Something to Believe: Les Sorcières de l’Orient von Julien Faraut

Man sagt den Kindern gern: Training macht den Weltmeister. Und irgendwo hält sich dieses vereinfachte, auf Arbeit und Selbstoptimierung ausgelegte Prinzip von Erfolg und Misserfolg in den Köpfen und auch in den Mechanismen der Gesellschaft. Daraus folgen zweierlei Probleme und zwar immer dann, wenn dieses Prinzip Brüche erfährt. Einmal geschieht das, wenn das Training, die Vorbereitung, die Investition, die Arbeit sich nicht mit dem Ertrag deckt oder decken kann. Das ist zum Beispiel in der Liebe der Fall (nur weil man die meisten Liebesbriefe schreibt, bekommt man nicht die meiste Liebe geschenkt) oder auch in der Kunst, wobei hier immer wieder und durchaus lächerlich die „Leistung“ eines Künstlers hervorgeholt wird, wenn man sonst keine Argumente findet, warum man ein Werk zeigen oder lieben möchte.

Zum anderen kann es sein, dass die Arbeit eben doch keinen Ertrag bringt, weil andere Faktoren wie ungleiche Voraussetzungen, gesellschaftliche Ungerechtigkeit oder Glück/Pech die Oberhand behalten. Das kann man zum Beispiel im Fußball im Zusammenhang mit dem nicht verkehrten Ausspruch „Geld schießt eben doch Tore“ beobachten oder jeden Tag auf dem Arbeitsmarkt. Vielleicht ist es deshalb, dass es uns besonders gerecht erscheint, wenn Menschen für ihre Arbeit, ihr Leiden, ihre Selbstaufopferung belohnt werden. Dass das etwas vom Abrichten der Haustiere hat, spielt scheinbar vor allem dann keine Rolle, wenn es um sogenannte wahr gewordene Träume geht.

Ein menschenfeindlicher Film wie Whiplash von Damien Chazelle spielt genau mit dieser Leistungslogik, die letztlich und verallgemeinert immer sagt: Es gibt einen Grund für das Leiden, es gibt ein Ziel und irgendwann kommt man an und erkennt, für was man gearbeitet hat. Das erinnert nicht ohne Grund an religiöse Manipulation von Menschen. Der apathische Blick des legendären Trainers Hirobumi Daimatsu, der die japanischen Frauen zum Gewinn der olympischen Volleyballturniers 1964 führte, am Ziel seiner Träume angekommen, erzählt da eine ganz andere Geschichte. Jene der Leere und der durch alle zielgerichteten Unternehmungen laufenden Absurdität, die angekommen am großen Ziel nur noch erkennen kann, dass es jetzt vorbei ist. Okay, man kann dem einiges entgegenhalten. es gibt ja durchaus materielle Entlohnungen und Ehre und große Glücksgefühle, unvergessliche Momente, vielleicht sogar Befreiungen, gesellschaftlichen Aufstieg und die so berührende Inspiration des Erfolgs. Das ist zweifellos so, aber natürlich bräuchte man kein Training, kein Leid, keine Selbstaufgabe, wenn es keine Weltmeister gäbe.

Solche Gedanken dürften dem sportbegeisterten Filmemacher Julien Faraut recht fremd sein, schließlich basiert der Sport mitsamt seiner unheimlichen emotionalen Kraft auf den Narrativen der Träume und Überwindungen. Dennoch hat der als Archivar für das Institut national du sport in Paris arbeitende Filmemacher einen großen inhaltlichen Sprung gemacht seit seinem L’empire de la perfection, der sich philosophisch, psychologisch und ästhetisch mit einem jener großen Sportler befasste, dem zumindest dem Anschein nach der Sport zugefallen ist wie einer Möwe der Aufwind; John McEnroe, dessen mythologisch überhöhte Wut und Gewinnsucht Generationen von Unangepassten des so angepassten Tennissport überwältig. In seinem neuen Film Les Sorcières de l’Orient konzentriert sich Faraut jedoch auf die in der Nichibo Kaizuka gezüchtete Volleyballmanschaft, die es in den 1960er Jahren schaffte, 258 Spiele am Stück zu gewinnen und sich selbst mit der Goldmedaille bei den Spielen in Tokio (das Timing des Films ist mir suspekt, aber das ist ein anderes Thema) krönte. „Gezüchtet“ ist womöglich ein ungerechtes Wort, denn Faraut argumentiert recht überzeugend, dass diese Frauen ihre eigenen Heldinnen sind, voller Hingabe und Wille.

In Interviews spricht Faraut gern über einen feministischen Aspekt seiner Arbeit. Er beklagt, dass die westliche Berichterstattung über die harte Schule, durch die die Spielerinnen gingen, sich auf ein Narrativ festlegte, dass die Unmenschlichkeit und Brutalität der Methoden betonte, während zur gleichen Zeit in Frankreich Frauen gar nicht gestattet war, so viel Sport zu treiben. Es wurde nicht akzeptiert, dass Frauen so trainieren können wie Männer. Damit spricht er sicher einen wichtigen Punkt an und dass hartes Training zum Leistungssport gehört, ist fraglos richtig. Das Problem dieser Wahrnehmung ist allerdings nicht auf den Sport allein bezogen, es geht um dessen gesellschaftliche Bedeutung und metaphorische Vorbildfunktion. Man kann einfach verdächtig viel aus dem Leistungssport fürs Leben lernen, was mehr über die Gesellschaft als den Sport aussagt. Geheimwaffen in der Hinterhand haben, nicht aufgeben, härter arbeiten, um stärker als die anderen zu sein und so weiter. Im Sport sind all diese Elemente von großer und berechtigter Bedeutung, im Leben sind sie traurige Realität. Das Kino nimmt hierbei eine merkwürdige Doppelfunktion ein, wobei Faraut mehr zur Seite des Sports als zur Seite des Lebens tendiert.

Er mischt allerhand Bild- und Tonmaterial: angefangen von Szenen, der nun in ihren 70ern lebenden „Überlebenden“ des Erfolgsteams, Interviews mit den Frauen, über die zahlreichen Anime- und Mangaausschlachtungen des Mythos dieser Mannschaft bis zum begeisternden, aber etwas eintönigen Archivmaterial von den Spielen und Trainingseinheiten. Wirkt der allzu deutliche dritte Akt im interessanteren L’empire de la perfection noch völlig verfehlt, weil der Film so überzeugend für einen anderen Blick auf den Sport wirbt, um sich dann doch der altbewährten Spannung zwischen Verlieren und Gewinnen hinzugeben (vielleicht auch Ausdruck der aufrichtigen Sportliebe des Filmemachers), packt einen die emotionale Wucht dieser Frauen im Kampf um den großen Titel hier umso mehr.

Die Mitglieder dieser Mannschaft, die alle wie Charaktere eines Heist-Films eingeführt und mit Spitznamen bedacht werden, haben, so der Film, unmenschlich gearbeitet, um Unmenschliches zu verbringen. Man wartet fast auf eine Szene wie am Ende von Ocean’s Eleven, in der alle schweigend um einen Brunnen stehen und ihren Erfolg genießen. Nur das Leben und der Sport funktionieren anders als in diesen überhöhten Geschichten. Les Sorcières de l’Orient zeigt, dass es sich hier keineswegs, um die medial kolportierten Hexen handelt, sondern um hart arbeitende Frauen und der Film zeigt auch, dass das in den japanischen Zeichentrickserien und westlichen Berichterstattungen dominante dämonische Bild von Trainer Daimatsu problematisch ist. Statt eines Teufels hat man es mit einem Helden des Willens zu tun, einem, der alles vom Leben, von sich und seinen Mitmenschen verlangt. Und wenn er da am Ende so sitzt und sich nicht freuen kann, erinnert er an die großen Westernhelden des us-amerikanischen Kinos. Ein Mann, der seinen Auftrag erfüllt hat und in die Weite verschwindet. Aber auch hier bleibt festzuhalten, dass das Leben nicht so funktioniert. Aber der Sport?

Was Farauts bisherige Filme neben dem erstaunlichen Material, das er zur Verfügung hat, so wirkungsvoll macht, ist, dass er einen unerschütterlichen Glauben in die Hexenkraft des Sports präsentiert: das betrifft sowohl die oberflächlichen Gefühle als auch tieferliegende Zusammenhänge, die Fiktionalität und die wirkliche gesellschaftliche, menschliche Bedeutung des Sports. Leider fehlt ihm etwas die kritische Distanz oder Ironie (seine Idee des kritischen Umgangs mit den olympischen Spielen besteht aus einigen halbherzigen Bildern der Machtdemonstration der Nazis 1936) und so bestärkt auch dieser Film letztlich nur den Gedanken: Training macht den Weltmeister (statt: Dabei sein ist alles, zum Beispiel).

In Zeiten, in denen sich der gesamte Sport schon fast selbst langweilt mit seiner ständigen Optimierung (Material, Ernährung, Training, Datenauswertung etc.) und man das Gefühl bekommt, dass viele professionelle Sportarten von Robotern betrieben werden (unlängst beschwerte sich etwa der filmreife, weil regelmäßig am Rand der Strecke herzkaspernde Radsportmanager Marc Madiot über all die Profis, die nur mehr auf ihren Tacho starren würden, um bestimmte Wattzahlen zu treten) bietet Les Sorcières de l’Orient zwar auf der einen Seite das Material der Träume, des Übersinnlichen, Ungewöhnlichen, aber gleichzeitig bestätigt er den Optimierungswahn, der zwar bessere Leistung, aber weniger Leben bedeutet. Der Film begeistert sich aber auch für die reinen Bewegungen des Trainings, die Geschwindigkeit, die physische Intensität und findet in vielen Sequenzen weniger zielgerichtete, sondern fast verträumte Aufmerksamkeit für die Schönheit des Sports.

Filmfest München 2019: Kyrgios VS Nadal

Zufällig vor dem Fernsehgerät statt im Kino gelandet. Konnte mich nicht mehr lösen. Dort zu sehen das Wimbledon-Zweitrundenspiel zwischen Rafael Nadal und Nick Kyrgios. Die beiden Kontrahenten, zwei Seiten nicht mal der gleichen Medaille, haben eine Geschichte. Wie viele Geschichten im Sport ist sie eine der Gegensätze, die in diesem sonnigen Donnerstagabend in London ihre würdige oder unwürdige Fortsetzung bekommen sollte. Kyrgios, der unkonventionellste Spieler seines Talents, hatte Nadal 2014 völlig überraschend aus ebendiesem Turnier geworfen. Seine Spielweise, die jeder klassischen Beschreibung dieses klassischen Sports spottet, vermag den bisweilen bewundernswert maschinell agierenden Nadal zu brechen. Nadal, dessen Spielweise einer Uhr gleicht, wirkt im Angesicht von Kyrgios wie ein Queen’s Guard, dem nicht erlaubt wird sich zu bewegen, während ihm eine wildgewordene Wespe um die Nase fliegt. Wenn Tennis, wie man bei Serge Daney lesen oder in Julien Farauts L’Empire de la Perfection sehen kann, etwas mit der Beherrschung der Zeit im Raum zu tun hat, dann verhindert dieser Kyrgios mit seinen Einlagen, Mätzchen und Extravaganzen, dass der spanische Matador, seines Zeichens einer der größten Herrscher über Raum und Zeit, diese Kontrolle behält.

Das Vorspiel zum bemerkenswerten Duell auf dem heiligen Rasen lieferte ein Aufeinandertreffen in Acapulco. Dort besiegte der Australier Kyrgios Nadal in drei Sätzen und verunsicherte diesen vor allem mit wiederholten Aufschlägen „von unten“. Also nicht der gewohnte Schwung über den Kopf, sondern die geschaufelte Variante, die zwar erlaubt ist, aber als respektlos gilt. Legendär ist ein solcher Aufschlag von Michael Chang gegen Ivan Lendl 1989 in Paris geworden. Mit Krämpfen kämpfend verunsicherte der US-Amerikaner den Rhythmus seines tschechischen Kontrahenten. In einem French Open Finale der Damen erntete die Schweizerin Martina Hingis für zwei solche, in ihrer Landessprache „uneufe“ genannte, Aufschläge Pfiffe und Buhrufe. Diese Schläge sind wie eine mentale Unterbrechung des Spiels, indem sie an das Spiel (den nichts anderes ist Tennis) erinnern, auf dem die scheinbare Realität (denn nichts anderes ist Tennis) dieses Hin-und-Hers gründet. Gegen Nadal, der für gewöhnlich weit hinter der Grundlinie stehend auf seinen Einsatz wartet, ist das ein probates Mittel, aber es kommt eben im von aristokratisch verseuchten Ethikprinzipien im Tennis einer Majestätsbeleidigung gleich. Nadal beschwerte sich im Nachklang des Spiels über die Respektlosigkeit seines Kontrahenten. Es kam zu einigen Wortgefechten. Wenn es nur diese Aufschläge wären, könnte man beinahe uneingeschränkt auf der Seite von Kyrgios stehen.

Aber dann sieht man ihm im Fernsehbild. Umhertigernd, mit gebeugter Haltung, beinahe an Quasimodo erinnernd, sein Handtuch hält er wie ein Hund in seinem Mund. Böse flackert das Licht einer Unberechenbarkeit in seinen Augen, man hat das Gefühl, dass das grüne Gras unter seinen Füßen braun wird. Seinen Kragen hochgestellt, lässt er immer wieder lässig den Schläger um seine Finger kreisen wie ein Revolverheld. Zwei Ohrringe glänzen an seinem linken Ohr. Am Vorabend, so berichtet man, war er am späten Abend noch in einem Pub und Burger-Restaurant gesichtet worden. Nadal versucht nicht hinzusehen. Er versucht seinen Ritualen zu folgen. Wasser, Banane, Elektrolyte. Im Laufschritt betritt er zu spät das Feld. Vor seinem Aufschlag tippt er den Ball zigfach auf den Boden, wischt an allen erdenklichen Stellen den Schweiß aus seinem Gesicht, von seinen Armen und Fingern. Immer wieder greift er zum Handtuch, die Mundwinkel verzogen, die Augen eine einzige Falte der Anspannung. Am Vorabend, so weißt man, ist er früh ins Bett gegangen.

Im ersten Satz wirkt es noch so, als würde sich der stoische Nadal nicht beirren lassen. Früh legt er ein Break vor und lässt sein Uhrwerk rattern. In diesem Spiel, das war allen vorher klar, würde es darum gehen, ob die Uhren von Nadal aus der Zeit fliegen oder ob er sie in dieser halten kann. Kyrgios, über den der Kommentator später sagen wird, dass er alles und nichts könne, besitzt einen ganzen Beutel voller Störungen, die er nach und nach in das Spiel wirft. So tanzt er wie ein beschwipster Gene Kelly auf dem Rasen bevor Nadal serviert, links und rechts, hoch und runter, sodass sich vor Nadal kein festes Bild aufbauen kann. Natürlich wagt er auch mit Erfolg den Aufschlag von unten. Er spuckt sichtbar seinen Speichel in die Londoner Abendluft, führt lamentierende Monologe und schließlich entdeckt er so etwas wie die Mutterzelle des spanischen Rhythmus’. Denn Nadal, man kennt es, lässt sich unheimlich viel Zeit. Er lässt seine Kontrahenten warten, während er unbeirrbar seinen Ritualen folgt. Kyrgios beginnt sich darüber zu beschweren. Er diskutiert die ersten zwei Sätze praktisch in jeder Unterbrechung laut mit dem Unparteiischen. Man weiß nicht, ob er es wie John McEnroe für sich selbst tut oder ob er nur Nadal brechen will. Nadal schlägt so gute erste Aufschläge in diesem Spiel wie ganz selten. Auf Rasen und gegen jene, die den Rhythmus brechen wollen, ist ein guter erster Aufschlag das beste Mittel. Für die Qualität dieses entscheidenden Schlages findet die Vorbereitung sozusagen außerhalb des eigentlichen Spiels statt. Es sind die offiziell 25 Sekunden, die der vor Schweiß tropfende Nadal Zeit hat, um aufzuschlagen. Er überspannt den Bogen immer wieder sanft. Der Schiedsrichter lässt ihn gewähren, Kyrgios nicht. Ein ähnliches Bild bei Aufschlag des Australiers. Dieser will einfach schlagen, aber Nadal ist noch nicht so weit. Ein entsetztes Schulterzucken, ein Kommentar in Richtung des Schiedsrichters, irgendwann muss Nadal es hören.

Tatsächlich wirkt er beeindruckt im zweiten Satz, den Kyrgios recht dominant für sich holt. Diese Zeit, in der gar kein Tennis gespielt wird, ist entscheidend für dieses Spiel. Sie entscheidet darüber wie gespielt werden kann. Im Film fände sie ihr Pendant wohl räumlich mit dem Off-Screen, in der Literatur ist es womöglich das, was zwischen den Zeilen geschrieben steht, in der Musik sind es die Pausen, im Leben jene Augenblicke, in denen man kurz Luft holt. Was passieren kann beim Luftholen: Man bekommt Luft, man erholt sich, man konzentriert sich, man hustet, man verspürt ein Kratzen im Hals, man spürt das Gewicht der Welt oder eben man verschluckt eine Wespe. Die Geschichte dieses Spiels ist eine Arbeit gegen die Zeit. Die bessere, weil unnachgiebigere Uhr hat Nadal. Er ist der komplettere Spieler, was nicht heißt, dass er talentierter ist. Kyrgios erinnert auch Kraft seines Namens an eine Figur aus der griechischen Mythologie. Jemand, der unter der Erde gegen Steine schlägt, damit es Beben gibt, die die Welt von ihrem Weg abbringen. Nadal ist der muskulöse, strahlende Held in dieser Geschichte, er versucht die Erde auf Kurs zu halten. In der Mitte des ausgeglichenen dritten Satzes fällt Kyrgios nichts mehr ein, also schießt er Nadal mit einer Art Baseballschlag auf den Körper gezielt ab. Nadal war ans Netz gegangen, um einen Punkt zu machen, Kyrgios, der in diesem Spiel einige außergewöhnlich gefühlvolle Schläge in die Landschaft streicht, feuert rücksichtslos auf seinen Körper. Die Fernsehbilder zeigen nicht, ob es eine Entschuldigung gab, aber der lange, böse Blick von Nadal über seine Schulter lässt vermuten, dass es keine gab. Dieser Aktion folgt ein Doppelfehler. Nadal wankt.

Hier auf dem heiligen Rasen hat der Spanier „nur“ zweimal gewonnen (in Paris auf Sand hat er 12mal triumphiert) und generell wirkt die Spielfläche, wenn er spielt, in Paris immer deutlich größer als in London. Auf Sand beherrscht er Raum und Zeit ohne Einschränkung, wogegen das schnellere Spiel auf Rasen mitsamt der größeren Unberechenbarkeit ihm Schwierigkeiten bereitet. An dieser Stelle versteht Nadal, der für gewöhnlich einer der größten Sportsmänner in diesem Zirkus ist, dass er dieses Spiel nicht allein auf dem Platz gewinnen wird. Er muss auch die Zeit außerhalb des Spiels beherrschen. Hier gewinnt Nadal dieses Spiel. Er beginnt zu schreien, das Publikum zu animieren, zu sprechen, zu springen. Wie angestachelt wirkt er, ob der Provokationen seines Gegenübers. Er rettet sich aus der Situation und landet in einem Tie-Break. Einen solchen hat er in sechs Duellen mit Kyrgios noch nie für sich entschieden. Aber inzwischen ist Kyrgios verhältnismäßig ruhig geworden. Er zeigt sich beeindruckt, denn Nadal ist stärker geworden.

Plötzlich steht eine andere Frage im Raum: Kann man seinen Rhythmus verlieren, wenn man den Rhythmus der anderen bricht? Eine politische Frage, wenn man an das offensive Vorgehen mancher Oppositionsparteien denkt. Diese ewige Frage, ob Kritikerinnen und Kritiker eines Systems, eines Werks oder eben einer Regierung es „besser“ machen könnten. Können aus destruktiven Impulsen eigene Zeitrechnungen entstehen? Indem Nadal beginnt (zugegeben äußerst moderat, aber immerhin) diesen Impulsen eigene Störungen entgegenzusetzen, bricht er die Selbstverständlichkeit der extravaganten Protesthaltung von Kyrgios. Dieser macht entscheidende Fehler. Nicht nur in diesem dritten Satz, den Nadal für sich entscheidet, sondern auch im finalen vierten Satz, der wieder in einem Tie-Break endet. Dort macht Kyrgios die Fehler, die er in Nadal provozieren wollte. Er schlägt einen einfachen Ball ins Netz und kann sich davon nicht erholen. Er verliert, obwohl er nicht schlechter war. Nadal, ein großer Champion wie man so sagt, hat die Zeit zurückerobert. Er hat es geschafft, weil er seine eigenen Handlungen außerhalb der eigentlichen Zeit gefunden hat. Statt nicht auf Kyrgios zu reagieren oder ihn zu imitieren, hat Nadal eine eigene Sprache in der Zeitzone des Australiers gefunden. Er hat ihm den Stolz und die Wut einer dem Spiel und seiner Ästhetik zugewandten Position entgegengestellt. Dadurch hat er Kyrgios nicht nur verlieren lassen, sondern ihn auch zu einem guten Verlierer statt schlechten Gewinner gemacht. Still war er am Ende. Die einzige wirkliche Störung im vierten Satz ging von einer Bachstelze aus, die das Spielfeld beflog. Mit ihr flog der Schläger des Australiers, aber nicht weit genug, um auf der anderen Seite des Netzes hörbar zu sein.