Die Wundertüte Fassbinder

Händler der vier Jahreszeiten von Rainer Werner Fassbinder

Zum Auftakt der neuen Spielsaison hat das Österreichische Filmmuseum mit einer umfangreichen Retrospektive zum Werk von Rainer Werner Fassbinder eine doch recht monumentale Schau auf die Beine gestellt, um das frisch renovierte Unsichtbare Kino einzuweihen. Die Retrospektive solle Fassbinder einer neuen Generation zugänglich machen, heißt es im Programmheft. Ein Vorhaben, das Direktor Michael Loebenstein bei der Eröffnung der Reihe noch einmal betonte. Ich zähle mich zu dieser Generation, der Fassbinder zugänglich gemacht werden muss, war ich doch bisher vor allem jenen (kanonisierten) Fragmenten seines Werks ausgesetzt, die entweder leicht verfügbar auf DVD erhältlich sind oder es auf zufälligen Wegen in historische Programme geschafft haben. Die Retro hat ihre Wirkung nicht verfehlt –nach beinahe zwei Monaten, in denen ich die Schau doch sehr regelmäßig frequentierte, ist mein Bild von Fassbinder komplett über den Haufen geworfen.

Als Nachgeborener fühle ich mich, muss ich in Retrospektive sagen, vom etablierten Fassbinder-Kanon in die Irre geführt. Jene Filme, mit denen man heute wohl am ehesten in Berührung kommt – Angst essen Seele auf oder die BRD-Trilogie – vermitteln das Bild eines Filmemachers, der zu sympathischem Manierismus neigt, zu visueller Opulenz, die aber mit zu bescheidenen Budgetmitteln auskommen muss, der seinen Cast zu exaltiertem Spiel antreibt, und der sehr streng mit dem Nachkriegsdeutschland ins Gericht geht. Dieses Bild ist nicht ganz falsch, wird aber der Komplexität des „Monuments“ Fassbinder nicht gerecht. Und auch nicht der Folgerichtigkeit, mit der sich dieser Stil über den Zeitraum von rund zehn Jahren entwickelt hat.

Ich will hier nicht als zehnter oder hundertster Kommentator Fassbinders aufzutreten, über seine erstaunliche Frühreife als Filmemacher schreiben oder über sein Leben als Wunderkerze, die imposant, aber in rasender Geschwindigkeit, abbrannte. Andere können das besser. Meine Perspektive ist eine andere. Jene, des Überraschten. Des von unerwarteten filmischen Referenzen Überraschten. Des von erstaunlicher Stringenz Überraschten. Des von wiederkehrenden Mustern Überraschten. Ist es an dieser Stelle noch notwendig hervorzuheben, dass große Einzelretrospektiven zu ohnehin kanonisierten und scheinbar allseits bekannten Filmschaffenden alles andere als fruchtlose Unternehmungen sind?

Wer sich ohne viel Vorwissen ins Spätwerk von Fassbinder verirrt, der wird mit einer etwas bizarren Welt konfrontiert, in der Kostüme und Dekor an der Schwelle zum Camp entlang balancieren und das Schauspiel immer etwas zu übertrieben daherkommt. Man behilft sich in der Beschreibung des Spiels meist mit dem Adjektiv „theatralisch“. Scheinbar passend, da Fassbinder ja auch im Theater gearbeitet hat. Mir erscheint dieses theatralische Spiel vom Spätwerk ausgehend als „zu viel“:  Ein „Zu viel“ an Emotion, ein „Zu viel“ an Lautstärke, ein „Zu viel“ an Künstlichkeit. Wenn in Filmen wie Die Ehe der Maria Braun oder Veronika Voss, die Frauen auf einmal in theatralischer Façon zusammenbrechen, die Filme es aber ansonsten scheinbar auf eine lebensgetreue Schilderung der Nachkriegszeit abgesehen haben, wirkt dieses Verhalten auf den ersten Blick fehl am Platz. Geht man etwas weiter in Fassbinders Werkbiographie zurück, entpuppt sich diese Wahrnehmung jedoch als fehlgeleitet. Nicht das theaterhafte Spiel bricht in die naturalistische Filmwelt herein. Es ist umgekehrt: Um eine Schauspieltruppe, die Fassbinder in einer Münchner Off-Bühne geformt hat und die in brechtianischer Tradition durch ihr Spiel Distanz schaffen will, entsteht nach und nach eine Filmwelt, zu der dieser Spielstil nicht mehr ganz zu passen scheint. Während in einem Film wie Niklashauser Fart Schauspiel und restliche Inszenierung (ein Film, am besten zu beschreiben als eine wilde Mischung aus politischem Poetry Slam, Godard der späten 60er, Jack Smith’scher Flamboyanz und gewagten Anachronismen) noch wie in einem Guss scheinen, erzeugt ihr Auseinanderdriften in späteren Filmen eine verfremdende Brechung. Mit dieser Erkenntnis kommt automatisch eine neue Form der Wertschätzung, ein neuer Blick auf die Brechungen, die durch das Spiel in Fassbinders Filmen entstehen. Aus den etwas bizarren Schrulligkeiten eines Regisseurs, der sich nicht so recht vom Theater lösen zu können scheint, wird eine politische Inszenierungsstrategie, die auf Reflektion durch Distanzierung aus ist.

In einem Jahr mit 13 Monden von Rainer Werner Fassbinder

In einem Jahr mit 13 Monden von Rainer Werner Fassbinder

Was auf den ersten Blick willkürlich wirkt, entpuppt sich als überaus stringent. Selten habe ich bei der vertiefenden Entdeckung einer Filmographie so viel überraschende Klarheit entdeckt, wo ich zunächst Verirrung vermutet hatte. Auch in anderer Hinsicht wird man schlauer aus Fassbinder, wenn man einen Blick darauf wirft, was er Anfang der 70er Jahre so getrieben hat. Dort findet sich ein wahrer Reigen an filmkulturellen Anspielungen: Figuren heißen Rohmer oder Fuller und wandern durch Noir-Szenerien, die sich allerdings weniger an ihren amerikanischen Urahnen, als an deren Interpretationen durch die Filmemacher der Nouvelle Vague zu orientieren scheinen. (Am vielleicht offenkundigsten wird das in Der amerikanische Soldat zelebriert, wo ein amerikanischer Auftragsmörder in sein Geburtsland Deutschland zurückkehrt und dort von einem Noir-Klischee ins nächste taumelt, immer mit einer Flasche Whiskey zwischen den Lippen und eine unüberschaubare Menge an gebrochenen Herzen am Weg zurücklassend. Wie eine Erzählung von Raymond Chandler, deren Handlung aus Budgetgründen von Los Angeles nach München verlegt werden musste). Kennt man diese Arbeiten, werden auch Anleihen beim klassischen Melodram (etwa in Angst essen Seele auf) oder die hard-boiled Elemente in Lili Marleen weniger als Genre-Spielereien, sondern als filmgeschichtliche Bezugspunkte verstanden.

Es ist schon erstaunlich wie sich einige Jahrzehnte Rezeptionsgeschichte auf die Darstellung eines Filmemachers auswirken können. Fassbinder darf zwar in keiner Aufzählung der großen deutschsprachigen Filmemacher fehlen und sein Name ist auch immer zur Stelle, wenn der Feuilleton einen Referenzpunkt sucht, um die nächste große Nachwuchshoffnung des deutschen Kinos in die Filmgeschichte einzuordnen ist, aber wieviel hat dieses Fassbinder-Bild tatsächlich mit seinen Filmen zu tun? Es ist erstaunlich, was passieren kann, wenn sich ein Filmemacher nach seinem Tod nicht mehr dagegen wehren kann, was über ihn geschrieben wird und welche Hände ihn hochleben lassen. Der Fassbinder, den ich (neu) kennengelernt habe, ist keineswegs ein wütendes enfant terrible, der mit Nazi-Ästhetik kokettiert, um sie einem vermeintlich unzureichend entnazifizierten Nachkriegsdeutschland entgegenzuwerfen. Der manchmal etwas zu laute und übertriebene Fassbinder ist nur ein Entwicklungsschritt in einer Karriere, die sich weniger für Pamphlete als für das verborgene, selbstzerstörerische Potenzial des Kleinbürgertums interessiert. Die offene, politische Ablehnung der Verhältnisse, wie sie recht offen etwa in der BRD-Trilogie zu Schau gestellt wird, ist nur Spielart eines größeren, filmischen Projekts, dass Gesellschaftskritik als Schwelbrand versteht. Es ist diese Facette, die ich an Fassbinder entdecken konnte, die mir am meisten imponiert. Die, des Filmemachers, der hinter spießbürgerliche Fassaden blickt, wo Protagonisten von einer biederen, menschenfeindlichen Lebensauffassung eingeengt werden bis Beziehungen und Leben schlichtweg bersten: In Filmen wie Händler der vier Jahreszeiten, Warum läuft Herr R. Amok?, Ich will doch nur, dass ihr mich liebt oder In einem Jahr mit 13 Monden treibt Fassbinder das auf die Spitze. Es ist kein Zufall, dass all diese Filme mit dem Tod enden. Die Gereiztheit der Personen treibt sie zu überzeichneten Reaktionen. In der Konfrontation mit dem nüchternen Realismus mit dem ihre Lebenswelt abgebildet wird, wirkt ihr Verhalten irritierender. Diese Verfremdung, diese Brüchigkeit ist es, die Fassbinder eigentlich in allen seinen Filmen herstellen will. Sie verweist auf den gesellschaftliche Konsens des kleinbürgerlichen Deutschlands, der die Menschen im Privaten zerstört. Das Private ist politisch. Q.E.D

Frankie’s Lying in Hell:In einem Jahr mit 13 Monden von Rainer Werner Fassbinder

„Jedes siebte Jahr ist ein Jahr des Mondes. Besonders Menschen, deren Dasein hauptsächlich von ihren Gefühlen bestimmt ist, haben in diesen Mondjahren verstärkt unter Depressionen zu leiden, was gleichermaßen, nur etwas weniger ausgeprägt, auch für Jahre mit dreizehn Neumonden gilt. Und wenn ein Mondjahr gleichzeitig ein Jahr mit dreizehn Neumonden ist, kommt es oft zu unabwendbaren persönlichen Katastrophen.“

In a year with 13 moons

Wenn man heute oder allgemein von Autorenfilm spricht, dann meint man eigentlich kaum mehr diese Offenheit, diese Abbildung einer zitternden Seele auf Film wie sie Rainer Werner Fassbinder oftmals betrieben hat. Statt dringlichen Identitäts- und Wahrheitssuchen sowie inneren Gefühlswelten, kann man im modernen Kino oft intelligenten Menschen beim Denken zusehen. Bei Fassbinder ist da mehr. Die radikale Persönlichkeit seiner Filme macht sie völlig immun gegen Kritik. Sein In einem Jahr mit 13 Monden kommt von einem grausamen Ort, man spürt es bereits in den ersten vom Regisseur selbst gedrehten Bildern eines morgendlichen Dämmerlichts untermalt mit Mahlers 5. Symphonie, hier ist kein Kontakt mehr, hier ist nur Intoleranz und Grausamkeit. Der Film entstand, nachdem sich Schauspieler Armin Meier nach der Trennung von Fassbinder das Leben nahm. In diesem Sinn ist der Film ein hoffnungsloser Versuch einer Antwort auf diesen Selbstmord. Fassbinder begleitet die Transsexuelle Elvira Weisshaupt, die von einem transzendierend zerbrechenden Volker Spengler verkörpert wird, auf einem Trip durch oder in die Hölle (oder beides). Dabei versucht In einem Jahr mit 13 Monden gleichermaßen die Gründe, als auch den Weg in einen Suizid zu skizzieren, statt die Entscheidung wie etwa Tom Ford in seinem A Single Man schon vorauszusetzen. Die Entscheidung ist bei Fassbinder keine Entscheidung mehr, weil es dafür viel zu kompliziert ist. Stattdessen ist es ein Treiben vor den typisch spottenden Gesichtern des Filmemachers, einer Gesellschaft, die nicht akzeptiert. Ihre Familie lacht laut über die torkelnde Elvira, ein Liebhaber beschimpft sie und verschwindet, die ehemalige Liebe erkennt sie kaum, nur die ruhige Prostituierte Rote Zora (Ingrid Caven) schenkt ihr eine gleichgültig zärtliche Aufmerksamkeit, die sich dann auflöst, wenn sie sich von Elviras großer ehemaliger Liebe, dem Mann, für den sich der damals junge Mann sein Geschlecht umwandeln ließ, bezahlen lässt. Dadurch dass Fassbinder das Geld, das in diese Liebe fließt erst spät in einer einzigen Einstellung offenbart, zeigt sich sein Gefühl für Erzählungen und ihre Bedeutungen. Immer wieder verändern fast nachgereichte Bilder die Bedeutung des Gesehenen. Diese Wechsel korrespondieren in vielerlei Hinsicht mit der Geschlechtsumwandlung von Elvira. Auch diese scheint zunächst ein hoffnungsvoller Wandel gewesen zu sein, aber aus der Perspektive des Films ist sie nur noch ein belangloser Versuch Gefühle zu leben, Gefühle, für die kein Platz sein darf und kann, weder in der Gesellschaft noch in den Menschen. Elvira ist nicht Opfer eines zu bemitleidenden Schicksals, sie ist dessen nackter Ausdruck.

Fassbinder 13 moons

In einem Jahr mit 13 Monden8

Fassbinder begegnet dem Selbstmord aber nicht nur mit einer desolaten Leere, sondern auch mit Lakonie und Wut. So begegnet Elvira einem anderen Selbstmörder. Sie raucht mit ihm eine Zigarette im unwirklichen Rot eines Raumes und sieht ihm dann beim Erhängen zu. Als sie einer Frau im Gebäude erzählt, dass sich ein Mann erhängt hat, wischt diese das zur Seite. Das würde doch ständig passieren. Dann beobachtet die Frau höchstamüsiert etwas durch ein Schlüsselloch. Lachen hat in diesem Film immer etwas Abgründiges. Es ist meist ein Lachen über etwas Furchtbares. Überall begegnen wir Menschen im Film, die spähen, beobachten, vor ihrer voyeuristischen Lust zu bürgerlichen Marionetten und Neidern werden, die den Schmerz der Welt als Zuseher erfahren. So folgen wir einer langen TV-Sequenz mit politischem Material aus Chile sowie Aufnahmen von Fassbinder und aus einem Film. Elvira wird von der Mutter ihres Kindes durch die Tür beobachtet, ein Mann beobachtet von der Straße den Chef einer Firma im 16.Stock, Elvira beobachtet einen feindlichen Mann durch einen Spiegel, sie entdeckt ihre Freundin mit ihrem Ex-Liebhaber in ihrer Wohnung. Man verliert sich in der Gewalt von Bildern einer Videospielhalle, Geisterautos erscheinen auf den flimmernden Kisten und verursachen einen Crash, aber wir fahren weiter. Vielleicht, mag man da fast sagen, wäre es besser für alle, wenn wir blind wären. Als die tote Elvira entdeckt wird, heißt es auch konsequent: „Sieh nicht hin!“. Ein Ausweichmechanismus, dem Fassbinder nie folgen würde. Stattdessen findet er Momente der Poesie in diesem Leiden. Ganz wie Stan Brakhage in dessen The Act of Seeing With One’s Own Eyes zelebriert er die pulsierende Gewalt eines Schlachthofs oder verharrt auf der Schönheit des zerfließenden Gesichts eines leeren Menschen zwischen den Geschlechtern. Er fängt den Atemzug über das flatternde Fell des Oberteils der Roten Zora ein, genau wie den Schatten hinter dem Schleier eines Hutes auf den Augenlidern von Elvira. Fassbinder spielt beruhigende Musik, wenn es am Schlimmsten ist. Er zwingt uns hinzusehen, aber sagt uns, dass wir nicht sollen. Denn das Hinsehen macht uns schon zu einem Teil der Mechanik dieser gesichtslosen und machtlosen Welt. Es ist sicher kein Zufall, dass Fassbinder hierfür Frankfurt mit seinen kalten, hohen und durchsichtigen Geldtürmen als Zielscheibe seiner gesellschaftlichen Wut verwendete. Die Bedeutung des Blicks an diesem Ort wurde zuletzt in großartiger Manie von Christoph Hochhäusler in dessen Unter dir die Stadt aufgezeigt. Dort jedoch gibt es eine Form von Erlösung in der Selbstzerstörung und einen Anflug von Hoffnung in der gesellschaftlichen Zerstörung während bei Fassbinder nur das Unverständnis einer hängenden Platte über einem leeren Treppenhaus bleibt. Kein Blick aus dem Fenster, vielleicht ist das die Rettung. Aber In einem Jahr mit 13 Monden zeigt, dass auch der häufige Blick in den Spiegel schrecklich ist. Wie der andere Selbstmörder im Film sagt, möchte man den Dingen nicht länger ermöglichen wirklich zu sein, indem man sie wahrnimmt. Man blickt nicht mehr aus dem Fenster, man blickt nicht mehr in den Spiegel. Wenn der Film aus ist, sind sie dann nicht mehr wirklich?

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