John Grierson und das Meer

Im Rahmen der Schau zur GPO Film Unit konnte man sich in den vergangenen Tagen im Österreichischen Filmmuseum, als eine Art Nebeneffekt, das Gesamtregiewerk des Dokumentarfilmpioniers John Grierson ansehen, da dieses lediglich aus zwei Filmen besteht und sich die Kuratoren der Schau dafür entschieden, Drifters aus dem Jahr 1929 im Programm aufzunehmen, obwohl er vor der eigentlichen GPO Zeit entstanden ist und demzufolge auch aus einem anderen Produktionskontext entspringt. Seine beiden Filme stechen aus den anderen Produktionen der Retrospektive heraus, weil in ihnen das Fortschrittsdenken auf einen an Flaherty erinnernden, mythologischen Gestus trifft und weil seine beiden Filme im Bezug zu ihrer Arbeit mit Montage und Ton nicht der argumentativen Propagandologik anderer spannender Filme der Schau wie Night Mail von Harry Watt und Basil Wright oder The Song of Ceylon von Basil Wright folgen, sondern sich auf eine Beobachtung fokussieren, die aus der Kraft der Bilder und Töne alleine argumentiert und sich auch widerspricht, ja fast davon driftet.

John Grierson Drifters

Augenscheinlich ist die Liebe für die Seefahrt ein Grund die 35mm Kamera auf Schiffen zu platzieren, die glitschigen Bilder sowohl von Drifters als auch dem genial gescheiterten Granton Trawler osziliieren zwischen einem romantischen Fieber der Eröhung der Arbeiter des Salwassers und der Nüchternheit des Schiffs und der ewig kreisenden Vögel, die Fischabfälle aus dem schäumenden Meer angeln. Drifters wurde ohne musikalische Begleitung gezeigt, was nach wie vor eine der besten Prinzipien des Filmmuseums ist, weil einem so bei vielen Werke tatsächlich ein Auge aufgehen kann. Drifters ist ein solcher Film, weil sich seine Poesie aus der Art und Weise ergibt wie Einstellungen und Schnitte aufgebaut sind. Es ist der einzige Film, an dem Grierson beteiligt war, für den er sich wirklich fast ausschließlich verantwortlich zeigt vom Konzept über die Produktion hin zu Dreh und Schnitt (zusammen mit seiner späteren Ehefrau Margaret Taylor). Der Film ist ganz den Vorlieben des Filmemachers entsprechend eine Harmonie des modernen Antriebsdenkens der sowjetischen Montage, die Grierson wie kaum ein Zweiter liebte und bekannt machte (der Film wurde zusammen mit Sergei Eisensteins Battleship Potemkin gezeigt) und ein poetisches Innehalten im Alltag der Heringsfischer der Nordsee. So sehen wir schnelle Schnitte und virtuose Überlendungen von dampfenden Maschinen, sich drehenden Metallen im Rhythmus einer Fahrt, die nur mit dieser Technik möglich scheint, aber gleichermaßen einen Mann, der in einem Moment der Gelassenheit seine Zigarette in diesem Feuer entzündet, die Ruhe eines kreisenden Vogels, die Wellen einer eingefärbten Nacht. Die Fischer wirken wie traurige Steine in der Brandung. Sie stehen in einer profunden Verbindung zur Natur und in diesem Spannungsverhältnis zwischen Natur und Industrie findet der Film auch eine erstaunliche Schlussfolgerung, als er am Ende bemerkt, dass das Geschrei am Markt, auf dem die Fische verkauft werden, nichts mit den Geräuschen des Meeres zu tun hat. Es ist also eine keineswegs sorgenfreie Adaption eisensteinscher Methoden, denn die Schlussfolgerungen sind kritischer, als würde Grierson an der Poesie der gefilmten Umgebung scheitern, als würde sich die Realität der Bilder in die Montage drücken und nicht zulassen, dass es ein reiner Montagefilm des industriellen Fortschritts wird. Das Meer hält immer wieder den Atem der Montage an. Dadurch etabliert sich so etwas wie Nostalgie für das Handwerk, das in diesem Epos von Dampf und Stahl weiterbesteht. Ein wenig fragt sich Drifters, ob das Meer Teil dieser Gewalt ist (Bilder von gegen das Ufer krachenden Wellen, aufgeregets auf und ab) oder ob es sie bremst (die Ruhe dieser Ewigkeit fern vom Trubel der Welt). Eine Einsamkeit und Sehnsucht schleicht sich in die Dynamik. Sie erinnert an die großen Werke des Ozeans wie At Sea von Peter Hutton, Storm Children, Book One von Lav Diaz, Le Tempestaire von Jean Epstein oder Man of Aran von Robert Flaherty.

Granton Trawler Grierson

In Granton Trawler, den Grierson fünf Jahre später im Rahmen seiner Arbeit in der GPO Film Unit zusammen mit Edgar Anstey realisiert, ist es dann das Meer, das die Kamera zum Scheitern bringt. Es ist ein Sieg der Produktionsumstände über die Ideen einer Montage und dann doch die Rückkehr einer Montage als Aneignung der Ereignisse. Wie richtig bemerkt wurde, ist der Film auch ein zufälliger Leviathan, weil er das Chaos und die Nähe einer Fischjagd greifbar macht. Ein Sturm und eine raue See machten den Trip auf der Isabella Greig zum Horror des stabilen Bildes. Das Stativ ging über Bord, die Kamera fiel immer wieder um und es gab nur wenige brauchbare Einstellungen. Stattdessen bekommen wir Fetzen einer Reise, in der das Meer wieder Herr ist über die eigentlichen Ideen des ehemaligen Marinesoldaten Grierson. Seine eigene Auffassung, dass ein Film aus dem Material entsteht und nicht aus dem Kopf wurde hier ihrem ultimativen Härtetest unterzogen. Er beauftragte Anstey damit, dieses unmögliche Material zu schneiden. Wie so vieles im Kino ist das Unmögliche am verlockendsten. Das Ergebnis ist grandios. Man spürt nicht nur die Arbeit der Seefahrer, sondern auch die Arbeit des Films. Darüber hinaus wurden sämtliche Töne im Stil eines Jacques Tati nachträglich aufgenommen (angeblich von Alberto Cavalcanti). Es entsteht eine wunderbare Distanz, ein Echo zwischen Bild und Ton, die beide eigenständig bestehen und sich dennoch vereinen. Die Töne arbeiten ganz wie das Meer an einer Weite, die man hören muss. Damit soll auch gesagt sein, dass es erstaunlich ist, wie greifbar Grierson sowohl in seinem Stummfilm Drifters als auch in dieser Post-Synchro-Poesie Granton Trawler Filme über die Geräusche des Meeres gemacht hat. Das ist auch insofern erstaunlich, da andere Filme der Schau wie BBC: The Voice of Britain von Stuart Legg die Übertragung von Stimmen und Tönen zum Thema haben, aber diese eigentlich nicht wirklich einfangen können. Sie fokussieren sich lediglich auf die Übertragung, die wie sich auflösende Strahlen in alle Richtungen geht, während es bei Grierson eine Konzentration und Präsenz dessen gibt, was er filmt.

Das Meer bei Šarūnas Bartas und bei Jean Epstein

In Freedom von Šarūnas Bartas ist der Anblick und das Geräusch des Meeres ein bitteres Versprechen, die untergehende Sonne brennt mit ihrem roten Atem über die Ufer einer Welt, die, das wird im Lauf des Films spürbar, einem Gefängnis gleicht. Dabei findet Bartas immer wieder Einstellungen des Meeres, die es zu einem mysteriösen Reich werden lassen, mit Formen, die wir nicht verstehen und Wellen, die an der Zeit kleben und sich gleich einem Schwarm durch dieses Wasser kämpfen. Das Rauschen ist derart penetrant, dass man es selbst im Hinterland, den Geröllwüsten des Films noch vernehmen kann. Nach einer Zeit wird klar, dass diese Bilder, die man leichtfertig mit Freiheit und Aufbruch assoziiert, in Wahrheit ein Gefängnis und eine Qual sind. Man fühlt sich schlaflos am Meer, weil man das Rauschen nicht ertragen kann. Es geht immer weiter, wie ein dösendes Summen im Hinterkopf.

Le Tempestaire2

Le tempestaire von Jean Epstein

In Jean Epsteins Le tempestaire ist die Magie des Ozeans keine Sache der Imagination oder Erwartung. Herrscher über die Stürme kontrollieren die Flut. In einer Kristallkugel verlangsamen sie und lassen das Meer rückwärts laufen. Sie sind in Wahrheit Filmemacher, die jene Zeit manipulieren, die der Motor für jene salzigen Wiesen sind, die gegen die schroffen Felsen brechen. Schon zu Beginn wird das klar, wenn Epstein dasselbe mit seinen Figuren macht und sie aus Standbildern entstehen lässt, wie ein Gott der Zeit mit dem sinnlichen Gefühl einer leichten Brise des ersten Atemzugs. Sowohl Bartas als auch Epstein interessieren sich für die Mechanismen des Meeres und das Leben im Laugenduft der Algen. Sie zeigen das Brachland eines vom Wasser verlorenen Bodens (Die Figuren bei Bartas wandern durch die Wüste einer Ebbe und gehen in einer unfassbaren Szene mit der Flut in Richtung Ufer.) und die Dynamik des Wellenspiels und des Lichts, das auf dem Wasser in tausend Teile zerbricht. In beiden Fällen ist das Meer Hintergrund für einen existenziellen Überlebenskampf. Beide thematisieren damit Emotionen beim Blick auf das Meer, das in vielerlei Hinsicht genauso arbeitet wie das Kino. Bewegung, Licht, Ton und eine Unsicherheit gegenüber den Kräften, die von diesem Wasser ausgehen und die dieses Wasser beherrschen. Beide Filme sind nicht nur Filme über das Meer sondern auch über den Wind am Meer.

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Freedom von Šarūnas Bartas

Doch in beiden Filmen ist das Meer beziehungsweise der Wind eine Bedrohung, ein Gefängnis, eine Angst. In Freedom wird das Meer zu einem Sinnbild für politische Grenzen einer hoffnungslosen Flucht, aber einer derart erhabenen Grenze, dass man sich fragen könnte, ob es nur an unserer Wahrnehmung dieses Wassers liegt, dass es so tödlich sein kann. Gleich zu Beginn fallen Schüsse auf dem offenen Meer. Es wird kontrolliert. Doch nicht von mysteriösen Magiern und moralischen Poeten wie bei Epstein sondern von Gesetzeshütern. In einer traurigen Szene müssen wir machtlos zusehen wie Vögel losfliegen. Man selbst kann das nicht. Bei Epstein hängt das Meer an einer regionalen Folklore und am Aberglauben, bei Bartas umspannt es die ganze Welt. In beiden Fällen zeigt es ein Potenzial des Kinos an, das weit über dessen narrative Ideologien hinausreicht. Jeder Filmemacher sollte wenigstens einmal das Meer gefilmt haben, denn es scheint mir eines der wenigen Bilder zu sein, die sich nicht wiederholen können, da das Meer immer etwas anderes ist.

Gustave Flaubert (November)
„Ich stieg eilends zur Meeresküste hinab, mit sicherem Sprung über Geröll hinwegsetzend. Ich trug den Kopf hoch voll Selbstgefühl, ich atmete stolz die frische Brise, die den Schweiß in meinen Haaren trocknete. Der Geist Gottes erfüllte mich. Ich fühlte, wie mein Herz sich weitete. In einer merkwürdigen Erregung betete ich etwas an; ich hätte mich im Sonnenlicht auflösen und in der azurnen Unendlichkeit verlieren mögen, mit dem Duft, der von der Fläche der Fluten stieg.“