreit sogar. Wer ist man nämlich, wenn man posiert? Wer sind diese starren Gestalten am Ende einer Szene bei Fassbinder? Wer sind die Liebenden in Antonionis L’Avventura? Gibt es sie? Schaut man sich zum Beispiel den Film Now, Voyager von Irving Rapper an, wird man feststellen, dass sich der Gang, die Bewegung von Bette Davis im Lauf (im ewigen Lauf) des Films verändert, es ist ein Machtgewinn, in dieser Bewegung liegt der Ausdruck und der Eindruck ihres Selbstbewusstseins. Sie lebt in einem Hier und Jetzt, das im zeitgenössischen Kontext eigentlich nur eine Illusion sein kann. Wenn sich jemand nicht bewegt im Kino ist er/sie in der Regel tot. Aber dennoch ist er/sie präsent. Oft erwischt man sich, wie Bitomsky schreibt, wie man nach der Bewegung der Toten im Film sucht. Das Pochen einer Halsschlagader, ein leichtes Zucken, ein sich erhebender Bauch…als würde uns die Bewegung Sicherheit geben oder vielmehr eine Kontrolle über den Film. Hier liegt eine Sehnsucht nach Bewegungslosigkeit, weil wir von einer Lücke sprechen zwischen der Darstellung und der Realität. Und diese Sehnsucht lässt uns weitaus genauer blicken, als wir es eigentlich tun würden. Darin versteckt sich womöglich das Potenzial einer Sinnlichkeit, die damit zu tun hat, dass wir selbst lebendig werden wollen. Man muss sich nur diesen unvergesslichen Wimpernschlag in Chris Markers La Jetée vor Augen führen, jenes Erwachen der Bilder, Bilder, die nie wirklich lebendig waren und nie wirklich tot. Hierin liegt der Moment des Verliebens begraben, genau jener Impuls von der Bewegungslosigkeit (der Herzschlag setzt aus, man wird vom Blitz getroffen, man ist blind…) zur absoluten Bewegung, die in sich nur wieder verharren will (die Liebenden nach dem Sex, der Kuss, die Umarmung, die Zeit, die nie vergehen darf…). Wenn ich also in mir und auch in einigen anderen Filmemachern den Impuls spüre, der von der Bewegung zurück zur Bewegungslosigkeit will, dann hat das mit der Suche nach der Unschuld zu tun. Man will wieder jene erste Bewegung sehen, die Ingmar Bergman in seiner Autobiographie so schön beschreibt, jenes Wunder, jenes Verlieben, den Beginn der Zeit des Kinos. Der erste Mensch, der über eine Leinwand läuft. Er kann nur aus der Bewegungslosigkeit stammen.

Chris Marker

La Jetée von Chris Marker

In Cavalo Dinheiro arbeitet Pedro Costa exakt in diesem Zwischenreich aus Bewegung (Leben, Erinnerung, Gesellschaft) und Bewegungslosigkeit (Sterben, Vergessen, Gesellschaft). Er beginnt seinen Film mit Fotografien, die später wie das Echo einer anderen Welt der Bewegungslosigkeit wiederkehren, die uns in ihrer Starre verfolgen und mit den Masken, Statuen und gefrorenen Einstellungen des Films harmonieren. Einmal filmt Costa eine sterbende Hand, zitternd und kreiert damit ein weiteres Echo zu Alain Resnais Hiroshima, mon amour, einem Film, der die Bewegungslosigkeit und die Bewegung, ja die erschöpften Liebenden, das ultimative Ende und den Beginn der Zeit in sich trägt. Wann dieser Film begonnen hat und wann er endet, kann keine Rolle mehr für uns spielen. Er beginnt mit seinem Ende und endet mit seinem Beginn. Edvard Munch hat gesagt: Ich bin sterbend geboren. Er hatte Recht. Die Bewegung ist nicht echt. Zusammen mit Alain Robbe-Grillet hat Resnais auch in L’Année dernière à Marienbad an dieser Bewegungslosigkeit, ob dem Zwischenreich der Erinnerung und der Realität gearbeitet, aber weitaus sinnlicher und damit sehnsuchtsvoller ist Robbe-Grillet dieser Widerspruch in seinem L’immortelle gelungen.

Unsterblichkeit hängt an dieser Bewegungslosigkeit, eine eingefrorene Zeit als einzige Chance auf Unendlichkeit? Doch kann man in diesen Statuen das Licht einer Lebendigkeit, ja sogar einer Echtheit finden? Vielmehr scheint dieses Prinzip der Wiederholung, der wiederkehrenden Bilder tief mit der Illusion (und der Sinnlichkeit dieser Illusion) verwurzelt zu sein, ein Land der Träume, eine tickende Uhr, die wieder beginnt und wieder beginnt und wieder beginnt. Vielleicht ist es kein Beginn, sondern ein ständiges Aufhören, ein Aussetzen, ein Zweifel an der eigenen Funktionalität. Man hat das Gefühl, dass die Zeit hier selbst reflektieren muss. Sie ist immer weitergelaufen, aber unter welchen Vorzeichen? Kann das heute noch relevant sein? Eine Erschütterung der Zeit (man sagt, dass die Zeit mit dem 2. Weltkrieg erschüttert wurde und das ist auch richtig, aber ist sie heute vielleicht sogar völlig überschüttet?) bedeutet gleichermaßen eine Erschütterung des Kinos.

Hiroshima, mon amour

Hiroshima, mon amour von Alain Resnais

Also gibt es die Bewegungslosigkeit nur im Angesicht einer aussetzenden Zeit, eines Zweifels gegenüber der Realität, der in den zahlreichen Geister- und Zwischenwelten des modernen Kinos stattfindet? Nein, denn die Bewegungslosigkeit ist auch ein Schatten der Banalität und Erbarmungslosigkeit der Zeit. Je, tu, il, elle von Chantal Akerman und It’s Keiko von Sion Sono arbeiten mit dieser erdrückenden Bewegungslosigkeit (Liegen, Starren, Sitzen, Liegen, Starren, Liegen, Sitzen usw.) vor dem Hintergrund einer brutalen Uhr, die einem nichts sagt, die nur, seit ihrem Beginn der Countdown zum Tod ist. Doch Count-Down ist ein falsches Wort, denn hier zählt nichts runter…vielmehr geht es immer weiter und man kann nur zusehen wie die Uhr tickt. Mit schmerzvoller Sehnsucht wie bei Akerman oder ironischer Leere wie bei Sion Sono, der seine Protagonisten fröhlich die Zahlen einer Minute mehrfach singen lässt. Die Bewegungslosigkeit macht im Kino erst die Zeit bewusst. So auch in Bergmans Hour of the Wolf, in der eine der wenigen Bewegungen dem Zeiger der Uhr gilt. Da sich dieser Zeiger immer bewegt, egal ob wir ihn sehen oder nicht, zeigt sich erneut, dass es keine reine Bewegungslosigkeit geben kann in einem Medium der Zeit. Aber es gibt ein inneres und äußeres Nichts, ein Pausieren, eine Flucht oder Abkehr von der Welt. Oder eben jenes Warten, das bei Akerman und Sion Sono zu- und niederschlägt, ein Warten, dass dann zu einer Bewegungslosigkeit und zugleich Hoffnungslosigkeit wird, wie auch bei Béla Tarr oder Sharunas Bartas. Jacques Rancière hat sich mit Blick auf das Kino von Tarr gefragt, welches Geheimnis in einer Minute (des Wartens) liegt. Er schreibt von einer Koexistenz der Handlungen, die unter dieser Dauer ablaufen. Da ist also wieder die Tiefe dieser Bewegungslosigkeit, die einen Raum öffnet, statt ihn beiseite zu wischen. Die Bewegungslosigkeit wäre also auch die Zeit nach der Geschichte und wenn Bewegungslosigkeit gleich einer Hoffnungslosigkeit ist und Rancière schreibt, dass Filme nicht von Hoffnung handelten, sondern Hoffnung seien, dann wird auch klar, dass Filme Bewegung sein müssen. Aber wohin in oder mit dieser Hoffnungslosigkeit?

L'immortelle von Alain Robbe-Grillet

L’immortelle von Alain Robbe-Grillet

Eine interessante Lösung im Zeitalter der Geister, die bereits zu Phantomen ihres gespenstischen Mythos geworden sind, ist die Kreisbewegung, ja die Wiederkehr. Sogar das Blockbusterkino hat diese Wiederkehr entdeckt, sei es die banale Feststellung in George Millers Mad Max: Fury Road, dass man nicht immer weiter sinnlos in die Hoffnung fahren sollte, sondern lieber zurückfahren sollte oder sei es in Doug Limans Edge of Tomorrow das ständige Durchexerzieren einer vorbestimmten Zukunft, die nur durch eine immerwährende Wiederkehr verändert werden kann (man denke in diesem Zusammenhang auch an Christopher Nolans Inception und Interstellar). Ist die rückwärtige Bewegung also ein Versuch der filmischen Sprache, gegen die Bewegungslosigkeit zu kämpfen? Es gibt kein Ziel außer das Überwinden der Bewegungslosigkeit, die in beiden Filmen mit einer rasenden Geschwindigkeit offenbart wird, als wäre Sisyphos auf Speed. Oder sind es etwa die Blicke bei Filmemachern wie Bartas, Costa, Hitchcock (der hat sich hier nicht verirrt, sondern der ist hier geboren) oder Claire Denis, die eine Bewegung in der Sehnsucht bewegungsloser Augen finden? Schließlich braucht man Bewegungslosigkeit, um Bewegung sichtbar zu machen. (man denke an die Wolken in The Aviator von Martin Scorsese). Erst der eingefrorene Körper lässt uns die Schönheit seiner Bewegung erahnen, weil die Bewegung sich ständig selbst verflüchtigt. Denkt man an die widerkehrenden Bilder bei Robbe-Grillet erahnt man ihre Verbindung zu dieser Frustration der Bewegung. Immer wieder in L’immortelle sehen wir eine Einstellung vom Meeresufer in Istanbul. Und dennoch zeigt sich in der Wiederkehr dieser Einstellungen, in den Bildern, die wir öfter sehen ein gewisses Misstrauen, wir zweifeln, wir erhöhen unsere Konzentration, denn wir sind trainiert und dumm: Wenn wir ein Bild öfter sehen, dann hat es eine besondere Bedeutung, glauben wir und verstehen ganz automatisch Kino als Narration statt als Leben. Robbe-Grillet hat gesagt, dass genau das Gegenteil der Fall wäre. Wenn man etwas öfter sehen würde, würde es an Bedeutung verlieren.

Je, tu, il, elle von Chantal Akerman

Je, tu, il, elle von Chantal Akerman

Die Kreise, die durch Zeit und Ort laufen, verweisen auf eine Nahtlosigkeit, die nicht den nötigen Widerspruch zulässt zwischen Bewegung und Bewegungslosigkeit, das Potenzial zur Befreiung schwindet in dieser narrativen Strategie und dennoch wird das Gefühl einer Befreiung evoziert, weil man sich besinnt, weil es eine Weisheit ist, dass man manchmal zurückgehen muss, um vorwärtszugehen. Aber das filmische Pendant dazu, der Vertigo-Effekt, erzeugt einen Schwindel, der darauf verweist, dass man diese Bewegung nicht mehr aushalten kann. Man wird ohnmächtig und bewegungslos. Auch Vertigo spielt in einem Zwischenreich. Hitchcock verleitet das Bild und den Blick zu einer Starre, die den Tod hervorzaubert, um ihn dann als Illusion und Grausamkeit zu entlarven.

Eine weitere Lösung ist die extreme Verlangsamung der Bewegung, eine Art Kompromiss wie in den Walker-Filmen von Tsai Ming-liang. In seinem neuesten Werk No No Sleep verbindet sich diese Entschleunigung wie so oft mit dem Verlangen einer Einsamkeit. Aus dieser Einsamkeit entsteht dann Aufmerksamkeit. Das Licht ist in Bewegung, aber es ist auch still (so wie die Wasseroberfläche des Bades im Film) beziehungsweise die Bewegung des Lichts wird erst durch die Stille des Bildes sichtbar. Bewegungslosigkeit im Kino meint also nur einen bestimmten Rhythmus der Bewegung. Ich habe immer jene Filmemacher bewundert, bei denen man sich in diesem Rhythmus wohl fühlt, die eine Präsenz schaffen, eine Präsenz, die Bewegungslosigkeit in tausende Regungen zerfallen lassen kann, in denen der Drang zur Bewegung, zur Liebe und zur Befreiung offenbart. Wir sprechen hier weniger von denkenden Bildern als von fühlenden Bildern. Daher ist Kontemplation auch ein falscher Begriff, da hier oft kein Platz mehr ist für eine Reflektion. Es ist die Präsenz der Bewegungslosigkeit. Apichatpong Weerasethakul ist ein Meister dieser Präsenz, die sich vom Potenzial einer Bewegung füttern lässt. Bresson, ein großer Meister der Regungen, Zuckungen und sehnsuchtsvollen Begierden, die aus seiner Bewegungslosigkeit eine Bewegung machen, schreibt: beautiful in all the movements that he does not make (could make).

Kim Novak Hitchcock

Vertigo von Alfred Hitchcock

Man könnte also sagen, dass die Sehnsucht nach der Bewegungslosigkeit im Kino nichts anderes ist, als das Verlangen nach der Wahrheit einer Bewegung, der Wahrheit des Kinos selbst, die immer zugleich Illusion (der Wind) ist und Realität (das abgefallene Blatt, reglos zwischen den Fingern eines toten Soldaten). Hinter dieser Sehnsucht versteckt sich vielleicht auch die Frage: Warum bewegen wir uns überhaupt? (Dante: Love moves the sun and other stars)

Three Men of Wisconsin: The Trial und Figures in a Landscape

In einem paranoiden Doublescreening zeigte das Österreichische Filmmuseum The Trial von Orson Welles und den vogelwilden Figures in a Landscape von Joseph Losey. Diese Zusammensetzung war im doppelten Sinne paranoid, denn erstens handelt es sich um zwei Filme, in denen Paranoia eine gewichtige Rolle spielt und zweitens wurde Loseys Film, der als zweiter gezeigt wurde, durch diese Programmierung mehr oder weniger von Welles‘ Kafka-Verfilmung gejagt. Nun ist es so, dass ich eine besondere Beziehung zu The Trial habe. Ich sah den Film zum ersten Mal vor etwa 7,5 Jahren, als unser Deutschlehrer sich entschied, die Kafka-Lektüre aus Zeitmangel auszulassen und uns dafür zwei Filme zeigte: Das Schloß von Michael Haneke und eben The Trial von Orson Welles. Wie das so üblich ist, zeigte man uns Ausschnitte (ebenfalls aus Zeitmangel) von einer untragbaren VHS-Kassette in einem Raum, der kaum vom eindringenden Licht geschweige denn vom Vogelgezwitscher (irgendeine Schülerin bittet schließlich immer um frische Luft bei geöffnetem Fenster) sicher war. Doch trotz dieser Projektionsbedingungen transportierte sich eine Art Magie in den Bildern von Welles, die mich unendlich beschäftigte und die für mich eine Welt öffnete, die man als Kino bezeichnen könnte: Ich sah Licht und Schatten, ich spürte eine materielle Sinnlichkeit und gleichzeitig etwas Entrücktes. Nach dem „Screening“ ging ich zum Lehrer und fragte, ob ich mir die VHS-Kassette ausleihen könnte, weil ich diesen Gang von Anthony Perkins durch den mit Licht durchlöcherten Korridor gegen Ende des Films nochmal sehen wollte. Dieser war ein guter Lehrer, nicht nur gab er mir das Video, nein, er verstand sogar exakt meine Begeisterung, die ich mir damals – und zum Teil heute – selbst nicht erklären konnte. Eine ganz ähnliche, wenn auch deutlich fragwürdigere ästhetische Begeisterung zeigte ich einige Wochen später, als wir im Geschichtsunterricht mit Bildern aus John Fords The Battle of Midway konfrontiert wurden, das ist aber eine andere Geschichte. Nur genau wie Fords Kriegsdoku wurde nun auch The Trial, den ich auf dieser VHS weitere zwei Mal anschaute, im Filmmuseum auf Film für mich neu geboren. Erstaunlicherweise hatten die VHS-Bilder damals (wohl aufgrund ihrer Frische, doch was heißt Frische im Bezug auf Film?) einen derartigen Eindruck auf mich gemacht, dass ich trotz der minderen Qualität fast jedes Bild so in meinem Kopf hatte, wie es sich nun auf der Leinwand vor mir entfaltete. Mehr noch sind diese Welles-Kopien im Filmmuseum derzeit äußerst ärgerlich, denn französische und deutsche Untertitel übereinander blockieren fast ein Drittel des Bildes und in einem Film, in dem zum einen so viel gesprochen wird, wie in The Trial und zum anderen sehr viel mit Headroom gearbeitet wird, kann man vor lauter Schrift auf dem Bild nichts mehr erkennen. Dies ist ein wirkliches Problem, dessen Ursprung ich nicht kenne, aber welches die Seherfahrung genauso behindert wie ein lichtdurchfluteter Raum.

The Trial

The Trial

Dennoch übertrug sich die Begeisterung für die schwarzhumorige Machtlosigkeit und die visuelle Palette mit der Welles Kafka begegnet erneut. Das perfekte Casting (Perkins IST Josef K.) und das verschlungen-verspielte Paradies der filmische Form, ermöglichen ein Abtauchen in eine innere Hölle, in der ständig Räume dynamisiert werden, weil sich hinter Türen völlig überraschende Welten öffnen und in der man so sehr in einer unterbewussten Logik verfangen ist, dass sich sexuelle Triebe und Versprecher in eine Getriebenheit eingliedern, der man weder mit seinen Augen noch mit seinem Kopf entrinnen könnte. Dabei ergibt sich eine faszinierende Heirat zweier großer Künstler, denn natürlich hält sich Welles nicht immer und nicht zu extrem an seine literarische Vorlage. Vielmehr zieht er exakt jene Elemente aus dieser dubiosen Hetzjagd, die ihn selbst nicht loslassen: Ein pessimistischer Blick auf eine Illusion, die mit allen Mitteln illusorischer Kräfte zu einem doppelbödigen Leben auf der Leinwand gebracht wird. Er selbst tritt auf als in Zigarrenrauch gehüllter Anwalt, man kann ihm nicht glauben, nicht trauen, aber es gibt eine Logik, die uns und Josef K. ihm zuhören lässt. Das ist wohl die Logik des Kinos und es ist bezeichnend, dass Welles in seiner Version den Protagonisten mit deutlich mehr Widerstand gegen diese kaputte Welt ausrüstet, denn die Selbstaufgabe wäre eine Hingabe zur Illusion und Welles will diese Illusion bis zum Ende mit-reflektieren. Spät im Film tritt er als Anwalt fast ähnlich auf wie als Filmemacher in F for Fake. Mit welcher absurden Liebe für das Szenenbild hier erstaunliche Sets geschaffen wurden, die sich in der Kombination aus extremen Kamerawinkeln, Objektiven und extravaganten Bewegungen zu einem Sog verdichten, der gleich der Spiegelwand, hinter der sich Romy Schneider im Film lockend versteckt, immer ermöglicht in eine Welt und auf sich selbst zu sehen. Dieser Ansatz mit der illusorischen Natur der Sets war in ein am Ende nicht umgesetztes Konzept von Welles eingeschrieben:

„Yes, I had planned a completely different film that was based on the absence of sets. The production, as I had sketched it, comprised sets that gradually disappeared. The number of realistic elements were to become fewer and fewer and the public would become aware of it, to the point where the scene would be reduced to free space as if everything had dissolved.” (http://www.wellesnet.com/trial%20bbc%20interview.htm )

Es ist auch äußerst spannend wie Welles hier einen jazzigen Modernismus mit den Abgründen des frühen 20. Jahrhunderts vereint und zu einer Symphonie der Tortur durch höhere Mächte vereint. Gedreht wurde ein Großteil des Films im ehemaligen Jugoslawien in Hallen und Wohnlandschaften, die den Albtraum noch verstärken, der auch von den durchgehenden Hammerschlägen von sich im Kreis drehenden Dialogen und dem durchgehenden Stress im Dialog in die Nerven der Zuseher einprägt. Manchmal hält man es kaum aus. Das Sounddesign ist voller Lärm. Dieser Effekt verstärkte sich gar noch im zweiten Film des Abends, Figures in a Landscape von Joseph Losey. Darin wird man mitten in wundervolle und tödliche Landschaft geworfen, um zwei Flüchtenden (Robert Shaw, der auch das Drehbuch schrieb und Malcom McDowell) bei ihrem Überlebenskampf zuzusehen. Wie The Trial bewegt man sich dabei auf einem äußerst abstrakten Terrain, denn nichts wird wirklich benannt, es ist mehr ein existentialistischer Trieb, der den Film befruchtet. Durch das vorangegangene Screening von The Trial legte sich ein Fokus meiner Wahrnehmung zu Gunsten des deutlich schwächeren Films auf das albtraumhafte bei Losey, das durch wiederkehrende Bilder, die fehlenden Gesichter der Jäger, undefinierbaren Gestalten, wie einer bewegungslosen Frau, die zunächst aussieht wie ein Velázquez-Gemälde bevor sie in einem Schockmoment losschreit und eben diesem durchgehenden Lärm, der hier von einem Hubschrauber ausgeht, der immer wieder wie ein dunkler Bote des Todes über den beiden Männern am Himmel kreist. Und der beständige Lärm dieses Helikopters ist ein ganz ähnlicher Test für die paranoiden Nerven wie bei Welles.

Figures in a Landscape

Figures in a Landscape

Die raue Nacktheit einer Verfolgungsjagd, die man ja derzeit auch im regulären Kinobetrieb in Mad Max: Fury Road von George Miller rauschhaft genießen kann, bleibt eine große Faszination, die keinerlei Psychologie braucht, um zu wirken. Katz und Maus, Räuber und Gendarm, hier werden Bilder evoziert, die eine Identifikation aufgrund ihrer Natur ermöglichen und nicht aufgrund der Figuren. Nicht umsonst war die Verfolgungsjagd auch im Kino der Attraktionen ein erfolgreiches Genre. Doch Losey will ein wenig mehr und dadurch entsteht ein äußerst bizarres Stück Kino. Zum einen wird die Landschaft hier mehr oder weniger poetisch mit der Jagd an sich verbunden und gleichzeitig als innere Landschaft etabliert. Fast wie Victor Kossakovsky schneidet Losey assoziativ von fliegenden Adlern auf den Helikoptern, rennenden Rindern auf die beiden Männer. Felder werden abgebrannt, eine Schlange erscheint im Wasser zwischen den Flammen und die Schlussbilder, die an Theo Angelopoulos‘ Eternity and a Day erinnern evozieren eine epische Größe, die eigentlich nichts in diesem Film verloren hat. Fast durchgehend hat man da Gefühl, dass eine tiefe philosophische Ebene unter all diesen kantigen Bildern liegt, aber viel wird man dort nicht finden. Zudem spielt vor allem Robert Shaw zwei Etagen emotionaler, als er womöglich sollte.

Wie The Trial entführt auch Figures in a Landscape in eine abstrakte Interpretation einer unheimlichen Flucht. Hier wie dort könnte die Landschaft überall sein, aber gleichzeitig ist sie auch definierend für diese Welt. Es stellen sich Fragen an die Wichtigkeit einer Verortung oder noch vielmehr einer Konkretheit des Raumes. Vielleicht trifft Losey dieses von Welles antizipierte Auflösen der Sets am besten, wenn er in einer langen Blende einen nächtlichen Zug durch die undefinierbare Zwischenwelt einer Doppelbelichtung fahren lässt. Was sich dadurch letztlich zeigt ist, dass der filmische Raum selbst in seiner Auflösung konkret bleibt, ja vielleicht sogar erst manifest wird. Und aus dieser Sicht betrachtet, ist es vielleicht spannend, dass ich als Einstieg für diese kurzen Betrachtungen eine subjektive Erinnerung an eine Vorführung von The Trial gewählt habe. Denn wenn die Auflösung der Sets tatsächlich stattfinden kann, dann womöglich in unserer Erinnerung an die Filme, in denen oft eher der Geschmack, ein Bild oder eine Emotion hängenbleibt (so ist die unterbewusste Logik, die letztlich beide Filme antreibt).

The Trial

The Trial