America Has Made My Fortune: A Most Violent Year von J.C. Chandor

In seinem dritten Spielfilm dreht J.C. Chandor in den 10er-Jahren des 21. Jahrhunderts einen 70er-Jahre-Film des 20.Jahrhunderts, der in den 80er-Jahren desselben Jahrhunderts spielt. Von den Lumet-Hinterhöfen zum Schnee der Bronx, kalte Gemäuer, die Farbtöne sind ein Wasteland, es ist wie bei James Gray ohne das Glühen, wo ist hier der Obststand, an dem sie in den 40ern auf Vito Corleone geschossen haben? Jeder Satz in A Most Violent Year wiegt heftig, alles ist eine Frage der Loyalität, des Respekts und vor allem des Geldes. Schwere Kamerafahrten voller Macht, die begleitet von den episch-leidenden Tönen von Alex Ebert auf die Gesichter und Körper dieses Ölindustrie-Dramas zufahren, eigentlich eine Stilübung, aber mancherorts als hochkomplexe Erzählung gefeiert. Im Zentrum steht ein Mann, der tatsächlich Abel Morales heißt. Es gibt keinen Widerspruch zwischen der Person und ihrem Namen. Er ist ein Aufsteiger im Heizölhandel an der Ostküste 1981. Er ist Einwanderer, hat eine Frau und zwei Kinder. Gespielt wird er von Oscar Isaac (und seinem Mantel), der vielleicht eine der besseren Imitationen von Al Pacino in The Godfather abliefert. Eine starre Miene, die immer versucht zu antizipieren, den nächsten Schritt zu erahnen, um dann kalt und entwaffnend zuzuschlagen. Aber im Gegensatz zu Michael Corleone versucht sich Abel trotz heftiger Bedrohungen und Angriffe auf sein Unternehmen und seine Familie deutlich vehementer auf legalem Weg durchzusetzen. (Serpico nur ohne den Realismus) Ein Weg, der natürlich voller ziemlich eindeutiger Ambivalenzen (der Widerspruch ist gewollt) und Konflikten erschwert wird, die im Endeffekt auf einen typischen Abgesang auf den amerikanischen Traum hinausläuft. Die auf den nüchtern leidenden Mann einprasselnden Botschaften arbeiten dramaturgisch irgendwo zwischen Videospielmissionen und einer biblischen Parabel. Unbekannte stehlen gewaltvoll seine Tanklaster, Mitarbeiter werden verprügelt und auch die Polizei fängt an, gegen das Unternehmen zu ermitteln. Jedes Hindernis fordert immer eine neue Reaktion, ein neues Opfer und einen neuen Prinzipienbruch von Abel. Unterstützt wird er dabei von seiner Frau Anna (Jessica Chastain), die sein Ego herausfordert, sich ebenso wenig mit dem Durschnitt zufrieden gibt und in einer völlig überzogenen Szene mit einem überfahrenen Reh zeigt, was für eine harte Frau sie doch ist.

J.C. Chandor Oscar Isaac

Das Problem des Films ist zugleich seine Stärke. Es ist ein Fanboy-Film ohne Seele und ohne Realismusdrang. Chandor scheint daran, interessiert gewesen zu sein (wie bereits vor einiger Zeit der enttäuschende Derek Cianfrance in seinem The Place Beyond the Pines) einen Film auf eine gewisse Art zu drehen, statt einen Film zu drehen und die Art, aus dem Film heraus zu entwickeln. Man sieht Schauspielern dabei zu wie sie sich perfekt ins malerisch ausgeleuchtete Bild (das man schon irgendwo gesehen hat) setzen. Immer wieder scheint sich der Filmemacher über seine eigenen Bilder zu freuen. Diese Freude vermag man manchmal fast zu teilen, auch wenn man sich dazu auch einfach einen Film aus der Zeit ansehen könnte oder eben zum Beispiel The Immigrant von James Gray, der zwar auch einige Schwächen hat, aber in seiner Wiederbelebung einer Zeit und einer Kinozeit eine Sinnlichkeit in die Bilder legt, die auf ihre Art betont, dass es eine neue oder andere Perspektive auf scheinbar Bekanntes geben kann. Bei Chandor ist das nicht der Fall. Also erfreuen wir uns mit ihm an seinen Figuren, die am Bildrand aus dem Bild blicken, sodass hinter ihnen ein bedrohlich-epischer Raum entsteht, die immer wieder überrascht werden und durch die Dunkelheit tapsen und die sehr interessant und dynamisch in Verfolgungsjagden gefilmt werden. Allerdings passt die Selbstreflexivität und Selbstdarstellung der Figuren in diese streng komponierten, irgendwie geklauten Bilder, aus denen sich zugleich Eleganz und Unfreiheit ergibt. Und wenn ich mich frage, wo die Seele dieses Films schlummert, dann könnte man mir vielleicht antworten: „Genau.“ Oder aber die anhaltende Relevanz einer solchen Geschichte (einige deutliche Male wird schon darauf hingewiesen, dass Öl keine Kleingangstersache bleiben wird) wie sie in A Most Violent Year erzählt wird, ist das eigentlich bedenklich.

Jessica Chastain und Oscar Isaac

Es wird oft geschrieben, dass J.C. Chandor Männer in Krisen zeigt, Männer im Niedergang des amerikanischen Traums (ich weiß es gibt auch Frauen hier, aber nein, sie sind nicht wirklich da), die gezwungen sind, kühle und professionelle Entscheidungen zu treffen und die das oft mit bestechender und auffälliger Qualität tun. Am Offensichtlichsten war diese Struktur in seinem Margin Call, aber auch in All is Lost und A Most Violent Year sind solche Tendenzen mehr als deutlich. Das eigentlich spannende ist, dass Chandor den Moment nach dem Fall filmt, also eigentlich die Landung. Die Männer sind bereits gescheitert (sei es beruflich, auf ihrer Reise oder in ihren Prinzipien), sie leben eine verkorkste Version ihrer eigenen Träume und müssen sich fast wie Sisyphos damit arrangieren und umso härter weiterkämpfen. Pervers, wie aus diesen Situationen noch Auswege entstehen. So sagt der moralische Morales am Ende: „There is always the most right way“. Und vielleicht ist dieser Hoffnungsschimmer im Brachland das eigentlich Tragische im Kino von J.C. Chandor. Die Existenz geht weiter, auch wenn ihr Kern gestorben ist im Kapitalismus. Die 1970er Jahre leben im amerikanischen Kino der Gegenwart. Chandor hat sich dem Trend angepasst und ist weder gescheitert noch hat er begeistert. Aber er kämpft.

All Is Lost von J.C. Chandor-Kino als Kampf gegen höhere Mächte

Text: Rainer Kienböck

Pünktlich zur Award-Season startet J.C. Chandors „All Is Lost“ in den österreichischen Kinos. Warum der Film dennoch eher ein Versuch einer intimen Charakterstudie ist, und sich dem Diktat der Oscar-Maschinerie nicht unterwirft, habe ich versucht im folgenden Beitrag herauszuarbeiten.
„All Is Lost“ ist neben dem Publikumsliebling „Gravity“, der zweite Film dieses Winters, der sich mit einem Charakter im Überlebenskampf auseinandersetzt. Die Rarität solcher Filme hält sich ohnehin in Grenzen. Erst letzten Winter spielte Ang Lees „Life of Pi“ mit einer ähnlichen Prämisse. Immer geht es um Individuen, die nach einem katastrophalen Ereignis in immer größeres Unglück stürzen. Als Ahnvater dieses „Genres“ muss wohl Daniel Defoes Roman „Robinson Crusoe“ herhalten, dessen gleichnamiger Hauptcharakter nach einem Schiffbruch auf einer Insel landet, und dort um sein Leben kämpft. In seiner knapp 300-jährigen Geschichte wurde Defoes Buch eifrig adaptiert – sowohl in Romanform als auch für die Bühne, fürs Radio, und fürs Kino. Am prominentesten wohl von Robert Zemeckis, modernisiert, als „Cast Away“. Im Fernsehen spielt z.B. die Serie „LOST“ mit ähnlichen Ideen. Diese Liste könnte man ewig fortsetzen und erweitern – von Lord Tennysons Ballade „Enoch Arden“ (verfilmt u.a. von D.W. GriffithHier die Besprechung auf Jugend ohne Film) bis hin zu Ernest Hemingways genialer Novelle „The Old Man and the Sea“ (Aleksandr Petrovs atemberaubende Öl-auf-Glas-animierte Kurzfilmadaption kann ich wärmstens empfehlen).J.C. Chandor konnte auf eine Menge Material zurückgreifen, um sich inspirieren zu lassen. Er wählte aber einen ganz anderen Weg. „All Is Lost“ kommt ohne Einführung, fast ohne Dialog (nicht einmal Zwiegespräche mit einem Volleyball) und ohne echte Auflösung aus. In seiner Struktur ist der Film beinahe avantgardistisch – Chandor versucht sich im Naturalismus und ist damit über weite Strecken sehr erfolgreich – die melodramatische Überhöhung im Schlussakt passt da leider nicht ganz ins Bild. Kaum naturalistisch sind gezwungenermaßen auch seine Sturmszenen. Obwohl Robert Redford einiges durchmachen musste und den Großteil der Wasser-Stunts sogar selbst performt hat, kann man in einem Tropensturm nun mal keinen Film drehen. Und gerade im Gegensatz zur reduzierten  Ästhetik des restlichen Films springt einem der Green-Screen dann so richtig ins Auge. Von visuellem Feuerwerk wie in „Life of Pi“ ist er aber weit entfernt, das ist in diesem Fall auch gut so.
 
Apropos Redford: Der Schauspieler ist mittlerweile 77 Jahre alt, zum Zeitpunkt der Dreharbeiten war er 75. Wie man in solch fortgeschrittenem Alter noch so eine physisch und psychisch anspruchsvolle Rolle so formidabel ausfüllen kann ist mir ein Rätsel und verlangt höchsten Respekt. Noch dazu, weil der Film von Redfords Präsenz lebt. Der Film ist eine One-Man Show, bis auf eine andere Hand, und zwei kurzen abgehackten Funksprüchen findet sich keine andere Spur menschlicher Beteiligung im Film. Diese Radikalität hebt „All Is Lost“ von vergleichbaren Filmen ab. Ich kann natürlich nicht fürs gesamte World Cinema sprechen, aber zumindest die obengenannten Filme ähnlichen Sujets, bedienen sich Flashbacks, Prologen, Epilogen oder zumindest eines CGI-Tigers um einen dramaturgischen Bogen zu spannen. „All Is Lost“ arbeitet ohne diese Hilfsmittel, der Film ist jedoch nicht fühlbar langsamer erzählt. Ich würde sogar sagen, „All Is Lost“ komprimiert Zeit viel effektiver als die meisten Filme in diesem Subgenre. Zwar bedient sich Chandor ausgiebig beim Murphy‘schen Gesetz, der Film verliert aber nie so ganz seine Glaubwürdigkeit. Redfords Charisma, mutige Entscheidungen in der Inszenierung und ein erprobtes Konzept bilden den formalen Rahmen von „All Is Lost“, der wahre Grund sich den Film anzusehen, spielt sich aber auf der Metaebene ab: Der Kampf eines Individuums gegen eine unkontrollierbare Übermacht. Die Verzweiflung über die eigene Machtlosigkeit. Die bittere Erkenntnis, dass man als Einzelner keine Chance hat diesen Test zu bestehen. Hier lassen sich wieder Parallelen zu Weltraumepen wie „Apollo 13“ oder dem eingangs erwähnten „Gravity“ ziehen. Der Ozean und das Weltall sind beide nur mittels Technik zu bezwingen und stellen für den „nackten Menschen“ einen übermächtigen Feind dar. Auf hoher See haben sich Filme wie „The Poseidon Adventure“, „The Perfect Storm“, ja sogar „Titanic“ mit dieser Gefahr auseinandergesetzt.
 
Ich sehe noch eine andere Parallele – nämlich zu Chandors Debütfilm „Margin Call“. Chandor traf mit diesem Film den Puls der Zeit. Die Finanzmärkte als Spielplatz pathologisch-gestörter Yuppies. Vor dem Hintergrund der damaligen (und auch heutigen) wirtschaftlichen und politischen Lage, wurde der Film in erster Linie als Kommentar zur gegenwärtigen Situation gedeutet. Im Vergleich mit „All Is Lost“ eröffnen sich aber ganz neue Interpretationsräume, die rückwirkend eine andere Lesart von „Margin Call“ zulassen. Zwar arbeitet Chandor in „Margin Call“ mit konventionellen Erzählstrukturen und einem starbesetzten Ensemble-Cast, aber die Geschichte die er erzählt, unterscheidet sich nicht annähernd so stark von „All Is Lost“ wie man vermuten mag. In beiden Filmen sehen sich Männer einer unlösbaren Aufgabe gegenüber. Beide Filme handeln von einer Katastrophe, die nicht abzuwenden ist, von einem Kampf gegen eine Übermacht, die nicht zu kontrollieren ist. Im Falle von „Margin Call“ handelt es sich bei dieser Übermacht um einen Sturm aus 1en und 0en – dem aufgeblähten und unaufhaltsamen Finanzmarkt. Im Falle von „All Is Lost“ handelt es sich um einen tatsächlichen Sturm. Beide Filme präsentieren eine prekäre Ausgangslage. Einerseits der Stellenabbau im Büro, andererseits das leckende Boot. Die Protagonisten bemühen sich daraufhin die Löcher zu stopfen. Der Flut, die auf sie hereinbricht, sind sie aber nicht gewachsen.