But we do not do: Ma Loute von Bruno Dumont

MES ENFANTS

Von der ersten verhaltenen Reaktionen aus Cannes aus dem vergangenen Jahr, über den deutschen Titel und Trailer bis zur etwas weicheren Canal+-Glasur, mit der sich Bruno Dumont in diesen Zeiten blicken lässt, habe ich mich täuschen lassen. Von Juliette Binoche und ihrem Arthaus-Premium-Gesicht, von diesen bunten Regenschirmen, dem Jacques-Henri-Lartigue-Charme und der Tatsache, dass P’tit Quinquin zwar grandios war, aber letztlich Fernsehen mit weniger Raum für Zeit, Farben und in sich zirkulierenden Erinnerungen, von einer Tendenz, die ich glaubte in dem Filmemacher zu sehen, der mit La Vie de Jésus, L’Humanité und Twentynine Palms einen neuen Existentialismus ins Kino brachte, einen der nicht mehr auf dem Konflikt beruhte, sondern auf dessen Verschlucktwerden, einen der sich nicht entzündete, sondern der als gegeben festgesetzt wurde, einen der in den Bildern ruhte, statt sich aufzudrängen, davon dass er plötzlich Schauspieler zu besetzen schien und keine Menschen mehr, habe ich mich täuschen lassen.

© arte

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WE KNOW WHAT TO DO BUT WE DO NOT DO

Ma Loute ist großes Kino. Dumont zeigt das Aufeinanderprallen zweier Klassen, den inzestuös reichen Strandseglern Van Peteghem und den kannibalistisch gefärbten Muschelsammlern Brufort zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als bitterbösen, völlig losgelöst absurden Triebfilm, in dem jegliche Motorik von erhöhten Krampfzuständen unterbrochen wird, in der jedem praktisch alles jederzeit schwer fällt in einer gemäldeartigen Landschaft, die in all ihrer Erhabenheit zugelassen und dennoch parodiert wird. Wieder hat Dumont etwas weiter an der Deformationsschraube gedreht, die kleinen Verformungen und an Rodin erinnernden Unförmigkeiten, sind inzwischen ein einziger Rausch an Übertreibungen geworden. Dass was seine Verformungen geöffnet haben in der Wahrnehmung einer Geste oder eines Blicks, das schließen sie jetzt in einer Reinheit des Körperlichen: Schmatzend, tänzelnd, glucksend, springend, jauchzend, fliegend, kreischend, knurrend, rülpsend, rollend, stotternd, stampfend, quietschend. Das Loch zwischen einer Tat und ihrer Bedeutung ist nicht mehr leer im Kino von Dumont, es ist überfüllt. Wie er selbst sagt: Er benutze jetzt kein Teleskop mehr, sondern ein Mikroskop. Damit ist auch und hauptsächlich die Arbeit mit der Kamera gemeint, die das Digitale in all seinen möglichen Korrekturen auskostet und die Körper und Gesichter derart brutal und majestätisch in den Kinosaal ragen lässt, dass man Ozeane in den Furchen und Fältchen unter den Augen der Protagonisten lesen kann. Mehr noch gilt die Überfüllung aber für die Tonebene, die Dumont im Gegensatz zu früheren Arbeiten nicht mehr öffnet für die Geräusche des Augenblicks, sondern die er fast hermetisch durchkomponiert, im Stile eines Jacques Tati, sodass jede Kopfbewegung ein „Wusch“ erzeugt und jede Figur mit ganz eigenen Geräuschkulissen ausgestattet wird wie der rollende und sich aufblasende Inspektor Alfred Machin, der mit seinem Gefährten Malfoy an Laurel & Hardy erinnert.

Die Übertreibungen arbeiten vor allem – und das ist ein ganz neuer Aspekt bei Dumont – in den wohlhabenden, erwachsenen Figuren. Das bringt einen auch gleich zu dem, was Dumont da eigentlich macht. Jenseits eines Filmemachers wie Jean-Luc Godard hat man wohl kaum jemanden gesehen, der sich selbst in seinen eigenen Werken so heftig kritisiert. In einer bemerkenswerten Szene sitzen die Van Peteghems, jene schrille Gaga-Familie, die in einem ägyptisch geprägten Bauwerk namens Typhonium (der Name bezeichnet eigentlich die Eidechsenwurz, die Wunderknolle, die ohne Erde und Wasser Blüten treibt) an Dumonts geliebter Nordküste nahe Calais vor sich hin vegetieren und schreien, an einem Tisch. Sie warten auf Omelettes und betrachten einen Fischer. Sie, das heißt vor allem Fabrice Luchini, der die beste Performance eines jeden Lebens abliefert, bewundern den Mann aus der Distanz, er sei wie aus einem Gemälde entwachsen, er sei so erhaben, so schön. In diesem Gestus liegt gerade in der Übertreibung eine enorme Sozialkritik am bürgerlichen Tourismusdenken. Die vornehme Distanz, die bizarre Wahrnehmung von Schönheit, der Film legt all das immer wieder offen. Es folgt eine Nahaufnahme des Fischers, in der Dumont wie so oft die vollkommene Banalität des Kinos gegen die Erwartung stellt. Und damit auch sich selbst hinterfragt, denn in vielen Interviews hat Dumont immer wieder von den malerischen Aspekten dieser Gesichter des Nordens gesprochen, der flämischen Tradition. Diese Banalität existiert immer wieder in größtmöglicher Ambivalenz. So sieht man eine Landschaft, wie man sie schon immer gesehen hat bei Dumont. Sie ist bisweilen schön, er filmt sogar gegen die Sonne. Aber man weiß nicht, ob man das jetzt schön findet oder nicht, schön finden darf oder nicht, unter allem schlummert bereits die Parodie.

Selbiges gilt dann auch für die dramatischeren Szenen im Film, der Liebesgeschichte zwischen Ma Loute und Billie. Es gilt auch für Billies Geschlecht, das vom Filmemacher und auch der Öffentlichkeitsarbeit des Films in einer unbequemen und Mechanismen hinterfragenden Schwebe gehalten wird. Und schließlich für eine überwältigende, an das Kino von Jean Epstein erinnernde Rettungsaktion durch den Vater von Ma Loute, den sie „Der Ewige“ nennen. Die Kamera betrachtet ihn schräg von unten, ein Held unter dem digital bis zur kleinsten Farbe komponierten Gewitterhimmel. Denn auch wenn Dumont die Schönheit des Ortes unter den Fragen der Ambivalenz und der Banalität verhandelt, arbeitet er doch mit besessener Perfektion, an seinen Bildern, ihrem Framing, ihren Farben und ihrer Position zwischen zwei anderen Bildern. Nur so vieles, was einst so unglaublich ernst war, scheint jetzt so unheimlich gelöst. Aber das täuscht, denn nach wie vor schlummert in diesem Reigen an Irrsinn eine Verbitterung, die Dumont, auch wenn er das selbst nicht hören wollen würde, zu einem der wichtigsten politischen Filmemacher eines nach rechts schwankenden Europas macht. Einer, der Zustände freilegt durch eine nie psychologische, sondern immer kinematographische Herangehensweise. Die Schwierigkeit zu handeln, die Schwierigkeit einen Satz zu sagen oder einen Schritt zu gehen. Eine Form von motorischer Ohnmacht, die sich in eine Verunsicherung hinein sträubt, kaum zu bändigen scheint und letztlich immer konsequenzlos bleibt, selbst wenn sie tödlich endet. Hier existieren alle nebeneinander (man achte auf die vielen weiteren, reichen Strandurlauber, die sich schweigend über das Wasser tragen lassen und fast wie Geister als Farbflecke in der Landschaft agieren), niemand ineinander (nur, wenn man die andere Person isst) und alles, was angesehen wird, wird nicht angeblickt, nichts wird wirklich berührt, es bleibt eine Distanz, die sich in Bildern ergötzt, in Aussichten, Marienstatuen und Äußerlichkeiten.

Noch kurz ein Wort zu Luchini, das muss erlaubt sein, mit seinem Lächeln, seinem Timing, dem den Gesetzen der Schwerkraft widersprechenden Bewegungen, die immerzu kippen und sich drehen, und aus der größten Verkrampfung noch einen leicht tänzelnden Schritt gewinnen wollen. Der sich nicht wirklich hinsetzen kann, nicht wirklich aufstehen kann, nicht wirklich gehen kann. Immer wieder versucht die Figur zu winken, wie man als Adeliger winkt, aber es bleibt nur eine verformte Geste, ein Fingerkrampf, der nach einem Hut greift, den der gute Mann nicht immer aufhat. Selten hat man ein derart perfekt choreographiertes Bewegungssammelsurium in einem Körper gesehen. Eine Szene, in der er in einem Segelwagen am Strand einen Unfall baut, leitet er ein, indem er eine lange Zeit im Wind tänzelt, sich warm macht, man weiß es nicht, ehe er sich in wildem Kostüm, fast fetischierend eingesetzt von Dumont, in das Gefährt begibt. Sämtliche Bewegungen von Luchini unterliegen dem Prinzip ihrer eigenen Unterdrückung. Kaum eine Figur, vor allem nicht bei den Van Peteghems kann wirklich die Bewegung vollführen, die sie vorhat. Dieser Irrsinn fällt mit Juliette Binoche am schwersten. So ganz will sie sich den rein mechanischen, körperlichen Absurditäten nicht hingeben, ihre Figur ist immer von einem inneren Konflikt gelenkt. das ist schade, weil diese deformierten Bewegungen eigentlich eine Zustandsbeschreibung sind und keine narrative oder psychologischer Folge einer Figur. Es macht zwar absolut Sinn, dass Dumont die Distanz zwischen den Van Peteghems und Bruforts auch im Casting reflektiert, aber nicht alle Schauspieler sind bereit, ihre Körper gleichermaßen zu einem Schlachtfeld der Zuckungen zu machen.

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LES OISEAUX

Was wir sehen, ist die aufflammende Deformation sämtlicher Gesellschaften und jene der Repräsentationsfunktionen des Kinos. Es ist ein Kino, das sich selbst abschwört und darin wieder und wieder zu sich findet. Wenn Dumont sagt, dass Komödie und Drama zwei Seiten der gleichen Medaille sind, hat er Recht. Es ist nur so, dass seine Komödien viel bitterer sind als seine Dramen nach Twentynine Palms. Zumindest aus seiner etwas schwierigen Phase mit Filmen wie Camille Claudel 1915, Flandres oder Hadewijch erschließen sich nun ganz neue Wunden. Was geblieben ist, ist der religiöse, spirituelle Fluchtversuch, die Frage nach einem göttlichen Wirken. In Ma Loute wird gebetet und dann gibt es auch ein Wunder. Liegt darin nur das Aufeinandertreffen dieser großen Banalität und Fleischlichkeit mit einer plötzlichen Erhöhung? Oder wohin fliegen all diese Figuren, warum fliegen sie, wovor fliegen sie hinfort? Es fällt auf, dass Frau Van Peteghem, gespielt von Valeria Bruni-Tedeschi, nachdem ihr ein Wunder an der Küste widerfährt, in glückseeliger Ruhe, sanft lächelnd verbleibt. Ist das der Lösungsvorschlag des bitteren Ironikers Dumont? Man braucht eine göttliche Erscheinung, um dem zu entkommen? Oder ist es die Reaktion der anderen, die zunächst überschwänglich ist, aber dann vergisst, was passiert ist? Ist es die Feststellung, dass man wieder landet, das alles gut ist und es immer eine Zeit gibt, um zu vergessen? Oder ist es nur die nüchterne Feststellung, dass auch diese göttlichen Kräfte, das Deus Ex Machina völlig deformiert ist und zur falschen Zeit der falschen Figur erscheint?

Bleibt noch die Frage nach der Art und Weise, in der Dumont Menschen zeigt. Es wurde immer wieder darauf verwiesen, dass sich Dumont ganz bewusst in moralischen Grenzbereichen aufhalten würde. Das liegt darin, dass er vor allem in einem Film wie Camille Claudel 1915 Behinderungen extrem offensiv dargestellt hat. Offensiv, das heißt in konkreten, klaren Bildern, die sich nahe an Menschen wagen und denen kaum Schutz gewähren. Außerdem gibt es sicherlich eine Tendenz zur Ästhetisierung  von Gesichtern und Körpern, auch deren Bloßstellung. Dumont betont, dass er gerne in dieser Region drehe, weil er selbst von dort komme und die Menschen dort besser nachvollziehen könne. Ma Loute zeigt das vor allem deshalb so deutlich, weil das Fremdartige bei Dumont nie in der Deformation, nie im langen Studieren nicht-symmetrischer, rauer Gesichter liegt, sondern im Wahnsinn eines Vergrabens und Auslebens animalischer Elemente des menschlichen Daseins. Es liegt im Kontakt, der simplen Geste, es liegt einfach da. es ist nicht schlicht eine Sache des Blicks, sondern der Sekunden danach, Dumont bietet uns etwas an, wir können damit umgehen, er stellt es uns frei. All diese Dinge existieren in einem derart ambivalenten Raum, dass sie eigentlich kaum benennbar sind. Letztlich werfen sie das Auge auf sich selbst zurück und man sieht in den Blicken dieser Laien und deformierten Gesichter die Transformation einer Frage aus dem moralischen, pseudo-politischen Parabelkino, mit dem man sonst gerne konfrontiert wird. Denn statt „Wo stehst du?“ fragt Dumont „Wie stehst du?“.

Locarno 2014: Ein Blick zurück

Der Lago Maggiore

Nach ein paar Tagen Ruhe und einer Staffel House of Cards (unter anderem) um einem Bewegbild-Cold-Turkey vorzubeugen, hier nun mein Abschlussbericht vom Filmfestival Locarno 2014. Die Gelegenheit möchte ich dazu nutzen, einige der gesehenen Filme näher zu besprechen, wozu mir während des Festivals leider die Zeit und Energie fehlte. Im Mittelpunkt stehen dabei die neuen Filme, wohingegen ich weder über die Filme der diversen Retrospektiven, noch über das Wetter schreiben werde.

Kristen Stewart und Juliette Binoche in

Sils Maria

Sils Maria von Olivier Assayas

Diese vielleicht größte persönliche Enttäuschung des Festivals habe ich in meinem Tagebuch mit nur wenigen Zeilen bedacht. Nach einiger Bedenkzeit, kann ich mit Olivier Assayas‘ neustem Film zwar noch immer nicht anfreunden, aber zumindest meine Haltung zum Film artikulieren. Vorweg möchte ich erwähnen, dass ich ein großer Fan des Regisseurs bin. In seinen besten Filmen vermag er es gleichsam jugendliches Lebensgefühl einzufangen, und eine politische Botschaft zu vermitteln. Seine Filme zeichnen sich formal durch seine unkonventionellen Schnitte und seine hochbewegliche Kamera aus, die eine intime Atmosphäre schaffen. Wiederkehrende Themen, die alle irgendwie zusammenhängen, wie Jugend, Revolution, Drogen Rock’n’Roll, Sexualität, Autobiographisches und sein dynamischer Stil ergänzen sich großartig. In Sils Maria fehlt mir all das. Zugegeben, es geht, grob gesagt um Generationenkonflikte, aber die Art und Weise wie Assayas diese Konflikte behandelt, unterscheidet sich stark von seinen früheren Filmen. Anstatt sich den Charakteren anzunähern und die Beziehungen der drei Frauen (großartig gespielt von Juliette Binoche, Kristen Stewart und Chloe Grace Moretz) in intimer Atmosphäre durchzuexerzieren, widmet sich Assayas zu oft dem Schweizer Alpenpanorama und lässt seine Schauspielerinnen kammerspielartig agieren, ohne jedoch aus der Raumdynamik zwischen der Weite der Berge und der Enge der Berghütten und Hotelbars einen Mehrwert zu ziehen. Das ist zwar auch schön, aber weder ist Assayas besonders talentiert darin Bergpanoramen zu fotografieren (wie oben erwähnt ist Intimität seine Stärke, und die steht in starkem Widerspruch zur Größe und Werte eines Bergpanoramas), noch gehe ich in einen Assayas-Film um mir die Alpen anzusehen. Das Assayas durch seine kammerspielartige Inszenierung die Handlung formal spiegelt, lasse ich nicht gelten, denn die Metaebene wird ohnehin schon inhaltlich (über-) strapaziert: Die gealterte Starschauspielerin Maria Enders (Binoche) soll eine Rolle im gleichen Stück übernehmen, dass sie einst berühmt gemacht hat. Nun soll sie aber nicht die junge Verführerin Sigrid, sondern die ältere Helena, die schließlich von Sigrid in den Selbstmord getrieben wird, mimen. Der Konflikt im Stück, wird durch den Konflikt zwischen Enders und ihrer Assistentin (Stewart) beziehungsweise ihrem jungen Co-Star Jo-Ann Ellis (Moretz) dupliziert. Auf dem Papier klingt diese Konstellation tatsächlich vielversprechend, so war ich auch nicht weiter verwundert, als der Film nach seiner Premiere in Cannes mit Lob überschüttet wurde. Heute kann ich darüber nur mehr den Kopf schütteln, denn die Inszenierung ist flach und blutlos, Binoche geht voll auf in ihrer Rolle als gealterter Star, ihr gegenüber versuchen Moretz und Stewart ihr bestes, ihre Charaktere haben aber nicht annähernd die Tiefe wie Maria Enders. Werden die Spannungen in der Figurenkonstellation wenigstens noch rudimentär in der filmischen Umsetzung berücksichtigt, so werden Raumdynamiken (und da bietet sich gerade die Gegenüberstellung von Alpenlandschaft und Theaterbühne an) geflissentlich übergangen. Auch der Medienrummel um Jo-Ann Ellis und der Tod von Marias Mentor Wilhelm Melchior, dem Autoren des Stücks werden nur nebenbei gestreift – kurz, Assayas schöpft das Potenzial des Sujets nicht annähernd aus. Nicht nur, dass diesen Film wohl auch ein Lasse Hallström passabel über die Bühne hätte bringen können und es dafür keinen Assayas gebraucht hätte, alles in allem, ist der Film ganz einfach einfallslos. Ein konsequent durchgearbeitetes Drama, das handwerklich so konventionell daherkommt, dass man es eigentlich kaum kritisieren kann, aber auch keinerlei Raum für große Ideen lässt. Ein Film, wie ihn aufstrebende europäische Regisseure machen, wenn sie das erste Mal nach Hollywood gehen und für das große Geld ihre Kreativität opfern. Assayas‘ internationale Filme rangierten in meiner persönlichen Wertung bis jetzt ohnehin schon am unteren Ende, aber selbst in Clean und Boarding Gate behielt er ein Mindestmaß an Rebellion und formaler Experimentierfreudigkeit. Die ist ihm in Sils Maria abhandengekommen. In einzelnen Momenten fühlt man diese Energie unter der Oberfläche brodeln (z.B. als Stewart nach durchzechter Nacht unter Metal-Beschallung eine Bergstraße entlangfährt, schließlich aussteigt und kotzt), das ist aber zu wenig um über die Enttäuschung hinwegzutrösten.

Das ominöse Boot in

Ventos de Agosto

Ventos de Agosto von Gabriel Mascaro

Einem der Film, dem ich ebenfalls zu wenige Zeilen gewidmet habe, ist Gabriel Mascaros Ventos de Agosto. Der Film wurde immerhin mit einer lobenden Erwähnung der Jury bedacht und ist von Presse wie Publikum durchwegs positiv aufgenommen worden. Auch hier frage ich mich, warum? Ventos de Agosto ist ein Film so sehr von seiner eigenen Coolness überzeugt, dass er darüber völlig vergisst, dass neben Coolness auch Faktoren wie Kohärenz, Dramaturgie und Vision einen guten Film auszeichnen. Der Film ist voll von Szenen, die zum Schmunzeln, wie Staunen einladen und es ist gut, dass es Filmemacher mit derartigem Esprit und Einfallsreichtum gibt. Dafür aber darauf zu verzichten, diese Ideen in ein großes Ganzes einzubinden, Verknüpfungen herzustellen, nicht nur oberflächliche Botschaften mitzugeben, und eine künstlerische Stellung zu beziehen, ist fatal. So bleiben zwar tätowierte Schweinen, Coca-Cola-Dosen und Sex auf Kokosnüssen in Erinnerung, aber die aufgesetzte Hipster-Deadpan-Komik und die „sieh mich an, ich bin ein Kunstfilm!“-Allüren im (Ton-) Schnitt können nicht darüber hinwegtäuschen, dass man Selbstreflexivität nicht ohne Subtilität einsetzen sollte. Gegen eine Fortführung inszenatorischer Traditionen der Stummfilmslapstickkomik ist an und für sich nichts einzuwenden (ganz im Gegenteil), aber dann bitte nicht bloß als Gimmick, wie in Ventos de Agosto oder auch in Dos Disparos, sondern eingebettet in ein künstlerisches Gesamtkonzepte (wie man das macht, kann man z.B. bei Elia Suleiman sehen), sonst wirkt es aufgesetzt, ja selbstgefällig.

Vor dem Obdachlosenasyl in

L’Abri

L’Abri von Fernand Melgar

Dokumentarfilmen wird in Locarno, wie bei den meisten anderen großen Festivals, wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Im Gegensatz zu Experimental- und Animationsfilm, findet man aber doch einige wenige Vertreter dieser Gattung. Ein herausragendes Beispiel war L’Abri, einer meiner persönlichen Favoriten. Meines Erachtens ist der Film im allgemeinen Trubel etwas untergegangen. Selbst die heimische Presse schenkte Cure – The Life of Another mehr Beachtung als dem Schweizer Beitrag L’Abri. Nepotismusvorwürfe sind hier ohnehin fehl am Platz, denn seinen Platz im Wettbwerb hat sich L’Abri redlich verdient. Neben einem politisch und gesellschaftlich hochbrisanten Thema wie Armut und Zuwanderung, konnte der Film auch mit seiner Form überzeugen. L’Abri bleibt dabei trotz seines heißdiskutierten und emotional-geladenem Thema stets differenziert und hat auch über die Schweizer Landesgrenzen hinaus Bedeutung. Denn das Obdachlosenasyl in Lausanne, dass Melgar einen Winter lang studiert, könnte man so auch in diversen anderen europäischen Großstädten vorfinden. Obdachlosigkeit und Immigration (wenn ich mich richtig erinnere kommt im gesamten Film kein einziger gebürtiger Schweizer Obdachloser zu Wort) sind eng miteinander verknüpft und laden zu einseitiger Berichterstattung ein. Parolen wie „Ausländer raus!“ hört man aber ebenso vergeblich, wie Plädoyers für schrankenlose Zuwanderung. Dafür ist Melgar, wie mir scheint, zu intelligent. Vielmehr lässt er die Betroffenen selbst zu Wort kommen, in langen Gesprächen zwischen den Obdachlosen, in denen der Filmemacher unsichtbar bleibt, zeigen sich deren Lebenswelten und (zerbrochenen) Träume. Wie Melgar es geschafft hat das Vertrauen dieser Menschen zu bekommen ist beeindruckend und vielleicht der entscheidende Faktor für den Erfolg des Films. Auf der anderen Seite kommen auch die Angestellten des Asyls zu Wort. Jene Angestellten, für die die Hilfesuchenden nicht bloß statistische Kennzahlen, sondern menschliche Wesen sind, und die Nacht für Nacht die Regeln biegen und Menschen von der Straße holen, für die sie, laut Reglement, eigentlich gar keinen Platz haben. Nach für Nacht bleiben aber auch ein paar verlorene Seelen vor den verschlossenen Toren des Asyls zurück, und Nacht für Nacht lässt sich nur erahnen welch große mentale Belastung das Auswahlverfahren für die Türsteher sein muss. Da werden Familien zerrissen und mittellose Menschen bei eisigen Temperaturen in Todesgefahr gebracht. Der Film bietet keine Lösung an, aber lädt zum Nachdenken ein. Zum Nachdenken über soziale Verantwortung und die Stellung Europas in der Welt. Gleichzeitig ist L’Abri ein durchwegs heterogenes Werk, dass die Grenzen der dokumentarischen Form austestet. Zwischendurch gibt es Phasen in denen man sich fragt, ob die Protagonisten nicht doch Schauspieler sind. Die Bebilderung der Arbeitsabläufe im Asyl wiederum führen die große Tradition des Cinéma Verité und Direct Cinema fort. In dieser Hinsicht war der zweite Dokumentarfilmbeitrag The Iron Ministry sogar noch radikaler, allerdings wirkte der durch seine formale Strenge beinahe zu distanziert und observativ. L’Abri hingegen fühlt mit den Menschen und wehrt sich gegen die Sterilität, die einer solchen Milieustudie leicht anhaften kann.

Jason Schwartzman in

Listen Up Philip

Listen Up Philip von Alex Ross Perry

Kategorisiert man Listen Up Philip als typischen „Sundance-Film“ so liegt man mit dieser Einordnung nicht ganz falsch. Listen Up Philip ist die Quintessenz eines amerikanischen Indies (was auch immer das sein soll). Nur eine sehr beschränkte Anzahl dieser Filme schafft es auf die großen europäischen Festivals, noch weniger werden zu kommerziell erfolgreichen Hitfilmen und dürfen sich im Folgejahr im Oscarglanz sonnen. Listen Up Philip wird letzteres Schicksal wohl erspart bleiben, dazu fehlen dem Film einige wichtige Merkmale, wie zum Beispiel ein sympathischer Protagonist, positive Charakterentwicklung und ein Happy End (geschweige denn überhaupt ein zufriedenstellender Abschluss). Aber wieder zurück zu Sundance: Es hat sich mittlerweile eine ganze Industrie etabliert, die mit mittelmäßig großem Budget und ein, zwei großen Namen halbtragische, halbkomische Spielfilme produziert, in denen es meist um (gescheiterte) Künstler oder Exzentriker geht. Gibt es ein entscheidendes Attribut, dass man diesen Filmen zuschreiben könnte, so wäre es wohl „Quirkiness“ (frei übersetzt: Schrulligkeit). Listen Up Philip ist auf der Quirkiness-Skala sehr weit oben angesiedelt. Das liegt zum einen am namensgebenden Protagonisten, einem Schriftsteller, der gerade an seinem zweiten Roman schreibt und sich durch eine ausgeprägte asoziale und eigenbrötlerische Ader auszeichnet, und zum anderen an der Ästhetik des Films, die die im Moment so beliebte Deadpan-Komik mit einer Prise Wes Anderson, einem auktorialen Erzähler und sehr viel kitschigem Licht kombiniert. Dass der Film in Brooklyn spielt, ist eine Selbstverständlichkeit. Auf dem Papier klingt diese Mischung grauenerregend, nicht dass an amerikanischem Indie per se etwas auszusetzen wäre, aber die Formel wird, so scheint es, gnadenlos überstrapaziert – so sehr überstrapaziert, dass man sie eigentlich nicht mehr ernst nehmen kann.

Der amerikanische Indie ist alles in allem einem realistischen Postulat unterworfen, das heißt man versucht in der Regel eine Geschichte zu erzählen, wie sie auch im echten Leben vorkommen könnte, wenn tatsächlich einmal solch schrullige Charaktere aufeinandertreffen würden. In Listen Up Philip ist das anders, man kann dem Film einfach nicht mehr abnehmen, dass der Ungustl Philip sich unter die Fittiche des nicht minder unsympathischen Starautors Ike Zimmermann (ein grandioser Jonathan Pryce) begibt, eine Professorenstelle annimmt, und sich unter Anleitung Zimmermanns schließlich dazu entscheidet ein Leben als einsames Genie zu führen. Man kann dem Film ganz einfach nicht abnehmen, dass dieser präpotente Großkotz tatsächlich gut ist, in dem was er tut, und nicht bloß ein Aufschneider. Man erwartet nicht, dass gerade so ein Mensch tatsächlich Erfolg hat – so viele vergangene Filme haben uns das Gegenteil gelehrt und Charaktere wie Philip entweder auf den harten Boden der Realität fallen, oder eine Erleuchtung samt Lebenswandlung erfahren lassen. Listen Up Philip tut dies alles nicht und wird so zum Märchen, zum pervertierten amerikanischen Traum, zum Hipster-Manifesto – große selbstreflexive und ironische Erzählkunst.

Ausnüchtern in

Gyeongju

Ein asiatischer Doppelpack

Die beiden letzten Wettbewerbsfilme, die ich gesehen habe waren Alive von Park Jung-bum und Gyeongju von Zhang Lu. Diese beiden Filme vereint nicht nur ihre überdurchschnittliche Länge (drei bzw. zweieinhalb Stunden), sondern auch eine filmische Philosophie, die sich in einer bestimmten Herangehensweise an den Faktor Zeit äußert. Denn diese beiden Filme sind nicht lang, weil sie eine epische Geschichte zu erzählen haben, sondern spielen über vergleichsweise kurze Zeiträume (bei Gyeongju ist es gar bloß ein einziger Tag) und beobachten in erster Linie Alltagshandlungen. Dadurch, und das ist eine Strategie, die mir persönlich sehr nahe steht, entstehen Einblicke in die Lebenswelt der Menschen im Film. Ich habe mich im Laufe des Festivals öfters über aufgesetzte und platte Inszenierungen beschwert und tatsächlich musste ich mich nach Lav Diaz am Eröffnungstag bis zu diesem asiatischen Doppelpack gedulden, um wieder Lebensrealität im Kino wahrzunehmen (Pedro Costa habe ich bewusst in dieser Kategorisierung ausgespart). Geradezu ironisch also, dass Hauptcharakter Jung-chul von einer Auswanderung auf die Philippinen träumt. Es kommt nicht so weit und am Ende des Films befindet sich Jung-chul gar in einer verzweifelteren und aussichtsloseren Position als zuvor, doch das macht keinen Unterschied, denn für diese Art von Film ist nicht der Handlungsbogen, sondern die Handlungen an sich entscheidend. Jung-chul fällt einen Baum. Jung-chul kocht Suppe. Jung-chul prügelt sich.

Gyeongju ist die Idee eines „Handlungsbogens“ von vornherein fremd. Noch mehr als in Alive, wo es ja doch noch um etwas, das Überleben, geht, ist Gyeongju eine spirituelle Wanderung durch alte Teehäuser und UNESCO-Weltkulturerbe. Anders als Jung-chul fällt Choi Hyeon weder Bäume, noch kocht er Suppe. Er ist Professor für Politikwissenschaft und kein körperlicher Arbeiter, sein Metier ist das abstrakte Denken und demgemäß sind seine Handlungen auch geistiger Natur. In Alive geht es ums physische Überleben. Das ist in Gyeongju gesichert, hier geht es um eine spirituelle und geistige Suche – die Gegenwart wird über die Vergangenheit befragt und die Antworten bleiben unbefriedigend. Diese abstrakte Dimension macht Gyeongju zum besseren, zum mutigeren Film und zu einem der besten und mutigsten Filme des Festivals.

Leos Carax.Regisseur

Man sollte die Augen öffnen und sich einfach von den Emotionen leiten lassen. Sag eine Nummer: 1,2,3!

Boy meets girl

Boy meets Girl

Das Kino von Leos Carax ist keines durch das man langsam gleitet, keines das sich zusammenhängend erschließt. Ich weiß noch als ich zum ersten Mal einen Film von Leos Carax gesehen habe, war ich mit offenem Mund da gesessen und wusste nicht mehr, was ich fühlen soll. Dieser Film war „Les Amants du Pont-Neuf“ und man hatte mich auf ein besonderes Erlebnis eingestellt, aber nicht darauf. Magie. Kino ist Magie bei Carax. Die Lichter spiegeln sich auf dem Wasser und die nackte Fatalität der Figuren scheint sich in die filmische Sprache selbst verwandelt zu haben. Immer wieder gibt es wahnsinnig schnelle Parallelfahrten bei Carax und man hat das Gefühl, dass Charaktere und Kamera aus den Filmen flüchten wollen. Bis zu dessen Tod arbeitete Carax, dessen Name eine Art Anagramm aus seinem tatsächlichen Namen Alexandre Oscar Dupont ist, mit Kameramann Jean-Yves Escoffier zusammen und bei ihnen ist jedes Bild ein Plakatmotiv. Die Flucht vor der Filmwelt, vor den Oberflächen und letztlich der Materialität findet sich immer bei Carax. Es ist als wären seine Figuren eingesperrt im Rahmen des Bildes und so reibt Alex, der meist so heißt und meist von Denis Lavant gespielt wird in „Les Amants du Pont-Neuf“ seinen Kopf gegen den Asphalt als wollte er entweder diesen oder sich selbst auflösen, wie wenn Lavant in den Punkten des Motion Capture Systems in „Holy Motors“ verschwindet oder wie Juliette Binoche seinen Blicken in „Mauvais Sang“ als eine tatsächlich gefilmte Gänsehaut entgleitet und doch in ihm bleibt, das dampfende Bad in „Pola X“, die Sterne in „Boy meets Girl“:

Spiegel,

Schatten,

Licht,

Berühre mich

1. Spiegel

Holy Motors

Holy Motors

In vielerlei Hinsicht macht Carax immer einen Film über das Kino. Sei es in seiner dadaistischen Variation auf japanische Horrorfilme (das wird seinem Beitrag zum Omnibusprojekt „Tokyo!“ nicht mal annähernd gerecht…) „Merde“, seien es Bresson-Zitate in „Mauvais Sang“, hunderte Zitate dort und überall, das Schauspiel in „Holy Motors“ und vieles mehr. Bei ihm spielen Schauspieler auch immer im Bewusstsein ihrer bisherigen Karrieren. Man sieht das natürlich bei Lavant, den Carax in vier seiner fünf Langfilme vor Spiegel stellte, aber auch bei Édith Scob oder Juliette Binoche. Binoche ist der schönste Geist der Filmgeschichte, ein Wesen, das die Zeit anhält, jedes Mal halten seine Filme beim Blick auf sie, bewundernd, ängstlich, heilig und erkennen in ihr das ganze Kino. Kein Wunder, dass Carax sich selbst vor die Kamera bewegte. Zum einen am Beginn von „Holy Motors“ als schleichender Voyeur im Kino, als einsames Wesen hinter unseren Blicken und dann in seinem Viennale-Trailer „My last minute“. Seine Einflüsse sind nicht zu greifen, weil sie nichts im Kino verneinen außer der Gewöhnlichkeit. Jean-Luc Godard und Robert Bresson scheinen offensichtlich, aber auch Georges Méliès, Stan Brakhage, Hollywoodklassiker der 40er und 50er oder Jean Cocteau sind nicht zu weit hergeholt. Carax ist eine Filmexplosion. Er feuert aus allen Rohren der kinematographischen Grammatik. Alleine in welch elaborierter Art er Aufsicht und Untersicht ineinander wirft, wie beim ihm das Artifizielle zum Realen wird und andersherum zeigt, dass Carax ein Mann des Kinos ist, der immer in den Spiegel blickt, wenn er Kino macht. Und machen heißt bei ihm träumen.

Boy meets girl

Boy meets Girl

Musical, Stummfilm, Actionfilm, Horrorfilm, schwarz-weiß Bliss, flache Bilder, tiefe Bilder, schnelle Schnitte, keine Schnitte, Sprünge, Jukebox- oder Orchestersound, Flüstern, Schreien, ein Schwenk, ein Zoom, Found-Footage, Schärfenverlagerung, ein Cache, alles, wirklich alles nur nicht dann, wenn man es erwartet. In der Zeit des cinema du look großgeworden atmet Carax den Geist der Nouvelle Vague weiter, aber er ist ein Individualist, jedes Label wird ihm ungerecht, eigentlich auch jedes Wort. In der wohl herausragenden Arbeit über Leos Carax schlechthin haben Adrian Martin & Cristina Álvarez López auch auf bewegte Bilder zurückgegriffen, um ihre großartigen Gedanken zu Spiegeln und Glasflächen, Türen und Bildern im Kino von Carax zu unterstreichen und zu ergänzen. Ich persönlich habe Probleme zu wissen, was ein Spiegel ist bei Carax. Ich traue den Spiegeln nicht, ich habe das Gefühl sie existieren nicht, ich glaube, dass auf der anderen Seite ein Doppelgänger lauert. In „Pola X“ gibt es einen ganz kurzen Moment, als Guillaume Depardieu seine Familie verlässt und sich ganz kurz in einer Reflektion sieht. In diesem Moment explodiert die Glühbirne und das Licht erlischt zusammen mit der Spiegelung. In „Holy Motors“ taucht eine solche Spiegelung kurz am Autofenster von Kylie Minogue auf. Dort erscheint Denis Lavant und es ist als würde er sich selbst den Weg zur anderen Person verstellen. Insofern passen auch die eingangs beschriebenen Fluchtversuche zu den Spiegeln bei Carax. Denn sie machen klar, dass auf der anderen Seite nichts ist, nur eine Illusion. Man kommt nicht raus aus diesem Rahmen, der früher immer eine Leinwand war (Nostalgie ist nicht falsch mit Leos). Aber das ist in sich ein Spiegelbild, denn statt dem Zuschauer klarzumachen, dass er nur eine Illusion sieht, macht Carax seinen Figuren klar, dass sie nur eine Illusion sind. In „Boy meets Girl“ verharren die sterbenden Liebenden vor einer sich spiegelnden Glasfassade. Sie sehen nur noch die Geister ihrer Träume. Bowie singt und ich will mit Leos weinen. Bei ihm heißt das Kino betrachten auch immer gegen das Kino rebellieren.

2.Schatten

Pola X

Pola X

Carax ist ein Surrealist. Ein Komiker der Schatten. Seine Filme umarmen das Irrationale. Bei ihm springen Gefühle wirklich, sie zerspringen wie die reifen Knospen an einem Springkraut im Frühling. Jedes neue Bild ist bei ihm wieder eine neue Herausforderung, ein neues Spiel. Wer schaut wohin, warum und was (ist) passiert? Für ihn ist sicherlich der Kino-Moment wichtiger als eine Geschichte. Er sucht die perfekten Bilder, die perfekten Töne für den Moment. Wenn es ihm an Körperlichkeit fehlt, dann findet er sie, wenn es ihm an Tränen fehlt, dann findet er sie, wenn es ihm an Gewalt fehlt, dann findet er sie. Am eindrücklichsten zeigen sich diese Neigungen in den musikalischen Eskapismus-Szenen seiner Filme wie beispielsweise der Modern Love Sequenz in „Mauvais Sang“ oder dem Akkordeon-Zwischenspiel in „Holy Motors“. Aber bei genauerer Betrachtung ist eigentlich fast jede Szene eine neue Richtung. Die episodische Struktur von „Holy Motors“ ist nur das weniger subtile Ende dieser Straße bei Carax. Seine scheinbare Willkür in der Form dient genau dieser Unberechenbarkeit. Erst mit der letzten Einstellung erkennt man, dass alles am richtigen Platz ist. Damit will ich nicht sagen, dass in der letzten Einstellung irgendwelche Plotdetails verraten werden, sondern dass sie einen Erinnerungsschock auslöst, der die zerbrochenen Teile zu einem Bild zusammenfügt: Das Blut in „Boy meets Girl“, Binoche rennt bis sie selbst zum Flickerbild wird in „Mauvais Sang“ oder eine unscharfe Vision eines Waldes in „Pola X“.

Les Amants du Pont Neuf6

Les amants du Pont-Neuf

Carax umarmt diese Unschärfe, er liebt das Unsichtbare. Immer wieder verschwinden Figuren aus unserem Blickfeld, er versteckt sie im Rauch seiner Schönheit, hinter Türen, in Autos. Jederzeit spüren wir trotz der Magie bei Carax, dass etwas nicht greifbar ist. Unser Begehren zu Schauen wird geweckt und dann verneint. Er macht uns klar, dass Begehren immer scheitert, aber wir immer dafür fallen werden. Auf narrativer Ebene wird das durch die melodramatischen Liebesgeschichten noch unterstützt, denn Carax erzählt ganz klassisch von einer unmöglichen Liebe gegen die Gesellschaft, gegen die Voraussetzungen, gegen das Leben. Im Zentrum stehen Außenseiter, Neurotiker, einsame Drifter. Sie sind immerzu fremd in ihrer Welt. Das Kino von Carax verbündet sich mit dem Fremden, indem es das Fremde umarmt und huldigt. Das Außergewöhnliche wird zum Genuss, zur Ekstase. Man verliebt sich in Neurotiker, man muss ein Neurotiker sein, um seine Filme wirklich zu sehen, aber wer ist kein Neurotiker? Einer dieser Fremden ist Monsieur Merde, ein Monster aus der Unterwelt, das zuerst in „Tokyo!“ vorkommt und dann auch in „Holy Motors“ aufkreuzt, um Eva Mendes zu entführen. An der Oberfläche ist er ein Monster, aber in der Unterwelt hat er sich ein kleines romantisches Paradies geschaffen. In „Merde“ nutzt Carax die Figur noch für wilde politische Allegorien, in „Holy Motors“ wird sie dann selbst eine Rolle. Jedenfalls ist diese Person der Inbegriff des Ausgestoßenen. Und so fühlt sich wohl auch Carax, der öffentlich seinen eigenen Schatten wahrt, häufig äußerst schüchtern und wortkarg auftritt und meist eine Sonnenbrille trägt. Der Regisseur hat um sich selbst und vor allem um seine Beziehungen zu seinen Hauptdarstellerinnen ein ähnliches Mysterium errichtet wie im zeitgenössischen Kino beispielsweise auch Pedro Costa. Das Mysteriöse, das Unsichere ist Teil ihrer Persönlichkeiten und Teil ihres Kinos. Sie halten damit ein romantisches Bild des Künstlers aufrecht, das es heute eigentlich kaum mehr geben kann. Ihr gemeinsamer Meister: JLG. In den Filmen wird dann konsequenterweise Blindheit thematisiert, die Augen werden in Mitleidenschaft gezogen. In „Les Amants du Pont-Neuf“ verliert die Malerin Michèle langsam ihr Augenlicht. Als eine Behandlung der Krankheit möglich wird, will Alex nicht, dass das passiert, denn das fehlende Augenlicht macht sie zu einer Außenseiterin ganz so wie er ein Außenseiter ist und nur so ist ihre unmögliche Liebe auf der Brücke, unter der Brücke und über der Brücke möglich. Aber das fehlende Augenlicht ist auch eine Verneinung dessen, um was es im Kino geht: Das Sehen. Der weiße, tote Augapfel von Monsieur Merde und seinem Anwalt in „Merde“, die Hände von Lavant über den Augen von Julie Delpy in „Mauvais Sang“, die Maske in „Holy Motors“. Carax will alles sehen und nichts sehen. Und so trennt er verschiedene Einstellungen mit einem kurzen schwarzen Bild, ein Augenzwinkern, ein Schatten auf den Lidern der Zuseher.

3.Licht

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Pola X

Was wir sehen im Kino von Carax sind Frauen. Außer vielleicht bei Ingmar Bergman kann man solche Frauen nicht finden. Solch eine Hingabe zur Poesie des Blicks, die Frauen auf der einen Seite zu Müttern, Huren und Heiligen stilisiert und auf der anderen Seite ihre Individualität feiert, sie völlig frei in die Augen fluten lässt. Er hat ein Auge für fragmentierte Schönheit, wieder sind es Momente, diesmal jene der Frauen. In der 700.Ausgabe der Cahiers du Cinéma hatte Carax auf die Frage nach Emotionen im Kino mit dem gefilmten Nacken von Frauen geantwortet. So wie jener Nacken von Binoche in „Mauvais Sang“, in dem sich das Bild völlig verliert, wieder filmt Carax Gänsehaut. In jungen Jahren hatte er mal gesagt, dass er Filmemacher geworden sei, um mit seinen Hauptdarstellerinnen zu schlafen. Soweit ich es beurteilen kann, ist ihm das gelungen. Aber das spielt keine so große Rolle, denn seine Kamera, sein Mikrofon, sein filmisches Gewissen schläft mit jeder Frau in seinen Filmen. Carax filtert jedes Bild nach seiner schönsten Regung. Er fokussiert mal die Haut, in leichtem sterbenden Licht, dann den Nacken, pulsierend, oft die Augen, die wie das Glas oder die Spiegel leuchten, die oft weinen, manchmal lachen, die krank sind oder sich weigern weiter zu sehen. Er konzentriert sich auf die Füße, auf die Körperlichkeit, elegante Schritte, ein Schweben, Haare, die im Wind wehen. Die Filme von Carax sind Liebesbriefe an die Liebe. Dabei spielt auch immer der Blick selbst eine Rolle im Licht der Frauen. Der Voyeurismus des Kinos ist mit Carax seine größte Stärke. Lavant beobachtet immer wieder die Frauen, steht am Rand, wenn sie mit ihren eigentlichen Partnern zusammen sind, blickt durch Fenster, so wie Carax selbst im Kino lauert. „Boy meets Girl“ ist so ein „Boy looks at Girl“ und die Unschuld darin liegt in der offensichtlichen Schuld. Hier blickt jemand, weil er nicht anders kann. Dabei spielen Körper und ihre Bewegung eine essentielle Rolle. Insbesondere die Körperlichkeit von Denis Lavant wird zu einer Spielfläche der Emotionen bei Carax. Immer wieder wirft Carax körperliche Szenen und Stunts in seine Filme, die eher metaphorisch mit dem Rest des Films zusammenhängen, aber vielleicht auch der wahre Kern, der Herzschlag von Carax sind: Fallschirmsprünge, Wasserskieinlagen samt Feuerwerk, wildes Rennen, Tanzen in Einsamkeit, ein Ausritt auf dem Pferd, Akkordeonmusicalszenen. Es sind athletisch-körperliche Akte, es sind Herausforderungen für die Körper, die in ihrer Unberechenbarkeit und Schönheit von Carax erforscht werden. Er sagt, dass er diese Szenen proben würde, die „normalen“ Szenen nicht.

Mauvais sang

Mauvais Sang

Die Bewegung ist auch eine Sache der Fahrzeuge bei Carax. Motorboote, Motorräder, Flugzeuge, Limousinen. Bei Carax gibt sich alles dem Rausch einer endlosen Bewegung hin, seine Kamera ist nicht geduldig, sie fährt nach vorne und hinten, sie sucht in jedem Bild die Schönheit, man hat jederzeit das Gefühl, dass sie sich bewegen möchte, selbst wenn sie steht. Dazu träumen David Bowie oder Scott Walker und man ahnt, dass es sich nur um Träume handeln kann. Das Licht bei Carax ist ein Licht der Träume, der Wünsche. Die Irrationalität hängt mit einer Traumlogik zusammen, die manchmal in eine Hysterie kippt, die man sonst etwa von Andrzej Żuławski (der am selben Tag wie Carax und einem anderen Hysteriker, nämlich Terry Gilliam Geburtstag hat) kennt. Licht ist nicht immer natürlich hier, sondern Ausdruck einer Emotion. Und impressionistische Züge weißen bei Carax immer zurück auf die Realität, denn sie entsprechen der Wahrheit einer Wahrnehmung. Die Ästhetisierung und Stilisierung ist eine Reflektion des Blicks. Sie sagt etwas über denjenigen aus, der etwas sieht und sie sagen etwas über das Sehen an sich aus, denn das Sehen ist bei Carax immer eine Konstruktion von Begehren.

4. Berühre mich

Pola x

Pola X

Carax dreht die letzten Liebesfilme des Kinos. Die Weltsicht seiner Filme ist durch und durch von Romantik beseelt. Über die fatalen Beziehungen habe ich bereits geschrieben, aber es gibt mehr. In „Mauvais Sang“ geht es auch um eine bedrohliche Krankheit: STBO. Dieser sicherlich an AIDS angelegte Virus befällt Teenager, die Liebe machen ohne zu lieben. Wenn Carax später „Modern Love“ von Bowie spielt, dann ist das sicherlich kein Zufall, denn moderne Liebe, ihr Scheitern und der Drang dieses Scheitern zu ignorieren ist jede Sekunde spürbar. Carax greift nach kleinen Lichtpunkten am Himmel, Sterne, die es nicht gibt. Er ist ein grausamer Schöngeist. In seinen Filmen wir geflüstert und geschrien. Es geht einem durch Mark und Bein. Jede Entscheidung bei Carax ist ein Spektakel. Damit meine ich sowohl die Entscheidungen der Figuren, die ihre Welten und Emotionen mit jedem Schritt aufs Neue an den Abgrund manövrieren und damit meine ich die Regieentscheidungen von Carax, der einen aus einem lockeren Lächeln in eine existentialistische Krise bewegt und wieder zurück. Bis Mitternacht sollten wir einmal gelacht haben. Eine solche Entscheidung betrachten wir zum Beispiel in „Pola X“, eine Entscheidung, die der Liebe folgt, nie dem Verstand. Carax macht vielleicht keine Filme, sondern Liebe. Vielleicht ist es auch gar keine Traumlogik sondern tatsächlich das Paradox einer Logik der Liebe. Die Folge ist Intensität und das Verlangen einfach mit dem Atmen aufzuhören. Seine Blicke sind meist unbedingte Blicke, sie drücken mit einer Faust auf das Herz. Direkt und unverbraucht erreichen die Filme Stellen in mir, die ich nicht kenne. Oft klingen Worte in seinen Filmen wie Lyrik. Sie zielen nicht auf Information, sondern immer auf Emotion, auf das Stottern, den Bruch zwischen den Sätzen, die Einsamkeit des Sprechenden, sein Verlangen, seine Wut, seine innere Zerrissenheit.

Les amants du point neuf

Les amants du Pont-Neuf

Die poetische Montage, die ich mit dem Begriff „Montage der Sinnlichkeit“ beschreiben würde, funktioniert genau gleich wie die Worte der Figuren. Sie wirft einen zurück auf eine andere Wahrnehmung jenseits aller Logik mitten hinein in das Gefühl jedes einzelnen Frames. Er schneidet oft von einem Blick auf ein Gefühl. Die erste Einstellung ist dabei eine Halbnahe oder Nahaufnahme auf den blickenden Charakter, aber der Gegenschuss zeigt nicht, was die Figur sieht, sondern was sie fühlt. So gibt es in „Les amants du Pont-Neuf“ einen dieser plötzlichen Lichtwechsel im Moment des nächtlichen Erkennens als Binoche nur noch die Schemen von Lavant sieht. Oder in „Boy meets Girl“ als Lavant sein Gesicht mit einem Tuch verdeckt, sodass nur mehr die Augen hervor lugen und Mireille betrachtet. Er steht dort und kündigt sich an, er betrachtet sie im Off, Regenwasser dringt durch das Dach in die Wohnung und dann kommt der Gegenschuss, der eben nicht Mireille zeigt, sondern zunächst Schwarz, ein Aussetzen, ein Blinzeln, ein Stoppen, um sofort wieder aufzublenden auf den nassen Boden und die Schuhe von Lavant, der durch die Pfützen geht. Die Kamera schwenkt über diese Pfützen, begleitet vom Rauschen des Regens und die Bewegung wird kontinuierlich fortgesetzt in einer Einstellung, die das Paar umschlungen vor dem sich spiegelnden Fenster zeigt. In der ersten Begegnung der Geschwister in „Pola X“ ist es ein Blick hinter dem Rücken. Depardieu blickt sich um, aber wir erkennen nur die Angst einer weiblichen Person, nicht ihr Gesicht.

Holy Motors2

Carax in Holy Motors

Bei Carax tropft das Blut von der Leinwand in meine Erinnerung. Ein Fluss voller Blut und nackter Körper, eine Wunde in der Hand, am Kopf, in der Seele. Schlechtes Blut dringt aus den Kanälen und Carax trinkt aus den Kanälen. Es ist Nacht bei Carax. Jemand ist immer alleine. Heute bin es ich, morgen bist es du. Nein?

Boy meets Girl

Mauvais Sang

Les amants du Pont-Neuf

Pola X

Holy Motors

Hou Hsiao-Hsien Retro: Der Regisseur als Puppenspieler

Die Magie des Puppenspiels ist eine doppelte im Bezug auf Film. Da ist zum einen der mimetische Effekt, das Leben, das aus scheinbar totem Stoff, Holz oder anderen Materialien gewonnen wird, wie der Zelluloidstreifen oder das digitale Nichts, aus dem Bilder, Geschichten und Gefühle entstehen. Zum anderen ist es die Funktion des Puppenspielers, das Geheimnis in der Unsichtbarkeit der Autors, der bestenfalls spürbar ist, spürbar im Sinne einer Sprache. Wie frei lässt er seine Puppen tanzen? Wie sehr leitet er sie? Wie natürlich oder künstlich bewegen sie sich in seiner Vision? Hou Hsiao-Hsien hat in einem Gespräch mit seinem amerikanischen Protegé David Bordwell mal erwähnt, dass er sich selbst für zu genau und sorgfältig halte in Fragen der Mise en Scène. Ein Mann, der seine Puppen nicht loslassen kann. Dennoch ist das Schauspiel in seinen Filmen von einer großen Natürlichkeit geprägt, er vermag es immer wieder kleine, fast unbeobachtete Momente festzuhalten und die Beiläufigkeit nicht nur durch seine Kamerapositionen, Kamerabewegungen und Montage zu erreichen, sondern auch in den Reaktionen und Aktionen seiner Figuren. Dieser Realitätsnähe folgend, die immerzu den Ort und die Zeit auf gleicher Ebene verhandelt wie die Narration und die Figuren, inszeniert Hou Hsiao-Hsien auch keine vorgefertigten Dialoge und fertigt auch keine Shot Lists oder Storyboards an. Vielmehr findet er seine Szenen an den Locations selbst. Es ist verwunderlich, dass er es trotzdem vermag, eine derartige Strenge in seine Form zu bringen. Ist Hou Hsiao-Hsien ein so guter Puppenspieler, dass er mit künstlichen Methoden ein völliges Realitätsgefühl vermitteln mag oder aber ist er weniger streng als seine Form und bereit ,die Welt in seine Filme zu lassen und Kontrolle abzugeben?

Le Voyage du Ballon Rouge set

In „The Puppetmaster“ und auch in „Le Voyage du Ballon Rouge“ stehen Puppenspieler beziehungsweise Autorinnen und Sprecherinnen bei Puppenspielen im Zentrum des Films, sie könnten unterschiedlicher nicht sein. Li Tian-lu erzählt in „The Puppetmaster“ seine eigene Lebensgeschichte fast wie „Forrest Gump“ am unschuldigen Rand der Historie seines Landes und gerade deshalb immer mitten drin. Er wirkt wie durch das Leben geschleudert, er folgt seiner Berufung durch Zufälle und Talent, eigentlich passiv, instinktiv und diese Eigenschaften scheinen sich auf sein Puppenspiel auszuwirken, das eine solche Lebendigkeit hat, dass Hou Hsiao-Hsien sich gezwungen sieht in einer bemerkenswerten Sequenz, echte Menschen für einige Augenblicke wie Puppen (E.T.A. Hoffman ist groß) wirken zu lassen. Li Tian-lu ist ein Geschichtenerzähler, ein sympathischer Träumer, der gerade dadurch gelebt hat. Neben den eigentlich recht konventionellen Biopic-Momentaufnahmen samt Voice-Over Narration lässt Hou Hsiao-Hsien den Mann immer wieder direkt in die Kamera sprechen und gibt uns damit eine Chance zum eigenen Urteil. Wer ist dieser Mann, spielt er nur ein Bild von sich selbst, ist sein politisches Bewusstsein jenes von Hou Hsiao-Hsien oder kommt er von ganz alleine auf die Analogien und Bemerkungen, die sein eigenes Schaffen immerzu in Relation zur Geschichte Taiwans setzen? Ähnliche Fragen also wie in Abbas Kiarostamis „Close-Up“, der das Kunstschaffen und die Frage nach der Evidenz ungleich virtuoser und deutlicher stellte, aber im Zentrum eine ähnlich faszinierende, kunstorientierte Figur hatte. „Are you acting now?“, wird Sabzian bei Kiarostami dann auch gefragt, während man es Li Tian-lu nie so recht anmerken will, insbesondere da er ja ein Schauspieler ist. Er erzählt seine Geschichte als eine Geschichte des Anpassens, immer im Bezug zu familiären und politischen Tragödien, auf der Suche nach einem Leben mit der Kunst in der Misere. Er will dieses Leben nicht kontrollieren, es kontrolliert ihn.

The Puppetmaster

The Puppetmaster2

Genau andersherum funktioniert die kinematographische Sprache von Hou Hsiao-Hsien. Alleine durch den häufigen Modus der Vergangenheit, der durch die distanzierte Bildsprache, die poetische Lichtsetzung, die Voice-Over Narration und unter anderem durch das was viele eine Geschichtschronik nennen (also eine Einbettung der Handlung in größere gesellschaftliche Zusammenhänge), entsteht ein Gefühl von Kontrolle, von ganz bewussten Entscheidungen, die immer mehr bedeuten als das, was man im Zentrum des Bildes erkennen kann. Es braucht ein sehr eingespieltes Team, um diese Mischung aus Reaktion und Kontrolle, Leben und Kunst so hinzubekommen. Eine Figur, die genau andersherum funktioniert wie Li Tian-lu ist in diesem Zusammenhang Suzanne, gespielt von der unglaublichen Juliette Binoche in „Le Voyage du Ballon Rouge“. Sie will kontrollieren, sie will dominieren, sie schreibt die Stücke selbst und spricht dann alle Figuren. In einer ironischen Wende ist es aber Li Tian-lu, der scheinbar viel mehr Kontrolle über sein Leben hat als Suzanne, die immer am Rande des Nervenzusammenbruchs steht, die ihr Privatleben nicht im Griff hat und deren Glück in raren Momenten mehr einer Verpflichtung gleichkommt, so wie das kurze Atmen eines Fisches über Wasser.

Hier stellen sich also nicht nur zwei unterschiedliche Herangehensweisen an einen einzelnen Film, sondern vielmehr zwei unterschiedliche Lebensweisen mit Film und der Kunst dar. Jene ehrgeizige Walze, die alles der Kunst unterstellt oder jener Überlebenskünstler, der sein Leben als Kunst führt. Es ist interessant zu beobachten, wie Regisseure immer wieder mit und zwischen diesen beiden Images spielen. Pedro Costa hat einmal vor einer Gruppe japanischer Filmstudenten gesagt, dass ein Regisseur immer zugleich 20 und 80 Jahre alt sein müsse. Vielleicht ist die Kontrolle 80, und das Leben 20 Jahre alt. Ich habe eine Szene aus dem Making of von „Morte a Venezia“ von Luchino Visconti vor mir als der in die Jahre gekommene Regisseur auf einem Boot erläutert, dass bei seinen Drehs in der Regel früh am Abend Drehschluss sei, weil dies seinem Rhythmus entspreche und sein Rhythmus wäre alles für ihn und seine Arbeit. Anders könnte man fragen: In welchem Zustand zwischen Leben und Künstlichkeit muss man sich befinden, um mit einem Blick schaffen zu können, der ein Gefühl für eine Weltsicht in filmischer Form zulässt? Ist der Gipfel des privaten Glücks vielleicht diese wahnsinnige Szene gegen Ende von „Le Voyage du Ballon Rouge“, wenn sich Binoche dazu zwingt in größter Erschöpfung am Familienleben teilzunehmen für wenige Augenblicke, ein kurzer Moment des Glücks, der sich gar nicht von der verkrampften Haltung lösen kann, aber es dennoch zum Herzen der Figur schafft.

Ein befreundeter Regisseur hat mir mal gesagt, dass er besonders gerne und gut schreibt, wenn es im Sommer regne und er bei offenem Fenster an seinem Schreibtisch sitzen könne. Wie abhängig ist man von Dingen wie Inspiration, was ist das? Das erstaunliche oder auch gewöhnliche bei Hou Hsiao-Hsien ist, dass sich seine Figuren solchen Fragen gar nicht gegenüber stehen. Sie schaffen einfach, es ist ihr Beruf. Die Betonung seiner Bilder liegt auf der handwerklichen Tätigkeit. In beiden Filmen zeigt seine Kamera an, was hinter der Bühne für eine Arbeit geleistet wird, um die Illusion zu erzeugen. In „Le Voyage du Ballon Rouge“ ist die Herstellung von Illusion sogar eines der expliziten Themen des Films, wogegen in „The Puppetmaster“ durchaus die Magie des Puppenspiels betont wird, in langen Sequenzen, die das rhythmische Menschwerden der Puppen vorführt egal ob für propagandistische Zwecke oder als reine Unterhaltung. Das gefilmte Theater vermag in diesen Sequenzen zum Film zu werden wie das sonst nur bei Regisseuren wie Kenji Mizoguchi, Ingmar Bergman oder Rainer Werner Fassbinder gelingen konnte. Beschäftigt man sich also mit der Frage nach Kontrolle und Leben in den Filmen von Hou Hsaio-Hsien, muss man auch die Frage nach Magie und Nüchternheit stellen sowie nach Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. In seinen schwächeren Momenten, zu denen „The Puppetmaster“ sicherlich gehört, konstruiert der Regisseur seine Unsichtbarkeit, man sieht sehr deutlich, dass er etwas versteckt, aber man fühlt es nicht, man merkt, dass er sich zu einer nüchternen Distanz zwingt, wo er eigentlich empathisch aufgeladen ist. In seinen besseren Momenten, zu denen sicherlich „Le Voyage du Ballon Rouge“ zählt, versucht er sich und seinen Formalismus nicht zu verstecken, sondern gewinnt aus ihm das Gefühl, das Sichtbare und Unsichtbare selbst. Dann wird ganz nüchtern Magie gefilmt und obwohl wir alle wissen und sogar klar erkennen können, dass jemand diese Puppen steuert und spricht, schauen wir nur noch sie und ihr Leben an.

Les quatre cents coups

Les quatre cents coups von François Truffaut