Das Wegkadrieren des Himmels: Höhenfeuer von Fredi M. Murer

Die Steilheit eines Abhangs zu filmen, ist beinahe unmöglich. Jene, die eine Kamera bei Ski- oder Radrennen bedient haben, kennen diese Schwierigkeit. Das Kamerabild relativiert die Extreme. Man blendet Zahlen ein, um Steilheit greifbar zu machen. Manchmal reicht auch eine Nahaufnahme des Gesichts derjenigen, die sich mit Steigung oder Abfahrt auseinandersetzen müssen, um ein Bild zu machen, von dem, was man nicht wirklich filmen kann. Nahaufnahmen gibt es auch in Fredi M. Murers erfolgreichsten und bekanntesten Film Höhenfeuer. Sie zeigen eine Familie, die isoliert oben auf dem Berg lebt. Der Vater, der Mutter, die Tochter Belli und der gehörlose Sohn. Noch etwas weiter oben hausen die Großeltern. Aus all ihren Blicken spricht in der einen oder anderen Form die Steilheit des Weges, der sie vom Tal trennt. Murer und sein Kameramann Pio Corradi verzichten größtenteils auf epische Landschaftsaufnahmen. Stattdessen erzeugen sie das Bild einer Enge mit wolkendurchfluteten Felsformationen, dichtem, alles unter sich begrabenem Schnee, Gräsern, die sich im Wind in sich selbst drehen. Kaum einmal kann man den Himmel sehen von dort oben. Die Kadrierung spart ihn aus und dadurch wird die Steilheit spürbar. Wiederholt lässt Murer seine Protagonisten ins Bild springen an einem Abhang, sie rutschen fast hinein, haben keinen Halt.

Steilheit kann man nicht filmen. Der Junge entwickelt eine Faszination für alles, was seinen Blick verändert: Lupen, Spiegel, Ferngläser und Rohre, durch die hindurch er die Landschaft zerschneiden kann. Er wird zum Filmemacher, zum Fotografen seiner eigenen Isolation, in der sich nach und nach ein sexuelles Erwachen regt. Immer wenn er mit diesen Apparaten den Blick verändert, setzt die subtile Musik von Mario Baretta ein. Murer zeigt an, dass hier etwas lodert; wie es wohl sein muss, immerzu in ein Tal zu blicken, das man nicht kennt? Aber das Tal sieht man nicht. Einige Male wird davon gesprochen, Vater und Sohn wagen einmal eine Reise auf den Markt, sie verkaufen dort, sie kaufen dort. Von Zeit zu Zeit holt man die Post hinauf auf den Berg, dann drücken sich die wachsenden Armmuskeln des Jungen gegen die Steilheit und er bringt die Post bergan.

Die Schwester bemerkt diese Armmuskeln. Welche sollte sie auch sonst bemerken? Wiederholt sieht man sie aus dem Fenster blicken; sie alle blicken aus dem Fenster, aber wohin? Der Junge wird immer fordernder, er zerstört Dinge oder fällt in Apathie, weil er nicht teilnehmen kann. Er hört nichts, aber beginnt mehr und mehr die Steilheit zu sehen. Als er den Rasenmäher zerstört, verbannt ihn sein Vater auf die Hochalpe. Dort baut der Junge Steinskulpturen bis ihn seine Schwester besuchen kommt. Dann sieht man kurz den Himmel, aber keine Steilheit. Nur den Moment eines fatalen Friedens. Keine Moral, nur die Natur. In der Eröffnungssequenz zu Aguirre, der Zorn Gottes wählte Werner Herzog mit seinem Blick auf die wandernde Karavane am Huayna Picchu eine ganz ähnliche, die Landschaft zersetzende, auf Postkartenromantik verzichtende Einstellung, um die Steilheit greifbar zu machen. In ihr erzählt sich immer auch ein Leiden, ein Hunger, eine Askese. Dünne Menschen scheinen vielleicht deshalb steiler zu sein als dicke Menschen.

Steilheit ist die Enge des Blicks, das Abschneiden eines Horizonts, die Körperlichkeit des Weges, das Verschwinden eines Auswegs. Die Kamera fährt gelegentlich parallel zu den Abhängen, sie macht die Kanten sichtbar und vermisst die äußeren Ränder des Sichtbaren. Die Kamera eröffnet ein Steilfeuer, dicht und schwer treffen die Blicke auf eine Beständigkeit, in der die Menschen mit dem Abhang verwachsen sind. Wenn die Eltern die Tochter vor dem Lesen warnen, dann trotzen sie damit auch den Träumen. Stoische Genügsamkeit, bis einem das ewige Steilsein aus dem Herzen wächst und dann ist die Tochter schwanger und es kann nur der Bruder gewesen sein. Dem Vater entweicht der tief verbuddelte Wahnsinn, er dringt durch seine seit Jahrzehnten verschlossenen Poren, er packt sich sein Gewehr und will den Fluch des Berges, den verfluchten Berg aus seinem Leben schießen. Er stirbt und mit ihm seine Frau, denn dort oben scheint alles miteinander verbunden. Murer verknüpft Ursache und Konsequenz ein wenig wie Tarkowski. Aber er ist mehr mit der Erde verbunden und weniger mit seinen eigenen Ideen. Der Schnee ist hier Schnee und nicht ein Symbol für Schnee.

Steilheit kann man nicht hören. Sie setzt Dinge in Bewegung, zieht sie förmlich hinab, verweigert den Aufstieg. Eine Kuh kann nur von einem Hubschrauber gerettet werden, sie schwebt über dem Abgrund. Eine Lawine lässt alles erzittern. Durch sie hindurch hört man die Stimmen der Toten. Nicht nur jene der Eltern, sondern alle jener, die im Stillen hoch oben gestorben sind, die bewiesen haben, dass man auch über den Wolken unter der Erde sein kann. Den Himmel sieht man dabei nicht. Man hört ihn nur. Der Junge aber, der hört gar nichts.