Berlinale 2018: Topographien des Kinos

Tagebucheintrag Viktor Sommerfeld

Die Berlinale 2018 ist nun schon einige Wochen her. Die Filme, noch die längsten kurz und flüchtig, scheinen sehr fern. Ich versuche mich zu erinnern: an Bilder, gesehen, an Blicke, gespürt, an Stimmen, vernommen, an Sätze, verstanden, an Begriffe, gefasst, an Welten, entdeckt und verloren. Ein halbes Notizbuch mit Kritzeleien soll helfen. Zitate, Beobachtungen, Thesen, teilweise noch im Kino hastig hingeschrieben um Platz zu schaffen für die nächsten Bilder, die da vorne ungestört einfach immer weiterziehen. Das Notizbuch als Papierkorb, in den man solange zerknüllte Zettel reinschmeißt, bis man innehält, plötzlich etwas vermisst, den Berg durchwühlt nach den paar Worten, welchen man glaubt, die entflohenen Bilder wiederholen zu können.

Was steht da? Etwas von „Topographie“. Was erinnert diese Notiz? Ein, zwei, drei Berlinale-Gespräche, in denen ich von „Topographie“ sprach um verschiedene Bilder zu fassen. Durch seine Wiederholung hat sich der Begriff einen Platz unabhängig vom Bild geschaffen. Erst zeigte er unsicher auf die Stelle, wo das Bild gerade noch zu sehen war. Dann meinte er schon mit Sicherheit das, was er bei ersten Mal meinte. Zuletzt steht der Begriff ganz fest, gehalten von anderen Worten, die sich zu ihm gesellt haben. Das erste Bild ist schon vor langem auf der Leinwand gestorben. Aber der Text kann reanimieren, den Bildern ein zweites Leben schenken. Im besten Fall kommen dabei schöne Zombies heraus. Untote Bilder, ein bisschen langsamer als die Lebendigen, aber auch viel einfacher zu fangen.

Das Mittel zur Reanimation ist der Begriff. Also zurück zu den Notizen und dann weiter zurück zum Moment des Sprungs, in dem sich das Wort aus dem Bild gelöst hat. Möglicherweise kann man da etwas umpolen und mit Funkenschlag künstliches Leben erzeugen.

Interchange von Brian M. Cassidy und Melanie Shatzky

Interchange von Brian M. Cassidy und Melanie Shatzky

Kreuzungen

In meinen Aufzeichnungen findet sich „Topographie“ zum ersten Mal am 15. Februar 2018, dem ersten Tag des Forum in den Notizen zu Interchange von Brian M. Cassidy und Melanie Shatzky. Im wörtlichen Sinne von Topo-graphie beschreibt dieser Film in etwas über 60 Minuten einen Ort: die Umgebung einer Highway-Kreuzung, eines „Interchange“, in Kanada. Zunächst eine Totale vom Epizentrum der Lärm- und Abgasbelästigung mitsamt der Highway-Überführung, auf der krachend die Sattelzüge über den Köpfen der kleinen Siedlung darunter von rechts nach links durchs Bild rasen. Der ohrenbetäubende Autolärm und das überscharfe Videobild, das den Feinstaub der Abgase auf allen Oberflächen sichtbar zu machen scheint, selbst noch im viel zu türkisen Himmelblau, sind die beiden prägnantesten Konstanten der folgenden Kette an festen Einstellungen von Straßen, Häusern und Autos.

Immer wieder unterbricht der Film diese Repetition von klar strukturierten Totalen, um Details aus dem unterdrückten Leben dieses Ortes zu zeigen: ein stummes Mädchen auf einer Schaukel, ein stummer Junge auf einem Fensterbrett. Diese Unterströmung des Films nimmt zuweilen surreale Züge an. Ein toter Fisch liegt auf einer Brache und wird von hunderten Fliegen umschwirrt. Die erhöhte Konzentration dieser Einstellung erlaubt es dem Auge, kurz an Ort und Stelle zu verharren, bis es wieder fortgerissen wird vom endlosen Strom der Autos, welche unermüdlich die Totalen von „Interchange“ durchqueren.

In seltenen Momenten steigert der Film auch diese ewige Wiederkehr der kreischenden und stinkenden KFZ durch übermäßig illustratives Sound-Design zu einer märchenhaft-abgründigen Qualität. Einmal bremst ein Auto so ausgedehnt an einer Ampel, dass man meint einen Seufzer zu vernehmen. In ein dynamisches Verhältnis treten diese beiden Tendenzen – die schreiende Maschine und das stumme Leben – dennoch nicht. Sie sind nur zwei von vielen unterbrochenen Vektoren im Gewirr dieser Kreuzung. Am Ende geben Cassidy/Shatzky dann leider doch noch eine klare Richtung vor: über den Bildern eines Staus spielt ein Chanson, das vom Vergehen der Zeit handelt. Aber warum solange an einem Ort bleiben, wenn man doch nur sagen will, dass uns die Zeit – ach – aus den Händen gleitet?

Mit welchen Mitteln beschreiben Filme Orte und was kann der spezifisch filmische Charakter eines Ortes sein? Interchange hat gerade in seiner Richtungslosigkeit diese Fragen in mein Programm geworfen und die Berlinale hat mit vielen Stimmen geantwortet. Vielleicht ist die Fähigkeit einen solchen Dialog herzustellen, das beste Zeichen für ein gelungenes Festival.

Grass von Hong Sang-soo

Grass von Hong Sang-soo

Der große Konstrukteur

Filme befragen sich gegenseitig entlang beider Richtungen des Zeitstrahls und so erreichte mich jetzt eine Antwort, die mir schon vor dem ersten Festivaltag während der Pressevorführungen gegeben wurde. Hong Sang-soos erster Film in diesem Jahr, Grass, spielt fast vollständig in einem gewohnt durchschnittlichen Café in der koreanischen Provinz. Die Geschehnisse sind ebenso alltäglich wie der Ort: In Einstellungen, die auf jeglichen Kunstwillen verzichten, sitzen sich jüngere und ältere Paare gegenüber und besprechen ihre Beziehungen. Die alles durchdringende Gewöhnlichkeit wird kontrastiert von großer romantischer Musik, die immerfort den kleinen Laden beschallt. Mehrmals hören wir die Gäste bewundernd über den Besitzer sprechen, der so freundlich sei und eine echte Leidenschaft für diese Musik habe.

Der Gegensatz zwischen den banalen Alltäglichkeiten und der hochdramatischen Musik scheint als Charakterisierung eines Ortes zunächst sehr künstlich und – wie manche gute Idee – fast ein wenig unbeholfen in seiner Einfachheit. Doch Grass macht nie einen Hehl aus seiner filmischen Konstruktion dieses Ortes, sondern reflektiert sie beinahe aggressiv. Der musikliebende Besitzer ist ein Bluff mit offenen Karten, nie werden wir ihn sehen, es gibt ihn nicht. Hong schummelt um erwischt zu werden, um zu zeigen, dass er uns beschummeln kann. Im nicht vorhandenen Cafébetreiber tritt die ästhetische Exekutive selbst als Figur auf und lässt keinen Zweifel an ihrer Autorität. Sie ist gleichwohl sehr großzügig und gestattet in ihrem Laden sogar den Genuss von mitgebrachten alkoholischen Getränken. Ein Schelm, wer im unsichtbaren Wirt den Regisseur selbst vermutet, dessen Filme bekannt sind für ihre ausgedehnten Trinkgelage. Indem Hong in Grass den Akt der Selbstreflexion in die Szene selbst integriert, irritiert er nachhaltig die illusionären Ebenen, in denen sich die Spielfilmwelten üblicherweise konstituieren. In diesem Café treten die Dinge offen Hand in Hand mit ihrer Gemachtheit auf, ohne dass sie miteinander in Konflikt gerieten. Die Musik kommt aus den Lautsprechern im Café und zugleich vom Schneidetisch.

Grass ermöglicht dieser doppelte Charakter der Dinge mit all seinen simplen Mitteln einen hochraffinierten und eleganten Tanz aufzuführen. Wie bei einer Skizze, der man beim Entstehen zusieht, wirken die ersten Striche noch hölzern, deplatziert, zu dick oder zu dünn, bis auf einmal aus der Strichsammlung die komplexe Figur hervortritt. Jedes Mal erschrecke ich mich dann.

Beschreibung ist immer Konstruktion. Auch im Film. Obwohl Hong Sang-soo dies demonstriert, interessiert er sich keineswegs für Illusionsbruch oder gar Aufklärung. Unmissverständlich macht er klar, dass wir das Gerüst zwar sehen können, aber deshalb noch lange nicht die Konstruktion verstehen. Was bleibt, ist dennoch hinzusehen.

L. Cohen von James Benning

L. Cohen von James Benning

Orte mit und Orte ohne Auftrag

Was konnte man sehen auf dieser Berlinale? Zum Schluss meiner Berlinale besuchte ich die Ausstellung des Forum Expanded um eine Tradition fortzuführen, die Rainer Kienböck in den letzten Jahren für die Berlinale-Berichterstattung von Jugend ohne Film etabliert hat. Durch das Chaos einer erratischen Ausstellung hangelte ich mich fort an der Frage nach dem Ort und stieß auf zwei Tendenzen.

Zwischen den elektronisch spratzelnden Störgeräuschen einer Videoinstallation und dem unregelmäßigen Streulicht eines Diaprojektors fand ich im besten Sinne einen Ruheort. James Bennings Film L. Cohen zeigt 45 Minuten lang die Einstellung eines „farm field in Oregon on a very special day“, wie der Austellungstext verspricht. Im linken Vordergrund ein paar leere Ölfässer, am rechten Bildrand eine Reihe von Strommasten, die in die Tiefe führt, wo sich in der Mitte im blauen Dunst ein schneebedeckter Berg erhebt.
Dann sitzt man da, setzt die Kopfhörer auf und schaut der Sonne beim Wandern zu. Die schlichte Neugier für die Bewegung des Lichts öffnet den Blick, weil sie dem Medium des Films in so grundlegender Weise entspricht. Das Sehen wird vorrausetzungslos und funktionslos. Der Loop, in dem der Film in der Ausstellung gezeigt wird, entfernt diese Topographie des Lichts vielleicht noch weiter von den Erfordernissen einer Dramaturgie, als die Vorführung im Kino. Leicht kann man in den paar Minuten, die der durchschnittliche Ausstellungsbesucher von L. Cohen sehen wird, das „special“ dieses Films verpassen und verpasst doch nichts. In der Mitte des Films verschwindet die Sonne hinter dem Mond und es wird in rasender Geschwindigkeit dunkel und wieder hell. Das ist tatsächlich kosmisch, wie jemand mir den Film im Vorhinein beschrieb. Man sieht einen anderen Film. Im Kino läuft der Film zwangsläufig dramaturgisch auf dieses Ereignis zu. In der Ausstellung dagegen steht jede zufällige Minute von L. Cohen absolut in ihrem eigenen Recht und möchte gar nichts weiter, als einen Ort aus Licht schaffen.

Dieser materialistischen Kontemplation stand eine Reihe von Ausstellungsbeiträgen entgegen, die den Ort zur Lehrstatt machen wollten. Die Ansicht des Ortes soll denselben als Agent oder gar Täter einer falschen Ideologie entlarven. Brecht meinte einmal, eine einfache Fotografie der Krupp-Werke oder der AEG würde fast nichts über die Realität dieser Institute aussagen. In Anschluss daran muss man am Sinn von Projekten zweifeln, welche die Ortsbeschreibung als didaktisches Mittel einsetzen wollen, ohne ihre Konstruktion des Ortes dabei mitzudenken.

Immer wieder finde ich mich während der Ausstellung vor solchen Ansichten wieder, die etwa Häuserausschnitte, Industrieruinen, oder Straßenkreuzungen selbst als Argumente anführen wollen. Immer wieder finde nichts darin außer eine Häuserecke, eine Industrieruine, oder eine Straßenkreuzung. Zu diesem Problem trägt bei, dass viele der im Loop präsentierten Installationen sich argumentativ einem Problem nähern wollen, ohne dabei Verständnishürden für den Ausstellungsbesucher zu errichten, der oft mittendrin einsteigt. Was bleibt erscheint vage und behauptet zugleich scharf zu sein. Die Ausstellung mag der falsche Ort für diese Filme sein. Nach einer konzentrierten Sichtung im Kino wäre dieser Eindruck vielleicht ein anderer.

Transit von Christian Petzold

Transit von Christian Petzold

Das Leben als Verfolgungsjagd – Die Verfolgungsjagd als Leben

Dort im großen Kinosaal sah ich Transit von Christian Petzold. Diese Welt, in der sich Georg und Marie immer wieder verpassen, finden und verlieren, die 1940 und 2018 in einem ist, ist vor allem eine Welt des Kinos. Ebenso wie L. Cohen zeigt Transit genuin filmische Orte, steuert dabei aber auf einen gegensätzlichen Pol zu, an dem die Beschreibung des Ortes und die Funktion dieser Beschreibung innerhalb einer dramaturgischen Bewegung in eins fallen. Alle Orte sind bestimmt durch die Bewegungen, welche sie den Figuren ermöglichen. Den Zug gibt es, weil man mit ihm fortkommt, die Landschaft da draußen, damit sie vorbeiziehen kann und das Café hier zum Warten. Sie werden zu Trägern von bestimmten Modi des Lebens, die zugleich durch die Filmgeschichte verschlüsselt sind und ganz offen historisch konkrete Erfahrungsweisen der Welt sichtbar machen.

Am Anfang des Films gibt es eine Szene, in der Georg von Polizisten aufgespürt wird und die Flucht durch die Gassen von Paris antritt. Die Frage, wer diese Verfolger in den modernen Kampfanzügen eigentlich sein sollen, die Gestapo oder französische Kollaborateure, stellt sich schnell als irrelevant heraus. Was zählt, ist das Leben als Verfolgungsjagd, als Sprint durch eine enge Gasse und atemloses Verstecken in einer dunklen Häuserecke. Durch Transit wird schlagartig klar, dass das Kino diese Geschichte in gewisser Weise schon immer erzählt hat; in jeder Verfolgungsjagd seit seinen Anfängen, die Geschichte der Verfolgten.

Transit entwickelt seine Form direkt aus Inszenierungsweisen der langen Geschichte des Genrekinos, aus denen er Stücke herausbricht um sie neu zusammenzusetzen, zu beschleunigen oder anzuhalten. Der melodramatische Reigen des Verpassens und zu-spät-Kommens zwischen Georg, Marie und Richard, windet sich in einem Loop zum Dauerzustand, mit jeder Schleife kühlt er weiter ab und beginnt sich dem direkten emotionalen Nachvollzug zu versperren. Der Affekt wird solange strapaziert, bis er den Blick freigibt auf die Maschine, die ihn herstellt. Die Figuren sind Gefangene im melodramatischen Modus des Wartens und Verpassens. Was bleibt ist die monströse Erfahrung eines ewigen Zu-spät-seins, das keine Zukunft mehr kennt. Der Blick über den Hafen endet immer wieder an der Kaimauer. Das offene Meer ist nicht zu sehen. Über den Ort des Transits hinaus gibt es nichts.

Wirkliche Orte

In Transit werden die Pole von Beschreibung und Konstruktion, zwischen welchen sich die Topographie stets bewegt, eingeschrieben in ein umfassenderes Problem der filmischen Darstellung. Wie kann der Film die Schrecken der Judenverfolgung und des Holocaust angemessen zeigen? Transit befreit sich aus dem ebenso üblichen wie nutzlosen Koordinatensystem von Realismus und Bilderverbot, Hollywood-Drama und Kunstfilm, indem er sich offen dem bedient, was eigentlich gar nicht geht: eben dem Genre.

Im Gegensatz zum klassischen Genrefilm gebraucht Petzold die maximal funktionalisierten Orte des Genres und dessen Mechanismen aber nicht um Affekte auszuloten und in Parabeln vom Zustand einer Gesellschaft zu erzählen. Er sucht den Punkt an dem die Metapher verschwindet und der Ort, der vollkommen konstruiert scheint, sich als Beschreibung einer historischen Wirklichkeit zeigt. Dort fallen Konstruktion und Beschreibung in eins. Die filmische Konstruktion des Ortes ist zugleich die Beschreibung eines historischen Ortes. Man könnte sagen, dort imitiert das Leben den Film und müsste von der Verantwortung der Bilder sprechen.

Natürlich sterben die Bilder nicht einfach auf der Leinwand. Sie brechen aus und bevölkern die Stadt. Ich komme aus dem Kino, stehe auf dem Potsdamer Platz und befinde mich in einer offenen Topographie.