Il Cinema Ritrovato 2018: La Ragazza in Vetrina von Luciano Emmer

La ragazza in vetrina von Luciano Emmer

Andrey Arnold: Der Film, auf den sich beim heurigen Il Cinema Ritrovato alle einigen konnten, schien Luciano Emmers La Ragazza in Vetrina zu sein. Fraglos wird es Menschen geben, die mir widersprechen würden, aber die Empfehlungen, die ich in Bezug auf diesen Film erhielt, waren zahlreich und kamen aus unterschiedlichsten Ecken. Es ist ein Film, der zur Zeit seiner Veröffentlichung aufgrund moralischer (viele meinen: politischer) Einwände zensiert wurde, was den Regisseur seiner Profession entfremdete (sprich: in die Werbung trieb). Erst vierzig Jahre später kam er in unverfälschter Vollständigkeit zur Aufführung. Er handelt von zwei italienischen Gastarbeitern in Holland, die für ein Vergnügungswochenende nach Amsterdam fahren, der Stadt, in der du dich gerade aufhältst. Siehst du die Stadt dank des Films mit anderen Augen?

Valerie Dirk: Ja, hier gibt’s Frauen in Schaufenstern. Überhaupt scheint die ganze Stadt ein einziges Schaufenster zu sein. Nur der Müll in den Kanälen lässt einen erahnen, dass das Ganze nicht nur polierte Oberfläche ist. Ai, Amsterdam! Aber um genauer auf deine Frage einzugehen. Ich selbst habe eine durchzecht Nacht hinter mir, und mir fiel vor allem die Abwesenheit jeglicher Lino-Ventura-Typen auf. Also brummige und machoide Männer mittleren Alters, die – wie man so schön sagt – das Herz am rechten Fleck haben. Die Stadt scheint seltsam jung, die Abwesenheit älterer Menschen fällt geradezu unangenehm auf. Wie hast du Federico (Lino Ventura), den Mentoren und väterlichen Freund Vincenzos (Bernard Fresson) wahrgenommen?

AA: Das ist natürlich ein ganz tolles Figuren- und Schauspieler-Duo. Die beiden sind ja schon Charakterköpfe, aber darob keine bloßen Typen. Ventura gibt den alten Haudegen und Hundianer, laut und aufbrausend, immer am Reden, am Gestikulieren und Sich-Produzieren. Sein Lebenshunger ist groß, fast schon an der Grenze zur Verzweiflung. Auch, weil er schon spürt, dass das mit dem Leben nicht ewig währt. Und weil er meint, die Weisheit des Alltags mit Löffeln gefressen zu haben, nimmt er den jüngeren Kumpel unter seine Fittiche, um ihm ganz jovial zu zeigen, wo der Bauer den Most holt (und der Mann sich seine Frauen). Schon, weil er ihn mag, aber auch, weil es ihm das Gefühl gibt, wer zu sein. Ventura spielt das super, dieses Immer-Etwas-Übers-Ziel-Hinausschießen, das Den-Mund-Immer-Etwas-Zu-Voll-Nehmen, weil er es immer auch ein bisserl zu bemerken scheint – und weil sein zuviel nicht nur lächerlich, sondern auch ansteckend ist. Vincenzo hingegen ist vom Typ her eher ein schüchterner Adlatus, still und zurückhaltend, aber dann eben doch nicht so naiv, wie er vielleicht zunächst wirkt, jedenfalls lernfähig und auf der Suche nach Unabhängigkeit. Wären die Figuren nur einen Deut eindimensionaler, wäre der ganze Film wohl eine (lustige) Schmierenkomödie geworden, so ist er mehr Comédie humaine. Ein indirekter Nachfolger dieses Films scheint mir übrigens Ulrich Seidls Import Export zu sein. Hast du den gesehen?

VD: Nein, leider nicht. Aber die Ausschnitte und IMDb-Kommentare verraten, dass es sich wohl um ein perfektes Trouble Feature handeln würde, da sich die Filme stilistisch, formal und auch ideologisch zu reiben scheinen, wohingegen die Themen Gastarbeit und Sexarbeit die gleichen sind. Apropos Arbeitswelten: Ich war ziemlich von der Inszenierung der bedrückenden, engen, erstickenden und dunklen Schachtarbeit beeindruckt. Hier hat der Film als Erfahrungsmodus, der eben diese Arbeitsverhältnisse in ihrer Bedrückung erfahrbar macht, total gut funktioniert. Und durch das Fenster mit Tageslicht, dass sich „Vertigo“-mäßig (ohne Effekt) beim Hinabfahren in den Schacht (über 1000 m!) entfernt, ergibt sich auch ein Konnex zur Arbeitsrealität der Prostituierten in Amsterdam, die sich eben in einer solchen Vitrine wie Waren verfügbar machen. Das Fenster-Tageslicht, das nach dem Unfall wieder näher rückt, und die ersehnten Fenster, in denen sich die Frauen ausstellen, bilden hier eine Brücke, die womöglich anzeigt, wie sehr die Arbeitsrealität der Arbeiter von einer „unkonsumierbaren“ Freizeit entfernt sind. Ebenso wie die Frauen zu Waren in Schaufenstern werden, wird es die Wirklichkeit. Außerdem wird die Arbeit der Minenarbeiter mit der der Sexarbeiter*innen zusammen gedacht. Sonntag ist frei und unter der Woche arbeiten beide unter äußerst schwierigen und gefährlichen Umständen Schicht. Wie hast du die Arbeitswelten wahrgenommen? Waren sie für dich dominant oder hat dich die zwischenmenschliche Storyline mehr gefesselt? P.S.: Danke übrigens für deine präzise Beschreibung der zwei Protagonisten, von einer „Schmierenkomödie“ wäre der Film aber meiner Meinung nach, selbst wenn die Figuren schematischer wären, meilenweit entfernt!!

AA: Das mit der Schmierenkomödie war gar nicht bös gemeint (daher auch der Zusatz „lustig“). Ich fand nur, dass sich auch ein sehr viel klamaukigerer Film mit nahezu identischem Plot denken ließe, vielleicht mit Totò in der Rolle Venturas. Der wär dann sicher gar nicht so viel schlechter, aber doch anders. Dass La Ragazza in Vetrina stellenweise ziemlich lustig ist, zählt zu seinen größten Stärken. Emmer war davor ja, wenn ich mich nicht irre, vornehmlich auf Komödien abonniert. Liest man unsere bisherigen Ausführungen, stellt man sich den Film womöglich ziemlich hart vor. Und das ist er auch – aber diese Härte fühlt sich weicher an, als sie ist, weil der Film so überschäumt vor Menschlichkeit. Was genau das heißt, wäre für mich die entscheidende Frage. Es hat auf jeden Fall damit zu tun, dass die Arbeits- (und Freizeit-)welten und die Beziehungen zwischen den Figuren eben nie wirklich getrennt gedacht werden. Das eine wirkt auf das andere und vice versa. Das „Menschliche“ liegt für mich auch in der Art, wie die Figuren unter ärgsten Bedingung (die vom Film, wie du ja schon gesagt hast, sehr eindrücklich vermittelt werden, auch ästhetisch über Otello Martellis großartig raue Schwarz-Weiß-Aufnahmen) ihren Humor nicht verlieren, im Schacht Witze reißen, sich nach einem Grubenunglück mit Liedern bei Überlebenslaune halten etc. Zudem in ihrer Impulshaftigkeit auf der Pirsch in Amsterdam, in ihren Patzern und Fehltritten. In ihrer Eigennützigkeit, die hin und wieder von Großmut und Liebebedürfnis durchkreuzt wird. Und nicht zuletzt, und das hat jetzt nicht unbedingt mit den Figuren zu tun, im Reichtum der Realität im Bild, dem wuselnden Vergnügungsviertel Amsterdams. Genau wie in der Mine hat man den Eindruck, die Schauspieler hätten sich da einfach ins echte Getümmel geschmissen – auch wenn es dort in Wahrheit sicher noch viel wilder zugeht. Siehst du das ähnlich?

VD: Ich denke, das Herzliche, Humorvolle und Klamaukige, das unzweifelhaft in den Filmen enthalten ist, in Kombination mit den absolut harten und nicht weichgezeichneten Arbeitsrealitäten und dem Gewusel an den Originalschauplätzen, dass eben genau das den neorealismo rosa ausmacht. Emmer gilt ja als einer der wichtigsten Regisseure dieser Mischform aus Komödie und Neorealismus. Was ich aber neben dem Humor am interessantesten fand, waren die beständigen Verständigungs- und Verständnisprobleme zwischen den Protagonist*innen. Zum einen die Sprachbarriere zwischen Niederländisch und Italienisch, zu einer Zeit als Englisch keine Option zu sein schien. Zum anderen die Verständigungsprobleme zwischen Federico und seiner Freundin, die wirklich nah am Slapstick entlangschrammen, aber dann doch etwas ganz Existentielles bekommen: Der Wunsch nach Anerkennung trotz der Profession (Prostituierte) und die Liebe für jemanden, der ja eigentlich ein Trottel ist – allerdings ein herzensguter. Soviel zu Federico / Ventura und seiner Chanel / Magali Noel, welche mit ihrem aufbrausenden Temperament die Schaufenster Amsterdams italienisch ausschmücken. Auch schön, wenn man sieht, wie die niederländischen Komparsen darauf reagieren… amüsiert witzelnd. Das Setting, Wuseln und Co. wirkt sehr authentisch – aber auch wie die perfekte Kulisse für das italienische Gastarbeiterspiel. Es ist spät und mir fällt grad keine Frage mehr ein… Vielleicht diese: Warum konnten sich wohl alle auf diesen Film einigen?

AA: Ich nehme an, es hat mit all den Dingen zu tun, die wir hier angeführt haben. Mit geht es jedenfalls so, dass ich bei keinem anderen Film in Bologna (auch wenn mir andere ebenso gut gefallen haben) so stark und auch schmerzlich gespürt habe, dass es diese Art von Kino heute nicht mehr gibt. Also ein Kino, das genuin populär, humorvoll und unterhaltsam, famos gespielt und präzise inszeniert, formal ausdrucksstark und zum Experiment bereit, erzählerisch zwanglos und frei, überdies dokumentarisch, getränkt in zeitgeschichtlicher Wirklichkeit, authentisch und unsentimental in seinem Menschenbild sowie ganz selbstverständlich politisch ist. Es gibt heute zwar immer wieder Filme, die diese Ansprüche zum Teil erfüllen, aber kaum je vergleichbar gestandene Volltreffer. Vielleicht, weil die unterschiedlichen Zusammenhänge, in denen Filme heute entstehen, und die Erwartungshaltungen, die mit diesen Zusammenhängen einhergehen, immer irgendwelche Grenzen ziehen und Wege vorgeben. Andererseits: Auch gegen Emmers Film gab es, wie bereits erwähnt, einst vehementen (Zensur-)Widerstand. Dass es ihn trotzdem gibt, dass er heute trotzdem in seiner Ursprungsfassung sichtbar werden kann, sollte zeitgenössischen Filmemachern Mut machen.