Mémoire Volontaire: Filmmomente 22

Wir haben gemeinsam Flüchtiges erinnert.

Ronny Günl

Vielleicht noch nicht zu spät

Meeresrauschen, salziger Wind und schwankende Schattenbilder lassen in Helena Wittmanns Human Flowers of Flesh Sekunden in Minuten und Stunden in Tagen verfließen. Die Besatzung eines Segelschiffs begibt sich auf eine Reise ohne Ziel über das Mittelmeer. Sie treiben von Hafen zu Hafen, doch keine Irrfahrt. Als zöge sie ein ferner Ort außerhalb der Sicht über die Reling an, steuert das Schiff gen Süden. Eingewebt in wortkarges Seemannsgarn streckt sich Wittmanns Film in alle Richtungen, wie beim Erwachen nach einem Dämmerschlaf. Ausgerechnet in Marseille, der Stadt gestrandeter Reisender, bemerkt die Protagonistin Ida das verborgene Ziel. Daraufhin findet der Film in der algerischen Hafenstadt Sidi bel Abbès, verkörpert durch Denis Lavant als Galoup aus Claire Denis Beau travail, gewissermaßen zu seinem eigenen Ursprung. Verlor sich auf dem Weg bis dorthin jegliche Vorstellung von Zeit, wird sie wie von einem Schauer zwischen den Schultern plötzlich von hinten eingeholt und umschlossen.

Der Film erreicht sein Ende und verharrt doch an einer Schwelle, in jener Weise wie Ida, gespielt von Angeliki Papoulia, für einen Augenblick im Inneren eines Cafés vor dem Fenster mit Blick nach Außen innehält. Schaut man durchs Glas, erkennt man im Vorbeiströmen der Menschen die vergehende Zeit, der man sich entzogen hat. Eine Erfahrung die sich sowohl im Asia-Restaurant um die Ecke als auch im Kino machen lässt. Joyce Wielands Film Reason over Passion, unlängst zusehen im Österreichischen Filmmuseum, macht sich dies zu eigen, indem er gerade aller Zerstreuung entgegen durch einen monotonen, rhythmischen Signalton den Takt vorschreibt. Dazwischen, kurze Aufblenden einer Reise durch das verschneite Kanada. In heller Erwartung des nächsten Tons beginnt man wie von Sinnen zu zählen. Die Vernunft triumphiert über die Sehnsucht und wird zum Irrsinn. Wie lang ein Film dauert, lässt sich wohl kaum unmittelbarer beschreiben.

Dass gewisse Filme zu lang seien, ist im vergangenen Jahr hörbarer denn je geworden. Scheinbar muss sich die Zeit im Kino wieder lohnen. Die Zeit ist wertvoll und darf nicht verschwendet werden, schon gar nicht für schlechte Filme. Mit zu viel Zeit im Kino könnte man vielleicht auf falsche Gedanken kommen. Stattdessen erzählt uns die Rolex-Werbung als Sponsor der Academy Awards vor Beginn eines jeden Films, warum wir ins Kino gehen. Wir müssen wissen, was gut und das richtige Maß ist. Als neulich meine Uhr aufgrund der leeren Batterie während eines Films stehen blieb, wunderte ich mich, wie viel Zeit vergangen sein mag. Etwas war abhanden gekommen, ohne dass es fehlte. Oder fehlte etwas, ohne dass es abhanden gekommen war? So wie im vergangenen Jahr bekannte oder weniger bekannte Ikonen verstarben, müsste man möglicherweise anstatt Totenkult zu betreiben, zunächst ihre hinterlassene Leerstelle begreifen. Insofern ist es vielleicht noch nicht zu spät.

Bianca Jasmina Rauch

Aus dem Leben gerissen

Immer wieder komme ich auf sie zurück. Unbewusst verleihe ich ihnen einen mystischen Charakter, der in ihrer fernen Nähe zum Umbruch schlummert: die 70er Jahre. Gesellschaftliche Umbrüche schreiben sich stets auch auf der persönlichen Ebene ein. Erst kürzlich stellte ich verblüfft fest, dass der Beginn der 70er meinem Geburtsjahr viel näher ist als das Hier und Jetzt. Vielleicht ist die ferne Nähe also doch eher eine nahe Ferne. Warum ich verblüfft bin darüber? Weil die 70er aus heutiger Sicht doch so weit weg aussehen. Ich verspüre das unstillbare Bedürfnis, dieses Jahrzehnt des Umbruchs zu fassen, Bilder dieser Zeit in ihrer Bedeutung zu begreifen. Vielleicht hoffe ich so auch mich, meine Eltern, die Welt – oder was ich eben dafür halte – besser zu verstehen. Jetzt ist die Vergangenheit vorbei, sie kann nicht mehr auf die Weise begangen werden, mit der man zeitlebens durch sie ging. Die Vergangenheit existiert nur mehr in unseren Erzählungen – schön, nebulös, traumatisch oder einfach: unabwendbar.

Wie gelingt uns ein Blick in die erlebte Vergangenheit, der nicht dazu dient, verklärte Nostalgie vorzuschieben, sondern die Dinge in neues Licht zu rücken? Ich spreche nicht von Fakten, sondern von Erfahrungen, vom subjektiv geprägten Blick ins Gestern. Annie Ernaux widmet ihr Schreiben diesen Blicken ins Gestern, ins Vorgestern, ins Vorvorgestern. Für Les années Super-8 verbalisiert sie ihren heutigen Blick auf Bilder aus ihrem Familienarchiv, Beginn: 1972. Erst in dem Augenblick, in dem die Schriftstellerin Aufnahmen ihrer selbst fünf Jahrzehnte später kommentiert, gewinnen diese aus dem Leben gerissene und bis heute auf Zelluloid gebannten Momente an Bedeutung. Heute verknüpft sie Fragmente aus der Vergangenheit zu einer logischen Struktur, damals war sie vom Lauf der Dinge selbst und von dem, was sie bis dahin erlebt hatte, eingenommen. Bedeutung lässt sich später, mit dem sicheren Wissen über kommende Erfahrungen, leichter erschließen, dabei hätten wir ein Verständnis unserer Selbst oft gern schon früher.

Dieser Frau, die kommentiert, wurde dieses Jahr der Literaturnobelpreis verliehen, diese Frau, die schüchtern lächelnd in die Kamera blickt, schreibt zu diesem Zeitpunkt nur heimlich. Heute zirkulieren ihre Worte weltweit. Rückwirkend fügt sich alles wie Puzzleteilchen in ihre Biografie, die aber auch ganz anders hätte kommen können. Ich blicke diese Frau an, wie ich manchmal Kinderfotos von mir selbst ansehe, und denke „sie ahnte nichts“. Aber wer war „sie“ eigentlich? Für die heutige Ernaux scheint ihr vergangenes Ich nicht mehr so rätselhaft. In Les années Super-8 analysiert und erklärt sie sich selbst, auch die Leerstellen. Ein prägnanter Moment zeigt die Anfang-30-jährige leicht nach vorne gebeugt und mit einem Stift in der Hand an einem Schreibtisch sitzend, der von mehreren beschriebenen Blättern Papier bedeckt ist. Sie wirkt, als wäre sie unterbrochen worden. Der Blick der geheimen Schriftstellerin in die Kamera strahlt Geduld und ernste Entschlossenheit aus. Mit einen Zoom nähert sich das Bild ihrem durch die geringe Sättigung blass wirkendem Gesicht, als wollte es sich ihrem Inneren nähern. Wir hören nicht, was der Mann hinter der Linse, ihr Partner, möglicherweise sagt. Während einer darauf folgenden, zweiten Aufnahme derselben Situation lächelt sie zaghaft, worauf die Kamera mit einer kurzen wackeligen Bewegung zu ihren Texten schwenkt. Aus dem Off erzählt die wissende, erfahrene Ernaux, dass sich ihr jüngeres Selbst nicht traute, die Kamera zu führen, dass sie sich als Frau von dem technischen, wertvollen Gerät zurückhielt. Mit dem Kommentar scheint sich diese Schüchternheit, das damals noch tief schlummernde, inaktive Selbstbewusstsein, in dieser leicht gebeugten Haltung und dem Lächeln erkennen zu geben. Ich frage mich, ob ich selbst auch so an meinem Schreibtisch sitze?

Wie würde ich im Jahr 2072 mein 30-jähriges Ich kommentieren, wenn mir Google-Fotos eine Kompilation mit dem Titel „Back to the 20s“ vorschlägt? Würde ich mich überhaupt an irgendetwas erinnern können, was in mir vorging? Würde ich Mitleid, Stolz, Sehnsucht beim Anblick meines 2022er-Ichs empfinden? Was würde ich jetzt anders machen, wenn ich diese Gedanken der Zukunft schon kennen würde? Würde ich jetzige Momente mit einem ähnlich bedeutungsschwangeren Bestimmtheit wie Annie Ernaux überzeugt collagieren können? Die gegenwärtige Ernaux scheint die vergangene Version ihrer Selbst mit dem Erfahrungsschatz der Jahre und der erlangten Fähigkeit, über ihre Sehnsüchte und Ängste sprechen zu können, besser zu kennen. Die gegenwärtige Version holt die Seele ihres vergangenen Ichs hervor, die sie auf diesen Bildern erblickt.

Die Frau, die wir auf den Bildern sehen, repräsentiert einen Seelenzustand, der genauso der Vergangenheit angehört wie ihr Körper vor der Linse. Mit ihrem Kommentar versucht Ernaux die Dichotomie von Körper und Seele zu brechen und ihr Selbst als Ergebnis von Erfahrungen und Situationen, von gesellschaftlichen Strukturen und Zuständen zu beschreiben. Verwoben ist all das miteinander, enger und komplizierter als die geradlinigen Streifen des Stickpullovers, den die Anfang-30-Ernaux auf der Aufnahme trägt. Ein Individuum verstrickt in die engmaschigen Strukturen unserer Gesellschaft. Verstehe ich die 70er jetzt besser? Ernaux’ Film bildet einen weiteren Mosaikstein in meinem mentalen 70er Kaleidoskop, das die Zeiten immer mehr verschwimmen, Nähe zu Ferne und Ferne zu Nähe werden lässt, und irgendwo dazwischen sind die 90er, irgendwo da vorne 2023 und ich möchte am liebsten überall mitschwimmen.

© Film Kino Text

Eh-Jae Kim

»Es gibt Leute, die Spuren hinterlassen. Es gibt Leute, die verschwinden einfach.«

So beginnt eine Szene zwischen dem Filmemacher Peter Liechti und Anni Kugler, einer alten Dame, in seinem Film Hans im Glück. Als ich mich zurückerinnere, gilt mein erster Gedanke der alten Frau, die von Liechti verlangt, dass er sich bitte an sie erinnern soll. Liechti gibt vor, ein Foto von ihr zu schießen, sie setzt dafür ein breites, etwas zu großes Lächeln auf. Als das Foto gemacht scheint – die Kamera läuft die ganze Zeit und zeichnet das Gespräch der beiden auf –, verändert sich ihr Gesicht, sie erzählt aus ihrem Leben. So hatte ich es in Erinnerung.

Als ich die Filmszene nach einigen Wochen wieder sehe, ist es doch ganz anders. In Hans im Glück begibt sich Peter Liechti zu Fuß auf eine Reise, um sich das Rauchen abzugewöhnen. Er filmt den Besuch bei seinen Eltern, seine Großmutter und nun Anni Kugler, die alte Dame, immer mit dem Wunsch etwas von ihnen festzuhalten. Es sind intime Bilder auf dem Sofa, im Wohnzimmer. Dass Liechti vorgibt, ein Foto von Anni Kugler zu machen, während sie ihr großes Lächeln für die Kamera aufsetzt, soweit hatte ich es richtig in Erinnerung. Die Kamera sei aus, sie dürfe nun erzählen. Von einem Moment auf den anderen fällt ihr Lächeln, wie ein Vorhang, und mit ihm ihre Stimme um eine halbe Oktave. Sie erzählt mit einer Dringlichkeit, die Menschen haben, die sich ihre Worte von der Seele reden, von ihrem Leben im Alter: »Es ist ein kolossal einsames Leben, ein blödes Leben. Ich möchte halt sterben.«

Die erste Wanderung Liechtis ist fast vorbei und auf der letzten Strecke reflektiert er das Gespräch: »Zum Abschied hat sie mich bei der Hand genommen. Dass ich sie auch wirklich ernst nehme, muss ich ihr versprechen. Darauf war ich nicht gefasst. Nicht auf diese plötzliche Eindringlichkeit.« Das Gefühl von Scham legt sich über seine Erinnerungen. Die Scham färbt auch auf mich ab und ich wundere mich: Wie kam es zu dieser Verschiebung bei mir? Anni Kugler will sich nicht erinnert wissen, sie will ernstgenommen werden. Es ist der Filmemacher, der mit den Portraits sichergehen will, dass man die Menschen nicht vergisst.

Im Nachruf auf Peter Liechti findet sich bei Revolver ein Interviewausschnitt, in dem er über diese Szene spricht: »Ich glaube das ist ein sehr zentraler Punkt beim so genannt Dokumentarischen, bei der Arbeit, nicht? Wie geht man mit Protagonisten um? Ich mag das nicht, immer dieses Gesülze darum, wie man sorgfältig sein muss, wie man freundlich sein muss und so weiter und so weiter. Es gibt das Wort Verantwortung, und das ist das einzige was zählt. Kein einziger Protagonist weiß wirklich, was entsteht wenn er Ja sagt zu einer Aufnahme.«

Wie der Anspruch auf wahrheitsgemäße Darstellung, dessen Illusion sich Liechti nicht hingibt, so ist vielleicht auch der Wunsch nach einer wahrhaftigen Erinnerung an einen Menschen in dieser Szene einer, der unerreichbar bleibt, aber den Liechti für den kurzen Moment frönt. Es ist ein sehr beruhigender Gedanke, dass das Filmen die Zeit konservieren kann. Übermalt daher der Wunsch dieser Bewahrung die tatsächlichen Worte Anni Kuglers in meinen Erinnerungen? Und dann der Schreck und die Scham, dass man sich dem Bewahren so hingegeben hat, dass man sich nur an den eigenen Wunsch zu erinnern erinnert, statt an die tatsächlichen Worte der Person vor der Kamera.

Sebastian Bobik

Deklarationen der Liebe

Wenn ich zurückdenke an Momente aus Filmen, die mir dieses Jahr in Erinnerung geblieben sind, fallen mir nur solche ein, die ich im Kino erlebt habe. Ich habe dieses Jahr sehr viele Filme zuhause gesehen und viele davon waren besser als jene, die ich im Kino sah. Doch das ändert nichts daran, dass mir besonders Momente hängen bleiben, die im Dunkeln vor der großen Leinwand in Anwesenheit Anderer stattgefunden haben.

Es sind vor allem zwei einzelne Momente aus Filmen an die ich öfter denke. Sie umklammern das Jahr in gewisser Weise: Einen Moment erlebte ich im Jänner, den anderen im November. Wenn ich mich recht erinnere, erlebte ich beide im Gartenbaukino in Wien, dem größten Einsaalkino der Stadt. Womöglich spielt das auch eine Rolle.

Beides sind Augenblicke, in denen eine Art “Realität” oder “Lebendigkeit” in einen Film hereinbricht. Ich habe das Gefühl, in diesen kurzen Gesten die Filmemacher hinter der Kamera, wirklich als Person zu spüren.

Der erste Moment ist ein einfacher. Er entspringt einem Film, der manchmal aufgrund seiner Leichtfüßigkeit droht, davonzurennen, genau wie seine Protagonisten es tun. Die Rede ist von Paul Thomas Andersons Licorice Pizza.

Ein junger Mann findet sich auf einer Polizeistation wieder. Er ist 15 Jahre alt. Er wurde kurz zuvor abgeführt, ohne zu wissen weshalb. Die junge Frau, ungefähr 25 Jahre alt, mit der er unterwegs war und vor deren Augen er abgeführt wurde, läuft momentan voller Sorge zu ihm. Der Film war zuvor eine vielleicht romantisierte Idylle gewesen. Er erzählt von einem ungleichen Duo im San Francisco der 1970er, das versuchen muss, die vielen (oft verwirrenden) Gefühle zu navigieren, die sie füreinander empfinden. Der Moment, in dem plötzlich die Polizei auftaucht und unseren Protagonisten in einem Auto abführt, bricht unerwartet in den Film und zum ersten Mal regt die Gefahr der Welt ihr hässliches Haupt in der Erzählung.

Nun sitzt Gary (so heißt der junge Mann) auf einer Polizeistation. Die Kamera betrachtet ihn aus gewisser Distanz, wie er auf einer Bank in einem hellen, weißen Gang sitzt. Hinter ihm sehen wir große Glastüren. Das helle Sommerlicht flutet das Bild. Er sitzt alleine und wartet ungewiss auf das, was als nächstes mit ihm geschehen soll. Doch während man als Zuschauer bereits versucht herauszufinden, wo die Geschichte als nächstes hinführen könnte, wird Gary so plötzlich wie er festgenommen wurde, wieder freigelassen. Er ist noch völlig verwirrt, traut sich nicht einmal aufzustehen. Mittlerweile ist Alana (so heißt die junge Frau) angekommen. Sie erblickt ihn durch eine Glastür und winkt ihn zu sich. Er steht auf, kommt auf die Kamera und Alana zu.

Jetzt kommt der Moment, an den ich mich in den letzten Monaten und Wochen regelmäßig erinnere: Gary verlässt die Polizeistation durch die Glastür. Die Kamera folgt ihm nicht und dreht sich auch nicht um. Es wird auch nicht geschnitten auf eine andere Perspektive. Stattdessen bewegt sie sich nur leicht und wir sehen in der Spiegelung der Glastür, was als nächstes passiert: Gary und Alana fallen einander erleichtert in die Arme. Sie ist den Tränen nahe. Beide sind entlastet. Der Moment ist zur Gänze über diese Spiegelung eingefangen.

Schon im Kino hat mich diese Geste und ihre Einfachheit irgendwie bewegt. Es fühlt sich an wie eine Brise. Der Film selbst atmet. Eine unglaubliche Lebendigkeit offenbart sich mir in dieser kleinen Geste: Ich sehe vor mir ein Set voller Profis, die einen Hollywood Film drehen. Am Drehtag, an dem diese Szene gedreht wird, gibt es einen geplanten Gegenschuss, in dem sich die Figuren umarmen. Vielleicht eine halbnahe Einstellung oder sogar ein Close-Up, um die Gesichter der Erleichterung einzufangen. Doch an dem Tag sieht Paul Thomas Anderson die Spiegelung und spontan entscheidet er sich, alles in einer Bewegung zu filmen, ohne Schnitt. Zumindest ist es so in meiner Vorstellung passiert. Für mich ist die Spiegelung in der Glastür ein Moment von Leichtigkeit und Freiheit. Diese Geste ist für mich verwandt mit der Aussage Griffiths, dass es im Kino nicht genug Bäume gibt, die im Wind wehen und mit der Renoirs, dass man am Set immer eine Tür offen lassen müsse, damit die Welt in den Film finden könne. Es ist etwas, dass ich in vielen Filmen heute vermisse.

Auch der zweite Moment ist ein Hereinbrechen der Welt in den Film. Der Film heißt The Novelist’s Film und ist einer von drei Filmen, die Hong Sang-soo dieses Jahr präsentierte. Der Großteil des Films läuft dabei in recht bekannter Manier ab, wenn man mit seinen Filmen vertraut ist. In den letzten Minuten erscheint plötzlich ein Film im Film, den wir zu sehen bekommen. Die Schauspielerin Kin Min-hee wendet sich an die aus der Hand geführte Kamera. Sie hält ein paar selbstgepflückte Blumen und lächelt. Wir hören hinter der Kamera eine Stimme sprechen. Sie sagt die Worte “I love you”. Der Film geht weiter und erst nach etwas Zeit merke ich, was ich gerade gesehen habe. Es ist nicht mehr die Welt der Fiktion, sondern es scheint tagebuchartiges Filmmaterial zu sein. Die Person vor der Kamera ist nicht die fiktive Schauspielerin, die von Kim Min-hee in diesem Film verkörpert wird, sondern die tatsächliche Person. Die Stimme hinter der Kamera ist jene von Hong Sang-soo selbst. Das Liebesbekenntnis ist ein tatsächliches, dass nicht durch Fiktion gefiltert ist. Wer die Liebesgeschichte der Beiden ein bisschen über die letzten Jahre mitbekommen hat (schließlich war es eine Art “Skandal”), weiß Bescheid. Als ich das merkte, wurde der Film langsam unscharf, während sich in meinen Augen Tränen sammelten. Ich gestehe, dass mir der restliche Film nicht so stark in Erinnerung geblieben ist wie diese eine kleine Geste. Diese jedoch hallt immer noch nach.

Es sind zwei zärtliche Gesten der Liebe im Kino, die mir aus diesem Jahr in Erinnerung bleiben. Vielleicht liegt das daran, dass mir oft scheint, der Welt fehlt es an Zärtlichkeit und an solchen Deklarationen der Liebe. Vielleicht werde ich sie nächstes Jahr auch schon wieder vergessen haben.

Fiona Berg

Bauchgrummeln

Nach einem langen Berliner Winter vor meinem eigenen Bildschirm mit akutem Licht- und Bewegungsmangel finde ich mich mal wieder dem Festivaltrubel am Potsdamer Platz ausgesetzt, den ich doch gar nicht so sehr vermisst habe. Ich lasse es deshalb langsam angehen, die Akkreditierungsfrist hatte ich sowieso verpennt, und fange im letzten Drittel des Festivals an, Empfehlungen zu sichten, die noch nicht ausverkauft sind. Während mein Bauch mich angrummelt, um mir zu sagen, ich solle doch mal wieder joggen gehen oder eine kleine Fastenkur einlegen, haste ich gerade noch rechtzeitig zum Beginn von Flux Gourmet; ein Film über eine kulinarisch-sonore Künstlerinnen-Residenz erzählt von einem Journalisten, der über die Arbeit des eingeladenen Kollektivs berichten soll, das experimentelle Sound-Performances von sich gibt, während er von körperlichen Beschwerden heimgesucht wird und nicht ganz bei der Sache ist.

Mit dem Kopf woanders sein, die soziale Situation, um einen herum wahrnehmen, den Körper spüren und dann doch wieder auf das Geschehen zurückgeworfen werden. Das Kino hält uns zwar Realität vor Augen oder nimmt uns mit in andere Welten, unsere Immersion ist jedoch nie komplett. So kann uns ein Bauchgrummeln schon mal aus der Bahn werfen. Das körperliche und soziale Unwohlsein meines Gegenübers auf der Leinwand kann ich deshalb in diesem Moment gut nachvollziehen. Gerade im Dunkeln des Kinos ist alles äußere, was in diese sensible Situation dringt, ein Störfaktor. Nicht nur die sich öffnende Tür, das klingelnde Handy oder das Getuschel nebenan. Auch das schlecht verdaute, hastig gegessene Sandwich, ein unerwarteter Anruf oder das Gespräch von gestern Abend lassen uns auch hier nicht unberührt. Für unseren Erzähler sind es diese unsäglichen Flatulenzen in einer ungewohnten Umgebung, die sein Unbehagen bis in die Schlaflosigkeit steigern. Gepaart mit sozialen Anspannungen und hitzigen Diskussionen bei Tisch über die Möglichkeit von Kunst und ihren Grenzen, katalysieren sich in seinem Bauch alle seine Sorgen. Und am Ende wird sogar die koloskopische Untersuchung zum Spektakel. Während das Innere des Protagonisten nun die ganze Leinwand ausfüllt, denke ich über die Parallele von Darmtrakt und Kinoraum nach. Die Abtastung dieser Höhlen mit dem bloßen (Kamera)Auge verspricht Erkenntnis. Es ist eine äußert sensible und vulnerable Situation, die in hohem Maße vom Außen bestimmt ist. Gefesselt an den eigenen Körper erwachsen Emotionen und Affekte, die ansonsten vielleicht gerne verdrängt werden.

Es ist ein irrwitziger (Darm)Spiegelungsmoment, in dessen Erzählung ich mich wiederfinde. Die angebliche Unmöglichkeit etwas Luft zu lassen, zu entspannen und man selbst zu sein, reicht aus, um dem Protagonisten hier den gesamten Aufenthalt zu versauen. Wenn das Kopfkino beginnt und das Bauchgefühl überhand gewinnt, sind wir ganz und gar in uns gefangen. Dies gilt es aufzubrechen, die Wahrnehmung zu öffnen. Mein Bauchgrummeln im Kinosaal lässt mich dabei zumindest nie vergessen, wo ich mich befinde. Der Zugang zur Wirklichkeit, der nicht zu trennen ist vom Inneren, das sich hier bemerkbar macht, ist durchlässig wie meine Darmwand. Es kommt also auch im Kino darauf an, was ich mir zuführe und mir die Möglichkeit gibt, meine Gedanken und Gefühle angemessen zu verdauen. Und ein Spaziergang nach einem turbulenten Film ist dabei immer eine gute Idee.

Patrick Holzapfel

Orange

Francis Ponge hat den Körper einer Orange, ihren Geschmack, Duft und ihre Farbe einmal mit Lampions (lanterne vénitienne) verglichen und wir sollten den Worten eines solch großen Dichters auf keinen Fall mit der gleichen halbwachen Selbstverständlichkeit folgen, mit der wir sonst das meiste ignorieren, was auf uns einprasselt. Die aus ihrem Inneren leuchtenden Irrlichter, das wie aus sich selbst brennende, schmückende, in den Himmel aufsteigende Signal einer Verlorenheit, die nach Geborgenheit sucht. Ein Lampion strahlt so diffus, dass man sich nie sicher sein kann, wo das Licht beginnt und wo es endet. Das also sah und schmeckte und roch und schrieb (vor allem schrieb er) der Dichter rund um die, aus der, in die Orange, die tatsächlich aus sich selbst zu leuchten scheint und die, wenn sie nicht gerade zu den bemitleidenswerten, geschmacklosen Wasserbällen gehört, die man in hiesigen Supermärkten erwerben kann, mit ihrem Duft ganze Hallen in einen unwirklich sanften Süßtraum versetzen kann. Orangen sind Feuerbälle, die einen nicht verbrennen, sondern erwärmen. Man darf nicht vergessen, dass eine Farbe nach dieser Frucht benannt wurde. Niemand würde die orangenen Lichtstreifen am abendlichen Wolkenhimmel oder die in den Wiesen glühenden orangenen Fackellilien beschreiben können, wäre da nicht diese Frucht, die wahrscheinlich über genuesische Meerwege nach Europa kam.

Den Orangen aber haftet auch eine Bitterkeit an, die tief aus ihrem Inneren strömt. Vielleicht hat es damit zu tun, dass sie nicht dort sind, wo sie herkommen. Diese Bitterkeit ist es, die uns die Orange so vertraut erscheinen lässt. Wir kennen sie aus uns selbst. Sie sammelt sich in uns, weil alles endet und vergeht, sie kommt mit der Nichtigkeit des Heranreifens, des Wachsens, des Strebens nach Licht und der Gewissheit, dass all das nur für den kaum zu erhaschenden Augenblick einer plötzlichen Jugend geschieht. Eine Jugend, die wir eigentlich erst wahrnehmen, wenn sie bereits vorüber ist. Es gibt wenige Anlässe, die uns wirklich vergessen lassen, dass es da diese Bitterkeit in uns gibt. Einer von ihnen offenbart sich (so ironisch ist die Natur), wenn man eine reife Orange von einem Baum pflückt, ihre Schale mit den Fingernägeln abstreift, den perfekt geformten, nie zu leichten und nie zu schweren Fruchtkörper in den Mund führt und hineinbeißt. So seltsam es ist, diese Sekunde rechtfertig alles, diese Sekunde muss es sein, die jenen entgeht, die behaupten, dass es keinen Sinn und keine Freude im Leben gebe.

Ich dachte nicht, dass ich einen solchen Augenblick einmal in einem Film sehen würde, jedoch war mir klar, dass wenn es so sein würde, es ein Film aus Portugal sein müsste. Das hat nichts mit persönlichen kinematographischen Vorlieben oder irgendeiner nationalistischen Agenda zu tun, sondern damit, dass die Orange schon lange mit diesem Land am Ende Europas verbunden ist, so sehr, dass die Griechen die Frucht einst burtogan nannten und die Araber bortugan. Ein Mythos besagte, dass der ursprüngliche Baum, der die Frucht in Europa einführte, hunderte Jahre in einem Garten in Lissabon stand. Egal, ob man an derlei Geschichten glaubt oder nicht, sie vermitteln, dass diese Frucht in Portugal näher ist an dem, was sie sein könnte. Eine Lüge zweifellos, vor allem, wenn sich die Industrie mit ihren vergifteten Versuchen zur Massenware erklärt und mit jeder Natur widersprechenden Methoden danach trachtet, die bereits beschriebene Reifezeit zu verlängern. Man schmeckt dann länger, aber es schmeckt nach nichts. Die Orange wird nie wirklich sein, sie verharrt im Stadium einer blassen Idee. Statt eines Lampions eine batteriearme Taschenlampe.

Nichts dergleichen in Terra Que Marca von Raul Domingues. Die Erde diktiert den Raum dieses Films und die Tages- und Jahreszeiten bestimmen die Zeit. Die Landwirtschaft, die er zeigt, ist traditionell, sie arbeitet mit, nicht gegen die Natur. Dasselbe gilt für die Kamera, die sich beständig dieser Flüchtigkeit des Schönen ausliefert. Wie sichtbar machen, was im Verfallen wächst und im Wachsen zerfällt? Wie die Vollendung einer Orange festhalten? Im Film gibt es einen Orangenbaum. Ich gebe zu, dass ich ihn für jenen im Garten von Lissabon halte, auch wenn der Baum irgendwo nördlich von Leiria wächst. Er steht wie ein Symbol in der Landschaft und weil er so steht, kann man kaum fassen, dass er ganz und gar wirklich ist. Irgendwann beginnen die Orangen in ihm zu flimmern wie, ja wie Lampions. Und ganz am Ende des Films, wenn man der rhythmischen, harten, körperlichen, erdnahen Arbeit von Bäuerinnen und Bauern, den zyklischen Wegen und Kämpfen der Erde gefolgt ist, gibt es diese eine Sekunde, in der eine Orange von dreckigen Händen mühsam und langsam geschält wird und als der Bauer dann in die Frucht beißt, spürt man eine Erlösung und der Film endet, weil es nichts mehr zu zeigen gäbe, weil das alles ist, was es gibt.

Es gibt Filme, die arbeiten wie Orangerien, kleine stanzone per i cidri, die schön ausgeleuchtet perfekte Bedingungen für ihre Protagonisten schaffen. Man fühlt sich wohl in diesen Filmen, es ist warm und duftet. Man fühlt sich so wohl, dass man vergisst, etwas mitzunehmen und am nächsten Tag kann man allen erzählen, dass man in einer Orangerie war, aber man ist sich nichtmal mehr sicher, ob es dort Früchte gab oder nicht. Terra Que Marca aber steht auf dem Feld und wartet auf diesen einen Augenblick, in dem man wirklich in eine Orange beißen kann. Der Film kann sich nicht sicher sein, ob dieser Moment je kommen wird. Aber er weiß, an wen er sich halten muss, nämlich an jenen, der jeden Tag an diesem Baum vorübergeht, jenem, der mit ihm lebt statt jenem, der nur daran denkt, die Orangen zu verkaufen. Am Ende aber ist es so, dass ich all das hier zwar aufschreiben und mir damit vorspielen kann, dass ich diese Sekunde, in der meine Zunge und mein ganzer Mundraum von der Explosion (l’explosion sensationnelle) des Lampions überwältig werden (es ist die gleiche Sekunde, in der Terra Que Marca endet), nachempfinden kann, aber eigentlich hintergehe ich damit nur den leeren Durst in mir, der sich sehnt nach diesem Biss, dem in meine Mundwinkel fließenden Fruchtfleisch, das mir für diese eine Sekunde erklärt, warum ich am Leben bin.

Simon Wiener

Sicilia!

Sicilia!, ein Film so voll Sprechgesang, dass all jene oft vorgebrachten Behauptungen, in Straub-Huillets Filmen würden Texte monoton, befremdlich flach zitiert, sofort verfliegen müssten. In einer Szene wendet sich die Mutter des Protagonisten zum Fenster hin, sich ihres Vaters erinnernd, der, obwohl Sozialist, bei der Prozession des San Giuseppe jeweils zuvorderst mitgeritten war. Wie sie diese Prozession da beschreibt, gerät ihr Sprechen, ihr Deklamieren ganz zur Melodie; in ihrer Erregung, ihrem Heraufbeschwören einer Erinnerung, hebt und senkt sich ihre Stimme wie der Zeiger eines Seismographen, zeichnet ein scharfes Relief. Die Erinnerung des Vaters tritt hervor, nicht nur aus der Vergangenheit und der Nacht, sondern aus ihrer Stimme. Sobald die Stimme angesetzt hat, fällt sie wieder, und erst durch ihr Fallen erkennen wir sie als zuvor Hervorgetretene. Ihr Fallen erst zeigt, wie stolz und selbstsicher sie doch angehoben hat, belehrend im Tonfalle vielleicht; leise hat ein Vorwurf darin mitgeschwungen, dem Sohn diesen grossartigen Vater gegenübergestellt, Anführer der Prozession, ein Mann, wie es ihn heute nicht mehr gibt. Zugleich aber beschwichtigt und besänftigt ihr Fallen, etwas beschämt vielleicht über jenes Belehrende, Vorwurfsvolle; ihr Fallen löst den Klammergriff um Vergangenes, bezeugt ein sich Abfinden mit Vergangenem als Vergangenem. Ist das Anheben der Stimme einer Annäherung an den Vater gleichgekommen, so lässt ihr Fallen vom Vater ab und nähert sich wiederum dem Sohn an. Der stete Wechsel von hoher und tiefer Stimmlage verdeutlicht nicht nur Anfang und Ende eines Satzes oder einer Satzeinheit, sondern zeigt auch den Wechsel zweier Perspektiven und zweier Zeiten, zwischen denen die Mutter sich hin- und hergerissen sieht.

Ich muss bei dieser Szene vor dem Fenster an eine andere Szene vor einem ähnlichen Fenster denken, meine Lieblingsszene aus Stagecoach, in der zwei uns unsympathische Figuren im Gespräch sind: «Have you ever been in Virginia?» – «I was in your fathers regiment». Auch bei Ford gibt es diesen Sprechgesang, eine Sprechmelodie, geflechtet durch Erinnerung und Gegenwart. «Your Fathers Regiment», sagt der mit Vorurteilen befangene Hatfield, hebt dabei seine Stimme erst leicht an, lässt sie sogleich fallen und überrascht und entwaffnet uns mit der Milde, mit der Besänftigung, die dem Fallen innewohnt. Wir sind sofort bereit, ihm seine Vorurteile zu verzeihen, ihn ernst zu nehmen, genau wie der Protagonist in Sicilia! durch das Fallen der Stimme seiner Mutter besänftigt wird, bereit, ihr zu verzeihen, wie sie ihn da ständig mit ihrem Vater vergleicht, diesem so großartigen Mann.

Max Grenz

Stille Veränderung

Szene einer Begegnung. Nach einem unwahrscheinlichen Kennenlernen im nächtlichen Dickicht der amerikanischen Wälder treffen die glücklosen Siedler Cookie und King-Lu in der Kneipe eines naheliegenden Ortes erneut aufeinander. Um das unverhoffte Wiedersehen zu feiern, lädt King-Lu Cookie in sein Zuhause ein. „It’s not much to look at, I know“, entschuldigt er sich, als sie die zusammengeflickte Holzhütte auf einer einsamen Waldlichtung erreichen. Drinnen gießt er Cookie einen großen Schluck Hochprozentigen in die einzige Tasse des Haushalts, er selbst trinkt aus der Flasche. „Here’s to … something“, sie stoßen an.

Der unbeholfene Toast verhallt, eine Leere breitet sich zwischen den Unbekannten aus. Einen langen Augenblick stehen die beiden unbeholfen nebeneinander, dann verlässt King-Lu seinen Gast mit der Aufforderung, er solle es sich gemütlich machen, während er Feuer machen gehe. Cookie bleibt allein zurück, er geht ein paar Schritte hinein, lässt den Blick schweifen. Seine Bewegungen sind zögerlich, auf der Suche nach Vertrautheit in der neuen Umgebung, als ein dumpfes Geräusch seine Aufmerksamkeit nach draußen lenkt. Er sieht King-Lu beim Holzhacken, gerahmt durch die Silhouette eines Fensters neben der Tür. Das gleichmäßige Schlagen der Axt klingt zurück in den Innenraum, wo Cookie seine Haltung verändert hat. Auf einmal wirkt er gefasst, greift nach einem Besen an der Wand, den man zuvor kaum als solchen erkennen konnte. Fegend betritt Cookie die Einstellung von King-Lu, wo er den noch leeren Türrahmen ausfüllt.

Die Komposition erinnert an die ikonische erste Einstellung von John Fords The Searchers, insbesondere die harte Trennung von Innen- und Außenraum durch Licht und Schatten. Doch während sich bei Ford am Ende die Unvereinbarkeit beider Räume bestätigt, finden sie hier auf überraschend schlichte Weise in der gemeinsamen Hausarbeit zusammen. Die alteingesessenen Dichotomien des Westerns zwischen Innen und Außen, Zivilisation und Wildnis, weiblich und männlich sind für ein paar Sekunden außer Kraft gesetzt.

First Cow feierte seine Weltpremiere im Sommer 2019 in den USA, lief dann im Februar 2020 kurz vor Ausrufung der Corona-Pandemie unprämiert im Wettbewerb der Berlinale und wanderte den Rest des Jahres durch die zunehmend zerrüttete Festivallandschaft. 2021 folgten mit den allmählichen Lockerungen im Frühjahr einige wenig lukrative internationale Kinostarts sowie ein Streamingangebot auf MUBI. In das deutsche Kinoprogramm schaffte es der Film erst Mitte November, für mich war es der zweite Kinobesuch im Januar 2022. Eine Karriere wie das Leben seiner Protagonisten: ohne augenfällige Höhepunkte, im Schatten der großen Ereignisse. Ein Historienfilm, der nur peripher auf die epochalen Umbrüche seiner Zeit blickt. Ein Western auf den Wegen des Oregon Trails, der nicht mit mythischen Helden an die Grenze der Frontier vorstößt, sondern bei Bewohnern einer der vielen Siedlungen verweilt, die im Fortgang der Geschichte wieder spurlos verschwunden sind. Eine Kamera, die nicht die Weiten der unbekannten Wildnis zelebriert, vielmehr sich in die unendlichen Abstufungen von Grüntönen im Laub eines Baumes vertieft. In diesen Bildern treten die Möglichkeiten nachhaltiger Veränderung hervor, die sich normalerweise still und unbemerkt im Alltag vollziehen. Während King-Lu das gehackte Holz nach drinnen trägt, verlässt Cookie selbst noch einmal kurz die Wohnung. Er kommt zurück mit einem kleinen Blumenstrauß, den er in einer Vase an der Wand platziert. King-Lu dreht sich von der Feuerstelle zu ihm: „Looks better already.“

Ivana Miloš

Wildwachsende Gräser im Wind

© Elke Marhöfer

Es gibt so etwas wie wildwachsende Gräser im Wind. Gras, das beinahe schillert, tanzt, funkelt, Licht ausströmt. Ich weiß, dass es da ist, ich habe es gesehen. Das ist, was ich gefühlt habe. Das ist, was ich gesehen habe. Es war Nacht und doch konnte ich erkennen, dass das Gras nie ruhig verharrte, es zitterte mit dem Elan jener, die von den Elementen bewegt werden, jener, die sich dem Wind hingeben und mehr von ihm wissen, als die, die es nicht tun. Es war Nacht auf einer Insel im Mediterran, jemand saß neben mir unter den Sternen, die Zwergohreule heulte ganz nah und ich weiß, ich weiß, dass das Gras immer noch im Wind schwankte. Ich konnte es sehen. Das Gras lag niemals ganz ruhig und genauso war auch ich es nicht. Es war Nacht und ich saß auf Holz, ich bewegte mich nicht und doch waren meine Glieder so nah daran, zu Halmen zu werden, wie nie zuvor, am Rande von Wachstum und Bewegung, am Rande einer Verwandlung in reines Gefühl und einer Verschmelzung mit dem Licht, welterschütternde Halme. Ich weiß, dass es immer weniger wildwachsende Gräser gibt. Ich weiß, dass die, für die ich empfinde, in unserer Welt bedroht werden. Ich weiß, dass ich immer wissen möchte, dass es so etwas gibt, wie Gräser, die im Wind erzittern.

Film: Becoming Exctinct (Wild Grass) von Elke Marhöfer

David Perrin

Den schönsten Kino-Moment des letzten Jahres habe ich Anfang Dezember in meiner Wohnung am Fenster stehend erlebt: Ein geräumiger Park im 15. Bezirk Wiens, die Luft ein Spiel aus wirbelnden Schneeflocken, die vom Wind immer wieder emporgetragen wurden, so dass sie nie den Boden zu berühren schienen. Die vielen Passanten, die jeden Weg bevölkerten, liefen zielbewusst durch den Park, ohne Augen für ihre Umgebung, als ob ihr einziges Vorhaben war, so schnell wie möglich die Arbeit oder ihre Wohnung zu erreichen. Die Farben versanken in der Alltäglichkeit des Winters; die Stimmung trüb. Dann: Ein Kind mit roter Mütze und Schultasche, das ganz langsam den Park von einer Seite zur anderen im Rückwärtsgehen durchquerte, und dabei sein Gesicht in die Höhe hielt, um die sanfte Kälte der Schneeflocken auf seiner Haut zu spüren. (Oder so bildete ich es mir ein.) Das kann ja auch Kino sein.

Viennale 2021: Bilder vom Rand des Vorstellbaren. Über die Filme von Fabrizio Ferraro

Einen Film könne man nicht frei von Erwartungen sehen, meinte Fabrizio Ferraro, dem die Viennale dieses Jahr eine Retrospektive widmete. Auch wenn sich ein innerer Widerstand aufbaut, bleibt nichts anderes übrig, als ihm zuzustimmen. Es fühlt sich an wie eine Kränkung, wenn die eigenen Träume im Kino plötzlich auf die der anderen treffen. Ferraros Arbeitsweise fordert die Begegnung zwischen Publikum und Leinwand immer wieder auf Neue heraus. Sieben seiner Arbeiten aus den letzten elf Jahren wurden von der Viennale ausgewählt und an vier aufeinander folgenden Tagen mit anschließenden Publikumsgesprächen gezeigt. Erst seit wenigen Jahren haben diese Filme internationale Aufmerksamkeit erreicht. Entgegen der üblichen Vorgehensweise zeigte man sie nicht in ihrer chronologischen Reihenfolge, womit eine klare Richtung in ihnen bestimmt worden wäre. Stattdessen verhalten sie sich zueinander wie schwingende Pendel, zusammengeschnürt mit seidenem Faden. In dieser Weise einem unbekanntes Werk zu begegnen, versetzt auch die Gedanken in einen webenden, wellenartig-wechselnden Zustand. Mit jedem gesehenen Film verändert sich die Sichtweise auf die anderen Filme. Eine gefunden Spur kann sich in jedem Moment wieder verlieren, verknüpfen oder zerteilen. Neugier wird zur Sucht und im selben Moment zur Skepsis. So lässt sich kaum sagen, am Ende einen klaren Eindruck von den Filmen erhalten zu haben. Eher besitzt man unscharfe, dunkle Umrisse, die vielleicht einigen seiner Bilder ähneln.

Wie und wo anfangen, sind Fragen, denen man sich oft, vielleicht sogar alltäglich, ausgeliefert sieht. Etwa beim Schreiben eines Textes. Jedes Wort erhält auf einmal unermessliche Bedeutung. Krampfhaft muss man an ihnen festhalten, als könnten sie die Bewegung der eigenen Gedanken bestimmen. Das Ergebnis ist nichts außer einer Lähmung, die sich nur zögerlich aufzuheben scheint. Nie verschwindet sie zur Gänze. Ich frage mich, ob es sich mit Filmen nicht ähnlich verhält, nur in umgekehrter Weise. Hinter gewissen „blinden Flecken“ steckt oft Starrsinn, der bis in alle Ewigkeit auf den richtigen Moment wartet, Erfahrung mit dem Unbekannten zu machen. Doch die Hoffnung darauf ist meist schöner, als es eine mögliche Einlösung wäre. Mit den Filmen von Fabrizio Ferraro konfrontiert zu werden, ist eine zweischneidige Erfahrung. Man begreift seine Bilder und stellt gleichzeitig die eigene Wahrnehmung infrage. Hinter der scheinbaren Unzugänglichkeit seiner Filme liegt ein Weg zu einem Ort, der bei den eigenen Erwartungen und Vorstellungen beginnt. Aber wo führt er hin?

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Durch die Bilder seiner Filme ziehen sich immer wieder Wege. Manchmal menschenleer bis zum Horizont, ein andermal undeutlich und nur durch die Bewegung seiner Protagonisten zu erkennen. Ferraro zeigt malerische Feldwege, steinige Fluchtrouten, endlose Tunnel, Wege durch Wälder, überlaufene Straßen in Rom, Wege, die einen Kreis beschreiben und immer wieder Autobahnen. Vereinzelt haben diese Pfade ein Ende, meist führen sie ins Nichts. Der Weg beschreibt jenen schwebenden Zustand zwischen zwei Welten – einer Bekannten und einer Kommenden, den Ferraro durch permanente Wiederholung bis an die äußerste Grenze ausreizt. Hoffnung liegt stets nah bei der Verzweiflung.

Schon der erste Film des Programms Sebastian0 zeigt dieses Motiv mit aller Deutlichkeit. Zunächst folgt der Film zwei Touristen, die durch die Ruinen des antiken Roms schlendern. Spürbar belastet von der sengenden Hitze werden sie immer wieder zum Pausieren gezwungen. Die Kamera zeigt ihre Bewegung isoliert von den strömenden Massen um sie herum. Unverständliche Worte werden ausgetauscht – versteinerte Geschichte stumm betrachtet. Irgendwann gehen die Personen dem Blick der Kamera verloren, nur die überwucherte Monumentalität der Architektur bleibt zurück. So bildet sich für Ferraro eine Brücke zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Für sich betrachtet, ließen sich Filme wie diese vielleicht als Historienfilme begreifen. Allerdings neigen sie in keiner Weise dazu, historische Stoffe bloß nachzuahmen. Stattdessen glaubt man, dass jeder gefilmte Schritt bereits den Stoff als seinen Untergrund vorwegnimmt. Die strenge, eigenwillige Form, welche an Filme von Straub/Huillet erinnert, ist dabei notwendig, um zu einem Punkt vorzustoßen, wo die Erzählung des Vergangenen auf die Gegenwart zurückblickt. Wir sehen nun drei Männer, gekleidet im antiken Gewand des alten Roms, wovon einer in Fesseln gelegt wurde. Es handelt sich um den heiligen Sebastian, den man zum Ort seiner Hinrichtung begleitet. Die zermürbende Tortur zwischen Licht und Schatten endet nach seiner Rettung und seiner erneuten Tötung zwischen den Höhlen abseits der Stadt. Als würde sein Seele aus dem Unterholz zum Himmel emporsteigen können, gleitet die Kamera schließlich zwischen sonnendurchflutetem Geäst hindurch. Das Bild scheint wie in Checkpoint Berlin auf der Suche nach dem erlösenden Lichtstrahl zu sein. Auch hier besinnt sich Ferraro mit Thomas dem Zweifler auf eine heilige Figur. Der Film spaltet sich dabei in zwei ineinander verschlungene Bestandteile, worin die Trennung Berlins zum materiellen Ort der historischen Gegensätze wird. Wir folgen verschiedenen Spuren: Einerseits historischen Dokumenten, andererseits der Erzählung eines getrennten Paares beim Bau der Berliner Mauer. Beide Stränge winden sich umeinander, jedoch ohne eine konkrete, narrative Einheit zu spinnen. Stattdessen erscheint plötzlich ein trostloser Engel, der den geheimen Weg kennt, um das Land zu verlassen. Er begleitet ein Paar durch einen schier endlosen Tunnel unter dem Todesstreifen hinweg. Bald ist die permanent wiederholte Bewegung nicht mehr von ihrer unwirklichen Umgebung zu trennen. Als hätte die Leinwand ihre Bilder aufgesogen, drängt sich ein mulmiges Gefühl der Verlorenheit auf. Es stellt sich die Frage, wie viel dieser Erfahrung noch als filmisch zu begreifen ist. Im Moment, als sie überwältigt das Licht auf der anderen Seite erreichen, bleibt der Engel zurück und verschwindet wieder im Dunkeln. Die Wege, die Ferraro mit seinen Filmen beschreibt, beinhalten so gleichermaßen ein rettendes wie schicksalhaftes Moment. Dabei führt er sein Publikum in eine halbseidene Welt, welche die Bedingungslosigkeit einfordert, bis zum Abgrund zugehen. Es lässt sich so hinter dem idiosynkratrischen Formwillen eine gewisse Brutalität in seinen Bildern erkennen.

Der Film La veduta luminosa, der erst dieses Jahr seine Premiere feierte, ließe sich in dieser Hinsicht als einen vorläufiger Höhepunkt verstehen. So beginnt der Film mit klaren Linien, die sich zunehmend verflüssigen. Eine Assistentin – Catarina – und der eigensinniger Regisseur – Emmer – begeben sich gemeinsam auf eine tagelange Autofahrt aus Italien in Richtung Tübingen. Der konkrete Grund der Reise, abseits vom abstrakten Interesse an Hölderlin, der dort sein Leben bis zu seinem Tod in einem Turm, isoliert von der Gesellschaft, verbrachte, wird nie deutlich benannt. Das Ziel der Reise gerät allmählich aus dem Blick, während Emmer den Bezug zu seiner gesellschaftlichen Umgebung zu verlieren scheint. Er ist kindlich fasziniert von der unberührten Natur, als würde er sie zum ersten Mal erfahren. Beide verirren sich immer tiefer im Wald. Catarina, die ihm still und verzweifelt zwei Tage lang an den Rand ihres Verstandes beisteht, überlässt Emmer schließlich sich selbst. Minuten lang folgen die schummrigen Bilder der Kamera nur noch ihm, wie er, bewegt von einer unbegreiflichen Suche, wispernd, tranceartig zwischen Bäumen und Bildern herum wandelt – halb wach, halb im Schlaf. Endlos reihen sich so Eindrücke aneinander, die darauf drängen, die Grenze zwischen dem Bild und dessen Wahrnehmung zu verwischen. Die früheste Arbeit Ferraros dieser Reihe Piano sul pianeta (Malgrado tutto, coraggio Francesco!) spielt mit einem ähnlichen gearteten Zustand. Namenlose Menschen sind eingesperrt auf dem Gelände einer verlassenen psychiatrischen Anstalt in Rom. Auch wenn deren Tore offen stehen, befinden sie sich gegen ihren Willen verloren auf dem Gelände, stehen am Zaun, sitzen auf Bäumen. Unruhig und doch unbeweglich harren sie aus, als seien sie gelähmt. Auf den asphaltierten Wegen zwischen ihnen gehen Bewohner der Stadt spazieren oder treiben Sport. Am Gebäude macht sich Verfall bemerkbar, aber seine verhängnisvolle Bedeutung scheint für die Menschen nicht zu verschwinden. Es ließe sich denken, sie würden auf etwas Unbestimmtes warten, ja hoffen. Je länger der Film allerdings andauert, umso mehr lässt sich erkennen, dass es sich hier vor allem um den Zustand des Aushaltens handelt. Formal arbeitet Ferraro dabei konventioneller. Das Interesse des Film heftet sich vor allem an die Inszenierung der Darsteller, die oft an eine schaubildartige Bühneninszenierung erinnert. Schon hier wird greifbar, wie Ferraro danach sucht, einen Zustand menschlicher Erfahrung mit seinen Mitteln beschreiben zu können. Gerade ein Film wie Les unwanted des Europa, der schon eine gewisse Aufmerksamkeit in den vergangenen Jahren erhalten hat, erfüllt dies in virtuoser Weise. Ferraro zeigt die Fluchtgeschichte Walter Benjamins, der geplagt von einem Herzleiden Mühe hat, die Pyrenäen zu überqueren. Der Weg ist beschwerlich und nur durch die Hilfe Ortskundiger zu bewältigen. Während Benjamin gemeinsam mit einer weiteren Frau, ihrem Kind und Lisa Fittko vor den Nationalsozialisten von Frankreich nach Spanien ins rettende Portugal flieht, zeigt der Film eine Gruppe dreier Männer der Internationalen Brigade, die ebenso, nur in die entgegengesetzte Richtung, über die Grenze vor dem spanischen Faschismus flüchten. Ferraro beschreibt filmisch gewissermaßen eine Kreuzung, auf der sich Geschichten überqueren. Ihre Wege überlagern sich unabhängig von der Zeit. Als würde sich der Film unentwegt fragen, wer diesen Weg vor uns schon begangen haben könnte, verschränkt Ferraro Vergangenheit und Gegenwart in eindringlichen Bildern, welche die Verzweiflung nur erahnen lassen. Benjamin fällt es zunehmend schwerer, der Gruppe zu folgen. Schließlich legt er sich verloren abseits des Weges im Unterholz schlafen, um zu Kräften zu kommen. Das Ende ist, wie so oft, ungewiss.

Deutlich anders konzipiert, weisen die beiden verbliebenen Filme Quando dal cielo und Colossale sentimento dennoch ähnliche Merkmale auf. Auch in ihnen lassen sich Wege nachzeichnen, nur schlagen sich diese wesentlich abstrakter durch das dokumentarischen Material hindurch. Einerseits begleitet Ferraro aus beobachtender Distanz die Arbeit eines Jazz-Duos, immer wieder durchbrochen von Aufnahmen einer Kreuzfahrt. Andererseits folgen wir dem Weg einer ehemals verbannten Statue aus dem römischen Barock hin zu ihrem ursprünglichen Bestimmungsort. Beide Filme bilden einen Prozess ab, dessen Arbeiter so sehr in ihre Arbeit vertieft sind, als wären sie bereits selbst ein Teil davon. Mag sich die Akribie äußerlich unterscheiden, gleichen sich doch in beiden Fällen die Anstrengungen und das erlösende Ende. Dies scheint in der Musik versinnbildlicht, welche die Bilder der Filme schweben lässt, als würde sie die Gesetze der Gravitation aushebeln. Die improvisierten, vielschichtigen Melodien des Duos erfüllen, ausgehend vom Mittelpunkt, die Tiefen des unbeschreibbaren Raums und unterscheiden sich darin kaum von der barocken Formstrenge Corellis. Die Einfachheit beider Filme führt dabei die Schwere von Ferraros Kino an die Grenze des Vorstellbaren. Wo die Musik über eine Sprache zu verfügen scheint, muss das Bild immer wieder nach neuen Formen, nach neuen Wegen suchen.

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Man sollte sich in jeder Hinsicht die Frage stellen, was die Auseinandersetzung mit Filmen wie diesen notwendig macht. An vielen Stellen dringt eine charakteristische Kompromisslosigkeit heraus, die sich gar nicht für das zu interessieren scheint, was sich außerhalb davon befindet. Das gefährlich-leichtsinnig gebrauchte Wort: „prätentiös“, mag dabei vielleicht einigen geholfen haben, für das Gesehene eine Kategorie zu finden und darüber hinweg zu kommen. Insofern ließe sich Ferraro unterstellen, er benutze Figuren wie Hölderlin oder Benjamin als seine ästhetischen Gewährsmänner für einen intellektuellen Spleen. So eine Vermutung würde sich allerdings schnell in einer gewissen Ideenlosigkeit oder Beliebigkeit zu erkennen geben. Im Gegenteil sehen wir  eine Arbeitsweise, die von unerschöpflicher Besonnenheit erfüllt ist und der Formen von Improvisation fernliegen. Seine Filme tendieren auch nicht dazu, das theoretische Denken nur zu verkörpern, was ihnen jedoch zweifellos zugrunde liegt. Sie sind das Produkt eines unabgeschlossenen Reflexionsprozesses. Wo sich in seinen Filmen eine handhabbare Unmittelbarkeit einstellt, kippt das Bild augenblicklich um und flüchtet sich in transzendentale Welten. Damit ist Ferraro weder Hölderlin noch Benjamin unähnlich. So zeigt sich ein konkretes Interesse an der materiellen Welt der Dinge und gleichzeitig die verzweifelte Suche nach einem Ausweg. Man könnte vielleicht behaupten, der Film erhält dafür die Funktion einer möglichen Rettung, indem sich Erfahrung vermitteln lässt. Ist es die des Regisseurs oder doch des Publikums?

Kennzeichnend für Ferraros Filme ist ihre fast erschlagende Komplexität. Nichts, was er in ihnen verhandelt, wird dem Zufall überlassen. Dennoch vermag man sich an keinem greifbaren Gegenstand festhalten. Vielmehr verstehen sich die Filme als Andeutungen oder Annäherungen, die von einem historischen Strom, angefangen von römischer Antike, dem Barock, der deutsche Romantik bis hin zur Moderne mitgerissen werden. Die Arbeitsweise könnte so als ein Akt der Vergegenwärtigung verstanden werden, allerdings fehlt dafür ein konkretes Anliegen, das über das Kino hinaus weist. Jeder Film konzentriert sich stattdessen auf sich selbst und die Mittel, die ihm für seine Darstellung zur Verfügung stehen. Ferraro übt sich so besonders in der Reduktion seiner Inszenierungen, wodurch das Material offen sichtbar wird. Diese Wendung nach Innen ließe sich zunächst als ein verkopfter Standpunkt verstehen, worin der Zugriff auf den Stoff stets nur um sich selbst kreist. Immer wieder gelingt es allerdings den Filmen, diese empfindsame Verkapselung aufzubrechen. Nämlich dann, wenn ein gespannter, narrativer Bogen inmitten der Handlung zerrissen wird und die Bilder nur noch aus sich selbst sprechen.

Oft hat man es so bei Ferraros Filmen mit einer Zweiteilung zu tun, etwa bei der Gegenüberstellung von Vergangenheit und Gegenwart, Bewegungsrichtungen, Menschen oder einfach Orten, die sich in den Bildern annähern oder entfernen. Mögen diese Antagonismen auch noch so unversöhnlich sein, sieht man sich dennoch in der mimetischen Weise filmischen Denkens dazu veranlasst, einen Zusammenhang zu konstruieren. Wie in einem Organismus scheinen die Dinge ineinander überzugehen. Doch dieser Eindruck täuscht. Die Bilder verhalten sich zum gezeigten in vermittelter Form: Erfahrung, die durch Sprache lesbar wird. Gleichermaßen kann die Erfahrung, die einer fiktionalen, historischen oder realen Person sein. Sie braucht jedoch das Bild, um sich dieser zu vergewissern. So stellt die Bildsprache permanent ein Verhältnis zwischen Innen und Außen her. Die Grenze, die dazwischen verläuft, trennt das Publikum vom gezeigten Geschehen. Gerade die letzten beiden Arbeiten Ferraros spielen mit der Tendenz, Bild und Gegenstand – Subjekt und Objekt – miteinander ident zu machen, ohne dies tatsächlich zu verwirklichen. Die Bilder tasten sich an die Szenen heran, als wären sie blind und müssten beschreiben, was sie mit dem Gefühl ihrer Fingerspitzen erkennen. Beim Zusehen dieser Filme neigt man dazu, diesen Spalt zwischen Bild und seinem Inhalt überschreiten zu können, worin die eigenen Gedanken drohen von der strudelnden Bewegung des Erfahrungsstroms erfasst zu werden. Sobald sich jedoch dieser Zustand einstellt, scheint die Verbindung zertrennt zu sein. Das gewonnene Vertrauen in die Bildsprache Ferraros führt letztlich dazu, sich in ihr zu verirren. So wie seine Filme enden, wird deutlich, dass das gesuchte Ziel nie zu erreichen ist. Daraus entsteht ein Moment des Unbehagens. Der Weg führt am Ende ins Nichts.

Wieder sieht man sich mit den eigenen Erwartungen konfrontiert, nur ist man diesmal um die eigene Seherfahrung reicher. Aber was heißt Erfahrung in diesem Zusammenhang? Es liegt nahe, den Bildern dieser Filme, eine bestimmte Verdopplung ihrer Inhalte zuzuschreiben. Oft heißt es, ohne sich der Bedeutung gewahr zu werden, ein Bild könnte das, was es zeigt, verkörpern. Sie versuchen aber nichts anderes, als den Inhalt mittels ihrer Sprache zu beschreiben. Auch Ferraros Arbeiten tun dies, jedoch in so radikaler Form, dass es ihnen möglich wird, einen reflektierten, äußerlichen Blick auf sie zu werfen. Das wird besonders deutlich, wenn Bilder wiederholt werden. Es scheint zwar, als würden sie um sich selbst kreisen, aber mit jeder Wendung betrachten sie sich von Neuem. Von Erfahrung zu sprechen, könnte in dieser Weise nur noch eine spezifisch Filmische bezeichnen. Weniger ist es die des Publikums, als vor allem die des Regisseurs sowie seiner Mitstreiter, nähergebracht durch die verwendeten Werkzeuge. Gleichzeitig ist es jedoch kaum vorstellbar, das von der eigenen Erfahrung mit diesen Bildern klar zu trennen. Immer wieder hat man den Eindruck, die Bilder würden vor den eigenen Augen verschwimmen. So lassen sich noch für einzelne Momente Worte finden, was allerdings für eine ganzheitliche Betrachtung zunehmend schwerer fällt. Sich der Filme durch den Versuch einer Beschreibung zu vergewissern, unterläuft gerade das Verhältnis, dem Gesehenen nur als ausgesetzt gegenüberzutreten. Allen Widerständen zum Trotz darüber zu sprechen oder zu schreiben, heißt erst, die Erfahrung konkret zu machen.

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In der Verschrobenheit der Perspektive könnte man meinen, gegenüber dem konfektionierten Erzählkino, das ‚eigentliche Sehen‘ – etwas vermeintlich allgemein menschliches – entdeckt zu haben, so jedenfalls sinngemäß Bruno Roberti im Katalog-Text zum Programm. Ja, vieles in Ferraros Filmen trägt einen schleierhaften, mythischen Schein mit sich, der sich wohl auch als natürliche Ursprünglichkeit oder filmische Sinnsuche begreifen ließe. Das macht aber notwendig, Film in vitalistischer Weise eins mit dem Publikum werden zu lassen. Auffällig an Formulierungen, wie denen von Roberti, ist hinter den allfälligen Handlungsbeschreibungen, wie wenig indessen über das eigene Sehen gesprochen werden kann. Stattdessen der zwanghafte Versuch, Kategorien und Erklärungen zu finden. All das ist allerdings eher einschüchternd, als darstellend. Die eigenen Erwartungen bemessen sich unweigerlich daran, bis sie sich schließlich darunter in Deckung flüchten. Wie verhält sich das Programm dazu? Kinematografie heißt für die Viennale, einer Person eine Retrospektive zu widmen, ohne sie dem Dogma einer historischen Musealisierung oder Kanonisierung auszusetzen. Vielmehr scheint es darum zu gehen, außergewöhnliche Arbeiten zu zeigen, die sich gerade normativen Zuschreibungen entziehen. So handelt es sich um Programmpunkte, die zu einem gewissen Teil, konträr zur Viennale als Ganzes stehen. Gerade Fabrizio Ferraros Programm veranschaulicht Möglichkeiten, was Kino sein kann, die man mit einem Hang zum Pessimismus immer nur in der Vergangenheit sucht. Schnell kommt man in die Verlegenheit, alles, was nicht diesem Anspruch gerecht wird, abzulehnen. Es gibt sich in dieser Weise eine Selbstbezüglichkeit zu erkennen, die dem Sprechen, Schreiben, Kuratieren und vielleicht auch jenen Filmen selbst gemein ist. Aber was bedeutet das für das Sehen? Dem Konzept der Kinematografie gelingt es in dieser Hinsicht, vor allem den prozessualen Charakter filmischer Arbeiten zu vermitteln und sie als unabgeschlossen zu begreifen. Nicht selten stellen sich künstlerische Form nach außen hin als offen und durchlässig dar, um dann darin die spröde gewordene Reflexion des Immergleichen zu entbergen, worin man selbst nie erscheint. Gleichzeitig bildet der fragwürdige Ruf nach Tiefgründigkeit davon lediglich eine Kehrseite ab. Die Werkschau von Ferraros Filmen hat nicht nur den Prozess seiner Arbeit gezeigt, sondern auch den des Sehens. Nach und nach, je mehr man die Verschlossenheit dieser Filme aufbricht und sich auf die Offenheit zu bewegt, betrachtet man sich selbst beim Sehen. Es stellt sich so aber keine abschließende Erkenntnis ein, was es heißt Filme zu sehen, sondern die Frage, was dort möglich sein kann. Nach dem Anfang zu suchen, kommt mir rückblickend ziellos vor.

Weltgewimmel: La madre von Jean-Marie Straub (deuxième version)

So viel Schmerz. Das Leben in einem Film. Jean-Marie Straubs Rückkehr zu Cesare Paveses Dialoghi con Leucò lässt sich in drei Teile gliedern. Sie alle stehen frei für sich und doch zusammen.

Zunächst im Dunkeln, im Schwarz der Leinwand, das sowohl dem Mutterleib entspricht, also all dem, was kommt als auch dem Tod, also all dem, was gewesen, mit Gustav Mahlers Vertonung von Friedrich Rückerts Ich bin der Welt abhanden gekommen gesungen von Dietrich Fischer-Dieskau. „Das ist Empfindung bis in die Lippen hinauf, die sie aber nicht übertritt! Und: das bin ich selbst!“, hatte Mahler einst über die Gedichte in Rückerts Liebesfrühling gesagt und es lässt sich auch über seine Musik sagen und es lässt sich auch über diesen Film sagen. Ob dieses „abhanden kommen“ nun tragischer oder friedlicher Natur ist, bleibt in der Schwebe. Es ist ein seltsam passiver Rückzug, ein Verschwinden und dass es dafür nur Worte und Musik gibt, nicht aber Bilder, entspricht einer Wahrheit, die man nur allzu gut nachempfinden kann. Man sieht und fühlt, wo dieser Film entsteht: im Hier und Jetzt, das auch ein Jenseits ist. Das Kino, die Welt.

Als zweiter Teil lässt sich der Dialog zwischen Hermes (bei Straub eine Frau: Giovanna Daddi) und Meleagros (Dario Marconcini) aus Paveses Vorlage identifizieren. Straub inszeniert ihn als Schuss-Gegenschuss-Sequenz, in der man jedes Wort hört, jeden Blick begreift. Wie immer in den Filmen von Huillet und Straub versteht man, dass Wörter verlorengehen können. Auch sie können abhanden kommen. Manchmal sagt man, dass man Wörter verliert, wenn man spricht. Eine vielsagende Metaphorik gegen die sich ihre Filme mit aller Kraft stemmen. Meleagros ist bereits verstorben, verbrannt durch die Hand seiner eigenen Mutter Althaia, als er mit Hermes spricht. Er beklagt sein Schicksal gegenüber dem Gott der Redekunst, der die Verstorbenen in den Hades führt.

Hermes beschreibt dem verzweifelten Jäger den Kreislauf des Feuers, der immer mit Müttern beginnt und endet. Statt das individuell tragische Schicksal zu beklagen, solle er sich darauf besinnen, dass alle Menschen mit dem Feuer ihrer Mütter in den Augen sterben würden. Man wäre nichts und die Frage nach dem Sinn sei weniger auf den Tod gerichtet als auf die Geburt. Nicht warum man gestorben ist, ist von Bedeutung, sondern warum man geboren wurde. Es ist schwierig als Mensch nicht in die Verzweiflung von Meleagros, seine Sorge um seine Atalante, die Unwissenheit, die Wut einzustimmen. Aber im Film öffnet sich etwas und man erkennt eine andere Möglichkeit, einen anderen Sinn.

So wie Pavese ein Schriftsteller war, der über die wirklichen Dinge schrieb, so ist Straub ein Filmemacher, der die wirklichen Dinge zeigt. Damit ist all das gemeint, für das der Alltag, der politische Diskurs und auch Kino und Literatur oft keine Zeit haben. Ein Blick durch die Oberflächen hindurch. Man vergisst so leicht, dass wir alle aus einem Körper kommen, den Körpern unserer Mütter. Dabei würde diese Tatsache uns erden, uns womöglich gar mit dem Weltgewimmel in Einklang bringen (wirklich leben!) und uns nicht, wie Hermes sagt, das Leben von Toten führen lassen. Diese Erdung erfahren die beiden Dialogpartner bei Straub filmisch, was dem dritten Teil des Films entspricht. Licht und Wind, Bäume und Büsche, Gesten und Blicke spielen ihre Rolle in dem toskanischen Garten in Acciaiolo, in dem der Film gedreht wurde. Man kann sich dem Rauschen der Wirklichkeit nur schwer entziehen. Es macht uns letztlich lebendig und klein und jedes Staubkorn übertrifft die größten Ideen. Die Offenheit der Wahrnehmung von Bild und Ton widerspricht dem Abhandenkommen Rückerts und Meleagros’. Hier ist die Welt und zwischen den Bildern, zwischen den Dialogpartnern, in ihrem Hin und Her, zwischen den Lebenden und Toten, den Nichtgeborenen und den Verschwundenen offenbart sich ein Feuer, das beiden Seiten zugleich gehört, ein Feuer das verbindet.

Die Kinomomente des Jahres 2020

Strenggenommen gab es sie ja kaum die Kinomomente, die man sonst so summiert am Ende der Jahre. Zweimal bin ich dieses Jahr mit einem T-Shirt im Kino gewesen (bei einer Pressevorführung von Tenet und bei unserer eigenen Vorführung von Va Savoir). Im Januar oder Februar war ich bestimmt auch im Kino, aber das kommt mir heute nicht so vor als wäre es in diesem Jahr gewesen, ist aber fast immer so mit dem Januar und dem Februar, nur diesmal eben mehr. Dann war da die Viennale, die auch schon wieder unwirklich scheint, die selbst unwirklich schien als sie war (auf jedem abgesperrten Sitz hockte eine Erinnerung an die Abwesenheit).

Wenn sich normal am Ende des Jahres irgendwelche Filme summieren, summierte sich in diesem Jahr das Kino selbst aus den Einzelteilen dessen was möglich war. Beim Versuch das zu rekonstruieren, kommt man an die Grenzen der eigenen Ehrlichkeit, weil das Kino einfach nicht Kino sein konnte (und durfte) dieses Jahr. Das soll nicht heißen, dass es nicht auch schön gewesen wäre, wenn man manchmal nicht ins Kino ging, vor allem dann nicht, wenn der kollektive Gesang all jener, die man seit Jahren nicht im Kino sah, das Kino einforderte als wäre es ein Brot oder Wasser.

So oder so bleibt etwas hängen. Zum Beispiel eine Szene zwischen zwei schweigenden Frauen mit Fächern und auf besonderen Stühlen, die man wohl zum Prop des Jahres wählen würde, gäbe es eine solche Kategorie in Ma ma he qi tian de shi jian von Li Dongmei. Begleitet werden die beiden von tönenden Zikaden, die auch auf der betörenden Tonspur von The Works and Days (of Tayoko Shiojiri in the Shiotani Basin) von C.W. Winter und Anders Edström oder Genus Pan von Lav Diaz aus vollem Tymbal zirpen.

Was im Zeitalter von Federico Fellini oder Andrei Tarkowski der künstlich erzeugte Wind war (ein anhaltendes Geräusch, dass den Szenen einen erhöhten oder surrealen Hauch verlieh), sind im Zeitalter von Apichatpong Weerasethakul die Zikaden. Ob das alles nur eine eloquente Sorte von „la soupe“ ist wie Jean-Marie Straub, der mit La France contre les robots einen verfilmten Essay von Bernanos vorlegte, sagen würde oder einem tatsächlichen dokumentarischen Interesse (oder einer Offenheit) folgt, sei dahingestellt. Zikaden gibt es jedenfalls eher als künstlichen Wind.

Trotzdem wäre es wohl angebracht sich genauer mit dem Phänomen zu befassen, denn das ein Tier (zumal eines, dass man kaum sehen kann, auch wenn das hier eine eher untergeordnete Rolle spielt), ein Geräusch absondert, dass dem modernen Kino eine gewisse Dichte, ja Spannung verleiht, ist bemerkenswert. Nun hat die Zikade sich ja schon immer am Rand der Fiktion bewegt, das heißt vor allem der Mythologie. Man denke zum Beispiel an jene Zikade, die unter das Kleid von Chloe flog, sodass Daphne ihr zur Hilfe kommend sie ebendort berührte. Eine Berührung, die man nicht vergisst, die erste Liebe zwischen den sechs Beinen der Zikade, die hintersten immer angespannt, zum Sprung bereit. Wer hat mehr empfunden? Die verlorengegangene Zikade oder die Frau, an der sie sich versteckte? Das Zirpen erfüllt die Luft, kleidet alles in heimelige Unwirklichkeit. Tithonos, ein Sohn des trojanischen Königs Laomedan und Geliebter der Göttin der Morgenröte bekam von dieser durch Zeus’ Gnaden das ewige Leben geschenkt. Wie so oft aber vergas sie nach der ewigen Jugend zu fragen und so alterte Tithonos und alterte und alterte. Er alterte bis er nur mehr eine Stimme war und sich laut Ovid in eine Zikade verwandelte. Als weißhaarigen Schatten, umherwandelnd wie ein Traum und voller Liebe, die nicht gelebt werden kann, beschreibt Alfred Lord Tennyson diese Zikade.

Vielleicht, dünkt mir in kurzschließend, ist das Kino ja dieser Tithonos. Am kleinen See in der Dämmerung von Isabel Pagliais Tendre gibt es auch Zikaden, aber vor allem Kinder und deren (Un) Schuld. Der Film orientiert sich lose am fiktiven Land „Tendre“, das in der französischen Literatur des 17. Jahrhunderts eine Rolle spielte. Der zugehörige See ist nach der Gleichgültigkeit benannt. Einmal sehen wir einen jungen, der mit einem glühenden Ast spielt, ihn so schnell er kann hin und her bewegt, auf dass die Funken ihn endlich mitnehmen. Auch dieses Land und diesen See gibt es wohl im Kino, aber festzustellen, dass alles, was im Kino geschieht irgendwie auf das Kino zurückgeworfen werden kann, macht auf Dauer auch nicht glücklich.

Was recht glücklich machte, auch wenn es viele gleichgültig ließ (vielleicht auch aufgrund eines unglücklichen Timings), war Autumn de Wildes Verfilmung von Emma. Ich bin kein Experte in Fragen von Jane Austen, habe aber so viel verstanden, um zu bemerken, dass hier jemand mit großer Liebe, dem nötigen Humor und Detailfreude gearbeitet hat (im Gegensatz zu den meisten anderen Austen-Verfilmungen). Einen wirklichen Moment hat der Film nicht zu bieten, aber vielleicht ein gelbes Kleid und eine anhaltende nervöse Eitelkeit, die es vermag unter der Affektiertheit etwas durchscheinen zu lassen, aus Mangel an Worten könnte man es eine Liebe nennen.

Zu Joshua Bonnettas An dà shealladh wollte ich schon längst etwas geschrieben haben, aber in der Recherche zu den Äußeren Hebriden (Artikel Tweet) bliebt ich an Samuel Johnsons „A Journey to the Western Isles of Scotland“ (“I sat down on a bank such as a writer of Romance might have delighted to feign.“) hängen und dort überdies irgendwo in den Highlands, also noch vor dem Erreichen der Inseln, was mich zwar unendlich fasziniert, aber mich letztlich nicht näher bringt, um zu verstehen, was mir so ungemein gefiel an Bonnettas Film, dessen vorherige Arbeiten mich interessierten, aber weniger überzeugten. Die Wahrnehmung der Inseln als „thin places“, also Schwellen zwischen den Lebenden und Toten überträgt sich im Sehen des Films. Der Fokus liegt derweil gar nicht auf dem Sehen sondern auf dem Hören, weil das Jenseits hörbar ist, nicht sichtbar. Was wie eine steile These erscheint, wird vom Film dokumentarisch bewiesen.

Es gab viele Kinder in diesem Kinojahr. Die Jugendlichen bei Pagliai, die weibliche Wilhelm Tell in Alice Rohrwachers Ad una mela und die dreijährige Tochter der Regisseurin in Ochite mi sini, rokljata sharena von Polina Gumiela. Was all diese Regisseurinnen schaffen, ist ein Gefühl für eine Wahrnehmung zu wecken, die nicht ihre eigene, sondern die der Protagonisten ist. Die Welt durch die Augen von Kindern sehen. Derart wird das Kino wirklich zur Zeitkapsel, nicht indem irgendwelche Schauspieler in Kostüme gesteckt werden, sondern indem der Blick der Kamera Anteil nimmt an einer eigentlich verlorenen Weltsicht. Dass Kinder (und auch Tiere, man entschuldige den Vergleich) als schwer kontrollierbar gelten und in Hollywoodratgebern (auch für diese Nennung des Unerträglichen eine Entschuldigung) gar vor ihnen gewarnt wird, kommt vielen Filmemachern geradezu gelegen. Denn man muss der dominierenden Digitalästhetik etwas entgegensetzen, was den in die Kameras eingebauten Bildstabilsatoren und Schärfeausgleichautomatismen widerspricht. Vielleicht liegt aber auch eine Hoffnung in diesen Bildern von Kindern und Jugendlichen. Blicken Filme heute auf die Erwachsenenwelt, so spürt man, können sie sich oftmals des Zynismus nicht erwehren.

Wer das kann ist Frederick Wiseman. Sein City Hall ist ein Film voller Augenblicke, aber insgesamt folgt er wohl (wie sein ganzes Werk) einem an Adam Smith erinnernden Interesse für die mechanischen Getriebe einer Gesellschaft. Es geht um Funktionsweisen (in diesem Fall der Regierung von Boston), weshalb man immer dann besonders aufmerksam wird, wenn die Kamera für einige Momente länger auf dem Gesicht der Menschen verharrt, die die Funktionen ausfüllen. Ihr Nachdenken unterbricht dann für wenige Sekunden die scheinbar unaufhaltsame Motorik des politischen Lebens, die hier mehr wie ein Kraftakt als eine logische Konsequenz erscheint. Insgesamt fällt auf, dass viele der besseren Filme dieser Zeit eher den Handlungen folgen als sie zu bestimmen. Es geht um das Reagieren, um das Sein zwischen Kino und Menschen.

Das gilt in besonderem Maße für Patric Chiha und seinen Si c’était de l’amour. Im Film, der sich an ein Tanzstück von Gisèle Vienne und dessen Protagonisten anschmiegt, offenbart das Kino vor allem einen Möglichkeitsraum. Man kann sein, sich fallen lassen, sprechen, vergessen, lieben. Irgendwann als getanzt wird, begreift man das plötzlich und man spürt eine ungeheure Freiheit. Diese Freiheit bleibt ein Thema. Egal ob wir von entfesselten Kameras sprechen oder kompromisslosen Autoren, das Kino will uns gern vermitteln, dass es frei ist. In fragwürdigeren Fällen wird diese Freiheit verkauft als wären es die glattrasierten Cowboys auf Pferden in Zigarettenwerbungen, in besseren lebt das Kino diese Freiheit vor und macht einem womöglich selbst klar, dass man nicht frei ist oder wie bei Chiha womöglich gar nicht lebt, zumindest nicht so wie man leben könnte. Wenn es stimmt, dass das beste Kino uns immer näher an das Leben bringt oder uns zumindest etwas aufzeigt, was wir im echten Leben fortan anders sehen, dann ist das eine immense Leistung, vielleicht aber ist es auch die Aufgabe des Kinos, hier etwas vorzutäuschen. Die Freiheit ist gerade so attraktiv im Kino, weil sie gegen den Widerstand des filmischen Apparats (und damit sind nicht nur die Maschinen gemeint) gerichtet ist. Sie behauptet einen bisweilen utopischen Raum, der nach anderen Regeln abläuft als das eigentliche Leben.

Rizi von Tsai Ming-liang ist ein Film, der diese Räume schafft. Hauptdarsteller Lee Kang-sheng lebt seit 1992 in der gleichen Rolle. Sein Leben ist längst Fiktion oder zumindest davon nicht zu unterscheiden. Seit spätestens 1997 und The River leidet er an Nackenschmerzen, die in der neuen Arbeit in einer schmerzvollen und scheiternden Heilungsszene einen neuen Höhepunkt erfahren. Dass Tsai Ming-liang überdies Bilder baut, von denen es nur noch wenige gibt in einem solchen Kinojahr geht fast unter, weil sein in diesem Fall entspannter Umgang mit dem Vergehen von Zeit weit über den Räumen liegt.

Weniger frei sind die Tiere in Victor Kossakovskys Propagandafilm Gunda. Zwischen der scheinbaren Idylle des tierischen Lebens und den immer enger kadrierten Zäunen setzt der Filmemacher, der Freude daran findet, Kranaufnahmen in einem Schweinestall zu bewerkstelligen, auf ein notwendiges Mitgefühl. Die letzten Sekunden, in der die titelgebende Schweinemutter nach ihrem Nachwuchs sucht, würden einen Stein zum Weinen bringen wie Orson Welles einmal über einen anderen Film sagte. Eigentlich bildet Gunda eine schöne Klammer mit Kossakovskys erstem Werk Belovy, nur dass die realen Zäune dort unsichtbar sind.

Orson Welles spielte dieses Jahr auch eine größere Rolle im Kino, auch wenn seine Repräsentation scheinbar nach wie vor größere Schwierigkeiten bereitet als jene von Adolf Hitler. In David Finchers alles in allem enttäuschenden Mank taucht er in einer Szene sehr zum Missmut der us-amerikanischen Welles-Brigade wie aus der Feder von Pauline Kael in egoistischer Eitelkeit und mit Hang zur Explosion auf, in seinem laut Credit eigenen Film Hopper/Welles sieht man ihn gar nicht und muss stattdessen über eine zu lange Zeit mit dem nervtötend, pseudo-intellektuellen Gelaber von Dennis Hopper zurechtkommen. Ja, das us-amerikanische Kino beschäftigt sich am liebsten mit sich selbst, wenn nicht in Form von Remakes oder Sequels dann eben mit einem alten Gefühl von Hollywood, dass man sonst ohnehin nicht finden kann auf Netflix.

Auf der entgegengesetzten Seite des Gefühlsspektrums befindet sich Cristi Puiu, dessen neuen Film Malmkrog ich mir aufgrund eines naiven Idealismus für das Kino aufheben wollte und den ich dann bei meiner einzigen Gelegenheit aufgrund eines spontanen Zwischenfalls verpassen und von dem ich daher nur berichten kann, dass es am Set wohl zu einem folgenschweren, weil die Maschinen zerstörenden Stromausfall kam, was den Filmemacher veranlasste, als neues Equipment angekarrt wurde, den örtlichen Priester zu bitten, die Gerätschaften doch dieses Mal zu segnen.

Zu lesen gab es auch viel über das Kino, zum Beispiel die beiden herausragenden Bücher zu Guy Debord und Gerhard Friedl, die das Österreichische Filmmuseum publizierte. Im Debord-Buch findet sich unter anderem ein einleitender Essay von Alexander Horwath, der zeigt, zu was diese Institution einmal fähig war auf filmvermittelnder Ebene. Das gilt auch für das gleich einer freiwachsenden Hyazinthe in alle Richtungen der Sprache und des Films wuchernden Korpus des Harry Tomicek, dessen Texte in einem schönen Buch des Klever Verlag zusammengetragen wurden. Darin schreibt der Autor auch neue Texte, etwa zu Angela Schanelec. Auch die Texte von Danièle Huillet und Jean-Marie Straub erschienen in deutscher Übersetzung. Desweiteren wurde viel Gutes und viel Müll produziert, da unterscheidet sich dieses Jahr nicht allzu sehr von allen anderen. ( Einer der nachhaltigeren Texte zum Krisenmodus: Die Zukunft passiert nicht, sie müsste gedacht werden.)

Wenn etwas bleibt im Kinojahr 2020 ist das schon viel. Draußen singen die Zikaden, jetzt muss man leben.

Auf der Suche nach einem versteckten Lächeln

Was ist an Danièlle Huillet und Jean-Marie Straub komisch? Wo liegt ein Humor in Où gît votre sourire enfoui? und 6 Bagatelas von Pedro Costa? Fragt man nach einem subtilen, einem oft auch uneindeutigen Zustand des Amüsiert seins, muss man versuchen Lächeln zu verstehen. Ein Lächeln ist unentschieden, ambivalent –  nicht sicher ob das zu Belächelnde wirklich einen großen Lacher verdient oder ob das, was einen zum Lächeln bringt nicht doch eher tragisch als komisch ist. Das Unentschlossene ist eine Qualität  des Lächelns.

Das dem Film namensgebende „versteckte Lächeln“ finden Straub und Huillet im Gesicht ihres Schauspielers Gianni Buscarino. Für Huillet nur ein Glanz in den Augen, sieht Straub das Lächeln im Entstehen, ein Prozess mit „subtiler Psychologie“. Eine Präsenz des noch-nicht, aber fast. Die ergibt sich für Beide in der Montage – im Dazwischen der Schnitte. Für Straub und Huillet, dies zeigt Costas Film von Beginn an, muss Kino das unabhängige, freie und vor allem kompromisslose Arbeiten mit Bildern bedeuten. Eine Tradition der sich auch Pedro Costa verpflichtet fühlt und von welcher seine Hommage an das Filmemacherpaar erzählt.

In dieser Arbeitsweise, welche beide Filme ganz besonders schön anhand dem Vor- und Zurück am Schneidetisch in der Arbeit zum Film Sicilia! herausstellen, liegt etwas Politisches, die Anordnung und Neuanordnung des Realen und seiner Abdrücke. Das Radikale von Straub/Huillet, die Härte und Unnachgiebigkeit mit welcher Sie ihre Materialen – den Film, wie die Realität – beurteilen und bearbeiten, fasziniert und bestimmt ihr Schaffen. Weder das Festhalten an der gar nicht allzu verwerflichen Idee des Kommunismus seitens Straubs noch seine Exzentrik, sondern die Haltung mit welcher das Paar Filme drehen, markiert das Politische. Ein Beharren auf die kleinen und großen Utopien oder wie Straub vorschlägt, „in einer Zeit des Verrats, ein wenig an Treue zu gemahnen.“

Das diese Haltung auch Humor in sich trägt, hat jedoch nichts mit einer Unfreiwilligkeit zu tun. Auch wenn Pedro Costa den Film als eine Komödie versteht, die maßgeblich von den Diskussionen des Paares lebt – ist diese Komödie keine Zurschaustellung. Die Gefahr des unfreiwillig Komischen ist, dass man über jemanden lacht. Im Lächeln über beraubt man jemanden seiner Ernsthaftigkeit. Überzeugungen und Überzeugungskraft verwirken sich hier. Eine weitere Gefahr des Lächerlichen ist das Unverständnis. Man kann nicht nur etwas unfreiwillig Komisches beobachten und darüber lächeln, sondern selbst unfreiwillig Lächeln – nun aber eher aus Verlegenheit – aus der unangenehmen Situation heraus nicht zu verstehen. Eine allzu typische Kinosituation.

Das Lächeln, welches Straub und Huillet hervorrufen, ist jedoch selbstbewusst. Ein treues Lächeln, dass sich durch eine Komplizenschaft vor der von Beiden in Szene gesetzten Komik ergibt.  Die Anwesenheit Pedro Costas ist spürbar – er wirkt als Dritter, als direkter Abnehmer des Schauspiels, welches Huillet und Straub darlegen. Schauspiel jedoch nicht als ein um eine Rolle bemühtes und entworfenes Abbild von sich als Filmemacherpaar, sondern Schauspiel als tatsächlicher Abdruck des Charakters wie einer Arbeitsweise. Straub und Huillet sind so wie sie sich spielen und Meinen das was Sie sagen. Zwischen Film und Sein passt keine sich distanzierende Ironie. Das ist der Glauben den man Beiden schenken muss, um Sie belächeln zu dürfen.

Où gît votre sourire enfoui? und 6 Bagatelas am Dienstag, 18. Februar um 20:15 im Filmhaus am Spittelberg.

Viennale 2017: Jeannette von Bruno Dumont

Jeannette von Bruno Dumont

Über einen Film zu schreiben, ist immer auch ein Versuch den Film besser zu verstehen. Manchmal überwiegt der Drang bestimmte Aspekte eines Films herauszuheben oder ganz einfach nur die eigene Begeisterung zu vermitteln, Jeannette, l’enfance de Jeanne d’Arc von Bruno Dumont ist für mich aber eindeutig einer jener Filme, über den ich schreiben will, um ihn selbst besser zu verstehen. Ein wenig hat das auch damit zu tun, dass ich am Beginn dieses Texts ziemlich ratlos vor dem Film stehe (Blake Williams bezeichnete den Film nicht zu Unrecht als UFO). Da sind die offensichtlichen Referenzpunkte, die Dumont auch selbst anbietet – der Verweis auf Straub-Huillet oder die abgründige Verrücktheit, der bereits Dumonts letzte beide Projekte Ma Loute und P’tit Quinquin geprägt hat. Auf der anderen Seite gehen die Gemeinsamkeiten mit Straub-Huillets Moses und Aaron kaum über eine ähnliche Form der Tonaufnahme hinaus und auch die Verrücktheit in Jeannette äußert sich weniger in makabren humoristischen Einlagen, als in einer Grundstimmung der Absonderlichkeit, die vor allem mit Musikauswahl und Figurenzeichnung zu tun hat.

Während sich die großen Jeanne d’Arc-Filme der Kinogeschichte meist mit den Erfolgen der Jungfrau auf dem Schlachtfeld und ihrem Niedergang auf dem Scheiterhaufen befasst haben, ist Jeannette ein vergleichsweise leichtfüßiges Musical über die Jugendjahre Jeannes. Der Film hört mit dem Aufbruch Jeannes in Richtung Orléans auf – das Drama ihres späteren Lebens ist da noch gar nicht abzusehen. Dementsprechend unbeschwert setzt der Film ein: sanfte Sanddünen, ein Bach, eine Schafherde und eine junge Hirtin in blauem Kleid, die singend von ihrem Leben erzählt.

Der Clou über den viel berichtet wurde, ist die Entscheidung Dumonts die Musik nicht im Studio aufzunehmen, sondern den Gesang seiner Laiendarsteller bei den Dreharbeiten als Direktton aufzunehmen. In der Postproduktion wurde lediglich das instrumentale Playback hinzugefügt. Laut, falsch und mit Begeisterung tanzt und singt sich die ungeübte Protagonistin und ihre Mitstreiter also durch den Film, und Dumont hat tatsächlich kaum Anstrengungen unternommen die Unsauberkeiten der Aufnahmetechnik auszumerzen. Es gibt in der Filmgeschichte wohl wenige professionelle Arbeiten, in denen so viele falsche Töne zu hören sind und so unsaubere Choreographien getanzt werden. Das unterscheidet Dumont schon mal radikal vom perfektionistischen Verfahren von Straub-Huillet. Die Frage ist nun aber, ob man diesen Amateurismus positiv oder negativ werten sollte. Dumont spielt absichtlich mit der Ästhetik des Unfertigen und Imperfekten, er verzichtet bewusst auf eine Optimierung der Musik- und Tanzeinlagen, um eine andere Form der Unmittelbarkeit zu erreichen. Das mag auch an der Lust an der technischen Herausforderung in der Produktion liegen, aber nicht zuletzt wird die Figur Jeannettes dadurch menschlicher, gewöhnlicher. Sie ist ein Mädchen, das ungefähr genauso gut tanzen und singen kann, wie jedes andere Mädchen in ihrem Alter. Auf der anderen Seite wirkt diese bewusste Setzung mit all ihrer handwerklichen Schludrigkeit und der eklektischen Musikauswahl aus Heavy Metal und Electronic etwas aufgesetzt provokant. Womöglich ist es also am besten die Unreinheiten gar nicht zu bewerten, sondern als gegeben hinzunehmen. Das würde dann bedeuten, die Musik in ihrer Imperfektion als überaus lebendig wahrzunehmen; welche Typen Dumont im Casting seiner Laien gefunden hat, ist – wie immer in seinen Filmen – ohnehin fantastisch; die Aufnahmen der Landschaft Nordfrankreichs, wohin Dumont seine Jeanne d’Arc hinverpflanzt hat, sehen atemberaubend gut aus – in Sachen Kadrierung und Beleuchtung ist der Film alles andere als amateurhaft.

Jeannette von Bruno Dumont

Jeannette ist also in jedem Fall ein großes Fest für die Sinne, aber auf eine andere Weise als es bisherige Bearbeitungen des Stoffes waren. Dumonts Jeanne fehlt es weder an Frömmigkeit noch an Determiniertheit, aber sie äußert sich anders, denn diese Jeanne ist nicht leidend oder heroisch, sondern verspielt und lebensfreudig. Das ganze Gesinge und Getanze mag davon ablenken, aber im Kern gelingt es Dumont sehr gut diesem jungen Mädchen, das gleichzeitig ein französisches Nationalheiligtum ist, mit seinem filmischen Porträt näherzukommen. Sie ist überaus entschlossen Gottes Plan zu erfüllen und ihr glorreiches Heimatland Frankreich vor fremden Mächten zu schützen, wie ihre Vorgängerinnen in der Filmgeschichte. Der Grundton des Films, der halbironische Gestus, der Hang zum Absurden scheint den Ernst ihrer Mission aber beständig zu unterminieren. Diese Unentschiedenheit macht den Film erst so richtig interessant. Dumont scheint sich nicht groß darum zu scheren, ob die filmische Form, die er für den Film gewählt hat, dem epischen Charakter seines Sujets gerecht wird. Historische Ungenauigkeiten, Anachronismen, amateurhaftes Schauspiel und Genreelemente, stehen sehr präzisen und gar nicht trashigen Kadrierungen (die Bildsprache unterscheidet sich in ihrer Brillanz nicht von Dumonts früheren Arbeiten), und einem Interesse für Physiognomien und der mittelalterlichen Lebenswelt gegenüber. Das führt dazu, dass diese Jeanne weniger als verklärtes Relikt, denn als lebendige Person auftritt, nicht als mythologische Gestalt, sondern als Mensch aus Fleisch und Blut, die mit einer bestimmten Zeit, einem bestimmten Ort und einer dazugehörigen Geisteswelt in Verbindung zu bringen ist. Jeannette ist kein historisierender Blick zurück auf eine Legende aus längst vergangenen Tagen, sondern eine Aktualisierung, die versucht ihrer Protagonistin über einen Umweg in die Gegenwart näherzukommen.

Die Annäherung an Jeanne d’Arc wird durch die Anachronismen und historischen Fehler vervollständigt, indem man durch sie einerseits die Jeanne in ihrer ganzen Menschlichkeit kennenlernt, und andererseits immer wieder die Rahmung des Gezeigten hinterfragt. Die Absurdität und der Eklektizismus sorgen somit für einen Verfremdungseffekt, der aber paradoxerweise zu einem tieferen Verständnis der filmischen Welt führt: Die Inszenierung der Vision, in der Jeanne den Auftrag bekommt Frankreich zu retten, unterscheidet sich kaum von ihrem restlichen Leben – religiöse Visionen sind im 15. Jahrhundert sehr viel wahrhaftiger und gleichzeitig banaler. Es geht weniger darum, was ein 13- oder 16-jähriges Mädchen im Spätmittelalter über Gott und das Land, in dem sie lebt, wissen kann, als darum, wie stark eine Überzeugung unter den damaligen Voraussetzungen wirken kann. Vielleicht ist dann die kinetische Energie eines Heavy-Metal-Songs gar nicht so weit von der Wucht einer göttlichen Eingebung entfernt als man glaubt. Natürlich ist der Film auch ein Witz, eine Abrechnung mit überhöhtem Nationalstolz (der Nationalismus Jeannes ist eine ebenso anachronistische Setzung, wie die musikalische Gestaltung) und eine ironische Variation eines Filmmusicals, aber es ist zugleich ein Porträt von Jeanne d’Arc, das erstaunlich tief in den Mythos eindringt. Wie konnte es geschehen, das vor über 500 Jahren ein Mädchen eine Armee anführen konnte? Wie konnte sie den Status einer Nationallegende erlangen? Wie konnte eine göttliche Eingebung den Lauf der Geschichte entscheidend verändern? Dumont macht in Jeannette die Verzahnung der mittelalterlichen Lebens- und Glaubenswelt greifbar. Was auf uns verrückt wirkt, ist, dass er zwischen den beiden keinen Unterschied macht. Und damit ist er wahrscheinlich ziemlich nah am Lebensgefühl der Menschen aus vergangenen Jahrhunderten.

Wenn ich Danièle Huillet nicht sehen kann

In der Berliner Akademie der Künste wurde vergangene Woche ein verhältnismäßig riesiges Projekt auch für die Öffentlichkeit gestartet. Es betrifft die Arbeit (die hierbei großgeschrieben werden muss) der Filmemacher und Akademie-Mitglieder Jean-Marie Straub und Danièle Huillet.

Schwarze Sünde
Eine umfassende Ausstellung befasst sich mit Arbeits- und Vergegenwärtigungsprozessen ihrer Filme und der Welt. Der Titel: Sagen Sie’s den Steinen. Zur Gegenwart des Werks von Danièle Huillet und Jean-Marie Straub. Gleichzeitig werden in der Akademie einige Filme gezeigt, es gibt Konzerte und eine große Retrospektive an unterschiedlichen Orten in Berlin. (Mehr Infos hier) Ein großer Fokus wurde bei den unterschiedlichen Präsentationen, sogenannten Rencontres, am ersten Wochenende auf die Frage der Steine gelegt. Es handelt sich um einen Ausspruch von Danièle Huillet während einer Probe, als ein Schauspieler sich fragte, an wen er sich wenden solle. Anhand der Steine wurden Themen eröffnet, die sich zum Beispiel um die Zielrichtung einer abstrakten, politischen Wut drehten. Dabei scheint mir die dringlichere Frage jene der Vergegenwärtigung zu sein, die sich in dieser von Manfred Bauschulte in Elio Vittorini erkannten abstrakten Wut auch erzählen lässt. Innerhalb der umfassenden, reichen und zunächst überfordernden Ausstellung finden sich folgerichtig neben vielen faszinierenden, nicht zu sehr auf den Straub-Altar gestellten Arbeitsdokumenten, Interviews, Briefen und Setbildern (bewegt und unbewegt) auch künstlerische Interventionen, wenn man so will, also Arbeiten, die jene von Straub, Huillet in der Gegenwart befragen.

Ein kurzer Einschub, weil mir die von Jean-Pierre Gorin vorgeschlagene Schreibweise von Straub, Huillet (getrennt durch ein Komma, einen Atemzug oder wie sie in Où gît votre sourire enfoui? von Pedro Costa erklären, ein Frame) zwar wichtig scheint, aber nicht so relevant wie das gar nicht so subtile Politikum, das dort an der Akademie um den Namen gemacht wurde. So hörte man bei den Einführungen zahlreiche Varianten, die sich immer darum bemühten die Rolle von Danièle Huillet als mehr zu verstehen, als einen Namen hinter oder in Straub. Natürlich ist dieser Ansatz richtig, aber wie bei so viel politischer Korrektheit dieser Tage darf man schon fragen, ob die Reihenfolge einer Namensnennung wirklich zur allgemeinen Aufklärung ihrer Arbeit beiträgt. Viel mehr half da zum Beispiel das unterhaltsame Rencontre mit Kameramann Renato Berta, der erzählte wie Straub sich immer mehr um das Bild und Huillet sich immer mehr um den Ton sorgte, was zu einigen süffisanten Konflikten führte. Die Frage bleibt trotzdem bestehen. Sie gilt zum Beispiel auch für die portugiesischen Filmemacher António Reis und Margarida Cordeiro. In deren Fall wird Cordeiro oft völlig unterschlagen. Die sprachliche Richtigstellung bewegt sich in einem Vakuum, weil sie durch das nächste Verkürzen auf „die Straubs“ oder „das Kino von Straub“ wieder aufgehoben wird. Statt sich in solchen Sprach-Politika zu verunsichern, täte man gut daran, die Arbeit von Danièle Huillet sichtbar zu machen. Auch das leistet die Ausstellung und wie so oft mehr noch die Filme, die im Rahmen der Rencontres sowie über den Herbst in Berlin gezeigt werden. Neben den Filmen können solche sprachliche Verweise nur als ablenkender Schleier wahrgenommen werden.

Wie erzählt sich also das Kino von Huillet, Straub in der Gegenwart? Was erzählt es über die Gegenwart? Wie kann man von ihm erzählen in der Gegenwart? Vor allem, das wurde sowohl in der Ausstellung als auch bei den Vorträgen klar, mit einem benjaminschen Blick zurück nach vorne. Das passt auch irgendwo zum Kino von Straub, Huillet, wenn nicht zum Kino per se. Es wirkt fast anachronistisch im Vergleich zur modernen Welt. Die Wichtigkeit auf etwas zurück zu schauen ist in ihrem Kino angelegt und damit spiegelt sich das Vorhaben einer solchen Ausstellung und Retrospektive in sich selbst. Es ist die Perspektive zurück auf einen immer auch zurückgehenden Blick. Dennoch scheinen mir einige der Lektionen, die daraus gezogen werden, das gilt für die Vortragenden wie die Künstler innerhalb der Ausstellung, fragwürdig. Denn der Blick zurück war im Fall von Huillet, Straub immer mit einem gleichwertigen, in seiner Sinnlichkeit oft dominanten Blick in die Gegenwart verbunden. Jene Gegenwart fehlte vielen Reaktionen auf ihr Werk. Statt einer Neugier auf das Lebendige spürt man Versuche eine Methodik zu fassen, die eigentlich von ihrer Offenheit lebt. Ein Innehalten vor diesen Filmen wirkt immer hilflos. Genauso wie ein Bedauern. Deutlich wird das in zwei Beispielen im Rahmen der Ausstellung. Einmal werden fünf Ausgaben der Zeitschrift Filmkritik, auf deren Cover sich Filme von Straub,Huillet befinden in einer Glasvitrine ausgestellt. Es mag ein furchtbar naiver Vorschlag sein, aber eigentlich sollte man Besuchern ermöglichen, diese zu lesen, statt vor ihnen zu stehen wie vor Relikten (es sei erwähnt, dass es anderswo auf der Ausstellung die Möglichkeit des Lesens gibt). Ein anderes Beispiel ist Luisa Greenfields Video-Doppelprojektion History Lessons By Comparison. Darin gibt es eine Fahrt, die jene lange Autofahrt aus Geschichtsunterricht nachvollziehen will. Es ist also eine tatsächliche Re-Präsentation. Aber sie kennt nur eine Aufmerksamkeit für das Bild (nicht für die Welt, in der es entsteht) und erklärt den Film dadurch zu einer Simulation und ihre Fahrt wird zu einem Simulacra im Sinne von Baudrillard. Natürlich sagt niemand, dass man Filme über Huillet, Straub in deren Sinn drehen soll, aber den Wert eines solchen Ansatzes halte ich für inexistent. Dass das anders geht, konnte man wenn man des Italienischen nicht mächtig ist, zumindest ansatzweise in The Green and the Stone. Straub-Huillet in Buti. von Armin Linke und Rinaldo Censi erkennen. Ihr Besuch an den Drehorten in Buti war von einer Neugier beseelt, die zwar auf schon gemachten Bildern fungierte, aber diese gegen die Gegenwart überprüfte. In den nächsten Wochen sollen Untertitel hinzugefügt werden.

Toute Revolution
Wie in einem wunderbaren, in seiner Art ebenfalls anachronistischen Vortrag von Manfred Blank deutlich wurde, geht es im Kino von Straub, Huillet auch um das revolutionäre Potenzial eines möglichen Zufalls; das Möglichmachen eines Zufalls, der sich nicht nur für ihn in der Programmierung von Toute révolution est un coup de dés und Trop tôt/Trop tard erzählte. Ein Zufall, der wie jeder Zufall etwas außerhalb der Vergangenheit spielt. Denn woher ein Zufall kam, kann man bestenfalls im Nachhinein bestimmen. Erstmal muss er möglich sein. Es gibt die Bedingungen dieser Möglichkeit, aber man rechnet nicht mit ihr. Sie findet sich im Werk von Huillet, Straub nicht nur in den beiden genannten Filmen, sondern in jeder Einstellung. Wie auch Berta bestätigte, arbeitete sämtliche Konstruktion, Vorplanung und Wiederholung darauf hin, dass ein Zufall möglich wird. Es ist also vielmehr die Arbeit an einer Aufmerksamkeit als die Arbeit an einem Bild. Einmal kann der Zufall ein ins Bild fliegendes Blatt sein, das Bellen eines Hundes aus dem Off oder sogar eine ganze Revolution. Diese Aufmerksamkeit ist möglicher im Kino als im Ausstellungskontext. Sie ist unbedingt als eine in die Gegenwart gerichtete Aufmerksamkeit zu verstehen.

Wer, so sagt Straub in einem Interview innerhalb der Ausstellung, beim Wort Gott lachen müsse, der könne nie eine Revolution beginnen. Die Gefahr bei Huillet, Straub ist immer, dass sie selbst dieser Gott werden. Dann baut man ihnen einen Altar. Auch mir ist es oft so mit ihrem Kino gegangen. Man spürt, dass es unter den sogenannten Straubianern auch immer sehr um das Wissen geht, das sich hinter den Filmen abspielt: Fakten im besseren, Trivia im schlechteren Fall. Durch die klare Haltung der Filmemacher findet man eine Verlässlichkeit in der starken Gefasstheit und mal theoretischen, mal wütenden Untermauerung ihres Bestrebens. Eine Art Reinheit geht von ihrem Werk aus, dass einem hilft, jene abstrakte Wut, die Ziellosigkeit einer gegenwärtigen Auseinandersetzung mit dem Kino und der Welt  zu bündeln, zu fassen und vor allem zu richten. Das funktioniert auch deshalb so gut, weil diese Wut sich affirmativ in der asketischen Schönheit und Genauigkeit ihrer Filme findet und eben ganz im Sinne Émile Zolas als notwendiger Hass. Er ist gerichtet gegen sehr konkrete Folgen und Spuren des kapitalistischen Systems. Ob das nun gegen die Mode wie in Von Heute auf Morgen oder gegen die Synchronisation wie in einem bekannten Text von Straub gerichtet ist, bedeutet alles und nichts zugleich. Passend dazu fragte ein Zuhörer im Rahmen eines Rencontres vorsichtig, ob man denn heute noch von Anti-Kapitalismus sprechen dürfe. Wie in der Frage der Namensnennung spürt man auch hier eine Ohnmacht der Sprache, die vieles im Kino von Straub, Huillet hinterfragt. Denn Frieda Grafe bemerkte nicht umsonst in einem Text über Huillet, Straub, der zum Anlass einer Retrospektive im Filmmuseum München 1997 entstand und im Flyer der Ausstellung zitiert wird, dass die Art in der beide Filmemacher die Welt betrachten, immer auch an einer methodischen Auseinandersetzung mit Sprache hänge. Eine Sprache, die es heute nicht mehr zu geben scheint, vielleicht ja noch nie gegeben hat. Man braucht einen Glauben an sie, vielleicht eine Illusion. Es ist eine verlorene Sprache in gewisser Hinsicht und es zeigt sich bei vielen Vortragenden, dass sie analog zu Straub, Huillet mehr nach einem Weg zurück zu dieser Sprache suchen, als im Sinne von Serge Daney ein Ende der damit einhergehenden Desillusionierung zu beschwören. Ein Gedanke, der mir weder fern dieses Kinos scheint und noch weniger fern gegenwärtiger Notwendigkeiten. Mehrfach stellte sich mir die Frage: Wo ist hier die Illusion? Die Frage könnte man auch anders stellen: Was erzählt uns eine bearbeitete Drehbuchseite von einer Arbeit? War es nicht oft die Arbeit von Straub, Huillet, das man die Arbeit zwar spürt, aber sie sich nicht vor den Zufall schieben darf?

Und dann ein anderes Bild in der Ausstellung, die sich durch die Eröffnungstage an der Akademie zog: Ein Bild nicht von sprachlicher Genauigkeit, sondern sprachlicher Verirrung (nicht unnötig wie bei der merkwürdig und ganz bewusst in Englisch gehaltenen Einführung zum Werk von Harun Farocki ein paar Kilometer weiter im Arsenal): Ein Filmset in vielen Sprachen. Deutsch, Französisch und Italienisch. Die Crew steht zusammen, man wartet auf die Technik. Es ist staubig. Man befindet sich auf dem Ätna, jenem Vulkan, den ein gewisser Jean Epstein in seinen Betrachtungen zum Kino als Ort besonderer Perspektiven evozierte. Es sind die Dreharbeiten zu Schwarze Sünde. Die drei Heimat- und Fremdheitsprachen der beiden Filmemacher. Es gibt eine eigenartige Natürlichkeit der Ko-Existenz dieser Sprachen. Sie fließen ineinander. Um sich wieder an Grafe und ihrer Betrachtung zu orientieren, erzählt dieses Bild von einer Dazwischenheit, die jederzeit auf Unterschiede aufmerksam macht und sie dadurch überbrückt.

Fortini Cani

Im Gestus des Zurückblickens versperrte sich mir in diesen Tagen etwas beim Blick auf Straub, Huillet. Als könnte ich nur über ihre Filme wieder den Weg zurück zum nötigen Zufall des Kinos finden. Der Zufall, der das Kino möglich macht. Schließlich ist ihr Kino auch, auch wenn das abgenutzt klingt, eine Schule des Sehens und Hörens. Eben eine Lehre der Aufmerksamkeit. Vielleicht ist es deshalb, dass die Sorge um die Qualität von Kopien, seien sie analog oder digital selten so hoch ist wie, wenn es um Huillet, Straub geht. Die Zufälle, die sie ermöglichen hängen an jeder Farbe, jedem Rauschen. Man findet dieses Kino womöglich tatsächlich mehr im Leben als im Kino. Ein Paradox, das mich in diesen Tagen vom Kino entfernte und doch näher brachte.

Das Projekt Sagen Sie’s den Steinen. ist einzigartig. Es ist ein wenig wie in die Handgriffe einer praktischen und theoretischen Arbeit einzusteigen, sie beinahe verändern zu können, sie in in sich selbst ruhen zu lassen und diese ruhige Dringlichkeit zu spüren. In dieser Arbeit spiegelt sich auch eine Haltung zur Welt. Tendenziell regt sich ein Einwand gegen die mit dem Blick auf die Arbeit einhergehende Desillusionierung, aber schließlich entdeckt man, dass bei Straub, Huillet die Arbeit, wie vielleicht sonst nur bei Gustave Courbet, etwas Erhabenes ist. Sie berührt die Idee einer Möglichkeit, eines Zufalls und so widersprüchlich das klingt: einer Illusion. In dieser Perspektive könnte man sich dann auch finden, als Suchende zwischen den Bildern und in der Bestimmtheit von Bildern, Tönen und Haltungen einen radikalen Kommentar auf die Gegenwart finden, der niemals nur zu den Steinen spricht.

Courtisane 1: Figures of Dissent – Figures of Lament

Dear Stoffel Debuysere,

we haven’t met in person except anonymously after you found a restaurant for our small group of people in Ghent. However, after reading your book „Figures of Dissent“ and being at Courtisane Festival, I have to address you in a rather personal way. Mainly because your Figures of Dissent are born out of Figures of Lament. Lament which I heavily feel inside myself. Let’s call it an impotence of cinema and being with cinema. I can sense your struggle to create dissent out of lament. It is in your words and in your programs. It is something we all seem to be in desperate need of: Your idea is to go beyond the discourse of mourning the loss of cinema. The sheer depth of the book and the emotional core that lies underneath makes it one of the most exigent pieces of searching for something in cinema I have read. Sometimes, you find real dissent as an author, while at other times dissent is just a perfect word for something that should be there. Yet, in your work as a programmer, there is more dissent in the potential of your presentations than in the reality of how they are carried out. At least that is what I found to be the case at this year’s Courtisane.

To Be Here von Ute Aurand

To Be Here von Ute Aurand

Please forgive me for writing this letter in a rather spontaneous fashion and not at all in the manner of precise research and collective combination of theories and thoughts on certain topics I am going to address. I am neither a scientist nor am I a journalist. Consider me an observer in a modest echo chamber. I am also aware that your book is about your Figures-of-Dissent-Screenings, not about Courtisane. Nevertheless, I see all those movements of dissent as part of the same approach.

Let me try to be more precise: While reading your book, I talked to some of my friends and found that there was an immediate common ground concerning questions of impotence and a suppressed euphoria in the struggle against what cinema and politics are today. Everyone seems to talk about change; nobody really does anything. Every lit flame is persecuted by fears. My question is: If you want to survive with cinema, how can you be Straub? How can you be a collective, how can you be Godard without being called Godard, how can you make Killer of Sheep? How can those examples not be exceptions or a narrated history as it happens from time to time in your book? You write that something must be done even if we don’t know what it is.

Go blind again!

What bothered me while reading your letters written to friends/comrades was the absence of replies. Did your friends remain silent or are their answers held back for another book? Are your letters really letters? Why did you choose that form? Asking myself how you could leave out possible answers while being concerned with giving voice to people, having polyphonic approaches to what we conceive as reality or cinema, I was a bit irritated until I discovered that your five letters contain these voices. Firstly, because you find the dissent in combinations of thoughts of other thinkers. Even more so due to those letters being five fingers of the same hand, each speaking to a different chamber where there will be different echoes. The ideas pertaining to curating as an act of caring you bring to the light in your letter to Barry Esson are inscribed in your own way of working. Thus I feel that this is the first dissent I can take from your writing: Caring.

Die Donau rauf von Peter Nestler

Die Donau rauf von Peter Nestler

The thoughts of caring are strongly connected with those of a collective experience of cinema in your writing. In addition, it seems to me that you write a sort of manifesto for your own work as a curator, observer, writer, cinema person. You write without the grand gestures and aggressive provocations one normally gets in politically motivated thinking in cinema. Nevertheless, to take something out of your first letter to Evan Calder Williams: you are present, it is your fire one can read in the book. This fire that I was clearly able to read in your texts did not exist in your presence at the festival. It was there with other speakers introducing the screenings, but not with you. You write about a return of politics in cinema, you almost evoke it. You write that such an endeavour is also a question of personal experience and worldview, one that tries to build bridges between cinema and society. You state that your screenings want to be a catalyst for public exchange and dialogue.

What is a dialogue? Where does it happen? Such a question seems to be typical of what you describe as a culture of skepticism. So here I am, writing to you publicly. Certainly this is a form of dialogue and your work is a catalyst for it. Yet, I am not sure if there is more dialogue in this than there was in my reading your book at my little table in silence. Am I more active now? Or am I more active because I was allowed to be “passive”? The same has always been true for cinema in my case. I often feel how it takes away the power of films, those that thwart representations, those that keep a distance, those that don’t, as soon as words about it are spoken too soon after a screening, as soon as cinema is understood as a space where the dialogue between screen and audience has to be extended. As I now was a guest at your care taking at Courtisane, I must tell you that I didn’t discover your writing in your way of showing films. Where is the space for dialogue at a festival where you have to run from one screening to the next? Where is the possibility of going blind again at a festival if many inspired and passionate cinephiles cannot help but fall asleep at Peter Nestler’s films because they started the day with Ogawa and had no chance for a meal in-between? Moreover, I was disappointed by the inability of the festival to project film in a proper way. What is the point in having such a beautiful selection of films as in the program consisting of Nestler’s Am Siel, Die Donau rauf and Straub,Huillet’s Itinéraire de Jean Bricard when it is projected and cared about in such a manner? Please don’t misunderstand me, I understand that there might be problems with projections, it is part of the pleasure and the medium but a projectionist running into the room, asking the audience “What is the problem?”, not knowing what the problem is when a copy is running muted, staff running through the cinema, no real excuse and all that in front of the filmmaker present is far away from any idea of caring. I wonder why you don’t get rid of half of your screenings and get some people who are able to project instead. I am pretty sure I leave out some economical realities here, such as the time you have for preparation and so on, but I decided to take your writing as a standard. In my opinion, the space and time you create for cinema needs more concentration. What my friends and I discovered was a festival with a great program talking about utopias, struggles and a different kind of cinema that worked like any other festival in the way of showing this program.

Ödenwaldstetten von Peter Nestler

Ödenwaldstetten von Peter Nestler

When you speak about displacement in cinema in your letter to Sarah Vanhee, about the dream to make art active, I feel inspired and doubtful at the same time. Yes, I want to scream out, I want to fight, I want to show films, I need to discuss, write, make films. However, I also want to keep it a secret, keep it pure (in your letter to Mohanad Yaqubi you write that there is no pure image; you are probably right. Is there an illusion of a pure image?), silent, innocent and embrace what you call via Barthes the bliss of discretion. I wonder which of those two tendencies is more naive? When Rainer Werner Fassbinder said that he wanted to build a house with his films, was it to close or to open the doors of the house? In my opinion it is also curious that the path to disillusion Serge Daney wanted us to leave always comes when the lights in the cinema are turned on after a screening, when there are no secrets and the work of cinema is talked about instead of manifested on the screen. It is this community of translators I have problems with. Yet, I enjoy them immensely and I think that translators in whatever form they appear are more and more important for cinema as a culture. Mr. Rancière’s thoughts on the emancipation of the spectator and your reflections on them seem very true to me. We are all translators to a certain degree. What I am looking for may be a translator in silence. Somebody who lights in darkness and speaks in silence. So you see, my lament is a bit schizophrenic. On the one hand, I ask for more space for dialogue while on the other hand I don’t want to have any dialogue at all. Maybe I should replace “dialogue” with “breathing”. It is in the breathing between films I discover them and their modes of visibility. It is when I am not looking, talking or listening that cinema comes closer. For me, a festival like Courtisane should have the courage to remain silent and to burst out in flames of anger and love.

Of course, when thinking about caring and politics it is rather obvious which tendency one should follow. I am not talking about discourse, but I am attempting to talk about experience. Perhaps experience and discourse should be more connected. You rightly state in almost all of your letters that a direct translation from watching into action is impossible. For me, the same is true for everything that happens around the act of seeing. Let’s call it discourse. Marguerite Duras wrote that for her it is not possible to activate or teach anyone. The only possibility appears if the reader or audience member discovers things by himself or he/she is in love. Love could convince, activate, agitate, change. This idea of loving brings me back to your thoughts on caring. With Friedrich Schiller you claim: “The solitude of art bears within the promise of a new art of living.” With Rancière, you make it clear that art is not able to change the world. Instead, it offers new modes of visibility and affectivity. Isn’t it a paradox that they say love makes you blind? In a strange dream, I wished for cinema to make us blind. In the concepts of political cinema you describe visibility is king. Things are either revealed, highlighted or shown. I am not certain whether cinema is an art of light or of shadows. In my view, it was always very strong, especially in political terms, when it complicated perceptions instead of clarifying them; an art of the night, not of the day, or even more so: something in between.

Four Diamonds von Ute Aurand

Four Diamonds von Ute Aurand

This is also the case with all the discussions and dialogues following the screenings and in the way you conducted them, sometimes much too hastily, at this year’s Courtisane. There is a next screening but we talk with the filmmaker because, because, because. Did any of the discussions inside the cinemas go beyond questions about facts and the production of the films? I am not saying that the production is not very important and/or very political. It is maybe the most political. Yet, I miss the talk that goes beyond cinema/which follows where cinema is leading us. Discussions about caring and fighting, being angry and beautiful, discussions that don’t take things for granted too easily. I could sense a bit of that in the Q&As with Ute Aurand but never in the ones with Peter Nestler. It is a problem of the so-called cinephile that he/she loves to declare instead of listening. Being a cinephile seems to me like being part of an elite club and sometimes Courtisane felt like that, too. For example, showing the problems of farmers in Japan to a chosen few is a feeling I don’t like to have. This has very little to do with the way you curate but more with cinema itself. It is like an alcove pretending to be a balcony. I was expecting Courtisane to be built more like a balcony asking questions and looking at the world surrounding it instead of celebrating itself. In one of your letters, you propose the idea of two tendencies in cinema: that of cinema as an impression of the world outside, and that of cinema as a demonstration of the world enclosed in itself. For me, despite all its potential, the cinema of Courtisane remained too enclosed in itself.

There were also things I liked concerning your guests. For example, I found it to be very nice that the Q&As didn’t take place at the center or in front of the screen but almost hidden in a corner of the screening room. It is also very rare and beautiful that you could approach filmmakers like Ute Aurand very easily because they were also just part of the audience. Peter Nestler joining the Ogawa screenings and asking questions afterwards was another good example of this. Friends told me of having the feeling of a community, the feeling that there is a dialogue. Maybe I was just at the wrong places sometimes. Still, I have to tell you my concerns. This doesn’t happen due to discontent or anger but out of respect. There are amazing things at Courtisane and I find it to be one of the most important festivals in Europe. The possibility to see those films in combination, to see those films, to have contemporary cinema and “older” films in a dialogue and to feel a truly remarkable sense of curatorship in what you do, is simply outstanding. For example, the screening of Right On! by Herbert Danska together with Cilaos by Camilo Restrepo was amazing and many questions about framing and music in revolutionary cinema were asked and possible paths opened. Cinema was a place of difference, of equality and thus of dissent. You could answer me and my critique by saying that what I search for is in the films, not in the way they are discussed, not discussed or presented. I would agree with you until the point where the way of presentation hurts the films.

My favourite letter in your book is the one you wrote to Ricardo Matos Cabo. In the text, you talk about the question of mistakes and innocence. Your writing always concerns the loss of innocence. In it, there is the idea of a world which has disappeared behind its images, a world we all know. It is the world of too many images and no images at all. You write: “But perhaps the associations and dissociations, additions and subtractions that are at work in cinema might allow for a displacement of the familiar framework that defines the way in which the world is visible and intelligible for us, and which possibilities and capacities it permits.” You ask for a cinema that is able to talk with our relation to the world. How to face such a thought without lament?

Well, up to now I always thought about dissent when I thought about the title of your book and screening series. Maybe I should think more about the figures. The figures on screen, the missing people, those we need to perceive. Those I could see at Courtisane. Not inside or outside of the cinema, but on the screen.

In hesitant admiration and hope of understanding,
Patrick

Rückbilder

Ein Rückbild in einem Film, das ist, wenn in einem Bild plötzlich etwas offenbar oder zweifelhaft wird, was man schon vorher gesehen hat. Als würden die Bilder in einem Film aus sich hervorgehen wie die Blüten eines wiederkehrenden Echos. Man spürt, dass es etwas in diesen Bildern gibt, das sie bindet an eine Zeitlichkeit, der man selbst zunächst gar nicht gewahr war. Bis sich eben exakt in diesem Bild, diesem Rückbild etwas Unbestimmtes manifestiert, das weder mit Erinnerung noch mit Effekthascherei zu tun hat, sondern schlicht die Dunkelheit mit einem weiteren Schatten durchzieht, sodass man den Eindruck hat jemand würde einem mit einem Finger in die Augen tippen. Dabei sind Rückbilder nie narrativ, sie beleuchten eher den Rand des Bildes, eine kleine Geste, vielleicht gar eine Leere, ein Nichts und aus diesem schält sich in der Folge eine Wiederkehr. Sie ermöglichen einen Rückwurf des Betrachters. Nicht auf sich selbst oder etwas jenseits des Kinos, vielmehr eine Art Flashback, der nicht auf der Leinwand, sondern im Auge des Betrachters stattfindet. Als würde die diegetische Welt einmal ausatmen.

Ein Rückbild, das können mehrere Bilder sein (zum Beispiel bei Apichatpong Weerasethakul und seinem Cemetery of Splendour, als man in einer Montagesequenz plötzlich zu bemerken beginnt, dass man womöglich träumt), das können wiederkehrende Bilder sein (zum Beispiel bei Nicolas Roeg, der Rückbildern eine Zukunftsform geben kann, weil sie vor und nach ihrer narrativen Gegenwart existieren) und das können auch einzelne Bilder sein (etwa bei Tsai Ming-liang und seiner Einschlafszene in What Time is it There?, bei der man förmlich hypnotisiert wird, sich selbst verlässt und wieder zurückkehrt). Nun ist es sehr schwer über diese Phänomene zu schreiben, denn ihnen liegt der einfache Verdacht bei, dass sie Teil einer subjektiven Seherfahrung sind. Das mag in vielen Fällen sicherlich zutreffen, jedoch unterliegt die Positionierung dieser Bilder und auch das Halten ihrer Dauer eine sehr bewussten Entscheidung in den genannten Fällen und so stellt sich sehr wohl die Frage, ob es Kriterien gibt, in denen ein Bild zu einem Rückbild wird, Augenblicke, in denen Bilder rückwärts wirken.

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Im Kontext einer Dauer der einzelnen Einstellung vermag sich ein langsames Aufklaren vollziehen. Dieses Aufklaren ist zum Beispiel in Bela Tarrs Sátántangó bezeichnenderweise eine Verunklarung, denn sie wird vorangetrieben durch einen kommenden und gehenden Nebel, der gleichermaßen unwirklich und zufällig wirkt. Aus dem Off hört man die Erzählstimme die Gedanken des jungen Mädchens wiedergeben. Darin geht es um die Verknüpfung verschiedenster Elemente des Lebens und je länger man dieses Bild mit einem Baum im Vordergrund, einer Ruine im Hintergrund und Nebelschwaden, die sich dazwischen bewegen, betrachtet, desto stärker spürt man, dass etwas im Bild davor passiert sein muss, was man womöglich gar nicht so realisiert hatte. Nicht, dass man verpasst hätte, wie sich das Mädchen tödlich vergiftet und auf den Tod wartend hinlegt, aber der Tod selbst, seine nicht darstellbare Existenz und Konsequenz wird einem erst im Rückbild bewusst. Das Musterbild eines Todes in der Kamera findet sich womöglich in Professione: reporter von Michelangelo Antonioni, in der berühmten vorletzten Einstellung des Films, als die Kamera sich durch das vergitterte Fenster nach draußen bewegt, ja schwebt und den Protagonisten aus der Präsenz verliert. Es wurde viel über diese Szene nachgedacht, manche sahen darin die Autonomie der Kamera bei Antonioni, andere eine spirituelle Darstellung der Seele, die den Körper verlässt. Womöglich handelt es sich aber nur um die zeitlich verzögerte Darstellung eines eintretenden oder bereits eingetretenen, eines in jedem Fall unumgänglichen Moments, der eben nach einem solchen Rückbild verlangt. Eben jenes legt Cristi Puiu in seinem Moartea domnului Lăzărescu in das Schwarz nach dem Film. Hier wirkt das Ende des Film rückwirkend wie der Tod der Figur. Der Mann liegt und hört auf zu atmen. Man bleibt bei ihm, dann wird das Bild schwarz. Der Tod möglicherweise. Allgemein bieten sich schwarze Frames oder längeres Aussetzen von repräsentativer Bildlichkeit an, um ein Rückbild zu ermöglichen. Entleerte Bilder, die in sich das Reichtum der Informationen ihrer eigentümlichen Präsenz bergen. Diese Bilder zeichnen sich vor allem bei längerer Einstellungsdauer oft schlicht dadurch aus, dass sie gemacht wurden und an dieser oder jener Stelle im Film platziert wurden beziehungsweise so und so lange gehalten wurden, nicht durch das, was sie zeigen. Ein Beispiel sind wiederkehrende Bilder, wiederholte Handlungen in unterschiedlichen Bildern oder unterschiedliche Bilder zu gleichen Tonspuren.

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Man könnte zum Beispiel behaupten, dass manche Filme von Marguerite Duras einzige Rückbilder sind. La Femme du Gange oder Son nom de Venise dans Calcutta désert tragen in sich die Verlorenheit einer möglichen und/oder vergangenen Handlung, diese Filme existieren nur, weil sie schon vorbei sind, wenn die Kamera dort ist. Man sieht Figuren (wenn man sie sieht) und kann sich nicht sicher sein, dass sie von der Handlung wissen, die im Off dialogisch erzählt wird. Dabei filmt Duras mit Vorliebe gegen das Licht. Sie blickt auf Fenster, Kronleuchter und die Sonne hinter dem Meer und in diesem Licht ermöglicht sich ein Rückbild, das kein Bedauern zulassen will, weil es von Beginn an eine Hoffnungslosigkeit, ja eine Sinnlosigkeit etabliert und klar ist, dass das was wir hören schon vorbei ist, während das was wir sehen nur mehr das blasse Echo einer Vergänglichkeit ist, die uns so stark berührt, weil sich in ihr der Ozean dessen öffnet, was hätte sein können, was war, was nie mehr wieder kommt. Das Licht spielt nicht umsonst auch in Cemetery of Splendour eine entscheidende Rolle, der Lichtwechsel, das Surren. Ohne sich zu sehr auf freudianisches Gebiet zu begeben könnte man diese Lichter und ihre Betrachtung durchaus mit der Urszene des tanzenden Feuers und den Blicken, die man als Kind darauf wirft vergleichen. Es ist in diesen Flammen, dass Sehen etwas Pures hat und den Betrachter zugleich auf sich selbst zurückwirft. Ist das Feuer in der Gegenwart? Man kann es schwer sagen, wenn man sich nicht gerade verbrennt. Es ist vielmehr ohne Zeit. Daher ist es auch so gut, wenn sich etwas im Bild sturr bewegt, womöglich in Kreisen wie die Rolltreppen bei Apichatpong Weerasethakul oder eine Wassermühle bei Tsai Ming-liang. Bewegen, die einen davontragen, obwohl man sich in ihnen verliert.

Duras filmt etwas Abwesendes und letztlich geht es genau darum in Rückbildern. Der Unterschied zur Erinnerung ist, dass diese noch darstellbar ist, während das Rückbild von den Dingen handelt, die es nicht sind. Daher spielt auch die Montage so eine essentielle Rolle für das Rückbild, das was zwischen zwei Bildern passiert. Das Rückbild ist eher ein Bild des Vergessens als der Erinnerung.

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Ein sehr einfaches Beispiel: In The Illiac Passion von Gregory J. Markopoulos sieht man in einem Bild wie Schauspieler Puder/Sternenstaub aus ihren Händen fallen lassen und pusten. In einem nächsten Bild (es muss nicht das allernächste sein) sieht man wie dieser Staub über die Köpfe anderer Menschen fällt wie eine Botschaft aus dem Himmel. Man versteht die erste Handlung durch das zweite Bild. Das ganze geht über die simple Verkettung aus Ursache und Wirkung hinaus, da die beiden Bilder offensichtlich nicht wirklich räumlich zusammenhängen. Vielmehr verändert das zweite Bild das Potenzial des ersten Bilds, setzt es in ein neues Licht. In narrativeren Filmformen geschieht eine solche verzögerte Erkenntnis oft durch Perspektivwechsel. Man sieht die gleiche Szene aus einer anderen Perspektive. Dabei entsteht dann so etwas wie ein Meta-Rückbild, dem die Suggestivkraft des einfachen Rückbilds abhanden gekommen ist. Denn wie bereits erwähnt, hängt das Rückbild auch immer an einer Unklarheit, nicht an einer Aufklärung. Es hängt daran, dass wir das, was dazwischen passiert, nicht sehen, selbst wenn es keinen Schnitt gibt. Etwa das Einschlafen von Lee Kang-sheng vor dem Fernseher in Tsai Ming-liang. Ein suspendierter Augenblick wie das Einschlafen im normalen Leben. Ein Rückbild ist so etwas wie die Darstellung der Erinnerung an den Moment des Einschlafens. Dass was wir davon wissen ist: Wir sind eingeschlafen.

Duras ist auch insofern ein gutes Beispiel, weil sich diese Echowirkung oft zwischen Bild und Ton vollzieht. Das Offenlassen einer Verzögerung zwischen dem Text und dem Bild wie etwa bei Gerhard Friedl, Chantal Akermans Je tu il elle oder Straub, Huillets Trop tôt/Trop tard bewirkt genau dieses Gefühl eines Rückbilds. Die Möglichkeit einer rückwirkenden Wirkung tut sich immer dann auf, wenn Ton und Bild beide autonom agieren, nebeneinander, unabhängig voneinander statt übereinander liegen. Ein wenig wie das Liebesspiel von Echo und Narziss, bei dem sich etwas auftut genau weil es diese Verzögerung gibt. Bilder, die zu spät kommen. Darin liegt auch ein großes Drama, eine große Melancholie. Bei Duras kommt noch hinzu, dass sie ihre Rückbilder über verschiedene Filme hinweg etabliert. Wenn Depardieu in La Femme du Gange immer wieder die Melodie aus India Song summt verändert das sämtliche Wirkungen beider Filme und ihrer Bilder. Als würde die eigene Erinnerung an den anderen Film entweichen und durch Depardieus Körper, das Auge von Duras fließen. Natürlich finden sich solche Echos zwischen Filmen ständig und überall, sie sind im besten Fall auch ein wichtiger Bestandteil kuratorischer Arbeit mit Film. Statt sich auf das zu Fokussieren, was zwei Filme gemeinsam haben, funktioniert das Kuratieren oft viel besser, wenn man sich auf die dunklen Flecke zwischen den Filmen konzentriert, das was sie trennt. Der Raum zwischen zwei Filmen ist letztlich das, was sie besonders macht in ihrer Kombination.  Vor kurzem wurden beispielsweise neue Filme von James Benning im Österreichischen Filmmuseum gezeigt. Dazu gehörten die beiden Werke Spring Equinox und Fall Equinox. Beide zeigten, wie der Titel verrät, eine bestimmte Jahreszeit an einem bestimmten Tag. Für sich stehend waren es faszinierende Beobachtungen von Licht und Natur. Aber in der Kombination handelten sie auch vom Sommer, von der Jahreszeit dazwischen, der Zeit, die wir nicht gesehen haben, deren Folge wir nur noch erkennen konnten. Derart legte Benning den Fokus auf die unfilmbare Veränderung.

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Was ein Rückbild ist, ist damit nur unzureichend erklärt. Vielleicht liegt das daran, dass ein Rückbild gar nicht sein kann, sondern nur sein könnte. Der Konjunktiv des Kinos, der in einer Welt des Zweifels und der Fiktionen wichtiger denn je scheint. Dabei geht es nicht um die pseudo-moderne Multiperspektivität wie etwa bei Bertrand Bonello oder Brian De Palma, sondern genau darum, dass es gar keine Perspektivität mehr gibt oder besser: Eine Unsicherheit der Perspektive. Die Wahrnehmung davon, dass man immer erst zu spät versteht.