Mädchen und Häuser: Eine Krankheitsgeschichte

Ana in El espíritu de la colmena

Die vier Filme, mit denen ich mich im Folgenden beschäftigen werde stellen keine definitive Auswahl dar. Sujets wie alte Häuser und hilflose Mädchen sind dem Horrorgenre alles andere als fremd (wie man an den Beiträgen zur Horror-Retrospektive hier am Blog leicht erkennen kann). Dieser Text ist ein Vorschlag, welche Beziehungen zwischen den einzelnen Filmen man ziehen kann und ganz bewusst handelt es sich bei zumindest drei der vier Filme um keine Vertreter des Horrorgenres (wenngleich sie alle Aspekte des Genres beinhalten). Wenn man so will ist der Text eine Anamnese eines jungen Mädchens, das in verschiedenen Altersstufen (und die vier Rollen lassen sich rein altersmäßig in etwa chronologisch ordnen) verschiedene Ausprägungen mentaler Probleme erlebt.

Angelos umgebauter "Prunksaal" in Tras el Cristal

Tras el Cristal

Spanien, 1940. In honigfarbenem Licht erstrahlen die Hallen des Herrenhauses in dem die sechsjährige Ana lebt. Im kastilischen Hinterland lebt sie mit ihren Eltern und ihrer älteren Schwester Isabel, noch zu jung um vollends zu verstehen was in ihrem Land gerade vor sich geht. In El espíritu de la colmena, noch zu Lebzeiten des Diktators Francisco Franco entstanden, widmet sich Regisseur Víctor Erice der Psyche dieses kleinen Mädchens und erzählt gleichsam parabelhaft vom Horror des Lebens unter einem faschistischen Regime. El espíritu de la colmena ist nicht nur einer der schönsten Filme der Kinogeschichte, sondern lässt sich auch nahtlos in eine ganze Reihe anderer Filme einordnen, die Beziehungen zwischen kleinen Mädchen und ominösen Vaterfiguren in mysteriösen alten Gemäuern verhandeln. Anhand von vier Beispielen will ich eine Genealogie von Filmen dieser Art ziehen, die sich wohl ohne weiteres noch durch dutzende andere Filme erweitern ließe. Erices modernes Gruselmärchen dient mir dabei als Ausgangspunkt. Der Spanier, dessen Gesamtwerk leider nur drei abendfüllende Spielfilme umfasst, hat eine besondere Beziehung zu Gebäuden als Orten. In allen seiner Filme spielt das Haus als mystischer Ort und die Beziehung zu seinen Bewohnern eine wichtige Rolle. Im Nachfolgefilm und Gegenstück zu El espíritu de la colmena, dem formidablen El Sur zieht eine spanische Familie in den Süden, in die Heimat des Vaters, wo im Verlauf des Films die Dynamiken zwischen Vater, Haus und Tochter ergründet werden. In El Sol del Membrillo zeigt Erice den Maler Antonio López Garcia dabei wie er versucht den Quittenbaum in seinem Garten zu zeichnen während Bauarbeiter sein Haus renovieren. In Erice Segment des Omnibusfilms Centro Histórico lässt er ehemalige Fabrikarbeiter in einer stillgelegten Textilfabrik über die Vergangenheit dieses Orts sinnieren, in La Morte Rouge sinniert er selbst über seine eigenen Anfänge als Kinogänger. Selbst in Alumbramiento, Erices Beitrag zu Ten Minutes Older: The Trumpet spielt eine Familie und ihr Haus eine wichtige Rolle. In keinem dieser Filme aber, wird das Haus so lebendig wie in El espíritu de la colmena.

Ana im honigfarbenen Licht von El espíritu de la colmena

El espíritu de la colmena

Anders als in den anderen Beispielen, die ich noch anführen werde ist das Haus hier noch ein Ort von Geborgenheit, von Wärme, eine sichere Zuflucht vor den eisigen Winden der kastilischen Hochebene. Wie der Name des Films schon andeutet, und was visuell durch Licht und Szenenbild noch verdeutlicht wird, bedient der Film die Metapher des Bienenstocks. Im Haus ist Ana sicher, dort kann ihr nichts passieren, nur wenn sie das Haus verlässt, um ins Kino, in die Schule – oder später – zu einem verlassenen Bauernhof zu gehen, gibt sie sich der Gefahr preis. Wobei von Gefahr im engeren Sinne eigentlich kaum die Rede sein kann; echtem Horror, echtem Schrecken und echter Gefahr wird die Tochter aus gutem Haus nie tatsächlich ausgesetzt. In ihrer Fantasie jedoch, inspiriert durch James Whales Frankenstein, sieht sich Ana einem Monster Frankenstein’scher Prägung ausgesetzt. Der Horror, wenn man überhaupt davon sprechen will, denn El espíritu de la colmena ist kein Horrorfilm im engeren Sinne, spielt sich auf einer rein subjektiven, psychologischen Ebene ab. Erice präsentiert die Welt zwar aus der Perspektive des Mädchens, abgesehen von einer ikonischen Szene, blicken wir allerdings nie tatsächlich durch ihre Augen. Wie sehr sie sich fürchtet – oder auch nicht – können wir also stets nur an ihren Reaktionen zu ihrer Umwelt erkennen, da uns der Blick in „ihre Welt“ verwehrt bleibt.

Ivana Baquero als Ofelia in El laberinto del fauno

El laberinto del fauno

Anders verfährt der Mexikaner Guillermo del Toro in El laberinto del fauno. Del Toro, der El espíritu de la colmena als Inspiration für seinen Film angegeben hat, hat ein beträchtlich höheres Budget zur Verfügung als Erice und zaubert in bester del Toro-Manier eine grandiose Fantasiewelt auf die Leinwand. Unabhängig einer möglichen Wertung, ob es besser sei eine Fantasiewelt bloß anzudeuten und die Imagination des Publikums zu testen oder sie voll ausgearbeitet zu präsentieren, stellt El laberinto del fauno eine Weiterentwicklung zu El espíritu de la colmena dar. Die Protagonistin Ofelia, ein paar Jahre älter als Ana aus El espíritu de la colmena zieht zu ihrem neuen Stiefvater, dem franquistischen Hauptmann Vidal, in ein altes Herrenhaus, das ihm als Hauptquartier auf einer Expedition gegen anti-faschistische Partisanen dient. Der Film entstand dreißig Jahre nach dem Untergang des franquistischen Regimes und demgemäß muss del Toro sich keiner Parabeln bedienen um den Schrecken des faschistischen Apparats zu bebildern. Blutig und grausam wird gemordet und gefoltert – all das vor den Augen von Ofelia, die sich schon bald in eine Fantasiewelt flüchtet. In einem verfallenen Labyrinth neben dem Haus findet sie eine Welt voller fantastischer Kreaturen vor. Diese Fantasiewelt und ihre Bewohner sind dank Computeranimation, Make-Up und Animatronic in voller Pracht auf der Leinwand zu sehen. In El laberinto del fauno wird der Blick auf die Leinwand ein Blick durch Ofelias Augen. Mit dieser Entscheidung zeigt del Toro einerseits mehr, andererseits verschließt er sich dem viel realeren Horror außerhalb von Ofelias Fantasiewelt. Die Bebilderung der Grausamkeiten der franquistischen Truppen wird durch die Einblicke in Ofelias Welt verdrängt. Der Horror wird hier also gleichsam realer (weil visuell fassbar), wie irrealer (weil dem Blick der Horror der realen Welt vorenthalten wird).

Das Haus in Tideland

Tideland

Terry Gilliams Tideland, das einzige nicht-spanischsprachige Beispiel in meiner Aufzählung, mag da wie ein Rückschritt anmuten. Tideland ist der bis dato wohl makaberste Film des exzentrischen Filmemachers (und das will was heißen) und das obwohl er weitaus weniger Spezialeffekte einsetzt als in den meisten anderen seiner Filme und Tideland dementsprechend billiger produziert werden konnte. Tatsächlich entstand der Film während des Streits mit den Weinstein Brüdern über die Post-Production von Gilliams früherem Projekt The Brothers Grimm, der schlussendlich erst nach Tideland ins Kino kam und wurde insgesamt wenig beachtet. Wenn der Film mehr Beachtung gefunden hätte, wäre womöglich die Rezeption von El laberinto del fauno anders verlaufen, denn die vielgepriesene düstere und makabre Atmosphäre der Märchenvariation del Toros wird durch Tideland noch übertroffen. Um diesen Effekt zu erzielen geht Gilliam wiederum auf Distanz. In einem heruntergekommenen Haus stirbt die Mutter von Jeliza-Rose. Sie war genauso wie der Vater Noah drogenabhängig. Um nicht wegen Drogenbesitzes verhaftet zu werden flieht Noah mit Jeliza-Rose in sein verfallenes Elternhaus nach Texas. Dort angekommen setzt er sich ungewollt den „Goldenen Schuss“ und lässt seine Tochter auf sich allein gestellt zurück. Sitzend auf seinem Lehnstuhl wird Noah im weiteren Verlauf des Films zur Requisite, denn Jeliza-Rose, an längere mentale Abwesenheit der Eltern gewöhnt, lebt einfach an der Seite ihres langsam verwesenden Vaters vor sich hin. Es zeigt sich eine tiefe pathologische Störung in der Psyche des Mädchens, der man als Zuseher erst nach einiger Zeit gewahr wird. Dann nämlich wenn sie beginnt mit ihren Puppen, ihrem toten Vater und den Tieren im Garten zu interagieren. Gilliam verwehrt seinem Publikum jedoch den Blick in diese Fantasiewelt und nimmt die Position des Beobachters ein, verzichtet also wie Erice auf den Blick durch die Augen der Protagonistin. Das Resultat ist trotzdem, oder vielleicht genau deshalb, umso bedrückender und umso makabrer. Nicht immer kann man klar unterscheiden ob sie in ihren Spielen in der realen Welt oder in der Fantasiewelt weilt, ebenso verhält es sich mit den Gesprächen mit dem halb-verrückten Geschwisterpaar der Nachbarsranch. Hier entstammt der makabre Schauer dem Umstand, dass man die realen Vorgänge zu sehen bekommt, aber nicht die eskapistische Fantasiewelt, also genau umgekehrt wie in El laberinto del fauno.

Angelo und der Doktor in Tras el Cristal

Tras el Cristal

Abschließend, und dieser Film war eigentlich der Ausgangspunkt meiner Überlegungen, will ich mich Agustí Villarongas Tras el Cristal zuwenden. Von allen vier Filmen ist Tras el Cristal der einzige, der sich relativ problemlos im Horrorgenre einordnen lässt. Der Katalane Villaronga erzählt darin von einem sadistischen Nazi-Doktor, der im Krieg Experimente an Kindern durchführte und nun nach einem Unfall an eine Eiserne Lunge gefesselt ist und als Pfleger eines seiner ehemaligen Opfer anstellt. Im Mittelpunkt der Geschichte steht aber weder der Doktor, noch seine Tochter, sondern der Pfleger Angelo, der langsam wahnsinnig wird. Zunächst scheint es so als hätte der junge Mann das Trauma seiner Kindheit überwunden und will bloß Rache an seinem früheren Peiniger üben. Mit der Zeit stellt sich aber heraus, dass der Doktor in Wahrheit eine anziehende Wirkung auf Angelo ausübt. Diese Anziehungskraft geht so weit, dass Angelo den Platz des Doktors einnehmen will. Er kleidet sich in dessen alte Uniformen, rezitiert aus seinem Tagebuch und stellt schließlich sogar die Gräueltaten des Doktors mit Kindern aus dem Dorf nach. Visuell schreckt Villaronga nicht davor zurück diese Kindermorde (und die dazugehörigen pädophilen Spiele) sehr grafisch zu bebildern. Gleichzeitig baut Angelo, nachdem er die Mutter getötet hat, das Haus der Familie zu einer pervertierten Festung um. Irgendwann erkennt der Doktor, dass dieses Spiel nur mit seinem Tod enden kann und endlich rät er seiner Tochter Rena zur Flucht. Doch die Flucht misslingt – Rena ist bereits Teil des Spiels – sie unterliegt der Anziehungskraft des charismatischen Angelos und wird schließlich sein Nachfolger. Bei Tras el Cristal handelt es nicht um eine trashige Nazi-Klamotte, sondern um eine Studie psychischen Verfalls. Dieser Verfall betrifft in diesem Fall in erster Linie nicht das Mädchen selbst, wie in den anderen Filmen, sondern den Pfleger Angelo. Renas Probleme treten erst nach einiger Zeit zu Tage – trotz eindeutiger Hinweise, dass Angelo die Mutter getötet hat, mehrere junge Buben verschleppt und den Vater dahinvegetieren lässt, bleibt sie im Haus, das zunehmend zu einem Ort des Schreckens wird (nicht bloß metaphorisch, sondern durch Angelos Umbauten auch visuell). Sie verzichtet, womöglich aus Bewunderung für Angelo oder weil sie sich von ihm sexuell angezogen fühlt, darauf zu fliehen oder Alarm zu schlagen und verbleibt an seiner Seite. In Tras el Cristal sind die beiden Ebenen der Fantasiewelt und realen Welt nun nicht mehr zu trennen. Angelo baut sich seine Fantasiewelt in realiter nach, stellt die Szenen seiner Erinnerung und seiner Vorstellung im echten Leben nach. Der Wahnsinn nimmt überhand und wird zum konstitutiven Prinzip des Films – visuell wie psychologisch.