Reden Über: Safari und die Ethik des Ringblitzes

Ulrich Seidls Safari und Ethik im Dokumentarfilm standen im Zentrum des zweiten Gesprächs von Katharina Müller, Alejandro Bachmann und Patrick Holzapfel.

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Patrick Holzapfel: Wir haben ja gesagt, dass wir uns unter dem großen Begriff Ethik im Dokumentarfilm ein wenig über Safari von Ulrich Seidl unterhalten wollen und dabei, wenn es sich anbietet, auch auf andere jüngere Beispiele im deutschsprachigen Kino wie Brüder der Nacht von Patrik Chiha eingehen. Ich würde das Gespräch auch gerne mit Seidl beginnen, einem Filmemacher, der ja immer an der Grenze des Darstellbaren arbeitet … was er zeigt, wie er es zeigt, das moralisch Vertretbare wird da immer ausgetestet. Ich wollte euch einfach fragen wie es euch mit Safari ging in dieser Hinsicht. Hat der Film euch provoziert, irritiert?

Alejandro Bachmann: Als ich Safari gesehen habe – die hell ausgeleuchteten Tableaus, die übermäßige Sichtbarkeit von Jedem und Allem musste ich an ein Zitat von Pedro Costa denken, der mal gesagt hat, dass seine Art der Raumausleuchtung damit zu tun hat, den Figuren irgendeine Art von Schutzraum zu geben. Das Interessante bei Safari und generell bei Seidl ist natürlich irgendwie auch die Form der Ausleuchtung. Man  könnte fast sagen, dass das ein wenig das Gegenteil von Costa ist, denn bei Seidl ist immer alles vollständig ausgeleuchtet. Und das trifft sich auch immer mit Figuren, die scheinbar alles von sich preisgeben. Das ist ja auch dieses komische Gefühl, dass man manchmal bei Seidl hat, wenn man sich fragt: Warum diese übermäßige Deutlichkeit in allem, warum diese brachiale Sichtbarkeit aller Details, ein wenig auch wie in den Fotografien von Martin Parr, der das mit einem Ringblitz erzeugt? Jetzt hast du gefragt, ob mich das in Safari provoziert hat. Nein, mich hat es nicht provoziert und ich habe witzigerweise mit Leuten gesprochen, die meinten, dass der Film ja auch nur Sachen erzählen würde, die wir sowieso schon wissen. Ich muss aber sagen, dass es was anderes ist, eine Sache zu wissen, als eine Sache zu sehen. Für mich war dann eigentlich nicht Seidls Form schockierend, sondern was ich darin sehe und zu sehen welche Funktion dieses Jagen für die Leute hat. Das war für mich schockierend. Der dokumentarische Ansatz von Seidl ist einem so vertraut, dass er kaum noch schockieren kann und in diesem Film fand ich ihn auch sehr passend. Das Thema und die Art und Weise sich damit zu beschäftigen, hat sich für mich in diesem Fall sehr, sehr gut ineinander gefügt.

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P.H.: Wenn ich dich da gleich noch etwas fragen darf: Es hängt ja mehr an der Feststellung von Costa, als die von dir beschriebene Raumausleuchtung allein. Das Licht ist ja nur ein Ausdruck einer Gesamthaltung. Man hat das bei Costa ja demokratisch genannt, also ein demokratisches Arbeiten mit den Leuten, die man filmt. Deshalb ist ja Brüder der Nacht auch so ein super Beispiel, wo eben auch Geschichten von den Figuren selbst kommen und nicht unbedingt vom Filmemacher. Außerdem gehört dazu neben dem Licht auch das Framing. Ich habe das Gefühl, dass Seidl immer sehr frontal draufhält, während es bei Costa oft allein schon durch die Kadrierung Dinge im Verborgenen gibt. Das könnte man ja auch kritisieren, also dass dieses Licht eine Form der Ästhetisierung darstellt. Dann kommt bei Costa noch eine Vorliebe für enorme Untersicht mit rein, die Figuren werden erhöht und die Kamera gibt ihnen eine gewisse Würde. Ich glaube die Frage, die mir da im Kopf herumschwirrt ist: Wenn Menschen wie die, die Seidl da filmt moralisch fragwürdig handeln, ist das dann für den Filmemacher ein Go, sie auch  moralisch fragwürdig zu filmen? Oder müsste er uns eigentlich etwas anderes zeigen, als das, was du vorhin erwähnt hast, also das, was wir vielleicht sowieso schon wissen?

Katharina Müller: Da stellen sich für mich gleich zwei Fragen. Zum einen: Was meinen wir, wenn wir von „moralisch fragwürdig“ sprechen? Ich kenne niemanden, der das nicht wäre. Das müsste man sehr genau definieren. Und ich würde gerne noch einen Begriff zum Formalen ergänzen. Du hattest von Ästhetisierung gesprochen, die ich auch bei Seidl sehe. Ein Begriff, den ich jetzt zumindest im Diskurs um Seidl angemessen finde, wäre der der Tableauisierung. Ich finde, dass dieser Begriff gerade in Bezug auf den angesprochenen Schutzraum auch jenseits der Fragen nach der moralischen Vertretbarkeit eine entscheidende Rolle spielt. Das sind, ich will jetzt nicht sagen „schöne Bilder“, aber ästhetisiert ist sicher ein Wort, das sind vor allem Bilder in einem Tableau-Sinne. Ein bisschen erinnert mich das ja an die unglaublich vielen Selfies im Social-Media-Bereich, wo sich Menschen zum Teil mit absoluten Fratzen zeigen und das fällt denen selbst gar nicht auf. Also auch mit so einer komischen Untersicht, wo irgendwelche Typen hinter ihrem Bart verschwinden und irgendwie grimmig schauen und sich dabei selbst als repräsentationswürdig erachten. Da liegt dann aber ein Filter darüber und da gibt es so ein bestimmtes Framing und das erinnert mich so ein bisschen an das, was Seidl da macht…

P.H.: Wenn ich da kurz einhaken darf…wenn du jetzt so ein Tableau von Seidl siehst, zum Beispiel in Safari und diese Menschen sitzen dort unter den ausgestopften Tieren, ist das für dich dann ein Bild, das sozusagen von den Figuren eingerichtet ist im Sinne davon, dass es zum einen an diesen Orten einfach so aussieht, also die haben wirklich diese Räume und dort präsentieren sie sich für den Film oder ist das etwas, wo du das Gefühl hast, dass Seidl diese Figuren in seine Tableaus setzt? Das ist vielleicht aus mancher Perspektive kein großer Unterschied, aber insbesondere in einer ethischen Diskussion würde ich meinen, dass das sehr relevant ist.

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K.M.: Ich habe dort beide Bilder gesehen. Ich habe das von ihm eingerichtete Bild gesehen, aber auch die Einrichtung der Figuren in diesem Bild. Ich glaube, dass er ein Framing macht, so ein bisschen wie ein Selfie, ein Selbstportrait. Ich habe dort eigentlich so eine Art mise-en-abyme gesehen, die diese „moralische Frage“ ambivalent genug erscheinen lässt, sodass es sehr schwierig ist, ein Urteil zu finden, das sich über diesen Gnadenhumanismus stellt. Ich habe beides gesehen.

A.B.: Ich finde das, was du sagst, also den Wunsch nach Repräsentation und Selbstrepräsentation sehr spannend. Das unterscheidet ja zum Beispiel auch Brüder der Nacht sehr stark von Safari. Bei Safari hast du Leute, die sich zumindest von ihrem sozioökonomischen Status her in Gesellschaften bewegen, in denen Repräsentation und Selbstdarstellung, das Verkaufen und Repräsentieren eines bestimmten Bildes in diesem  Kontext sehr wichtig und deswegen eingeübt sind. Deswegen finde ich Safari auch viel weniger „problematisch“ als viele andere Seidl-Filme, weil es sich hier um Leute handelt, die explizit daran arbeiten, ein Bild von sich zu erzeugen. Das sieht man eben an der Haus-Einrichtung, die etwas ausdrücken soll.. Das sieht man an der Art der Kleidung, diese Art Safari-Outfit aus dem High-End-Katalog. Da trifft der Film auch irgendwie Models. Das war ja auch ein Film über Leute, die  sowieso das Bedürfnis haben, abgelichtet zu werden. Und das andere an Safari, was ich in dieser Hinsicht sehr interessant finde, ist, dass diese Jäger ja am Ende immer ihre Kamera aufstellen, um sich mit dem erlegten Tier zu zeigen. Und da gibt es im Film meiner Meinung nach auch einen Kommentar darauf, in dem Seidl seine eigene Position in eine Position zu diesen Bildern setzt. Man sieht nämlich wie die Fotokamera eingerichtet wird aus einer anderen Perspektive und dann gibt es einen harten Schnitt in die Position der Kamera, die der Jäger für sich aufgestellt hat, um ein Bild von sich zu machen. Und das Bemerkenswerte ist, dass der Sprung von der einen in die andere Perspektive kaum spürbar ist. Man merkt es nur anhand der Perspektivverschiebung, man spürt, dass man jetzt aus der Kamera des Jägers auf den Jäger blickt, aber das Bild ist im Endeffekt dasselbe, es verändert sich nicht so groß. Deshalb hatte ich das Gefühl, dass die „moralische Frage“ bei diesem Film ganz gut aufgeht, wenn man das so sagen möchte.

K.M.: Das ist Kriegstrophäe 2.0. Vielleicht dazu ein Detail, ich wusste das nicht, ich habe das nicht so wahrgenommen, aber Seidl hat das unlängst in einem Interview zu Verstehen gegeben, dass interessanterweise, aber auch für ihn verwunderlicherweise, sowohl Tierschützer als auch Jäger mit dem Film einverstanden waren. Das meinte ich eben mit dieser humanistischen Verdoppelung vom Bild des Selbstbildes.

P.H. Es ist halt auch so, dass der Film in seiner Form und der Art und Weise wie sich Seidl diesen Figuren nähert kein wirkliches Urteil über irgendwen fällt. Das ist ein schmaler Grad, ja, weil es immer irgendeine Form von Haltung gibt und wenn Seidl diese Menschen sich da einfach mal präsentieren lässt und hier und da nachhilft, kann man da insbesondere als Zuseher sehr leicht eine Position dazu beziehen. Und es gibt auch mindestens zwei Szenen in dem Film, in dem Seidl ein wenig aus seiner anvisierten Neutralität kippt, denen habe ich beim Sehen stark widersprochen, weil sie sehr direkt auf meine Emotionalität zielen. Es sind eigentlich zwei kleine Szenen. Das ist einmal als die Kamera beim Sterben der Giraffe kurz auf das sterbende Tier schwenkt, was der Film sonst konsequent vermeidet. Und das ist ein Bild, bei dem niemand im Publikum locker sagen kann: Ach ja, die Giraffe wurde erschossen. Nein, das greift einen an. Ich kann mir vorstellen, dass dieser Schwenk einfach im Moment passiert ist, das ist ja auch sehr direkt gefilmt. Das zweite Bild scheint mir aber noch eine bewusstere Entscheidung zu sein, denn bei einem der ersten Tiere, die im Film erschossen werden, gibt es einen Zwischenschnitt auf das Blut, das aus dem toten Körper heraus blubbert. Das sind dann zwei Szenen, die diese möglichst urteilsfreie Neutralität des Films aufbrechen in eine Tierempathie. Es haben ja auch viele über den Film geschrieben, dass man mit den Tieren sympathisiert. Am Ende gibt es ja auch diese Giraffen am Horizont, die auf die erschossene Giraffe zu warten scheinen. Da wird der Film für mich schon sehr deutlich zu einem Anti-Jagd-Film und wie gesagt, diese neutrale Haltung des Filmemachers, die wahrscheinlich auch der Grund ist, warum Jäger mit dem Film einverstanden sind, aufbricht.

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A.B.: Wobei die erschossene Giraffe innerhalb des Films ein unglaublich tolles Beispiel dafür ist, wie ambivalent auch ein solches Bild ist, weil ja die Frau, die mit ihrem Mann da unterwegs ist, beginnt zu weinen. Und mir ging es da so, dass ich im Kino saß und mir dachte, ja, das geht also auch an den Leuten nicht vorbei, die sich selber rechtfertigen und erklären, warum das, was sie da tun, in Ordnung ist. Und ich dachte die ganze Zeit: Okay, sie weint, weil sie erschüttert ist, was sie da gerade getan hat. Und dann dreht es sich aber. Dann dreht sich ihr Weinen in ein dankbares Weinen dafür, dass sie endlich eine Giraffe geschossen haben. Zumindest kann man es so lesen, es ist uneindeutig. Und ich kann das vollkommen nachvollziehen, wenn du jemand bist, der die Jagd für etwas Gutes hält, der die Faszination dafür nachvollziehen kann, dann kannst du den Film schauen und fast nichts problematisch darin finden. Der Film sagt auch nicht anderes als: Diese Leute finden, dass das eine gute Sache ist.

K.M.: Was ich da halt auch sehe oder was ich vielleicht in anderen Seidl-Filmen weniger gesehen habe, das ist genau das, was an dieser Agonie der Giraffe aufbricht, nämlich Trauer. Und ein Kollege hat dazu sehr hart gesagt: das war das erste Mal in seinem Leben, dass er „mit einem Vieh Mitleid hatte“. Ich glaube, da ist auch dieses Moment, ich will nicht sagen „neu“, weil es schon immer wieder spürbar ist bei Seidl, aber hier eben in einer größeren Vehemenz. Und zwar findet da eine moralische Versehrtheit ihren Platz durch eben solche Schwenks. Moralische Versehrtheit, aber auch eine Trauer über diese moralische Versehrtheit.

A.B.: Du meinst die moralische Versehrtheit des Zuschauers hat da Platz?

K.M.: Auch die von Seidl sehe ich da drin.

A.B.: Das musst Du mir erklären…

K.M.: Naja, man hat ja zum Beispiel so gegen Ende im Bild, wo „die Schwarzen dort“ frontal aufgenommen essen, vielleicht zum Essen genötigt wurden, zumindest für mein Gefühl eine Regieansage: So jetzt esst mal bitte, zeigt uns mal wie ihr da esst.

A.B.: Für die Kamera…

K.M.: Für die Kamera. Da spürt man ja auch so eine Trotzreaktion drin. So ein „Ich zeig euch jetzt mal meine Position“. Und es gab ja auch immer wieder diese Kritik an Safari, die glaube ich sehr kurz greift, dass so selten Schwarze vorkommen und man immer nur die Perspektive der Weißen sieht und so weiter. Aber es geht ja hier eindeutig nicht darum, einen Ausgleich zu schaffen, sondern eher darum, Verhältnisse darzustellen. Und diese Szene mit den essenden Schwarzen ist da für mich ein ganz prägnanter Moment, indem kein Hehl daraus gemacht wird, aus der Bewusstheit der meinetwegen eigenen weißen Position des Überlegenen, auch vielleicht Exotisten, der da jetzt hinreist und diesen Film macht. Ich sehe ja auch in der Arbeit an diesem Film eine Verlängerung dessen, was er zeigt. 

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P.H.: Wenn ich dich richtig verstehe, dann sind für dich diese Szenen, also die mit den essenden Schwarzen und die mit der Giraffe Momente, in denen Seidl beziehungsweise die Kamera nicht mehr neutral sein kann oder möchte, sondern seine Position wird in diesen Szenen klarer subjektiver und emotionaler als sonst.

K.M.: Genau. An diesen Polen bricht für mich diese Kritik, die man ja auch üben kann und die auch immer wieder geübt wird, nämlich „Der Seidl stellt die Leute aus“, das bricht für mich da zusammen. Im formalen Happening ist da für mich ganz stark ein Zusammenbruch dieser Geste des vermeintlich Objektiven.

P.H.: Aber nun gibt es ja eine gewisse Linie im Dokumentarfilm oder auch Spielfilm, zu der auch Seidl gehört, diese Linie, die nach möglichst großer Objektivität, Neutralität schielt. Sodass wir als Zuseher eine Position zu dem beziehen müssen, was uns da gezeigt wird. Der Filmemacher also möglichst als jemand agiert, der uns einfach etwas zeigt, als Zeuge mit dabei war und uns das dann zeigt. Natürlich eine Utopie, aber ein Bestreben. Für mich hat das immer etwas Wertvolleres als der Filmemacher, der mir deutlich sagt: Jetzt kommt der Moment, in dem ich Mitleid habe. Und wenn ich einen Schwenk auf eine sterbende Giraffe mache, dann kann ich gar nicht anders, ich werde gezwungen etwas relativ Bestimmtes zu fühlen, selbst wenn Alejandro natürlich Recht hat und diese Szene weitergeht und deutlich ambivalenter ist. Nur dieser sehr eindeutig eine Emotion provozierende Moment ist da und die verbreitete Reaktion: Ich habe Mitleid mit einem Vieh, die ist sehr einfach angelegt.

A.B.: Ich bin mir nicht so sicher, ob wir über Neutralität sprechen können. Ich glaube die Frage oder der Diskurs, ob der Dokumentarfilm neutral ist, ist passé. Wenn man sich cinephiles Schreiben über den Dokumentarfilm ansieht, dann wird da eigentlich fast nie über die vermeintlich unfassbare Objektivität von,sagen wir, Frederick Wiseman gesprochen, sondern es wird eigentlich immer über eine Haltung gesprochen. Eine Haltung, die man dem abgefilmten Objekt oder der abgefilmten Welt gegenüber einnimmt. Für mich wäre es also eine Frage nach der je individuellen Haltung und nicht nach einer vermeintlichen Neutralität.

P.H.: So verstehe ich Neutralität ja auch, als eine Haltung. Das ist etwas in der Subjektivität angelegtes. Wir sind uns ja einig, dass es keine Objektivität gibt, aber Neutralität ist eine Entscheidung, ein Bestreben, das man eben sehr wohl bei Leuten wie Frederick Wiseman oder Raymond Depardon sieht, die ja Vorbilder sind von Seidl, offensichtlich. Die sagen, dass sie sich zurücknehmen mit ihrer eigenen Haltung so gut es geht und genau das ist dann ja eine Haltung. Man kann auch eine subjektiv neutrale Haltung einnehmen, finde ich.

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K.M.: Ich kann da nicht so zustimmen. Wir reden ja von einem Dokument der Extreme sozusagen, einer Extremsituation. Wenn man jetzt Vergleichsmomente herholen wollte, wäre es wahrscheinlich sinnvoll, sich Kriegsberichterstattung anzusehen und sich zu überlegen wie das funktioniert. Und um aus diesem Haltungsaspekt herauszukommen, könnte man sich ja fragen, was der Film denn zeigt. Also wenn man sich jetzt auf das Thematische fokussieren will – und ich will das vorsichtig formulieren: Als Grundsetting handelt Safari von moralischer Gefühlslosigkeit. Dann stellt sich die Frage, wie ich das besser rüberbringe: Mache ich einen Film über moralische Gefühlslosigkeit moralisch gefühllos, formal, oder mache ich es deutlich durch den Kontrast mittels eines Bruchs oder zweier Brüche, die wir gesehen haben. Das könnten wir auch Neutralität nennen. Bringe ich Neutralität besser via „Neutralität“ oder bringe ich Neutralität überhaupt erst dadurch zur Sichtbarkeit, dass es Brüche damit gibt?

A.B.: So würde ich das auch sehen und für mich ist der Seidl-Film voller genau solcher Brüche. Zum Beispiel, wenn er sich nach der Großjagd nicht dafür entscheidet, mit den Damen und Herren in den Salon zu gehen und dort anzustoßen, sondern wenn er sich dafür entscheidet, zurückzubleiben und zu zeigen wie die dort lebenden Schwarzafrikaner dieses Tier auseinander nehmen, um zu zeigen, wer die Drecksarbeit macht, dann ist das in keinstem Fall eine Neutralität, sondern der Versuch, in diese Bilder, die von diesen Personen eingenommen werden und denen Seidl ja auch einen gewissen Raum einräumt, Brüche einzufügen. Ich verstehe trotzdem, warum man mit dem Begriff der Neutralität arbeitet, weil Seidl ja selbst in Interviews sagt, dass die moralischen Probleme der Zuschauer eben die moralischen Probleme der Zuschauer sind.  Das habe mit ihm nichts zu tun. Aber das hat natürlich mit ihm zu tun, das hat spätestens mit ihm zu tun, wenn dann plötzlich, wie Patrick vor dem Gespräch schon gesagt hatte, der Ton an einem Jäger so aufgedreht ist, dass ich höre wie er sein Bier verdaut…

P.H.: Wenn der Ton überhaupt so da war…

A.B.: Es gibt einfach immer wieder Stellen, wo man überhaupt nicht von Neutralität sprechen kann. Deswegen würde ich die Frage einer moralischen Position, wenn überhaupt, darin sehen: Wie verhalte ich mich eigentlich zu den Leuten? Wie verhalte ich mich zu dem gesellschaftlichen Diskurs, der um die Leute herum existiert? Das ist für mich keine Neutralität, sondern eine moralische Haltung und das ist auch eine subjektive Haltung. Daher wäre der Vergleich mit Brüder der Nacht ja für mich so interessant. Weil Chiha ja Leute filmt, nämlich junge Männer aus Bulgarien auf dem Schwulenstrich in Wien, also vor allem in einem Lokal. Und das sind Leute, deren gesellschaftlicher Status, also auch deren Zugang zur Eigenrepräsentation und Selbstdarstellung viel kleiner ist als bei den Leuten, die Seidl filmt. Und Chiha wählt einen ganz anderen Ansatz, weil er nicht einmal sagt: Ich möchte neutral sein. Weil er nicht einmal sagt: Ich möchte euch die Sache so zeigen wie sie ist. Sondern der was ganz anderes macht und sagt: Ich lasse die Leute erzählen, aber ich kleide sie visuell in etwas ein, was das ganze auf eine ganz andere Ebene bringt. Nämlich das Sprechen über die sexuellen Akte, über die Perversitäten, die da zwischen Geld und Sexualität stattfinden, also so was wie die Ökonomisierung der Sexualität … diese Dinge bricht er auf, in dem er ihnen einen fast mythischen Status gibt. In einer Reihe der Kinogeschichte mit Genet, Fassbinder …

P.H.: Anger.

A.B.: Genau.

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K.M.: Die Kapitalisierung von Sexualität lässt sich ja bei Seidl durchgehend beobachten. Um da noch mal einen kleinen Kontext aufzumachen. Die Stellungnahmen aus der österreichischen Presse zu Safari, die sich ja da sehr auf dieses Sexthema geworfen haben und gesagt haben, dass die Jagd ausschließlich ein sexuelles Symbol ist.

A.B.: Ein sexueller Akt, ja…

K.M.: Als sexueller Akt erfahrbar, ja. Ich glaube, dass es schon darüber hinausgeht.

A.B.: Aber es ist schon verständlich, dass die Presse darauf anspringt. Das legt er an. Er will, dass wir denken, der Schuss ist der Koitus und die Erleichterung und die Familie findet wieder zueinander.

K.M.: Ja, klar. Natürlich. Ich habe ganz stark immer wieder diese Jagdszene aus La Règle du jeu von Jean Renoir in Seidl gesehen.

A.B.: Wo sie den Hasen jagen?

K.M.: Ja, mehrere Hasen. Und Vögel und alles Mögliche. Der Film ist ja aus dem Jahr 1939, ja? Im Frühjahr sozusagen, wo Renoir sich ja später dann auch geäußert hat und gesagt hat, dass er gespürt hat, dass Krieg kommt, aber er hatte einen Film drehen wollen, der Krieg nicht thematisiert. Und ich finde es bezeichnend aus dem heraus, dass sich die Presse auf Sex einschießt, wo sie sich aber genauso gut, wie sonst in vielen anderen Kategorien derzeit, eben auf Krieg einschießen könnte. Ich finde das ein ganz entscheidendes Moment. Ich glaube es geht hier auch um den Geisteszustand einer Gesellschaft. Das liegt noch mal eine Ebene über moralischen Befindlichkeiten. Da geht es auch um eine universelle Annäherung an einen gesellschaftlichen Geisteszustand. Wir sehen da ja jetzt nicht nur Dinge, die uns so fern sind. Wir drei hier würden jetzt vielleicht nicht da runter fahren und unser Geld verbraten, um Tiere zu erlegen. Wir würden schon allein metasprachlich darüber diskutieren und das Tier würde das ausnützen, um aus unserer Sicht zu verschwinden. Wir würden es schon verfehlen, weil wir darüber reden würden, ob das jetzt ein Tier oder ein „Stück“ ist. Wir wären wahrscheinlich nicht kompetent genug oder „effizient“ genug, ein Tier zu erlegen. Es klingt ein bisschen esoterisch, aber ich sehe da eine Allegorie auf Zustände in dieser Welt. Und das ist ja kein neues Thema, diese Jagd. Das ist auch nicht mehr und auch nie nur das Thema einer Oberschicht gewesen. Das ist auch ein Thema der Mittelschicht, auch ein Thema der Unterschicht. Da ist vielleicht auch noch mal eine Differenz zu Renoir. Weil, was sind das für Leute bei Seidl? Das ist das bürgerliche Publikum, aber auch das „proletarische“ Klientel, das dort sitzt und sich vorlesen lässt, was kostet was, können wir uns das leisten? Die Frage der Klasse ist eine ganz wesentliche Frage auch  hier. Auch das hat Safari unglaublich gut gelöst, weil die erste Assoziation, wenn es darum geht, wer nach Afrika fährt um Tier zu schießen, ist so eine bürgerliche Schicht, aber da gibt es Leute, die da hinfahren und die haben nicht so viel…

P.H.: Wenn ich mich nicht täusche, ich bin mir aber gar nicht sicher, überlegen die sich aber nicht was es kostet, sondern die zählen auf wie viel sie bekommen, wenn sie das oder das erschießen. Wie viel ist ein Reh wert? Und so weiter.

K.M.: Möglich. Meines Erachtens bezieht sich die vorgelesene Liste auf zu entrichtende Abschussgebühren.

P.H.: Aber für mich sind das zwei bürgerliche alte Leute. Zumindest sind sie nicht als Proletariat gekennzeichnet.

A.B.: Das sind auf jeden Fall keine Leute mit einem bürgerlichen Bildungshintergrund.

K.M.: Also nicht Bildungsbürgertum sozusagen.

P.H.: Aber jetzt keine arme Arbeiterklasse.

A.B.: Nein das nicht. Es geht eher um deren kulturelle Bildungsherkunft.

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K.M.: So die „klassischen“ Klassen gibt es vielleicht auch nicht mehr. Vielleicht hier eher eine sich vergrößernde Mittelschicht. Das macht es schwierig, das auf eine Klasse zu schieben. Und das ist ein großes Verdienst dieses Films. Dass du eben nicht mit dem Finger auf „diese anderen dort“ zeigen kannst. Du kannst jetzt grundsätzlich nicht mehr unterscheiden zwischen Aristokratie und Working Class Heroes, und dabei eine sich weitende Mitte auslassen; aber ich glaube zumindest innerösterreichisch, dass sich die hier jeweils dargestellten Milieus voneinander distanzieren würden. 

P.H.: Zur Jagd noch mal etwas, also die ersten Bilder, die es überhaupt gibt, sind ja hauptsächlich Bilder der Jagd, also ich denke da an die Höhlen von Lascaux zum Beispiel.  Daran hängt ja schon diese Idee des Präsentierens dessen, was man da erlebt hat, man zeigt das, man verarbeitet es und hebt es irgendwie auf ein anderes Level und so weiter. Ich wollte das nur anfügen, weil ich finde zwar, dass Renoir ein schönes Beispiel ist, ich verstehe, auf was du hinauswillst, aber Jagd so als Thema oder das Töten von Tieren … also ich meine, man muss ja nur an diesen Edison-Film denken mit dem Elefanten, der da getötet wird … also das ist ja einfach eine Faszination mit diesem Widerspruch aus Anonymität und Erobern, dieses über etwas stehen und so weiter und ich verstehe diese postkoloniale Metaphorik am Ende von Safari auch in diese Richtung.

K.M.: Bei Renoir ging es mir ja einfach um dieses Gefühl kurz vor dem Krieg 1939. Das ist eine Zeit, die zu Recht oder zu Unrecht immer wieder in Analogie gesetzt wird mit dem Jetzt. Da geht es dann ja auch um eine starke Form von Kapitalismuskritik, die es bei Seidl vielleicht nicht so explizit gibt, aber es gibt sie. Und eben auch, weil ich formal eine absolute Ähnlichkeit gesehen habe.

P.H.: Das verstehe ich zum Beispiel nicht.

K.M.: Ich weiß jetzt nicht, ob der Seidl den Film gesehen hat und mal abgesehen davon, dass die Szene bei Renoir eine sehr flinke ist, aber wenn man das in Slow Motion macht…

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A.B.: Das hat ja Godard in seinen Histoire(s) du Cinéma gemacht. Da sieht man ja die Erschießung des Hasen immer in Zeitlupe.

P.H.: Aber genau deswegen frage ich nach, weil du siehst bei Seidl ja nie den Einschuss in das Tier, das ist ja immer Off Screen und du siehst nie eine Einstellung, in der das Tier läuft. Das ist ja genau der Unterschied. Er hat ja auch gesagt, dass es ihm ganz bewusst darum gegangen ist, nicht die Tiere zu filmen, die dort weglaufen, sondern die Menschen, die diese Tiere erschießen.

K.M.: Ich habe das in einem anderen Sinn gemeint, nämlich insofern, als du hinter der Kamera gewissermaßen auch dem Bild hinterher jagst. Es gibt ja noch eine Meta-Jagd. Also die Jagd auf das dargestellte Tier, aber auch die Jagd nach dem „richtigen“ Bild, nach dem Bild der Entsprechung. Außerdem kann man natürlich darüber diskutieren, ob dadurch, dass man diese Tiere nicht laufen sieht, ob man sie dadurch wirklich weniger laufen sieht. Also ich glaube, dass die Aussparung schon einen Effekt hat …

P.H.: Aber formal ist das völlig unterschiedlich. Es ist ja auch eine Handkamera hier und eine statische dort und so weiter.

A.B.: Es geht ja auch nicht um eine formale Ähnlichkeit, sondern es geht darum, dass die Jagd 1939 einen Bezug zur gesellschaftlichen Situation hergestellt hat, den man vielleicht auch in Safari sehen könnte jenseits dessen, was sozusagen die Filmkritik schreibt, dass es nämlich etwas Sexualisiertes ist.

P.H.: Aber wir haben gerade über eine formale Ähnlichkeit gesprochen, die ich nicht sehe und ich finde auch, dass Form und Politik beziehungsweise Form und diese gesellschaftlichen Situationen zusammen gehören.

K.M.: Vielleicht sollten wir einfach kurz reinschauen. Ich finde einfach, dass die Kamera, jetzt mal egal ob statisch oder bewegt, natürlich macht das einen großen Unterschied, aber die Kamera geht sowohl bei Seidl als auch bei Renoir, auch wenn es dort nur eine kleine, emblematische Szene ist, den Jagenden hinterher. Und das gibt es bei Seidl und Renoir. Vielleicht würden mir auch andere Jagdszenen einfallen, aber ich bin eben aus dem gesellschaftspolitischen Kontext auf Renoir gekommen. Die Kamera jagt also sozusagen den Jagenden und das wollte ich mit dem Moralischen verknüpfen. Es gibt ja so eine Rückendeckung der Kamera, ein Mitgehen in den Tötungsakt, auch wenn der Tötungsakt nicht gezeigt wird … ist das so klarer?

P.H.: Ja.

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K.M.: Lascaux finde ich da ein wichtiges Detail, weil es davor schützt, jetzt alles auf Kapitalismus und „die Leute haben zu viel Geld“ zu münzen, aber da gibt es für mich halt schon eine große Parallele. Es ist Krieg, aber Leute vergnügen sich. An anderer Stelle, aber mit kriegerischeren Aktionen sozusagen. Klar, man sieht bei Renoir die Tiere und wie sie getroffen werden, man sieht aber auch bei manchen nur die toten Tiere, also das gibt es auch. Das finde ich schon relevant, auch wenn du vollkommen recht hast und es ein formaler Unterschied ist, wo ich aber dazu tendieren würde zu fragen, ob wenn du den Tötungsakt nicht siehst, er dadurch nicht sogar weniger „neutral“ ist? Was wir nicht sehen, stellen wir uns vor, möglicherweise. Das drängt uns dadurch vielleicht auch in eine andere Form der Mittäterschaft. Ich weiß nicht wie es euch gegangen ist, aber man steht da hinter diesen Leuten und die zielen auf etwas. Was macht man? Man sucht nach dem Tier im Bild, oder?

P.H.: Kommt darauf an. Eher die Reaktion von diesen Leuten. Wie sie da warten, atmen, weinen, sich in die Arme fallen, das ist schon sehr interessant, ich war schon sehr bei den Jägern. Wie sie auch reden in dieser euphemisierenden Jägersprache. Und dieser Moment nach dem Schuss. Der Augenblick vor und nach dem Schuss. Ich war da, dadurch, dass die Kamera da war.

A.B.: Entscheidend scheint mir zu sein, ob sich Seidl für das interessiert, was die Jäger fasziniert oder interessiert sich Seidl für die Jäger? Und ich glaube, er interessiert sich eben für die Jäger. Ich hatte nicht das Gefühl, dass er deren Faszination für das Jagen teilt und ich würde auch sagen, dass Renoir die nicht geteilt hat. Ich glaube, Renoir ging es um etwas anderes. Ich glaube, Renoir ging es darum zu sagen: es wird Blut fließen. Es werden Lebewesen sterben. Das gibt es vielleicht auch bei Seidl, aber ich glaube, Seidl möchte eigentlich herausfinden, so kam es zumindest mir vor, was fasziniert die Leute, an dem, was sie da tun. Und das, was sie tun, kennen wir alle, deshalb muss man das nicht explizit zeigen, sondern man muss sie zeigen und ihre Reaktionen.

K.M.: Aber da gibt es für mich noch ein Zwischenbild zwischen diesen beiden Formen, zwischen auf die Tiere sehen oder nicht sehen. Im Film gibt es ja auch das Bild, in dem wir als Zuschauer ganz frontal gegenüber diesem Jagdhaus, diesem Hochsitz platziert sind. Wir sehen da keinen Menschen, keine Tiere, wir sehen nur den Schuss, also wir sehen natürlich nicht den Schuss, aber wir sehen wie dieser Hochsitz kurz bebt. Habe ich das richtig empfunden, dass das ein direkter Schuss auf die Kamera ist?

P.H.: Der Lauf des Gewehrs zeigt schon in die Kamerarichtung ungefähr.

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K.M.: Aber wie geht es dir damit, mit diesen Zwischenbildern?

P.H.: Also ob diese Bilder so eine Gewalt im Sinne von „Es wird Blut fließen“ in sich tragen?

K.M.: Oder ganz grundsätzlich … was macht das mit dir? Oder hat das für dich keine Funktion?

P.H.: Für mich funktioniert das ähnlich wie viele andere Zwischenbilder im Film, also dieses Bietrinken, auf der Liege liegen und so weiter.

K.M.: Aber du siehst ja keine Menschen hier.

P.H.: Ja, das ist klar. Aber ich sehe ein Gewehr, das offensichtlich von einem Menschen gehalten wird. Für mich geht es da auch um den Prozess des Jagens. Sowohl die Absurdität davon, als auch die Zeit, die es braucht. Durch so eine Szene spüre ich die Zeit, man wartet, dann gibt es irgendwann einen Schuss. Aber du hast schon Recht. Es greift auch ein bisschen an. Es ist aber spannend, jetzt haben wir gesagt, dass er sich für die Jäger interessiert, aber irgendwie bei Seidl, da stelle ich mir immer irgendwann die Frage: Was sind das für Menschen? Und bei so was wie Brüder der Nacht, da stelle ich mir diese Frage nicht, da sage ich irgendwann einfach: Das sind Menschen. Das ist für mich da immer der Unterschied.

K.M.: Das hatte ich gar nicht. Ich hatte das Gefühl, dass ich viele solcher Leute kenne. Die gehen jetzt vielleicht nicht auf die Jagd, aber die gehen halt zumindest Tiere schauen und fliegen nach Südafrika zum Golfspielen und jagen einem anderen Loch hinterher.

P.H.: Aber sind das Menschen, wenn du über die nachdenkst…

K.M.: Ob ich mich damit identifizieren kann, nein, ich kann mich nicht mit ihnen identifizieren…

P.H.: Nein, ich finde einfach der Ansatzpunkt ist so unterschiedlich. Brüder der Nacht zeigt uns Menschen, von denen wir erst sehr fern scheinen, die dann aber sehr nahe sind mit ihren Sehnsüchten, ihren Problemen. Und bei Seidl habe ich jetzt nicht erwartet, dass diese Menschen sehr fern von mir sind. Natürlich kennen wir solche Leute. Aber irgendwie entfernen die sich immer von mir bei Seidl.

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K.M.: Unbedingt, das teile ich. Zumindest bleibt der Abstand derselbe. Oder es wird ein Bewusstsein über diesen Abstand noch mal virulent. Das Erschreckende, finde ich, ist, dass man diese Menschen kennt und man ist selbst vielleicht gar nicht so weit weg davon.

A.B.: Ich bin mir da nicht so sicher, ehrlich gesagt. Natürlich können wir jetzt sagen, dass sich da keine Nähe entwickelt über einen Seidl-Film …

K.M.: Es gibt schon eine, sonst wäre nicht dieses Schamgefühl da.

A.B.: Und es hängt ja auch wirklich davon ab, wer ich selber bin. Für mich hat das mit dem Film nicht so viel zu tun, ich glaube, dass man sich den Film auch durchaus ansehen kann und sich diesen Leuten nahe fühlen kann oder ihnen auch näher kommt. Und in gewisser Weise muss ich sagen, gibt es einfach einen Unterschied, ob ich glaube etwas verstanden, durchdrungen zu haben oder ob ich es dann sehe. Das erzeugt dann eine gewisse Form der Nähe. Das ist keine Nähe der Empathie oder Sympathie, sondern es ist eine Nähe zumindest mal zu sehen, was die Leute daran reizt. Das ist für mich eine Annäherung an diese Person. Nicht insofern, dass ich dann irgendwann mit denen besser klarkommen werde, aber es ist zumindest … es ist schwierig in Worten zu fassen. Aber, dass das für Leute eine sexuelle Funktion haben kann, dass das für Vater und Sohn die Funktion haben kann, dass sie zueinander finden… ,also es gibt lauter Funktionen, weil da ja lauter so grundsätzliche, nicht direkt mit der Jagd in Verbindung stehende Problematiken sind, das Familiäre, das Sexuelle , die da plötzlich in das Jagen hineinkommen, kommen mir die Leute plötzlich näher. Das bedeutet nicht, dass ich das gleiche Ventil wählen würde. Interessant ist aber trotzdem, dass diese Dinge darin verhandelt werden. Ich habe mich davor nicht mit Jagd beschäftigt, aber das war für mich interessant zu erkennen, also dieses „Warum machen die das eigentlich?“. Und dieses „Warum?“ nicht in so einem trivialen Sinne, sondern „Was holen sie sich da raus?“. Das war für mich eine Erkenntnis und so verstehe ich diese Menschen vielleicht etwas besser.

K.M.: Wo es in diesem Kontext ja auch so eine perfide Annäherung gab oder so eine Analogisierung war zwischen dem Menschlichen und dem Tierischen. Eben zum Beispiel bei diesen Verdauungsgeräuschen … das hat ja etwas …

A.B.: …kreatürliches…

K.M.: Ja, genau. Da entsteht aber auch ein Teil dieser Ambivalenz. Wenn das Jagende dem Gejagten angenähert wird. Da gibt es ein paar Momente. Eben auch mit den Menschen, die dann fast kannibalisch das Ausgenommene verzehren. Das ist ja eine Aufbereitung ganz ähnlich, ich weiß nicht, ich habe immer an „die Menschenfresser“ denken müssen.

P.H.: Und diese Doppelung der Jagd, von der Katharina gesprochen hat mit Kamera und Gewehr, die wird dadurch sehr deutlich. Diese tierischen Menschen sitzen da ja auch im Bild, also dieses Kittler-Argument, die Kamera als Schussgerät. Ich verstehe ja die Ambivalenzen, von denen ihr sprecht, ich bekomme die auch, aber ich habe trotzdem zu sehr das Gefühl, dass da Menschen vor dieser Flinte der Kamera sind und mir fehlt da irgendwas, was dazwischen geschoben wird, wie zum Beispiel das Licht, über das wir am Anfang gesprochen haben. Oder auch das Spiel, die Chance auf einen Ausbruch…

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A.B.: Es ist Dir zu direkt?

K.M.: Oder im Sinne einer Erlösung? Weil der Begriff „Erlösung“ kommt ja immer wieder vor interessanterweise. Da sagt glaube ich die Tochter: „Es ist ja immer eine Erlösung für die Tiere.“ Da gibt es dann diese Rechtfertigung, die dann wieder negiert wird von einer anderen Figur. Meinst du Ausbruch im Sinne einer Erlösung?

P.H.: Es war schon eher auf das Direkte bezogen. Wang Bing ist ein Filmemacher, der da für mich ein gutes Beispiel ist. Der ist bei mir immer entweder viel zu direkt oder genau richtig. Manchmal scheint er einfach draufzuhalten mit der Kamera, um mir die ganze Gewalt, das ganze Leid von Menschen und Situationen zu zeigen und natürlich ist das relevant, aber mir fehlt da was. Und dann gibt es Filme wie einen seiner neueren, Ta‘ang, in dem es um Flüchtlinge aus Myanmar geht und er folgt denen. Und da gibt es eine lange Sequenz, in der einige Menschen am Lagerfeuer miteinander sprechen und er filmt das durch das Feuer hindurch und zeigt uns eigentlich, dass das die Helden unserer Zeit sind, das sind die großen Geschichten, die Träume. Und weil wir den Begriff vorher schon mal hatten: Ich sehe darin mehr Haltung. Das ist so ein schmaler Grad zwischen dem Ausstellen und diesem Gewissen in der Kamera. Und wir haben ja diskutiert, dass Seidl dieses Gewissen schon hat, ich bleibe auch dabei, dass es ein möglichst neutrales Gewissen gibt, aber er zeigt uns das eigentlich weniger in den einzelnen Bildern, sondern er macht das in der Montage, in der Entscheidung, etwas nicht zu zeigen, aber in den einzelnen Bildern zeigt er mir immer sehr frontal, ja fast obszön etwas. 

K.M.: Aber ist es deshalb kein Gewissen?

P.H.: Nein, nein, ich glaube ihr wisst schon, was ich ungefähr sagen will …

K.M.: Aber wir haben uns ja schon darauf geeinigt, dass der Film moralisch, formal vertretbar ist. Vielleicht vertretbarer als manche Filme davor von Seidl.

A.B.: Das hätten wir vielleicht einfach auch am Anfang dieses Gesprächs festhalten müssen, dass es ein gigantischer Unterschied ist, ob du über sehr wohlhabende Österreicher und Deutsche in Afrika einen Film machst oder ob du über bulgarische Arbeitsmigranten in Österreich einen Film machst. Das ist eine völlig andere Position. Das war vielleicht das einzig wirklich Intelligente, was sie einem an der Journalistenschule mitgegeben haben: Die Wahl der Waffen richtet sich auch immer nach dem, auf was man schießen will, um mal im Jagdjargon zu bleiben. Da könnte man jetzt sehr einfach sagen: Wenn ich über sehr gut situierte Menschen, die  gesamtgesellschaftlich betrachtet in relativ mächtigen Positionen sind, einen Film mache, gehe ich mit anderen Werkzeugen da ran, als an jemanden, der gesellschaftlich völlig marginalisiert ist, der wirklich in den Schatten lebt und der überhaupt keine Instanz hat, die ihn repräsentieren kann. Da gehe ich natürlich viel vorsichtiger und viel sensibler ran, als wenn ich an reiche, selbstverliebte Leute rangehe.

K.M.: Man könnte da natürlich fragen, was es Verwerfliches an dem Ausstellen gäbe? Das Verwerfliche ist vielleicht, dass die im Sich-selber-Sehen etwas an sich selber nicht sehen.

P.H.: Ich tue mir schwer, weil ich das Ideal halten will, dass das alles Menschen sind. Egal ob arm oder reich. Und Seidl scheint mir nicht so viel Unterschied zu machen mit den Waffen in seiner Filmographie. Und gerade, wenn so jemand wie Renoir als Beispiel im Raum steht, jemand, der in meinen Augen arm und reich immer sehr gleich behandelt hat, gleich gefilmt hat. Ich verstehe ja, dass die Waffen womöglich andere sind, wenn man reiche Leute filmt, aber mein Ideal ist, dass ich erst mal den Menschen dort sehe, nicht, dass er reich ist.

A.B.: Da müsste man dann ja eigentlich über ganz andere dokumentarische Positionen auch sprechen.  Helga Reidemeister fällt mir da ein, die  ja immer wieder Filme macht über Leute, die  innerhalb ihres Weltbildes nicht unbedingt die positivst konotierte Position haben. Wenn sie zum Beispiel einen Film über die Münchner Schickeria anhand ihrer Schwester, die Model ist, macht und so weiter. Dass Interessante ist aber, dass diese Filme den Prozess dokumentieren, wie sie erkennen muss, dass ihre Vorurteile und die Klischees, die sie über die Münchner Schickeria hatte zumindest in Ansätzen nicht korrekt sind.. Das ist aber eine ganz andere Art des Filmemachens, wo es tatsächlich darum geht, zuzusehen, wie der Filmemacher im Laufe des Films eine neue Position einnimmt. Seidl versucht, glaube ich, tendenziell nicht zu markieren, was das mit ihm macht. Und Brüder der Nacht ist dann ein Film, der von der ersten Einstellung an markiert, dass es nicht um die Realität geht, es geht nicht um diese Leute, sondern um das, was diese Leute in jemandem wachrufen, der aus dem Kino kommt, der mit Ikonographien der Queer-Ikonen vertraut ist und der dann auf diese Leute trifft. Da geht es mindestens genauso stark um den Blick des Filmemachers wie es um die Personen geht und bei Seidl ist es halt eine radikale Direktheit…

K.M.: … die für mich nicht nur markiert, sondern eine Form von Einsicht ist.

A.B.: Da sind wir dann wieder beim Licht. Da kannst du jedes Detail sehen auf dieser Bühne bei Seidl. Wie in der Fotografie mit den Ringblitzen, um einfach jedes Detail im Gesicht noch hervorzuheben und jegliche Spur eines Schattens aus dem Bild zu verbannen. Und natürlich kommen da immer schreckliche Bilder raus.

K.M.: Ein Wort dafür wäre eben Einsicht. Ich finde, dass das Ausstellen nicht gelöst zu denken ist vom Einsehen.

Scherzhafte Schmerzhaftigkeit: Ein kritisches Gespräch über Toni Erdmann

Vor einigen Wochen hatte Toni Erdmann seinen offiziellen Kinostart in Deutschland und Österreich. Der Film, der ohne Übertreibung als eine der größten Cannes-Sensationen aller Zeiten gefeiert wurde, schafft das seltene Kunststück die Kritikergemeinde und Zuseher gleichermaßen zu begeistern. Als ich den Film zum ersten Mal bei einer Vorpremiere im Österreichischen Filmmuseum sehen durfte, stellte sich schnell Enttäuschung ein. Ich habe einen guten Film gesehen, aber keinen, der mich vollends begeisterte. Einige Dinge missfielen mir sogar. Nach dem Screening stand ich also etwas verloren vor dem Kino und traute mich gar nichts zu sagen. Der Kinosaal schien begeistert, etwas mit mir schien nicht zu stimmen. Vielleicht ist das der Gruppenzwang eines Konsens. Nach wenigen Minuten fand ich in Alejandro Bachmann und später in Katharina Müller zwei Verbündete. Beide beschäftigen sich beruflich, weitestgehend vermittelnd und/oder wissenschaftlich mit Kino und Film. Wir verabredeten ein Treffen, um über den Film zu diskutieren. Es ging uns weniger darum, Toni Erdmann aufgrund einer Laune schlecht zu reden, als eine Annäherung an eine mögliche Kritik des Films zu wagen. Denn wenn uns eine Sache wirklich in dieses Gespräch trieb, so war es eine Verwunderung über die Reaktion der Filmkritik auf Toni Erdmann. Herausgekommen ist ein herumwanderndes Gespräch, das irgendwie auch von der Schwierigkeit einer Formulierung von Kritik handelt. Letztlich hat es uns allen gezeigt, dass die Dinge selten so einfach sind wie man sie selbst im Kino wahrnimmt. Das gilt im Positiven wie im Negativen.

'Toni Erdmann' premiere - 69th Cannes Film Festival

Patrick Holzapfel: Die Frage, die mich bei Toni Erdmann umtreibt ist, wie es sein kann, dass sich bei einem Film, den wir alle drei nicht furchtbar fanden, aber auch nicht herausragend, wie kann es da sein, dass es so lange keine negativen Stimmen dazu in der Kritik gibt? Jetzt gab es vor kurzem einige kritische Äußerungen von Christoph Hochhäusler, aber davor war gar nichts zu hören. Ich denke schon, dass wenn wir jetzt über den Film sprechen, dann müssen wir das mitdenken, also, was für eine Erwartung da aufgebaut wurde. Der Film wurde ja von der Mainstream-Kritik und der kunstaffineren Kritik national und international gleichermaßen gefeiert. Das sind natürlich enorme Erwartungen, die einen Einfluss auf die Rezeption des Filmes haben  Ich hätte den Film jedenfalls gerne gesehen ohne diese Erwartungen. Also vielleicht fangen wir damit einfach an. Woher glaubt ihr denn, dass dieser Hype kommt?

Katharina Müller: Ich glaube, dass man das nicht trennen kann von dem Kontext, dass der Film in Cannes Premiere gefeiert hat. Und diese Premiere hat sich auch in eine Abfolge von Ereignissen eingereiht, in der immer wieder dieses „Altherrenkino“, diese „Altherrenideologie“ kritisiert wurde, wo zum Beispiel die Cahiers du Cinéma 2012 demonstrativ nach Cannes diese Extraausgabe zu „Où sont les femmes?“  gebracht haben, als Michael Haneke gewonnen hat. Da ging es auch um Maren Ade in der Ausgabe so nach dem Motto: Da ist doch eine neue Generation, warum funktioniert das nicht? Und von dieser Geschichte kann man die Rezeption nicht lösen, also dass da hier eine Frau einen Film macht, der zumindest zum Teil einen Strang hat, der dieses Mansplaining thematisiert und das auch auf eine Art bloßstellt…

Alejandro Bachmann: Mansplaining? Ist das ein Begriff für uns die Welt erklärende weiße Männer?

K.M.: Genau. Das ist ein Begriff von Rebecca Solnit. Da geht es genau um dieses Phänomen: Weißer Mann erklärt die Welt.

A.B.: Das ist von daher interessant, weil genau das hat mich am Film eigentlich dann doch geärgert. Er vertritt in gewisser Weise eine Ideologie, in der uns der alte weise und weiße Mann die Welt erklärt. Und das scheint auch für mich an extrem wenigen Stellen im Film wirklich gebrochen zu werden. Das hat zum einen vielleicht damit zu tun, dass es – wie das womöglich auch in Christoph Hochhäuslers Kritik anklingt – eine gewisse schwarz-weiß Zeichnung gibt. Und das interessante ist, wenn man sich die Kritiken durchliest, zum Beispiel auf Mubi Notebook oder auch im Standard, dann gibt es einen Konsens , dass der Film auf dem Papier erst einmal ganz einfach gebaut ist. Aber sie benutzen immer eine Redewendung, um das zu relativieren und zwar schreiben sie, dass das nur auf dem Papier  sehr einfach wirkt in dieser Konstellation. Dann müsste man aber konsequent weiterfragen, ob dann auf filmischer Ebene Ambivalenzen hinzukommen und diese schwarz-weiß Zeichnungen, dieser alte weise Mann und die junge, etwas verwirrte Karrierefrau und so weiter, ob die sich auflösen. Das interessante ist, dass keine einzige der Filmkritiken, die ich gelesen habe, darauf eingeht, wie sich das dann filmisch übersetzt oder auflöst. Es wird gesagt, das sei alles viel komplexer als es beschreibbar ist, aber einen tatsächlichen Versuch, das Unbeschreibbare zu Umschreiben habe ich nicht gefunden.  Was mir auch bei den Kritiken aufgefallen ist: Es wird immer von einem Humanismus gesprochen. Also fast alle Kritiken sagen, dass das ein durch und durch humanistischer Film ist, der uns unsere gemeinsamen humanistischen Werte und Ideale noch mal spiegelt oder bewusst macht. Und das finde ich insofern problematisch, weil der Film eine zutiefst politische Ebene hat. Nämlich in dem, was schon angesprochen wurde bezüglich Gender-Politics, also Wahrnehmung von Frauen als Filmemacherinnen, aber auch so was wie eine weibliche Perspektive und auch bezüglich des Verhältnis von Osten und Westen, nämlich von Rumänien und Deutschland. Also alles politische Themen, die auch zeitgeschichtlich, politisch aktuell sind und die aber in den Kritiken fast keine Rolle spielen. Stattdessen wird dann der  Humanismus der Geschichte oder dieser Konstellation hervorgehoben. Das empfinde ich verwirrend. Stellenweise kam es mir vor, als wollte man damit etwas umgehen…

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P.H.: Erstmal vielleicht zu dieser Einfachheit des Films. Ich habe zum Beispiel bei Mark Peranson in der Cinema-Scope darüber gelesen und er geht explizit auf die letzte Szene des Films ein, in der es eben für ihn nicht alles so einfach ist, weil sie eben nicht einfach von ihrem Vater gelernt hat oder so. Sie nimmt dann ja die Zähne raus, sobald er geht, um den Fotoapparat zu holen. Sie fällt also wieder in das gleiche Muster wie zuvor. Jetzt ist das aber für mich eine Szene, in der Ambivalenzen förmlich ersticken. In der Szene gibt es für mich vier oder fünf Augenblicke, in der Maren Ade dieses ambivalente Ende wirklich hätte finden können, aber ihr letzter Blick, mit dem der Film endet, sagt uns ganz genau und so wie Peranson schreibt: Ja, sie kann jetzt nicht einfach in dieser Rolle ihres Vaters bleiben. Also wenn ich so einfach zeige, dass es so einfach nicht ist, dann ist dieses Nicht-Einfache wieder vereinfacht, finde ich. Und was vielleicht zur der Vereinfachung noch wichtig ist, der Film ist schon auch eine Komödie, oder?

K. M.: Mit gemäßigtem Witz.

P.H.: Na ja, sie hat ihre Momente, bei denen ein ganzer Kinosaal lacht. Und das hängt auch mit der Einstiegsfrage zusammen. Da spüre ich so einen kollektiven Hunger nach dem Lachen, der Komödie und das hängt immer auch mit Vereinfachungen zusammen in den Figuren. Weil solche Situationen wie: Jetzt kommt dieser Toni Erdmann in diese Businesswelt…das funktioniert natürlich genau deshalb so gut, das kann man ja mit Slapstick, Lubitsch und so weiter vergleichen, weil die Figur so vereinfacht ist. Das widerspricht  irgendwie nur dem Realismus des Films.

K.M.: Ich glaube es funktioniert nicht nur deshalb, weil es vereinfacht ist, sondern auch nach dem klassischen Prinzip des Clownhaften. Nur statt einer roten Nase gibt es hier ein falsches Gebiss. Das muss ja nach einem einfachen Prinzip verfahren. In dem Moment, in dem er diese Zähne reintut, darf er nur mehr scheitern. Das gelingt ja alles nicht. Sein Mansplaining ist ja kein gelungenes. (Im Sinne von: er stößt dabei an seine Grenzen.) Am Ende des Films kommt für mich jetzt nicht raus: Alter weißer Mann erklärt die Welt (erfolgreich), sondern junge weiße Frau bekommt von altem weißen Mann die Welt erklärt. Das wäre für mich die Essenz, wenn man denn eine Essenz daraus ziehen wollte.

P.H.: Aber nimmt die Figur das für dich in dieser letzten Szene an?

K.M.: Das ist ja vollkommen egal. Ich finde es bleibt offen genug. Sie hat ein Angebot und kann es annehmen. Und als Zuseher hat man dieses Angebot auch. Und ich fand aus dieser Perspektive gab es schon extrem starke Szenen, zum Beispiel wenn sie zu ihrem Arbeitskollegen sagt: „Wenn ich Feministin wäre, würde ich mit dir gar nicht reden.“ In dieser Mischung aus Zynismus und vermeintlichem Nicht-Feminismus ist das schon eine starke Aussage und das zeigt schon, dass es da auch kein Auskommen gibt.

P.H.: Jetzt ist Alejandro mehr auf alte Welt und neue Welt gegangen und Katharina geht mehr so auf Männerwelt und Frauenwelt.

K.M.: Also den Generationenkonflikt sehe ich nicht so stark als solchen. Weil beide Generationen bzw. der vermeintliche Generationenkonflikt selbst auf eine Art bloßgestellt werden. Da ist ja dann keiner im Recht, das bleibt relativ unentschieden. Ich finde den Post-68er genauso „lächerlich“ wie sie.

A.B.: Das kann ich teilweise nachvollziehen, aber am Ende erlaubt der Film ja ein Abschlussplädoyer. Das wird dem Alt-68er-Mann überlassen, der noch einmal zusammenfasst, warum er glaubt, dass seine Tochter das falsche Leben führt und dann sind wir noch mal zurückgelassen mit der anderen Figur, der Tochter, die darüber nachzudenken hat und sich zu positionieren hat – zu dem Plädoyer für ein besseres Leben des alten weißen Mannes. Sagen wir es so: Für mich bricht der Film das Lebenskonzept des Alt-68ers deutlich weniger, als das Lebenskonzept der neoliberalen Karrierefrau und was mich dann einfach geärgert hat, obwohl ich auch meine Momente hatte mit dem Film, ist dass der Film überhaupt keine Zusammenhänge zwischen dem Alt-68er und der Karrierefrau artikuliert. Stattdessen wird das Lebenskonzept der Frau als etwas Bizarres und vom Leben befreites dargestellt und der Alt-68er ist der, der weil er andere Werte vertritt, uns noch mal zeigen kann, was wir verloren haben. Und „wir“ sage ich natürlich, weil ich mich natürlich der Generation der Frauenfigur eher nahe fühle.

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K.M. : Aber es ist ja nicht das Leben DER Frau, sondern das Leben einer ostentativ im Kapitalismus verfangenen Figur, die als „Frau“ geschlechternormativ konstruiert ist (ihrem Umfeld gemäß).

A.B.: Genau, aber der Alt-68er hat sein eigenes Haus und die Nähe zu Freunden, die auch ein riesiges Haus haben mit schönem Garten und schönem Schmuck. Die haben ja auch vom System profitiert, aber der Film verfolgt kein…

K.M.: …aber das ist ja genau der Punkt. Du sagst, da wird keine Verbindung gezogen zwischen dem Alt-68er und der jungen Frau, aber genau in dem System liegt ja die Verbindung.

A.B.: Aber hast du nicht das Gefühl, dass Toni Erdmann der Sympathieträger ist. Toni Erdmann ist doch die Figur, die Sympathien zieht und Veränderungen hervorbringt. Die andere Figur ist eine in Stasis und gewisser Blindheit verfangene Figur, die Toni Erdmann braucht, um ein besseres Leben zu erkennen und der Film markiert, finde ich, an keiner Stelle, dass dieses vermeintlich bessere Leben mal hinterfragt wird.

K.M.: Ich glaube, Toni Erdmann hat auch das Problem, dass er Simonischek ist. Da liegt ja dieses Josefstadt-Tradition drin…

A.B.: Was meinst du mit der Josefstadt-Tradition?

K.M.: Na ja, der alte weiße Theatermann. Das ist noch einmal eine Steigerung zum alten weißen Mann. Das ist eines der „Probleme“. Das ist so schwer trennbar. Daher hatte ich an dieser Linie zwischen den beiden Figuren viel Schlimmeres erwartet. Ich war dann eher positiv überrascht, Simonischek so entkräftet in diesen Konnotationen zu sehen.

P.H.: Ich bin da schon eher bei Alejandro und diesem Fehlen der Verbindung, auch wenn ich mich schon an ein paar Stellen erinnern kann, in der das versucht wird. Was Alejandro so ein bisschen fehlt, ist ja auch, dass sie dem Simonischek mal ganz klar sagt auch, dass sie jetzt nicht nur so ist, weil sie das Leben so besser findet, sondern weil sie muss. Das fehlt vielleicht ein bisschen. Das ist ja auch ein Überlebensdrang. Und manchmal werden die im Film so gegenüber gestellt, als würden beide Figuren der gleichen Berufsrealität entspringen. Allerdings sagt sie ihm schon ein paar Mal so in etwa: „Willst du eigentlich noch was vom Leben? Willst du jetzt nur noch Furzkissen unter den Hintern von Leuten schieben? Ich kenne Männer in deinem Alter, die wollen noch was.“ Und so weiter. Wo ich aber wieder bei Alejandro bin…man nimmt das halt wie eine Erlösung wahr, wenn sie dann endlich Humor bekommt. Also gerade auf der legendären Nacktparty, aber auch schon zuvor, wenn sie anfängt selbst Spiele zu spielen. Dann wird sie plötzlich sympathisch, davor ist sie was Totes. Das ist natürlich auch im Schauspiel so angelegt. man schaut ja so durch die Leute hindurch. Das ist für mich ein Problem. Ich kann diese Figuren viel zu einfach lesen.

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K.M.: Um auf die Eingangsfrage zurückzukommen. Liegt nicht gerade in dieser Einfachheit und Ausgestelltheit der Kniff letztlich, um das ganze Ausmaß der Absurdität zu zeigen. Diese Frage stelle ich mir.

A.B.: Ich glaube schon, dass du Recht hast. Der Film baut binäre Oppositionen, weil genau daraus kann das Absurde ja auch besonders hervorbrechen. Das Interessante ist aber, dass er sich in seiner filmischen Ästhetik dem Realismus verpflichtet fühlt. All jene surrealen, grotesken oder fast schon slapstick-artigen Momente begegnen mir in einer realistischen Ästhetik, weil der Film ja eigentlich sagt, dass er an der Realität interessiert ist und zwar in einem hohen Maß.

K.M.: Aber das ist ja auch ein Kontrast.

A.B.: Aber das Problem ist, dass er für mich dann weder das eine noch das andere dann so richtig einlöst.

K.M.: Aber das hat das Absurde halt so an sich…

A.B.: Ja genau, aber weder ist der Film schreiend komisch noch ist er besonders realistisch. Ich empfinde es als merkwürdig: Einerseits zeigt uns der Film sehr genau familiäre Situationen, Konflikte der Arbeitswelt – mit einem großen Gespür für Kleinigkeiten, Gesten, Gegenstände, dann aber und dann gibt es diesen Moment, in dem all die Interventionen von Toni Erdmann in der Berufswelt seiner Tochter scheinbar überhaupt keinen realen Effekt haben:Am Ende geht sie nach Shanghai. Das wird ja vorher als ihr nächstes berufliches Ziel etabliert. Es hat also keinen Unterschied gemacht, dass sie sich nicht nach den Etiketten verhalten hat, dass sie  nicht die Codes der Arbeitswelt eingehalten hat, dass sie ihre Geschäftspartner brüskiert hat. All das spielt keine Rolle am Ende. Sie geht einfach nach Shanghai.

K.M.: Weil sie eine „Frau“ ist!. Mit dieser Kausalität von Geschlechternormen spielt der Film schon irgendwie. Sie braucht ja keine Codes. Es geht nur darum, dass sie mit der Gattin des Chefs einkaufen geht. So habe ich das gelesen. Das hat schon eine Wucht. Sie kann gar nicht entkommen, sie kann sich gar nicht disqualifizieren. Darin liegt eine der Grausamkeiten.

P.H.: Es gibt aber eine Szene, in der sie ihrem direkten Vorgesetzten, der dann später auf der Nacktparty erscheint, spricht und klar wird, dass er da ein Entscheidungsträger ist. Ich finde es komisch, dass das dann keine Rolle spielt. Aber das führt mich wieder zu diesem Coda, ich finde das sehr merkwürdig am Ende, als das alles gesagt wird.

K.M.: Der Film ist einfach viel zu explikativ auf eine Art. Aber für mich ist das gerechtfertigt durch dieses Mansplaining, das ja hier auch ein großes Thema ist, das heißt, dass er ja auch irgendwie explikativ sein muss, um seiner Rolle gerecht zu werden. Aber noch mal zum Realismus. Für mich gibt es zwei Momente, in denen der total drinnen ist, zwei ganz starke Momente. Zum einen diese Szene mit dem Zehennagel. Sie trennt ihn ab und dann beißt sie sich durch. Die bekommst du nie so stark in ihrer Schmerzhaftigkeit hin, wenn der Film nicht bis dahin schon diese dem Realismus verschriebenen ästhetischen Methoden anwendet. Aber da tut es richtig weh. Und Schmerz ist ja auch ein großes Thema des Films. Der andere Moment, der wie ein Emblem oder Sinnbild des Films funktioniert, ist diese Szene, in der Sandra Hüller nicht aus dem Kleid kommt. Sinnbild aber nicht nur im positiven Sinne, weil das auch für diese Verklemmung steht.

P.H.: Das sind zwei körperliche Szenen.

K.M.: Ja und da wird so eine Verklemmung spürbar, die irgendwie auf alles übergreift, was nicht per se schlecht ist, aber was vielleicht auch diesen Cannes-Erfolg bedingte…

A.B.: Was meinst du mit Verklemmtheit?

K.M.: Ich glaube, dass der Film in manchen Sequenzen nicht weit genug geht. Das müsste doch mehr aus dem Vollen heraus schöpfen. Wenn dann mehr Furzkissen und mehr…da muss dann wirklich was passieren.

A.B.: Und die Nagelszene wäre dann eine Szene für dich, in der der Film weit genug geht?

K.M.: Da geht es sehr weit. Wenn der Film dort visuell weiter ginge, also mehr zeigen würde, dann würde sich das Gewalt-und Schmerzpotential der Szene wohl aufheben. Hier setzt er aber auf unsere Vorstellungskraft und erreicht dabei maximale Intensität. Das schmerzt.

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P.H.: Für mich ist Realismus in dem Film auch oft Konvention. Das ist jetzt keine radikale Realismushaltung. Da geht der Film auch nicht sehr weit. Das ist sehr häufig in Schuss-Gegenschuss aufgelöst, die Kamera ist immer so platziert, dass sie mehr oder weniger alles überblicken kann, es werden eigentlich nur handlungsrelevante Dinge gezeigt. Ich will es jetzt nicht übertreiben, aber das geht schon in Richtung Hollywood-Realismus. Und dann komme ich zu etwas, was Alejandro am Anfang gesagt hat, nämlich die Frage, ob im Filmischen, in der Form sich dann Ambivalenzen öffnen. Aber so wie der Film arbeitet, können da ja gar keine Ambivalenzen sein, denn dort ist meist Konvention. Klar ist das Realismus, Ade setzt auf Naturalismus im Spiel, im Szenenbild und so weiter…aber sie geht überhaupt nicht weit damit. Was Katharina da vermisst an Radikalität bezüglich der Thematik vermisse ich vielleicht im Bezug zur Form. Das könnte aber daran liegen, dass mich der Film auf die Spur von Realismus gezogen hat und das nicht eingehalten hat und Katharina eher mehr Absurdität gelöst vom Realismus wollte. Der Film hängt so dazwischen und irgendwie scheint genau das zu ziehen. Für mich sind da dann auch schwammige Dinge, wo Ade eher eine Idee filmt, als eine Realität, aber diese Idee aussehen lassen will wie Realismus. Zum Beispiel in der Frage, was sie uns von Rumänien zeigt. Also wenn ein Blick in dem Film aus dem Fenster geht, dann wird auf Armut geblickt. Ich verstehe die Idee und die Idee gefällt mir auch. Sie sagt: Seht her, da ist diese neue, europäische Businesswelt und dann gibt es da aber auch ein reales Land, das man halt mal so durchs Fenster sieht.

K.M.: Sie zeigt ja deren Blick. Den Blick der Businessleute hinunter auf „Rumänien“.

P.H.: Ja genau, das verstehe ich auch als Idee. Nur, wenn dieser Blick ein realistischer wäre, dann wäre er nicht so einseitig. Und das führt uns wieder zu den schwarz-weiss Zeichnungen. Es wird mir eigentlich beständig eine Idee vermittelt, die nichts mit der filmischen Realität dort zu tun haben kann, aber dauernd so tut als ob.

K.M.: Was wäre denn für dich ästhetisch radikal? Gab es für dich eine Szene, auf die du gewartet hast? Ich habe ja immer darauf gewartet, dass  Toni Erdmann auch nackt auf der Party erscheint. Und ich bin mir überdies nicht sicher, ob man das Absurde vom Realistischen so einfach trennen kann.

P.H.: Natürlich kann man das Absurde nicht vom Realistischen trennen, weil man das Realistische ja nicht vom Absurden trennen kann. Ich meine nur, dass die Absurdität hier weniger aus dem realistischen kommt, als aus dem Drehbuch. Also formal kann man das ja nicht machen. Du kannst ja nicht einfach so eine formal radikale Szene in so einen Film schneiden. Es geht mir auch nicht darum, dass ich es schlimm finde, dass der Film darauf verzichtet. Mit Radikalität meine ich eigentlich konsequenteren Realismus. Der Film spielt ja in Rumänien und in Nebenrollen finden sich auch einige Stars des rumänischen Kinos, die hier schlicht nichts zu tun haben. Ade hat sich da ja auch inspirieren lassen offensichtlich. Aber natürlich denke ich da, vielleicht ein wenig ungerecht, auch an Cristi Puiu, weil der eben dieses Jahr mit Sieranevada auch in Cannes war. Und bei Puiu gab es inhaltlich wie ästhetisch die Idee, dass es immer mehrere Wahrheiten gibt, konstruierte Wahrheiten, unklare Konflikte in einzelnen Figuren. Also ziemlich genau das Gegenteil dieser Vereinfachung bei Ade. Und natürlich stört mich da mehr die Bevorzugung letzterer in der Rezeption als ihr prinzipielles Vorgehen. Und Puiu unterstützt diese Weltsicht formal, weil er die Kamera meist nur an einen festen Ort stellt, schwenkt und gar nicht alles sehen kann beziehungsweise mal diesem folgt und mal jenem. Er entscheidet sich dafür, sich auf eine Beobachtung zu reduzieren. Da geht jemand mit der Idee von Realismus radikaler um. Für manche ist das verkopfte Verklemmung…die würde aber ja auch super passen bei Toni Erdmann. Aber die Idee, dass mal jemand hinter einer Tür verschwindet oder hinter einer Ecke und die Kamera muss warten bis die Figur zurückkommt, ist etwas, was ich mir an sich sehr gut hätte vorstellen können in Toni Erdmann wenn ich etwas nennen müsste.

K.M.: Aber braucht es das?

P.H.: Diese Frage kann man immer stellen. Ich will mir auch keinen Film wünschen, ich will über den nachdenken, den es gibt. Meine Kritik ist nicht: Der Film hätte das gebraucht, sondern der Film ist unglaublich konventionell. Immer auch vor dem Hintergrund dieses extremen Hypes. Das hier war ein Vorschlag. Ich denke, dass es viele Ideen gibt dafür.

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A.B.: Aber lass uns da doch noch mal einhaken. Die Kritiken sind eigentlich durchgehend begeistert. Keiner von uns findet den Film jetzt total schrecklich, sondern wir sind eher verwundert, wo die große Begeisterung herkommt.

K.M.: Die nationale Komponente ist vermutlich auch noch wichtig. Deutsche Regie, seit acht Jahren keine deutsche Regie mehr dort und so weiter. Auch aus politischen Gründen.

A.B.: Das auf jeden Fall. Darauf will ich hinaus. Also wir drei können nicht verstehen, wieso die Kritiken so überschwänglich sind. Wir sind uns einig, dass es eine gewisse Einfachheit in der Konstruktion der Geschichte gibt, die teilweise in das humoristische Potenzial hineinspielt. Dann gibt es diese Aspekte mit der Repräsentation von Rumänien, es gibt die Frage nach dem Verhältnis von Männern und Frauen und so weiter und daran anhängend die Frage nach einer weiblichen Filmemacherin in Cannes. Und all diese Kritiken sind durchweg begeistert und nennen alle den Humanismus. Der Humanismus ist ein Wort, das immer wieder fällt. Für mich hat bislang niemand in den Kritiken formuliert, worin eigentlich dieser besondere Humanismus des Films liegt. Viele Kritiken sind sich auch darüber einig, dass es einfach gebaut ist, sagen aber, dass es filmisch – also als Film – dann eine Komplexität erhält. Was mir eklatant erscheint ist, dass viele der KritikerInnen, die darüber geschrieben haben, eine spezifisch kinematographische Handschrift gut finden, also etwas, das visuell , also über bewegte Bilder und Töne erzählt. Aber habt ihr das Gefühl, dass Toni Erdmann im besonderen Maße über die Mittel des Kinos erzählt? Oder ist das nicht eigentlich eine Form von extrem dialoglastigem und wie Patrick gesagt hat nach sehr klassichen Mustern aufgelöstes Kino?

K.M.: Das wäre auch einer meiner Einwände. Also dass Ade in einer politischen Betrachtung des Films mit den Methoden, ich sage das vorsichtig, des klassischen Theaterfilms oder Kammerspiels mit einer sehr traditionellen und damit auch „männlich“ belasteten Arbeitsweise herangeht. Und ich glaube, was es mit dem Humanismus auf sich hat, ist glaube ich einfach, dass das Wesen dieses Films in einem Carpe Diem für arbeitendes, bürgerliches Publikum liegt.

A.B.: Nur um es richtig zu verstehen, würdest du sagen, der Film adressiert geradezu Filmkritikerinnen und Filmkritiker, die in einem neoliberalen Kultursystem daran gewöhnt sind, permanent auf Festivals mit iPads herumzulaufen, Texte zu schreiben, Filme zu schauen, bis spät in die Nacht zu arbeiten und zu netzwerken und dann kommt ein Film und sagt: Stimmt, ihr müsst mal durchatmen?

K.M.: Ja, absolut. Also für mich ist das so ein Aufruf, so ein Carpe Diem. Und da gibt es einige Patzer. Zum Beispiel die Szene mit dem Sarg mit seiner Mutter. Da hätte mehr passieren können, da hätte der Film meiner Meinung nach über die Stränge gehen können. Genauso wie am Ende beim Abschlussplädoyer, das ist einfach zu platt so wie es ist. Natürlich kann man da fragen, ob es das gebraucht hätte. Am Sarg finde ich, hätte schon etwas passieren können, um nicht so stark in die Hauptabendprogrammfernsehideologie reinzudriften: Ein nicht unterdrückbarer Lacher, ein Klappsarg oder so. Am Schluss war es schon auch schön so, weil sein ganzes Mansplaining da so aufgelöst wird.

P.H.: Aber das ist doch eine schöne Szene für unser Problem. Aus einer inhaltlichen Perspektive scheint das sehr relevant, aus einer formalen Perspektive ist das halt wieder auf den Dialog gelegt. Das kann man so machen, aber ich finde das erklärt mir sehr viel. Ich habe schon einige spezifisch kinematographische Bilder im Film gesehen . Zwei fallen mir jetzt ein. Zuerst mal als der Hund von ihm stirbt. Ich finde, dass das sehr gut eingefangen ist. Sie ist nahe und zugleich fern, der Raum wird sehr klein in diesem Garten, es gibt keinen Ausweg, man sieht den Hund auch nicht richtig, da entsteht etwas sehr Trauriges, ohne dass viel gemacht wird. Das ist schon ein Moment, in dem der Film in Kinobildern denkt. Und ich finde schon, selbst wenn das sehr groß und fast plakativ inszeniert ist, dass wenn die sich da am Ende im Park umarmen, das ist ein Kinobild. Dieses prinzipielle Lösen von solchen Sachen war für mich aber sehr überraschend, weil ich das zum Beispiel in ihrem Alle Anderen, den ich sehr mochte, viel mehr gesehen habe. Das ist natürlich auch ein Kammerspiel-Film mit viel Dialog, aber ich hatte da beständig das Gefühl, dass in dieser Rauheit der Inszenierung etwas über den Inhalt mit vermittelt wird. Das ist gleichzeitig beobachtender und näher an den Gefühlen der Eingesperrtheit und Hitze im Film.

A.B.: Es wirkt auch deutlich zerrissener. Bei Alle Anderen hat man nie das Gefühl, dass man weiß: Ah, jetzt kommt die Position und jetzt kommt die Position, sondern es ist ein permanentes Zwischendrin.

P.H.: Und in Alle Anderen findet sich für mich vielleicht auch die Brücke zum Humanismus in Toni Erdmann. Ich finde da einen großen Unterschied und das führt mich auch wieder zu Cristi Puiu, dem ja manchmal das Gegenteil nachgesagt wird, also dass er Menschen nicht mag. Aber da geht es doch um die Idee, dass man Schwächen nicht unbedingt gegen Stärken spielt, sondern das Schwächen vielleicht Stärken sind oder Stärken Schwächen. Dass Menschen vielleicht unsympathisch sind, untragbar, dass es da keinen Funken gibt, der zeigt, wo sie hin müssen oder dass man beständig spürt, wer sie eigentlich sind, sondern dass sie vielleicht aufgrund einer bestimmten Situation oder in einer bestimmten Beziehung einfach so sind wie sie sind. Ohne Besser und Schlechter. Dieser Humanismus ist mir viel näher. Jemand sagt mir: Da ist eine Person, ich verurteile sie nicht, sie kann einen zärtlichen Moment haben, sie kann einen furchtbaren Moment haben. Das ist für mich eine humanistische Idee, einen Menschen zu zeigen, ihn zu umarmen, auch wenn das für den Zuseher vielleicht viel schwieriger ist. In Toni Erdmann gibt es das schon auch, aber oft so klar abgetrennt voneinander. Nur, weil man eine Person mag, muss das doch kein Humanismus sein. Das könnte auch eine Lüge sein.

A.B.: Das wird ja in den Kritiken auch oft genannt. Es wird oft geschrieben, wie erstaunlich es ist, dass der Film es auch schafft, dass wir eine klassische neoliberale Arbeitsbiene  – mit all den Werten, von denen wir natürlich als kritisch denkende Menschen Abstand nehmen würden – dass der Film es doch schafft, dass wir auch sie mögen, auch sie verstehen. Aber da denke ich mir so ein bisschen, dass das doch für wirklich extrem viele Filme zutrifft, die es schaffen, Figuren facettenreich zu zeigen. Aber interessanterweise wird das dem Film so zu Gute gehalten. Deshalb finde ich ja, was Katharina sagt gar nicht so uninteressant. Vielleicht ist das ein Film, der eben auch die Leute adressiert, die im Kulturbetrieb arbeiten.

K.M.: Ich sehe in dieser Figur von Sandra Hüller, man kann sicher mehr darin sehen, aber ich sehe darin einen bestimmten Typus von deutscher Kritikerin, die in Cannes herumrennt und darüber klagt, dass es zu warm ist, dass so viel zu tun und das Kleid unangenehm ist. Deshalb wundert mich auch der Erfolg des Films nicht. Und ich sehe mich natürlich auch selbst ein bisschen in der Figur.

A.B.: Ich glaube auch, dass der Film darauf bauen kann: Wir sehen uns alle ein bisschen auch in dem Konflikt, der da thematisiert wird. Im Übrigen sehe ich da auch eine Gemeinsamkeit zu Alle Anderen – den habe ich damals mit 5 Personen gesehen und absolut jede/r sah die Geschehnisse mit ganz eigenen Augen.

K.M.: Ja natürlich, weil da ja auch ohne gröberes Gewalteinwirken von außen oder durch den Ausbruch innerer Gewalt kein Auskommen angezeigt ist. Aber um noch mal zu dem Formalen zurückzukommen. Mich hat das nicht so gestört. Ich glaube, dass der Film formale Besonderheiten bzw. Spielereien auch gar nicht vertragen würde. Und zwar basierend auf der künstlerischen Idee der Minimalmaske dieses Clowns, der ja irgendwie scheitern muss und für mich da am Ende auch zumindest bei ihr (nicht beim Publikum) gar nicht durchkommt mit seinem „Plädoyer“. Er muss scheitern und es ist von Anfang an klar, dass er scheitern wird, weil er eben diese Maske trägt. Das ist eben eine klassische Form von theatraler Kunst und für das Theatrale brauchst du, glaube ich, eine traditionelle Form. Sonst funktioniert das nicht. Der Clown lacht ja nicht selbst über sich. Sonst funktioniert er ja nicht. Der Film darf auch nicht über sich selbst lachen, sonst funktioniert er auch nicht. Und immer wenn er doch ein bisschen über sich selber lacht, das gibt es ein bisschen, dann hat es auch nicht funktioniert.

P.H.: Also natürlich ist es so, wenn ich sage, dass ich da was Formales vermisse, dann hängt das erstmal mit der Rezeption zusammen, weil ich erwarte von einer Filmkritik in einer solchen Breite nicht, dass sie sich so darüber freut, wenn formale Dinge über Bord geworfen werden. Aber man hat genau dieses Gefühl. Da wird gesagt: Endlich mal ein Film der Kunst ist, aber der nicht so verkopft ist und anstrengend und so weiter. Und das stört mich einfach. Zumal wir gesagt haben, dass der Film absolut politisch ist und Politik im Film schon auch sehr an der Form hängt. Und ich erwarte von der Filmkritik, dass sie Experimente fördert und bin enttäuscht, dass es solche Reaktionen durchgehend bei einem konventionellen Film gibt.

K.M.: Aber ich glaube eben, dass Toni Erdmann für solche Wünsche zu nah am tatsächlichen Filmkritiker, der Filmkritikerin angesiedelt ist und da gibt es dann eine Überwältigung. Im Verzicht auf formale Spielerei, selbst wenn sie sich da und dort anböte, liegt für mich auch eine Kunst. Mich hat es ja auch erwischt so kurz vor Semesterende, dass ich mir gedacht habe: Wie absurd, mit welcher Art von Pseudo-Ernsthaftigkeit ich das alles mache. Und ich habe mich auch in beiden Figuren gesehen, ich fand mich schon auch in der „männlichen“ Figur wieder, in der Kaspelei, die auch nicht „funktioniert“, aber zur Gegenwärtigkeit führt – und damit ein feinsinniges Gegenmoment zu einer durchgetakteten Welt ist, in der alles „funktionieren“ muss und die immer auf eine Konsequenz (Erfolg), also nicht auf den Moment gerichtet ist. Es sind grundsätzlich zwei gut aufgebaute Identifikationsfiguren.

P.H.: Das ist ja auch einer der Punkte…dieses Aufbauen der Figuren…das ist sehr klar. Der Film nimmt sich ja unfassbar lange Zeit für das Einführen der Figuren. Am Anfang wird seine Figur aufgebaut, dann treffen sie sich zum ersten Mal, dann wird ihre Figur aufgebaut und dann geht es eigentlich erst los mit Toni Erdmann. Das ist vielleicht auch so eine Sache. Ich habe in mehreren Kritiken gelesen, dass das einer der wenigen Filme ist, die Kunstanspruch haben und sich dennoch viel Zeit für einen psychologischen Charakteraufbau lassen. Ich spüre da eine Sehnsucht nach Psychologie. Man will wieder nachvollziehen, wer was weshalb macht und so weiter. 

A.B.: Beim Hollywood Reporter stand als  Bottom Line “The best 162-minute German comedy you’ll ever see.“ Das bringt mich auf zwei Sachen. Der Satz ist nämlich ganz witzig, weil er diese Betonung auf die 162 Minuten legt und es natürlich kaum eine andere 162minütige deutsche Komödie gibt. Es bringt uns aber auch noch mal auf diese Rolle von Deutschland. Nämlich in der internationalen Wahrnehmung. Patrick hat ja auch über deutschen Humor geschrieben. Und in der Gruppe, in der wir nach dem Film standen, gab es zum Beispiel Bezüge zu Filmen wie Männerpension oder so Til Schweiger/Katja Riemann-Klassiker der 90er Jahre, die in Deutschland ja eine große Aufmerksamkeit genossen haben. Zum einen wie „deutsch“ ist der Film? Und wie sehr wird der Film als „deutscher“ Film wahrgenommen?

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K.M.: Das „Nationale“ ist für mich und meine Forschungen ein wichtiges Thema und das wird ja gerade immer spannender auch im gröberen Kontext der Nationalisierung, Re-Nationalisierung, der nationalen Aufladung von Gesellschaft. Das erste, was mir aufgefallen ist, ist aus einer Kritik, die ich gelesen habe in einer französischen Zeitung. Der Artikel kritisiert, dass Ken Loach gewonnen hat und damit wieder die „Altherrenideologie“ und nicht der Film, der genau diese kritisiert (also Toni Erdmann).

P.H.: Ich denke aber schon, dass der Ken Loach Film auch Kapitalismus kritisiert? Ich habe ihn noch nicht gesehen, aber gehe schon schwer davon aus.

K.M.: Es war nur interessant, das zu lesen. Da wurden auch Verbindungen zum bevorstehenden Brexit gezogen und so weiter. Das ist nur die Meinung dieser Kritik. Ich finde den Film sehr deutsch.

A.B.: Ja, das würde mich eben genauer interessieren. Ich kann das nämlich nachvollziehen. Ich habe ihn ja in Österreich im Kino gesehen und habe sehr viel Gelächter wahrgenommen. Darüber könnte man vielleicht auch noch mal reden, diese Frage des Gelächters und die Tatsache, dass Maren Ade schon betont, dass es sich nicht um eine Komödie handeln würde. Etwas, bei dem ich sie sehr gut verstehen kann, weil die depressiven Momente haben bei mir funktioniert, die lustigen haben bei mir praktisch gar nicht funktioniert. Und ich bin zwar kein Deutscher, aber ich bin in Deutschland sozialisiert worden und ich habe mir die ganze Zeit gedacht: Meine Fresse, der Film ist deutsch. Aber woher kommt das?

K.M.: Deutschland ist für mich spürbar im Sexismus…

A.B.: Das musst du jetzt etwas genauer erklären?

K.M.: Also ich meine in einer bestimmten Form. In Österreich ist ebendieser so ostentativ, da muss man gar nicht darüber reden. In Deutschland funktioniert das besser vor allem vor dem Hintergrund von Leuten wie Til Schweiger oder diesen Fick-Komödien. Vor diesem Hintergrund ist der Film natürlich auf eine Art begrüßenswert, weil die Mehrzahl der Komödien, und das betrifft nicht nur Deutschland, die in letzter Zeit vor allem aus Europa ins Kino kommen, sind entweder Fick-Komödien oder „Multikulti“-Komödien. Da ist Toni Erdmann natürlich ein Fortschritt. Aus „österreichischer“ Wahrnehmung ist das „Deutsche“ daran vielleicht diese bestimmte Verklemmung. Eine „österreichische“ Variante davon wäre dann vielleicht das, was ich schon gesagt habe…also viel mehr Furzkissen, viel mehr Gaga-Humor, mehr Fremdschämen und es ist auch nicht immer ganz stimmig mit Simonischek. Man merkt, dass er da sehr eingedeutscht wirkt. Improvisiert wären da andere Formen von Humor rausgekommen wahrscheinlich. Ich will jetzt „dem Deutschen“ nicht den Humor absprechen. Manche Szenen funktionieren da auch ganz wunderbar. Und sind vielleicht gerade in ihrer „Trockenheit“ dem Lachen sehr förderlich.

P.H.: Ich finde schon, dass der Film an Stellen geht, zum Beispiel bei der Party, an die normal deutsche Komödien gar nicht rangehen, also so Over-the-Top Momente…die gibt es schon, aber dann sehr billig, in dem was du „Fick-Komödien“ nennst. Da finde ich geht Toni Erdmann schon einen Schritt weiter und zwar auf intelligente Art und Weise. Aber was mich an der Verklemmung interessiert, Katharina, das habe ich nicht ganz verstanden. Sagst du, dass die Verklemmung in der Filmemacherin liegt oder in dem, was sie thematisiert?

K.M.: Ich glaube weder in der Filmemacherin, noch zwangsläufig in dem, was sie intentional thematisiert und schon gar nicht in der Art und Weise. Sondern die Verklemmung ist eine identifizierbare Thematik des Films. Ob sie intendiert ist oder nicht, sei dahin gestellt.

A.B.: Also du würdest sagen die Verklemmung der weiblichen Hauptfigur, also da kann man ja schon von einer Verklemmung sprechen…eine Figur, die sehr steif in diesen Arbeitsprozessen ist und natürlich gleichzeitig so eine Professionalität hält, die sich aber zum Beispiel auf ihrer Geburtstagsparty kaum entspannen kann… du würdest sagen, das erinnert an so eine Art „deutsche“ Professionalität auch?

K.M.: Möglich, ja. Sagen wir, es ist eine Konvention davon. Mein Arbeitsumfeld ist voll von „deutscher Professionalität“ und ich schließe mich dem zum Teil gerne an. Mir fehlt, wie gesagt, dass Toni auch nackt auf die Party kommt. An was mich die Partyszene übrigens erinnert hat, ist Max, mon amour von Nagisa Oshima. Da spielt ja Charlotte Rampling die Gattin eines britischen Botschafters in Paris und betrügt ihn mit einem Affen. Ich finde ja, dass Sandra Hüller und Charlotte Rampling sich da schauspielerisch auf einem gleich hohen Niveau bewegen. Das ist für mich ein ganz ähnlicher Film. Und auch ästhetisch für Oshima-Verhältnisse total konventionell. Ich glaube je absurder du etwas machen willst, desto mehr muss sich die Mise-en-Scène zurücknehmen.

P.H.: Naja…also wenn ich mir Porumboiu-Filme oder Hong Sang-soo-Filme ansehe…das ist Absurdität und es ist formal. Also da ist schon ein Unterschied.

A.B.: Ja, da gibt es aber schon Unterschiede zwischen den Ansätzen. Ein Film, den ich formal gar nicht so extravagant finde und der mich stellenweise auch an Toni Erdmann erinnert, ist Le charme discret de la bourgeoisie von Luis Buñuel. Oder auch andere Filme von ihm, bei denen man formal keine großen Spielereien hat und die Absurdität und das Groteske genau daraus entsteht, dass du eigentlich ein ganz normales bürgerliches Abendessen in einer ganz normalen konventionellen Art und Weise der Inszenierung beobachtest und sich da plötzlich Verschiebungen auftun, mit denen du mal klarkommen musst.

P.H.: Also ich finde ihr macht es euch da zu einfach. Form heißt doch nicht automatische Extravaganz. Also Buñuel achtet in diesem Film doch unglaublich auf die Kadrierung, auf Symmetrien, auf das Zusammenspiel von Kostüm und Szenenbild. Und in Toni Erdmann sind all diese Dinge für mich einer Idee von Realismus untergeordnet. Da habe ich gar nicht das Gefühl, dass da eine Filmemacherin arbeitet, die mir diese Absurdität auch in der Form wiedergeben will, wie das bei Buñuel eben schon passiert, sondern bei Maren Ade kommt die Absurdität rein inhaltlich. Bei Buñuel liegt die Absurdität auch in der Kamera.Es geht mir auch nicht darum, hier einen Formalismus zu fordern. Ich finde es ja okay, dass Toni Erdmann das zurückschraubt. Alles was ich sage ist, dass der Film das was er versucht, also diese Absurdität und dieses Gegeneinanderstellen von Dingen mir mit einer Absurdität in der Kamera stärker hätte vermitteln können. Wie Katharina fordert, dass er inhaltlich manchmal hätte weiter gehen sollen, so habe ich da formal einfach sehr wenig gesehen. Ich glaube, es ist sehr ähnlich, was uns da fehlt.

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K.M.: Ich glaube, dass die Zuschauer_innenfreundlichkeit des Films sich trotz der Länge eben auch in dieser Formlosigkeit bekräftigt. Und das hängt auch damit zusammen, dass der Film eigentlich unerträglich ist, in dem was er zeigt. Weil das ist furchtbar, das ist zum permanent Wegschauen. Ich finde, dass das eine sehr intelligente Annäherung an das Wesen des Kapitalismus ist und eine formal extravagante oder auch nur subtil feine formalistische Herangehensweise könnte da meines Erachtens auch ein Fehler sein.

A.B.: Also ich finde der Film hat eine nicht unerhebliche politische Dimension, da geht es um Generationen, da geht es um Lebensmodelle, aber da geht es auch um Verhältnisse zwischen dem Westen Europas und dem Osten Europas, also Dinge, die heute sehr relevant sind. Gleichzeitig aber sagt Katharina, dass der Film mit dem Hinterfragen des Lebens der Ines-Figur etwas anspricht, was uns sehr gut reingeht. Mit „uns“ meine ich jetzt die Kulturschaffenden, die Kritiker und so weiter. Und wenn man das weiter denkt, dann finde ich es unheimlich spannend, dass Maren Ade sagt, dass es eigentlich nicht als Komödie gedacht war, sondern als ein Film mit Traurigkeit und Frustration. Und diese Momente haben bei mir ehrlich gesagt auch funktioniert. Zum Beispiel wenn der Vater vor Augen geführt bekommt, was seine Tochter tatsächlich für ein Leben führt. Sei es das Koksen nach einem Besuch im Nachtclub, das nicht mehr vom Handy Weggehen oder das schlechte Behandeln von Hotelpersonal. Diese Szenen tragen für mich tatsächlich eine Tragik in sich.

K.M.: Da spricht jetzt aber ein sehr alter Mann aus dir!

A.B.: Da spricht kein alter Mann aus mir, da spricht ein Bewusstsein dafür,, dass das Verständnis zwischen den Generationen oder die Wahrheit darüber, inwiefern wir eigentlich wissen wie „die Jungen“ und wie „die Alten leben“, dass es da eine erhebliche Diskrepanz gibt. Auf der einen Seite gibt es ein Familienfest und dort gibt es diesen Moment: „Mensch, du bist so erfolgreich, du kommst überall rum…“ Aber in dem Moment, in dem man das Leben dann tatsächlich sieht, stellt man dann fest, dass es eine Fassade ist. Und Fassaden sind natürlich Themen des Films. Jetzt kam mir das Lachen im Kino teilweise hysterisch oder forciert vor, weil vielleicht die tragischen und drückenden Elemente des Films Leute adressieren, die genau wissen, von was da eigentlich gesprochen wird. Das Lachen ist dann eine Verteidigung, ein Abtun.

K.M: Deshalb fand ich die sehr schöne Whitney Houston-Szene zum Beispiel in keiner Sekunde lustig. Die war in einer Weise gewaltig.

A.B.: Die hat zum Beispiel bei mir nicht funktioniert. Da hatte ich wirklich das Gefühl, dass ich jetzt ein Klischee sehe. Das kenne ich aus so vielen amerikanischen „Indie“-Filmen (also jene, die tatsächlich schon so gelabelt produziert werden), dass ein Popsong schlecht gesungen wird, aber dann die Tiefe des Popsongs mir  eigentlich etwas über die Gesamtsituation sagt.

P.H.: Das war doch auch ein Spiegel zu Alle Anderen, oder? Da gibt es doch diese Grönemeyer-Szene. Das empfinde ich schon als Maren Ade Kniff. Hat auch mit Entblößung zu tun.

K.M.: Für mich ist das eine Nötigung einfach. Sie beugt sich dieser Nötigung. Und das macht es ziemlich schmerzhaft.

A.B.: Was meinst du damit?

K.M.: Sie beugt sich seiner Nötigung, dort zu singen.

P.H.: Aber warum singt sie denn dann mit dieser Inbrunst? Irgendwann geht sie aus sich heraus. Sie schreit ja das Lied. Das ist dann ja auch eine Art von Befreiung.

K.M.: Ja, schon. Aber eben eine Befreiung via Nötigung. Das ist keine Befreiung, das ist eine erzwungene Befreiung und das ist etwas anderes. Das ist das schmerzhafte an der Szene. Sie geht zwar aus sich heraus, aber es ist irreversibel…

P.H.: Aber liegt darin dann vielleicht etwas Deutsches? In dieser erzwungenen Gleichzeitigkeit von Verklemmung und Entblößung?

K.M.: Ja. Das trifft vielleicht auch ein bisschen so eine Reality-TV-Geilheit.

P.H.: Oder auf einem deutlich höherem Niveau, ist das eine Sache, die zum Beispiel Fassbinder ständig gemacht hat. Diese Idee von: Du wirst angeschaut, du entblößt dich, du willst nicht…Fassbinder wird oft nicht als komödiantisch wahrgenommen, aber da gibt es schon Argumente…diese ständige Peinlichkeit. Da könnte etwas Deutsches liegen in dieser Steifheit bei gleichzeitigem Ehrgeiz.

K.M.: Es gibt ja auch Analogien zum Erfolg verschiedenster Fernsehformate. Und da überschreitet der Film diesen bürgerlichen Anspruch dann auch wieder, wobei er sich wohl genau auf der Grenze von dem bewegt, was bürgerlich ist und was bürgerlich sein will. Da hätte ich mir eben gewünscht, dass der Film mehr darüber hinausgeht oder das mehr mit so popkulturellen Dingen, Big Brother Momenten verknüpft und engschaltet. Der Film ist ja auch ganz stark Fernsehen.

A.B.: In der Einfachheit der Konstellation, in den vielen Großaufnahmen…

P.H.: Es ist auch Loriot.

K.M.: Auch Didi Hallervorden und vor allem auch: Helge Schneider!

A.B.: Und Jerry Lewis.

P.H.: Es ist alles…also ich finde da zeigt sich auch immer eine Grenze, wenn man über den nationalen Charakter eines Films spricht. Der Film ist gleichzeitig sehr deutsch und sehr international. Das liegt an den Figuren, die man als europäisch wahrnehmen kann, aber wo Deutschland eben auch ein Aushängeschild momentan ist. Bei einem Franzosen in diesem Milieu wäre das wohl recht ähnlich.

K.M.: Das ist das Wesen des Internationalen. Es kommt ohne das Nationale nicht aus.

P.H.: Also an was mich der Film erinnert hat, auf einem höheren Niveau..also der Film ist für mich eigentlich eine Fortsetzung von Up in the Air von Jason Reitman. Da würde mich mal Katharinas feministische Perspektive dazu interessieren…

K.M.: Ich weiß nicht, ob ich eine feministische Perspektive habe. Da würde ich mir diesen Film wahrscheinlich gar nicht anschauen.

P.H.: Das könnte jetzt ein Satz aus Toni Erdmann sein…auf jeden Fall finde ich, dass die Figur von George Clooney in Up in the Air in stark vereinfachter, artgerecht zubereiteter Form natürlich ganz ähnliche Konflikte durchmacht wie Sandra Hüller hier. Da werden auch ganz ähnliche Welten gegeneinander gestellt. Auch wenn Clooney natürlich nie so körperlich ist und immerzu seine Souveränität halten muss.

K.M.: Moment mal, wo verliert sie ihre Souveränität?

P.H.: Zum Beispiel wenn sie ihr Kleid nicht aufbekommt.

K.M.: Gehört das zur Souveränität, ob man sein Kleid aufbekommt?

A.B.: Nein, aber wenn du eine souveräne Figur in einem Film zeigst, zeigst du keine minutenlange Szene, in der sie ihr Kleid nicht aufbekommt.

K.M.: Das ist schon spannend, wenn das jetzt das Kriterium ist…

A.B.: Es ist nicht das Kriterium, es ist ein Beispiel. Jemand, der sich den Nagel entfernt und dadurch Blut auf die Bluse vor einer wichtigen Präsentation spritzt und so weiter. Es gibt schon sehr viele Momente, die das sagen und ein zentrales Thema im Film sind ja Masken. Und der Film artikuliert ja immer wieder, dass Masken Masken sind. Und wenn einsame, neo-liberale Karrieremenschen alleine sind, dann haben sie niemanden, der ihnen das Kleid aufmacht.

K.M.: Ja, aber das hat ja nichts mit der Souveränität zu tun, die sie ausstrahlen muss. Die Souveränität liegt ja im Nicht-Zubekommen. Genau darin, dass sie diese Schale nicht mehr zubekommt. Das ist für mich souverän. Es ist ja nur in dieser kapitalistischen Bildökonomie nicht souverän.

P.H.: Ich finde sie erst souverän, als sie sich entscheidet, das dann ganz zu lassen mit dem Kleid.

K.M.: Nein, ich finde schon das Nicht-Zurechtkommen souverän.

P.H.: Das verstehe ich nicht. Das ist natürlich eine Definitionsfrage von „souverän“. Aber sie hat doch keine Ruhe, in dieser Szene. Da ist ja Panik. Es gibt immer wieder Momente, in denen sie in Panik verfällt. Zum Beispiel als sie morgens zu spät aufwacht, weil ihr Vater sie nicht geweckt hat, da ist sie in Alarmzustand.

A.B.: Also ich würde das auch so sehen. Der Moment, in dem sie in irgendeiner Form souverän damit umgeht, dass sie Teil eines Systems ist, das sie nicht glücklich macht, ist dann der finale Moment der Nacktparty, wenn sie sagt: „Scheiß drauf“, wir feiern heute nackt und wer nicht mitmachen will, kann gehen. Das ist für mich eine souveräne Handlung. Aber davor wird sie oft demontiert. Der Film zeigt eine ganze Weile lang, dass ihre vermeintliche Souveränität in der Arbeitswelt ein Fake ist. Sie hat bestimmte Aufgaben und sie scheitert eigentlich permanent daran, diese Aufgaben in einer adäquaten Form zu erfüllen.

P.H.: Es gibt ja auch dieses Businessgespräch am Abend, wo sie was „Falsches“ sagt. Das ist ja auch das, was mich so ein bisschen stört. Ich sehe beständig durch sie hindurch. Ich sehe keine Sekunde diese Fassade. Das ist oft durchschaubar und langweilig. Bei der männlichen Figur sagt der Film: Schaut euch die Traurigkeit unter dem Witz an. Und bei ihr: Schaut euch die Überforderung unter dem Karriere-Drive an. Da frage ich mich schon, ob das wirklich eine komplexe Charakterzeichnung ist.  Für was wird der Vater so lange eingeführt? Interessiert mich die alte Frau, die stirbt? Interessieren mich die Nebenfiguren?

A.B.: Die Mutter stirbt nur für ihn. Um ihn zu zeichnen, um seinem Handeln einen Motor zu geben.

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K.M.: Ja, das sind so Szenen, bei denen es mehr gebraucht hätte für mich. So geht das irgendwie in Richtung Fernsehen. Rosamunde Pilcher oder sowas.

A.B.: Ihre Figur wird ja auch schon telefonierend eingeführt. Erst diese kurze Begegnung und Distanz im Wohnzimmer, dann hinter dem Haus telefonierend.  Und das sind so Sachen, auch im Sinn eines Realismus, da stimmt einfach das Timing nicht. Wie sie da das Telefon in die Hand nimmt und so tut als würde sie telefonieren: Das ist nicht nur für ihn offensichtlich, das ist für uns, das ist für die ganze Welt sichtbar. Sie wird von Anfang an als eine Fakerin etabliert, die eine Oberfläche versucht zu repräsentieren, die sie gar nicht repräsentieren kann. Sie ist auch gegenüber dem Zuseher nie wirklich souverän in ihrem Unternehmerberatungsdasein.

K.M.: Aber das ist dann ja vielleicht das, was so „gut tut“. Das meinte ich mit Carpe Diem für einen bestimmten, nicht selten vorhandenen Typus von Arbeitsmensch. Das ist ja die Einladung gewissermaßen. Es ist total angenehm, auch sie scheitern zu sehen genauso wie ihn. Das stellt die eigene „Souveränität“ in Frage. Der Film lädt einen ja ein zu denken, dass es sowieso nicht so schlimm ist, wenn man Fehler macht. Zumindest nicht, wenn sie von einer „Frau“ gemacht werden. Das ist so die Tragik dieses Films.

P.H.: Das klingt für mich nach einer American Psycho-Logik. Jemand kann sich alles erlauben, aber am Schluss hat ihm keiner zugesehen? Und in dem Fall, weil es eine Frau ist…

K.M.: Genau, nicht „Jemand“, sondern eine „Frau“. Weil ihre Souveränität eben nichts zählt in diesem Umfeld.

P.H.: So nimmst du dann auch so eine Szene wahr, in der ihr Kollege nach der Präsentation  zu ihr sagt: „Du bist ein Tier.“? Da haben wir als Zuseher ja eher eine andere Wahrnehmung von ihr, oder? Also sagt er das zu ihr deiner Meinung nach, weil sie eine Frau ist?

K.M.: You‘re fuckable, heißt das für mich. Oder: You have to be fucked. Das schlimme für mich ist, dass es in diesem auf Konsequenzen (Erfolg) angelegten Dasein keine Konsequenzen gibt bei all dem was passiert. Und das hat schon damit zu tun, dass sie eh nur „die Frau“ ist, dass es eh nur wichtig ist, dass sie mit der Gattin da shoppen geht. Sie wird dort gar nicht ernst genommen, kann also alles machen. Und auch die Nacktparty wird ihr nicht zum Nachteil. Das perpetuiert den Kapitalismus. Souveränität perpetuiert den Kapitalismus. Und damit meine ich auch die Souveränität in der vermeintlichen „Unfähigkeit“ (etwa das Kleid abzustreifen). Man kann auch souverän eingeklemmt sein.

P.H.: Für mich hat das sehr wenig damit zu tun, dass sie eine Frau ist.

K.M.: Ja, das sagst du jetzt von deinem Bildungsgrad als elitärer, kritischer Mensch.

A.B.: Ich glaube der umgekehrte Ansatz, also der aufstrebende Unternehmensberater-Junge mit 27 Jahren und die Mutter macht sich dann auf den Weg, um ihm zu zeigen, dass er vom rechten Weg abgekommen ist, zeigt ihm, was  das Leben eigentlich ist, nämlich eine Gemütlichkeit, ein schönes Leben in einem kleinen Häuschen, das man sich in den Wirtschaftshochzeiten Deutschlands hingebaut hatließe sich mit einer Männerfigur als neoliberale Arbeitsmaschine in dieser Art und Weise nicht durchziehen. Tatsächlich sind doch alle Interventionen des Vaters in ihr Leben und nicht in das System. In dem Moment, in dem eine Frau diese Kritik an ihrem Sohn üben würde, wäre es eine Kritik am ganzen System. So ist es immer eine Kritik an: Wie führst du denn dein Leben? Und der Film impliziert das, was Katharina sagt, also man lässt das der Frau durchgehen, weil ihre eigentliche Rolle ist dann doch mit der reichen Geschäftsfrau einkaufen zu gehen, gut auszusehen, all diese Dinge.

K.M.: Ja und das ist für mich dann auch das Objekt der Kritik des Films.

P.H.: Es gibt aber ja noch diese männliche Figur, mit der sie diesen Nicht-Sex hat. Sie behandelt ihn ja ziemlich krass. Verständlicherweise. Aber es gibt auch diese Szene bevor sie sich allein im Hotel treffen. Da fahren sie im Auto und er fragt, ob er beim Vortrag dabei sein darf und sie sagt recht klipp und klar nein. Die Sexszene ist ja dann so ein erster Ausbruch von ihr, aus dem was man sonst so tut. Da wird sie schon kurz zu Toni Erdmann…nur krasser.

K.M.: Für mich sind sowieso beide Figuren Toni Erdmann.

P.H.: Ja, genau. Sie heißt ja dann auch Schnuck. Aber zurück zu diesem schmierigen Typen da…der steht irgendwie für mich schon dafür, dass hier nicht so eindeutige Mann-Frau-Gegensätze aufgezeichnet werden. So auch diese rumänische Helferin von ihr. Da sind einfach so kapitalistische Auswüchse. Ich würde euch da schon ein wenig widersprechen, dass der Film nur in dieser Konstellation funktioniert. Klar, ein Film funktioniert immer nur so wie er ist.

A.B.: Aber auch vor dem Hintergrund des Films, den Ade davor gemacht hat, da geht es ja tatsächlich um ein Mann-Frau-Verhältnis in der Konstellation eines Paares. Was ich in dem Gespräch interessant finde: Wir waren uns ja irgendwie einig, dass allzu viele Ambivalenzen nicht vorhanden sind, sondern dass das eher eine schwarz-weiß Konstellation ist, die dann durchexerziert wird. Wenn wir jetzt aber über einzelne Momente reden, sind die Wahrnehmungen dann doch sehr, sehr unterschiedlich.

Toni Erdmann Premiere - 69th Cannes Film Festival

K.M.: Der Film ist hochambivalent, nämlich über bzw. durch dieses permanente Inszenieren von schwarz und weiß.

A.B.: Also eine Szene, bei dem es jetzt beim Sprechen bei mir noch mal Klick gemacht hat ist diese Szene, in der sie dann singen muss. Diese Szene habe ich ganz anders wahrgenommen. Ich habe da gesehen, klar, dass der Vater das initiiert, dass er das so dahin steuert mit dem ganzen Besuch und sie halt etwas widerwillig mitmacht…aber eigentlich waren da für mich Vater und Tochter wieder eins und sie ersingt da in diesem vermeintlich trivialen Popsong die Tiefe der komplexen Emotionen. Katharinas Lesart scheint mir aber jetzt doch treffender. Es ist eine Nötigung. Da sind man dann doch wie unterschiedlich die Wahrnehmungen sind, weil im Kino hatte ich auch das Gefühl, dass es überall Rührung gab.

K.M.: Mir sind auch Tränen gekommen. Aber nicht aus Rührung, sondern weil es extrem schmerzhaft ist. Also mit dem Zehennagel ist das eine andere Form von Schmerz. Ein zunächst physischer Schmerz und beim Singen ist es ein psychischer Schmerz. Das ist brutal diese Nötigung dann von einer Frau zu einer Kind-Frau. Das ist heftig. Das ist ja unabhängig davon, dass sie dann tatsächlich aus sich herausgeht in dieser Situation.

P.H.: Ich habe das Gefühl, dass wenn man über den Film spricht, dann spürt man sehr viele Ambivalenzen, man spürt Bitterkeit, Härte und Schmerz, aber ich habe in dem Film auch so etwas süßliches, wie wir gesagt haben tröstliches gespürt. Also gerade im vergleich zu Alle Anderen, den können manche ja gar nicht ansehen, weil er so wehtut, habe ich bei dem Film das Gefühl, dass er mich immer so ein bisschen umarmt. Also ich verstehe, was Katharina da sagt, empfinde den Film aber als deutlich wärmer.

K.M.: Ja, wir reden aber auch über einzelne Momente. Das sind arge Momente, aber das wird dann eben zu diesem versöhnlichen Film am Ende. Deshalb sage ich ja Carpe Diem. Dazu braucht es beide Seiten und genau in der Ambivalenz. Ich meine das in einem epochenromantischen Sinn. Ich finde auch, man geht raus und ist jetzt nicht schwer belastet.

P.H.: Vielleicht gibt es da einfach zwei Arten von Ambivalenz, die wir unterscheiden müssen. Einmal die Ambivalenz in der Figurenzeichnung…die fehlt uns vielleicht ein bisschen hier, aber es gibt eben auch eine Ambivalenz trotzdem etablieren kann genau zwischen diesen Figuren. Bestimmte Einfachheiten werden gegeneinander gesetzt und daraus entsteht eine Ambivalenz. Da liegt zumindest für mich auch ein Problem mit diesem Realismus des Films. Denn er behauptet ja, dass er eine echte Welt erzählt, aber dann müssten doch die Figuren viel ambivalenter sein. Aber dann, wenn man über den Film als ganzes nachdenkt, weil Film halt auch mehr ist als Realismus, dann hält er das. Aber das ist nicht immer besonders gut gelöst. Also einmal dieses Einführen der Figuren, diese Szenen und Dialoge, die nur dafür da sind, damit mir erklärt wird, wer diese Figuren sind und so weiter. Und das widerspricht sich so ein bisschen mit dem Realismusstreben des Films. Jetzt kann man wie Katharina sagen, dass es diesen Widerspruch braucht, um zu dieser Absurdität und Ambivalenz zu gelangen. Man kann aber auch sagen, dass dieser Widerspruch, ich überspitze das bewusst, ein wenig eine Anbiederung ist und nicht konsequent.

A.B.: Was mir ein entscheidender Punkt zu sein scheint, weshalb wir auch diese Diskussion geführt haben: Das ist ein zutiefst politischer Film. Und das Gespräch hier hat mich ein bisschen versöhnt mit dem Film, weil ich da wahrnehme, dass das alles viel komplexer ist als meine eigene Wahrnehmung des Filmes und die Wahrnehmung der Stimmung im Kino. Aber ich frage mich: Warum schreibt fast niemand über diese politischen Ebenen? Wenn ich das lese, lese ich von Ambivalenzen, das wird sehr offen gelassen, Ambivalenzen hier und dort. Und von einem großen Humanismus. Aber er wird gar nicht als politisches Statement begriffen. Und da stellt sich dann vielleicht die Frage, ob das vielleicht etwas mit Anbiederung zu tun hat. Aber die Politik spielt für mich eine sehr, sehr kleine Rolle in der Diskursivierung des Films.

K.M.: Das sagt aber viel über die Gesellschaft, in der er landet aus.

A.B.: Ja, das sagt mehr über die Leute aus, die Kritiken schreiben, ohne dass man da verallgemeinern könnte, als über den Film.

K.M.: Da gibt es dieses Zitat von Haneke. Der sagt, dass man Menschen sehr viel zumuten kann, aber was die Gesellschaft nach wie vor nicht verträgt, das sind Ambivalenzen. Ich denke, dass da auch viel verloren geht im Potenzial einer solchen Kritik, wenn man diesem Reflex folgt, sich da auf die Ambivalenzen zu stürzen. Weil das genau das ist, was man offenbar gemeinhin am wenigsten verarbeiten kann. Und ich verstehe, was Patrick meint mit diesem Explikativen. Aber für mich war das im Film auch so ein Ausstellen dieses Explikativen. Also auch in dieser Schlussszene, wenn er so pathetisch und konventionell daherredet.

P.H.: Genau da verstehe ich eben, warum du Dir den Film  extremer wünschst, so dass dieses Ausstellen noch mehr betrieben wird. Du willst da eben mehr, wogegen ich will, dass der Film noch realistischer ist. Aber klar, diese Unentschiedenheit zeichnet den Film auch aus und es ist immer schwer sich einen anderen Film vorzustellen. Aber so ein Wunsch nach etwas anderem entsteht ja nicht einfach so.

K.M.: Ich bin auf jeden Fall noch nie mit Leuten zusammengekommen wegen eines Films, um aufzunehmen, was wir darüber denken. Also das spricht für den Film.

P.H.: Oder die Reaktion auf diesen Film löst das auf. Ich habe noch nie eine derart breite Zuneigung für einen Film gesehen. Der Film trifft ja nicht nur einen Zeitnerv, sondern auch etwas, was sich Filmzuseher wünschen. Da wird Kritik eigentlich ausgehebelt. Für mich ist das eine Armutserklärung, wenn lange Zeit nur Lob zu hören ist, man aber beim Lesen nie ganz versteht, woher dieses Lob eigentlich kommt.

K.M.: Als Amour von Haneke in Cannes gewonnen hat, habe ich mir die Zeit genommen nationenübergreifend die Presse zu lesen und da hat sich auch so eine Überwältigung breitgemacht. Da war auch unglaublich viel Inhaltslosigkeit in der Bezugnahme. Da war der Film halt plötzlich ein „Euthanasie-Drama“. Ich glaube, dass das auch damit zusammenhängt, dass man da ein Bemühen erkennen kann, bestimmte Filme eben auf ein Podium zu stellen, einen Film zum Palmenfavoriten zu machen. Kritiker schaffen das eben auch durch enorme Schwärmerei. Das hat auch mit dieser Ermächtigungssituation zu tun. Ein Festival und gerade Cannes liefert eben den Kontext, wo es noch mal diese alte Macht gibt, einen Film zu positionieren und Filmemacher mit zu erheben. Insofern finde ich diese Lobeshymnen vertretbar. Gerade auch wenn man den politischen Kontext mit dem „Altherrenkino“ mitdenkt. Klar, das hängt nicht nur damit zusammen, dass ihn eine Frau gemacht hat, das ist schon stark vereinfachend und auch wenn er uns nicht vom Hocker gerissen hat, so ist er doch die beste 162-minütige deutsche Komödie.