Anleitung für eine Welt ohne Zuhause: Beobachtungen aus dem Kino 2019

– Zunächst zu einigen Katzen vor einem Eingang in Pedro Costas Vitalina Varela. Auf einem Quadratmeter bilden sie eine Familie. Ein kurzer Blick reicht, sie schauen nicht zurück. Es waren beileibe nicht die einzigen Tiere, die man dieses Jahr im Kino sehen konnte: Esel, Wachtel (Schanelec), Wildschwein (Köhler, Winckler), Hunde (Tarantino unter vielen anderen), Kröte (Pierre Creton), verletzte Eule (Kosa & Da Costa), Hühner (Azevedo Gomes), eine Kuh (Laxe), ein Puma (Torres Leiva), Affen (Aïnouz), Hase (Côté).

– Tiere erzählen uns etwas über ein Zuhause. Sie binden es nicht an ein Gebäude, an einem Raum (das passiert, aber dieser Raum ist oft ein Gefängnis, meist eine Zwischenstation), sie binden es an Ernährung und Fortpflanzung. Man ist wo, um zu überleben.

– Parasiten gab es auch im Kino (wie immer). Auch im übertragenen Sinne. Bei Bong Joon-ho, auch bei Ivan Marković und Wu Linfeng in ihrem From Tomorrow on I will oder gar in Rian Johnsons Knives Out. Denn wo es keinen Platz zum Leben und zum Überleben gibt, muss man Lebensräume teilen, sich einnisten, sich von der Ernährung der anderen ernähren. Brad Pitt teilt einen Wohnwagen hinter dem Freiluftkino mit seinem Hund (ist das derselbe Wohnwagen, in dem manches Geheimnis in Billy Wilders Kiss Me Stupid verschwindet?). Anleitung für eine Welt ohne Zuhause.

Kiss Me Stupid übrigens spielt eine ganze Zeit lang herum auf der unvergesslich heimeligen, bürgerlichen Zufriedenheitsbekundung: Domestic, domestic!

– Sílvia das Fadas nennt ihren Film (im Englischen) The House is Yet to be Built. Bei Costa wird an einem Haus gebaut. So ist das mit dem Kino. Irgendwer baut immer. Nirgendwo wird wer wirklich fertig, selbst wenn zahlreiche Retrospektiven von Filmemachern unter 40 weltweit das Gegenteil behaupten. Wir besichtigen unfertige Häuser statt Ruinen. Ziegelstein auf Ziegelstein bis alles wieder zerfällt.

– Zum Beispiel, weil eine Liebe das Haus verlässt. Dann verändern sich auch die Wände, alles wird enger, unbewohnbarer, unheimlicher. Frank Beauvais erzählt eine solche Geschichte in seinem Ne croyez surtout pas que je hurle. Getrennt von seinem Lebenspartner findet er sich isoliert in einem Haus. Seine einzige Zuflucht ist die Filmgeschichte und das Internet. Kann man darin wohnen?

– Es gibt ja viele Listen derzeit mit den besten, wichtigsten, unvergesslichsten Filmen der Dekade. Vorschlag für eine solche Liste mit den Filmen, in denen man womöglich wohnen könnte: Listening to the Space in my Room (Robert Beavers), No Home Movie (Chantal Akerman), Three Landscapes (Peter Hutton).

– Die alten Mafiosi bei Scorsese übrigens leben am Ende in gar keinem Zuhause jenseits ihres Macho-Kartenhauses, das lange zusammengefallen ist. Wenn man stirbt, kann man sich von den alten Sünden nichts mehr kaufen. Aber vielleicht ist die Fantasie der eigenen Wichtigkeit wichtiger als das, was man von außen sieht. Ein Zuhause, das im Kopf entsteht.

– Oder in der Kunst wie im séanceartigen Amazing Grace von Sydney Pollack, Alan Elliott. Dort wird eine Gospelaufnahme von Aretha Franklin zu einem Zusammensein, das vielleicht temporär, ziemlich sicher filmisch überhöht, aber doch voll von der Kraft tatsächlicher Heimat ist. Und Heimat ist sowieso ein Raum aus Zeit. Egal wie man es dreht und wendet, dieser so beschämend instrumentalisierte Begriff politischer Debatten, ist emotional, weil er an der Zeit hängt. Marcel Proust, Autor von Heimatgeschichten. (Man sehe dazu auch Luke Fowlers Mum’s Cards.)

– Auf der Suche nach einem Zuhause (oder auf der Flucht vor seinem Zuhause) befindet sich auch der Protagonist in Synonymes von Nadav Lapid. Sprache, Gestus, Kleidung, Bewegung, Ernährung, Sex und Beruf. Alles wird Ausdruck einer fehlenden Heimat, einer verlorenen Heimat

Synonymes ist eigentlich der bessere Joker. Beides Filme auf dem durchhängenden Drahtseil, das zwischen einer herumschleudernden Welt und dem vom eigenen Kern losgelösten Individuum gespannt wurde. Luciérnagas von Bani Khoshnoudi erzählt die gleiche Geschichte nur ohne den Ausbruch. Verinnerlicht vereinsamt, orientierungslos träumend, begehrend verlassen. Es soll nur keiner denken, dass man schreit.

– Ein Zuhause ist auch ein Ort, an dem man arbeiten kann und darf. In Chão, einem der herausragenden Debüts des Jahres, dokumentiert Camila Freitas vier Jahre lang das Aufbegehren einer Gruppe landloser Arbeiter im sich selbst ausrottenden Brasilien. Auch die Autowerkstatt in Sebastian Brameshubers Bewegungen eines nahen Berges ist ein solches Zuhause der Arbeit.

– An manchen Orten wird sowieso nur mehr mit Steinen geworfen. Glashäuser, sagt man, gibt es nicht. In Little Joe von Jessica Hausner gibt es nur Glashäuser. Irgendwo könnte mal ein Zuhause sein oder es war dort und man hat es vergessen. Für den Preis eines Lächelns und in der Unsicherheit gegenüber allem Glück, das egoistisch geworden ist. Ein Zuhause ist kein geteiltes Glück mehr, so viel ist klar.

– Für was also kämpfen die Menschen? Dafür sein zu dürfen, auch ohne Zuhause? Oder wollen sie ihr Zuhause zurück, das, was davon übrig ist, verteidigen, bis zum letzten Ziegelstein, in den Trümmern übernachten, aus ihnen erwachen? Kämpfen sie für die Bilder, die ihr Zuhause ersetzen? Denn auch Bilder können ein Raum aus Zeit sein.

– Manche fliehen auch oder reisen zumindest. Sie wollen Fremde sein und Fremde bleiben, die Geschichte passieren, als gäbe es nur die Orte, Blicke und Begegnungen und nicht das Gewicht des Lebens und der Industrie, die dieses paralysiert.

– Nicht umsonst beginnt Corneliu Porumboius La Gomera mit Iggy Pops The Passenger. Ein solcher ist auch Elia Suleiman, der sowieso nichts findet, nichts finden will und wenn dann, dass alles irgendwie überall gleich ist. Das Zuhause ist überall verloren, die Heimat überall verdorben. Ein bedenklicher Gedanke von einem Mann aus Palästina.

– In seinem augenverwöhnenden Cézanne begibt sich auch Luke Fowler auf eine Reise. Sie führt in in die Heimat des französischen Malers, in dessen Welt aus Oberflächen, Farben, Material. Cézanne hat aus und auch über sein Zuhause geschrieben: „Ich verstehe die Welt nicht, und die Welt versteht mich nicht, darum habe ich mich von der Welt zurückgezogen“

– Hat das Kino verlernt, Bilder eines Zuhauses zu zeigen?

– Eigentlich nicht, es gab sogar ziemlich starke, aufgeladene, glühende Bilder eines Zuhauses. Etwa bei Terrence Malick (natürlich) oder auch bei Oliver Laxe und seinem O Que Arde. Und auch bei Costa gibt es einen unvergesslichen Flashback hinein in das, was ein Zuhause war oder hätte sein können. Aber in all diesen Filmen geht etwas verloren, wird etwas zerstört. Nichts bleibt bestehen. Heimat war und Zeit ist ein Raum, der aus Verlust besteht.

– Bilder des Rückzugs (sind sie einmal gemacht, ist auch dieser Ort verloren): Ein Schlafzimmer in La Bel été von Pierre Creton, ein Gemälde in Portrait de la jeune fille en feu von Céline Sciamma, der Vater, der Schweiß vom Gesicht seiner singenden Tochter wischt in Amazing Grace, das Meer in Una luna de hierro von Francisco Rodriguez, eine Frau im Moos liegend in Ich war zuhause, aber…, eine Umarmung des Glücks am Krankenbett in Martin Eden von Pietro Marcello.

– Andere treffen sich im künstlichen Wald und erzählen sich vom wilden Sex, den sie kaum haben können. Das erinnert an die zahnlosen Gangster in The Irishman, ist aber Albert Serras Bloßstellung von Voyeurismus und Männlichkeit in Liberté. Nichts ist hier domestic, domestic, aber alles wirkt unehrlich, im wahrsten Sinne des Wortes unaufrichtig.

– Das Kino zeigt in diesen Zeiten besonders gut, die Orte, die gar nicht sind, die immer nur sein wollten, die einmal waren, die nur ein Traumbild sein.

– Das Kino schlittert durch die Neonnächte in unbewohnten Hotelzimmern ohne Sonnenlicht. Jeder Funken, jedes Brennen ist schon ein ganzes Leben. Im Aufbegehren liegt ein Hoffnungskeim, der freier atmen kann, wenn er nicht hinter vier Wänden versteckt wird, wenn keine Mauer, das wenige Licht davon abhält, den Samen zu berühren.

– Zeigt das Kino, was vom Kino übrig blieb? Die Flüchtigkeit verlorener Häuser, die kurzen Ideen eines möglichen Lebens, der Zerfall einer greifbaren Welt.