Die aus sich leuchtenden Gesichter bei Frank Borzage

Was hat es nur auf sich mit diesen aus sich leuchtenden, runden Filmgesichtern im Kino des Frank Borzage? Immerzu sehen sie sich an. Schuss, Gegenschuss, dazwischen das Kino. Als hätte der Filmemacher einen Zärtlichkeitsfilter in seiner Kamera gehabt, erstrahlen diese Gesichter mit zutiefst demütigen, warmen Zügen auf der Leinwand. Wie nur wenige andere Filmemacher, Pier Paolo Pasolini fällt einem sofort ein, vermag man anhand des Aussehens der Protagonisten zu erkennen, dass es sich um einen Borzage-Film handelt. Das gilt sowohl für seine Stummfilme als auch für seine Tonfilme. Man ist sich nicht ganz sicher, ob es sein Blick ist oder jener der Figuren, der diese Wirkung erzielt. Man ist sich nicht sicher, ob man die Figuren mitfühlend betrachtet oder ob nicht sie es sind, die einen mitfühlend ansehen. Jedenfalls wird sofort deutlich, dass etwas geteilt wird zwischen dem, der diese Menschen ansieht und dem, was diese Menschen empfinden. Letztlich hängt diese Wahrnehmung nicht allein am Gesicht. Es ist die Körperhaltung, das Licht, die Stimmen aus denen sich eine Empathie erkennen lässt, die ganz ohne dramaturgisches Vorwissen rein durch die Kraft einer Art und Weise des Filmens vermittelt wird. Borzage hüllt alles in eine Zuneigung, ein Verständnis, Respekt und Würde.

Dabei gibt es zwei Grundmuster, auf die Borzage bezüglich der Mise en Scène fortlaufend zurückkehrt. Das eine ist der hoffende, etwas machtlose, fragile oder bestimmte Blick nach oben. Dabei ist die Kamera meist auch oberhalb der Figuren platziert, sodass die Augen besonders betont werden können und zwischen Kamera und Blick eine Art Hoffnungsschimmer entsteht. Das andere ist der in sich gekehrte Blick nach unten, der insbesondere bei den männlichen Figuren zusammenfällt mit hängenden Schultern und Armen. Oft aus einer Halbtotale gefilmt, erkennt man in ihm die Last des Lebens, eine Zeichnung, die das Leben an diesen Figuren hinterlässt. Nie fragt man sich bei Borzage nach den Schauspielern. Sie werden sofort zu Menschen.

Spencer Tracy zum Beispiel, an und für sich ein Superstar verliert beinahe all seine kleinen Tricks und wiedererkennbaren Gesten. In Man’s Castle oder Big City wird sofort etwas unter seinem Grinsen sichtbar, aus Mangel an Worten könnte man es „ein gutes Herz“ nennen. Es zeigt sich, wenn sein Blick auf seine Partnerinnen in den jeweiligen Fimen fällt. Wieder ist es ein Schuss, ein Gegenschuss und dann weiß man alles, was man wissen muss. Es ist als würde Borzage auf den Subplot menschlicher Regungen aus sein. Die wahren Intentionen und die berüchtigten wahren Gefühle fallen bei ihm zusammen und sie sind mit einem Mal ganz offenliegend. Da der Filmemacher meist Liebesgeschichten filmt, wirken die in ihrer Kraft erstaunlicherweise niemals naiv wirkenden Kämpfe um ein gemeinsames Leben aus den Gesichtern selbst heraus, in ihnen spielt sich ein Selbstverständnis ab, das der Filmemacher nun gegen die Welt kadriert. Jeder der beschriebenen Hoffnungsschimmer wird von der Dunkelheit bedroht. Räume werden fast abstrakt bei Borzage, weil sie immerzu gegen die Gesichter agieren. In Filmen wie Liliom, Moonrise oder Street Angel geht dieser Abstraktionsgrad der Welten durch die sich die Gesichter bewegen trotz oder gerade wegen des Realismusanspruchs so weit, dass eine Straße zum Schauplatz für Illusionen wird. Manche Kreuzung wirkt wie ein Gemälde, in dem der Maler so mit Licht arbeitet, dass es einen besonderen Raum für das dort erscheinende Gesicht gibt. Womöglich versteckt sich in dieser Wahrnehmung aber nur der entfremdete Eindruck, wenn man im Zeitalter des Zynismus mit unbedingter Romantik konfrontiert wird.

Das Gewicht der Welt drückt und darunter leuchten die Gesichter. Oftmals sind große Filme nur das: Ein Hin und Her zwischen sich anblickenden Gesichtern. Was man daraus macht, dass Borzage selbst ein Borzage-Gesicht hatte, ist wiederum eine andere Frage.

Kino und Erde: Encontros Cinematográficos 2018

Encontros von Pierre-Marie Goulet

In Fundão, Castelo Branco vom 27. bis zum 30. April zu Füßen der im dunstigen Schnee lauernden Sierra da Estrela: Das Kino als Begegnungen auffassen. Eine Gruppe außergewöhnlicher Kinoliebhaber huldigt diesem Ideal seit Jahren. Sie sind gekleidet wie die Outlaws einer vergangenen Zeit: Trenchcoats, Lederjacken, Cowboyhüte und zerrissene Wolle eines aufrechten Widerstands. Ihre größte Waffe ist Offenheit und Demut gegenüber Mensch und Film. Es gibt hier eine Allianz zwischen dem Kino und den Leuten, deren Augen das Kino erst lebendig werden lassen. Es gibt hier ein Kino, das zu den Menschen will.

Die Landschaft um Fundão ähnelt jener großer amerikanischer Western. Vieles wirkt unberührt, unerschlossen und doch von den verheerenden Feuern der letzten Jahre erschüttert. Verbrannte, unberührte Erde. Die Verbindung der Menschen und auch des Kinos mit der Erde sollte uns in den Tagen in Portugal beschäftigen. Das Gesetz, so sagt man uns, sei weit entfernt von Fundão. Man nimmt einen Zug aus Lissabon. Wie lange es dauert, ist unerheblich. Nachdem man die Industrie und den überschwappenden Tourismus der portugiesischen Hauptstadt hinter sich gelassen hat, beginnen Adler vor dem Fenster zu kreisen. Der Tajo fließt golden zwischen verheißungsvoll glänzenden Hügeln. Man beginnt etwas zu träumen, aber die Nähe von Schönheit und Ödnis, Reichtum und Armut lässt einen nie ganz schwärmen.

Lucky Star von Frank Borzage

Lucky Star von Frank Borzage

In Fundão selbst herrscht ein kalter Wind bei unserer Ankunft. Er sollte sich nicht legen. Die Gipfel am Horizont schienen sogar neuen Schnee zu empfangen, was die Einheimischen nicht an ihren kauernden, kaffeetrinkenden und rauchenden Posen in den Straßen des Ortes hinderte. Ganz im Gegenteil gab es ihrer Präsenz noch etwas mehr Kraft, regte sie sich eben nicht nur gegen die Welt, sondern den spürbaren Wind. Gleich neben dem Bahnhof, das war auch gleich neben dem Kino, dem Kunstzentrum der kleinen Stadt, „A Moagem“ (Das Mahlen), wartete ein scheinbar streunender Hund an einem Kreisverkehr auf. Er blickte zu dieser Gruppe überzeugter Kinoenthusiasten in verlorener Erwartung. Das ganze Szenario hatte etwas Raues an sich, wäre es nicht zugleich so sanft.

Das Sanfte im Rauen erinnert an die hand- und herzensverlesenen Filme des Festivals. Filme wie Frank Borzages brutaler und romantischer Lucky Star oder Pierre-Marie Goulets balladenhafte Polifonias – Paci é saluta, Michel Giacometti und Encontros. Diese Filme über Alentejo, die Poetin Virgínia Dias, Korsika und den Ethnografen Michel Giacometti sind das beste Beispiel für die Verbindung von Kino und Erde, Menschen und Kino, die bei Encontros Cinematográficos betont wurde. In Modi von Gleichklang und Mehrklang untersucht Goulet dabei Verbindungen und Begegnungen zwischen Koriska und Alentejo sowie zwischen Musik und Leben, Poesie und dem Boden, aus dem sie wächst. Seine schwelgerischen und im betörenden Sinn repetitiven Kamerafahrten versetzen in einen Zustand der Vermischung, der dadurch verstärkt wurde, dass seine beiden zusammenhängenden Werke (am Abend wurde noch ein dritter, sein neuester Film, als Überraschungsfilm gezeigt) direkt hintereinander gezeigt wurden. Immer wieder der Blick hinaus in die Landschaft, der Worte und Musik ermöglicht. Die Reichhaltigkeit eines Lebens, das Leiden, der Kampf, die Schönheit und ihr letztendlicher Ausdruck für den Goulet filmische Denkmäler baut. Die Wahrnehmung so sehr nach außen gestülpt, dass man vergisst, woher die Imagination kommt. Nicht das einsame Zimmer von Robert Walser, nicht das am Anfang stehende Wort, sondern die Berührung und Begegnung mit allem, was sich vor diesem Zimmer befindet. Nicht nur aus diesem Grund immer wieder Bilder von Terrassen, die sich an der Schwelle zwischen Zuhause und Natur befinden. Eine Form innerlicher Überwältigung, die sich nach außen trägt. Keine Explosionen oder Dinosaurier, einzig der Blick hin zur Welt.

Encontros von Pierre-Marie Goulet

Encontros von Pierre-Marie Goulet

Encontros ist auch ein Film über das Kino, insbesondere über Paulo Rochas Mudar da Vida. Der Filmemacher und sein Film durchwandern Encontros, es stellt sich die Frage nach der Verbindung eines Filmemachers und seiner Drehorte sowie den Menschen, die er so wundervoll filmte. So also vermag Encontros ein Film darüber zu sein, wie die Liebe zu Kino und Kunst, Menschen näher zusammen bringt. Sowohl in der selben Zeit, als auch über die Zeiten hinweg. Michel Giacometti, Manuel António Pina, António Reis, Paulo Rocha, Virgínia Dias und Pierre-Marrie Goulet. Sie alle wandern auf gleichen Pfaden und treffen sich in diesem Film, der die Zeit zu Gunsten eines Ortes aufhebt.

Dieses Wunder erschien bereits am Morgen in den bewegendsten Augenblicken, die ich jemals in einer Kirche verbracht habe. Ein Bus brachte die Gruppe gleich einem Schulausflug durch für Busse eigentlich zu enge Gassen in einen Nachbarort. Dort stand, umgeben von traumeinladenden Gärten und beobachtet von einem weiteren, diesmal dreifüßigen, stolz hinkenden Hund, die Tür zu einer alten Kirche offen. Vorne war eine Leinwand aufgespannt. Unsere Gruppe schlich trotz herziger Begrüßung etwas schüchtern und bemüht anmutig durch die morgendliche Heiligkeit. Zeigt man es in der Kirche kommt einem das Kino schnell wie eine Sünde vor, schließlich weiß und zeigt es mehr als der Pfarrer. Im linken vorderen Teil, näher am obligatorischen Jesuskreuz versammelte sich eine Gruppe älterer Menschen, die wir bislang nicht gesehen hatten. Wahrscheinlich, so dachte ich naiv, Menschen aus der Kirchengemeinde. Weit gefehlt. Gezeigt wurden Episoden aus der von 1970 bis 1974 laufenden TV-Serie Povo Que Canta von Alfredo Tropa und Michel Giacometti. Die Frage danach, wer dieser Michel Giacometti war, erreichte uns immer wieder während des Festivals. Man erzählte uns, dass er auf einmal aufgetaucht war. Ein Retter der portugiesischen Musiktradition aus Korsika. Mit Tuberkulosediagnose zog er nach Portugal und gründete dort ein Archiv, um Volkslieder und Erzählungen aus dem Hinterland zu sammeln. Er reiste von Ort zu Ort und sammelte ein musikalisches Erbe. Seine Präsenz in den Bildern ist von außerordentlicher Ruhe und Neugier beseelt. Er spricht zu uns vor allem durch die Musik, die er liebt und die Menschen mit denen er diese Liebe teilt. Seine Arbeit ist die des Zuhörens. Er dokumentierte gegen das Vergessen.

Nuvem von Ana Luísa Guimarães

Nuvem von Ana Luísa Guimarães

Was ist es mit diesem Geschreibe von den „Menschen“? Ist es nur die Überwindung mitteleuropäischer Kühle und Distanz, die einem im Besuch dieser anderen Kultur in einen Rausch an Empathie verwandelt? Ist es vielleicht gar die Hilflosigkeit im Angesicht einer fremden Offenherzigkeit, die mich auf einen Allgemeinbegriff wie Menschlichkeit zurückfallen lässt? Ich weiß es nicht, aber die Szenen, die sich in der Kirche abspielten, haben, wenn nicht mit Menschen, doch zumindest mit ihren Erinnerungen und ihrer Sterblichkeit zu tun. Denn die uns unbekannte Gruppe im vorderen linken Teil der Kirche bestand aus einer Vielzahl an älteren Damen, die sich selbst und ihre Stimmen auf der Leinwand wiederfanden. Beinahe 50 Jahre später, im Angesicht der eigenen Jugend. Ihre Unruhe und ihr Lachen, ihr Erkennen und Verblassen erzeugten eine ungeahnte Spannung zwischen Leinwand und Zusehern. Die Kirche wurde eine Zeitkapsel, nicht mehr das Sehen und Hören stand an erster Stelle, sondern das Sein an diesem Ort zu dieser Zeit. Tränen sammelten sich in den Augen als eine Stimme in der Kirche gar in spontaner Emotion die Musik auf der Leinwand begleitete. Der Gesang hallte echohaft unter der Decke der Kirche und aus den Lautsprechern. Beim Verlassen des Gemäuers waren wir endgültig aus der Zeit gefallen.

Regen kündigte sich an. Im milchigen Dunst über dem steppengleichen, trockenen Boden fragt niemand nach den falschen Fragen des Kinos. Niemand will wissen, wer diese Filme programmiert hat, niemand will wissen, wer sie besitzt. Es kann keine Rolle spielen. Die Probleme bei mancher Projektion erinnern höchstens an Rechtschreibfehler in Liebesbriefen. Sie sind nicht relevant, der Gestus ist nicht Perfektion, sondern Zuneigung. An einem Abend jagen wir mit einer kleinen Gruppe einen Regenbogen, der in besonders kräftigen Farben aus dem Boden zu sprießen scheint. Straßen im Irgendwo. Alles durchdrungen von unserem im Kino geschärften Blick für Schönheit und Vergänglichkeit. Wir stoppen in einer verlassenen Gegend an einer im Sonnenlicht badenden Steinhütte. Es ist ein zugleich lebensfremder und lebensbejahender Ort. Ob man hier leben könne, fragt jemand. Wenn man sich erinnern würde, wie man lebe, entgegnet eine andere. Es ist erstaunlich, was mit der Wahrnehmung passiert. Schließlich sehen wir in dieser Gegend und auch im Kino auch viel von der sozialen Ungerechtigkeit, politischen und natürlichen Problemen. Wir erleben einen Widerstand auf der Leinwand. Wir hören auch viele schlimme Geschichten über die portugiesische Filmlandschaft. Von Bestechungen, ausbleibenden Fördergeldern und kaum zu fassenden Mechanismen.

Espelho Mágico von Manoel de Oliveira

Espelho Mágico von Manoel de Oliveira

Ein Beispiel dafür findet sich in Ana Luísa Guimarães, die zu Gast ist auf dem Festival und ihren Film Nuvem zeigt. Der Film, der bis heute ihr einziger Langfilm ist, ein zerbrechlicher Traum verlorener Jugend, die genrehafte Erprobung von Gesten und Verhaltensweisen als Akt des Ausbruchs mit unheimlicher Sicherheit in die Nacht hinein inszeniert, sodass man sich plötzlich im pulsierenden Mond von Nicholas Ray wiederfindet, obwohl man jederzeit fest in Portugal verankert bleibt. Nuvem ist ein Film, der vieles falsch machen könnte, weil er von einer klischeehaften Welt notgedrungen mit Klischees erzählt. Aber Guimarães findet aus den Fallstricken heraus, weil sie das Kino und die Illusion mit der Sensibilität ihrer Figuren verbindet. Erzählt wird eine klassische Liebesgeschichte im Kleingangstermilieu. Der Eindruck eines Freiheitsbegehrens entsteht, eines, das sich zwischen Tag und Nacht abspielt, aber nie wirklich ankommt. So wie bei Nicholas Ray immer die Gangster am zärtlichsten sind, so ist bei Guimarães die Nähe zwischen Kuss und Todesschuss, die verführt. Das Spiel und die Körper in diesem Film könnte jederzeit zerbrechen. Doch wie schon über dem Film ein Hauch von schicksalshafter Ungerechtigkeit hängt, so ist es auch der Filmemacherin widerfahren. Nicht zuletzt aufgrund ihrer Nähe zu Ray oder auch John Boultings Brighton Rock, die in Wahrheit nur eine Liebe zum Kino ausdrückt, und – um es zu sagen, wie es ist – weil sie eine Frau ist, konnte sie diesem ersten Funkeln in der Gangsternacht keinen weiteren Langfilm folgen lassen. Es bleibt das Rot und eine Fahrt aus der Dämmerung der Stadt zurück, die uns klar macht, dass meist irgendwo irgendwer steht und träumt. Ergeht es uns nicht so an dieser Steinhütte? Sollten wir nicht wütend Kampagnen für die Filmemacherin starten statt melancholisch zu bedauern, dass sie keinen weiteren Film machen konnte? Würde uns das zustehen?

Von der Steinhütte zum aristokratischen Anwesen in Manoel de Oliveiras Espelho Mágico. Musik: La danse macabre von Camille Saint-Saëns. De Oliveira, dem am letzten Tag eine musikalische Hommage durch Bruno Belthoise gewidmet wird (die einzige Vorführung, die pünktlich beginnen sollte), ist nicht gestorben. Er hält seine Hand über das portugiesische Kino. Bei unserer Abreise am Flughafen sehen wir die nach ihm benannte Maschine. In Lissabon passieren wir Orte, an denen er gedreht hat. Auch Ana Luísa Guimarães hat mit ihm gearbeitet, seinen Visita ou Memórias e Confissões geschnitten.

Espelho Mágico ist eine Lektion in Ambivalenz. Der Film zeigt Adel und Reichtum mit boshafter Ironie und berührender Zärtlichkeit zugleich. Erzählt wird eine katholisch pervertierte Geschichte rund um die Suche nach ewiger Jugend. Ein makaberer Tanz, ein in sich verlorenes Gelüst. Auch De Oliveira interessiert sich für die Terrasse. Doch im Gegensatz zu Goulet ist sie nicht der Kontakt mit der Natur, sondern die Abgrenzung. Beinahe erinnert der Umgang mit Terrassen an diesen Tagen an Jean-Luc Nancys Gedanken zur Haut. Der Tastsinn gehört nicht zu dem, was wir zuerst mit dem Kino in Verbindung bringen. Höchstens aufgrund der Dunkelheit und Nähe von Liebenden, deren Hände sich umschlingen und die sich im Licht der Leinwand nur erfühlen können. In Fundão jedoch hatte man – und sei es nur verzaubert vom Bann eines geliebten Kinos – das Gefühl, dass das Kino die Erde berühren kann.

 

Hier noch das Gespräch, das ich vor Ort mit Sílvia das Fadas und Marta Mateus führen durfte:

Il Cinema Ritrovato 2017: Until They Get Me von Frank Borzage

Unsettled Moments of Harried Nerves: Die Fragen der aktiven Handlung und genremäßigen Action in Frank Borzages frühen Western Until They Get Me, der im Rahmen der „Time-Machine“-Sektion mit Filmen aus dem Jahr 1917 gezeigt wurde, erledigt sich mit dem Beginn des Films: Ein Titel verortet den Zuseher in Zeit und Raum und teilt mit, dass ein Mann dringend ein Pferd suche. Mit einer Cache-Blende eingeführt, reitet dieser Mann durchs Bild: ACTION, möchte man meinen, doch Borzage ist Borzage und war auch schon in jungen Jahren Borzage. Die nächste Einstellung ist eine Totale. Sie zeigt einige Gestalten unter einem majestätischen Baum lungern. Der Baum weht im Wind, es ist als würde der Filmemacher daran erinnern, dass es Bäume gibt im Westen und Natur und später auch Frauen und Romanzen und Begehren. Es ist bezeichnend, dass der Baum in der Sequenz um den einzigen tödlichen Pistolenschuss des Films ständig ins Bild ragt. Die Zeit hält sich an, der Film sagt uns, dass wir schauen sollen, nicht erblinden. Immer wieder bleibt Borzage einige Frames länger auf Bildern, die bereits von Figuren verlassen wurden beziehungsweise bevor diese eintreten. Das gilt besonders für Bäume, aber auch für das Feuer eines Kamins, die Spiegelung eines Pferds im Wasser oder das Gras einer Wiese.

Drei Schicksale verknüpft der Film mühelos und man könnte sagen, dass sich drei Figuren von Stereotypen in komplexe Figuren verwandeln im Lauf des Films. Mehr noch werden aus Figuren Menschen. Es geht um Kirby, einen Mann, der auf dem Weg zu seiner gebärenden und sterbenden Frau einen Mann tötet, es geht um seine Flucht und den kanadischen Polizisten Selwyn, der ihn verhaftet, dann verfolgt, aber auch versteht (man achte auf eine Nahaufnahme des Polizisten, als er Kirby festnimmt und dessen Baby sieht) und um die junge Margy, die als Dienerin auf einer Farm arbeitet und diesem Schicksal entkommen will, schließlich mit Selvyn im Ford lebt.  Margy wird von der fantastischen Pauline Stark gespielt, die öfter mit Borzage zusammenarbeitete und unter anderem auch für D.W. Griffith und John Ford vor der Kamera stand. Sie hat – wie auch alle Männer im Film – etwas – und man zögert, es zu schreiben – was man ein Borzage-Gesicht nennen kann. Es ist als würden Darsteller in seinen Filmen in den Augen und im Gesicht häufig eine Sanftheit haben, die direkt aus dem Herzen kommt. Passend dazu findet er häufig spezifische Gesten (das gilt für seine Tonfilme genau wie für seine Stummfilme), die etwas unvergleichbares in seine Figuren legen. In Until They Get Me ist das ein trotziger Wisch mit der Hand zwischen Nase und Mund, den Margy dem Sohn ihrer Arbeitgeberfamilie zuwirft.

Die Figuren handeln nicht einfach, sie sind zuerst. Wenn Kirby sein Pferd sucht und mit einem Mann verhandelt, dann ist er verzweifelt und nervös und das prägt seine Handlung. Die Souveränität von Westernhelden geht diesem Film völlig ab. Als Kirby auf sein Baby trifft, steht er verängstigt, zärtlich in einer Tür. Er ist erschöpft von seinem Ritt, aber überwältigt als ein Lächeln über sein Gesicht huscht. Borzage gibt diesen Augenblicken der Liebe mehr Zeit als den Augenblicken der Gewalt. Sein Konflikt entsteht aus der Gegebenheit, dass die Gewalt und Angst immer wieder die Liebe durchkreuzt. Aus einem Moment der Wärme, wie jenem der Begegnung zwischen Kirby und seinem Kind, entsteht eine immense Verzweiflung, weil er kurz darauf erfährt, dass seine Frau die Geburt nicht überlebt hat. Borzage macht ein Kino der verzweifelten Menschlichkeit im Schatten und im Licht einer menschlichen Verzweiflung. Das heißt nicht, dass seine Filme und auch Until They Get Me nicht einiges an trotzigem Humor aufweisen würden.

Der Mörder auf der Flucht handelt aus Liebe, der kanadische Polizist ist irgendwann von seinen Emotionen überwältigt und die junge Frau ist ähnlich wie John Fords Seven Women oder noch mehr Barbara Lodens The Frontier Experience eine Erinnerung an die Existenz eines besonders in diesem Genre bisweilen völlig übergangenen Geschlechts. Nicht nur als erstaunlich moderne Geschichte einer Emanzipation, sondern allein die Tatsache, dass auch die Männer im Film Familien haben, um die sie sich kümmern wollen, ist Until They Get Me bezüglich seiner repräsentativen Arbeitsweise bemerkenswert. Noch ein Wort zur Dramaturgie, die nach den anstrengenden Zeiten ewiger Episodendramen des letzten Jahrzehnts etwas erschöpft hätte sein können. Aber Borzages Geheimnis ist Rhythmus. Man hat das Gefühl, dass sich der Film eigentlich um die Geschichte von Kirby entzündet. Margy und der Polizist Selwyn werden ähnlich der Flash-Forwards von Alain Resnais (etwa in La Guerre est finie) mir kurzen, scheinbar unzugehörigen Szenen eingeführt um via Parallelmontage eine Engführung mit der bis dato dominanten Handlung zu erreichen. Es ist erstaunlich wie flüssig das gelingt, ein wenig erinnert insbesondere die Einführung von Margy gar an Virginia Woolf und ihre dramaturgischen Sprünge, die erst rückwirkend im großen Bild gefunden werden können. Da der Film für die Triangle Film Cooperation entstand, jene Firma, die auch hinter Intolerance von Griffith steckt, sei kurz bemerkt, dass Borzage diese Verknüpfungen niemals an große philosophische Ideen knüpft, sondern lediglich an Relationen zwischen Zeit, Ort und vor allem Menschen. Am Ende steht eine menschliche Geste von Selwyn, der nach Jahren Kirby gefangen hat. Es ist eine Geste, die vielleicht nichts wert ist, vielleicht alles. So oder so fügt sie alles zusammen und löst alles auf.

„And so I ran away. But every year, until they get me, I’m going back on the seventh of September to see my little kid.“

Jachman will attend to it: Über Gesten und Auftritte

Man kann in den frühen Tonfilmen von Frank Borzage sehr gut sehen, was man meinen könnte, wenn man sagt: Dem Kino ist etwas verloren gegangen. Zum einen ist es die Geste, die schon Jacques Rivette in den 1950ern im Kino vermisst hat. Die Bewegung eines Körpers, eines Körperteils, irgendwie gelöst aus der Handlung und doch mitten aus und in ihr erblühend. Hände, die vors Gesicht geschlagen werden, wie sich Hände über Lippen bewegen, Berührungen zwischen Händen und die Art und Weise einer Verabschiedung, eines Winkens, eines Trotzes. Borzage, der sowohl im Stumm- wie auch im Tonfilm bleibende Werke geschaffen hat und zeigt, dass die filmgeschichtliche Grenze zwischen beiden Epochen keinen festen Gesetzen gehorchen muss, arbeitet in Filmen wie Liliom, Man’s Castle oder Bad Girl sehr viel mit Gesten, die niemals mit dem Ton kollidieren oder ihn bloß unterstützen. Sie sind eine eigene Kraft. Die Geste als ausdrucksstarkes Überbleibsel aus der Stummfilmzeit, aber durch das Zusammenbringen von Bewegung und Unbeweglichkeit an einer Wurzel des Kinos rüttelnd. Die gleiche Emotion in Sprache geäußert, wird diese Dichte an Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit nie erreichen können. Werden Zuseher heute mit Gesten konfrontiert, fallen oft Wörter wie „künstlich“ oder „gesetzt“. Diese Gesten scheinen einem anderen Land anzugehören, das nicht mit dem blinden Natürlichkeitsbestrebungen des dominanten Kinos unserer Zeit in Verbindung zu bringen ist. Eine für mich herausragende Geste des Kinos, die viel stärker in mir brennt als jedes Zitat, ist das mit den gespreizten Fingern erzwungene Lächeln von Lilian Gish in Broken Blossoms von D.W. Griffith. Eine menschliche Bewegung, die sich in die Erinnerung brennt. Sie steht für weit mehr als die logische körperliche Reaktion auf bestimmte Situationen. Sie ist der körperliche Ausdruck einer Narration, das Innehalten einer Zeitlichkeit, das es Figuren und Schauspielern ermöglicht, sich zu schützen oder zu öffnen. Darin liegt eine Art Annäherung zwischen Betrachter und Figur, die auch sagt: Hier gibt es Dinge, die können wir nicht erzählen, hier, schaut wie wir uns fühlen. Man bekommt diesen Blick auf eine aus der Zeit in die Zeit gefallene Bewegung präsentiert, weil das Kino mehr sehen kann, als das in der Emotion erblindete Auge. Eine Lupe in der Zeit einer körperlichen Reaktion. Außerdem erzählen diese Gesten von der Würde und Anmut menschlicher Verzweiflung, Liebe oder Angst. Sie brechen einen Konflikt runter auf eine Essenz, die niemals klar wird, sondern in sich und ihrer Körperlichkeit wieder zigfach gebrochen wird.

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Einige Gedanken zu einer bemerkenswerten Sequenz in Little Man, What Now? von Borzage, der erste Auftritt einer der vielen unfassbaren, bunten und wilden Figuren des Films. Nachdem die durchgeknallte Mutter dem verliebten Borzage-Pärchen allerhand Versprechen unter dem Boden wegzieht, verweist sie auf ihren neuen Gönner/Liebhaber/Dandy, der auf den Namen Jachman hört. Er würde sich schon um die finanziellen Angelegenheiten der beiden kümmern. Sie sagt mehrfach: „Jachman will attend to it.“ und als sie aus dem Zimmer verschwindet und Borzage in eine seiner berüchtigten Zweiereinstellungen schneidet, bei denen die Köpfe eines Liebespaars, Backe an Backe die ganze Leinwand ausfüllen und die Augen in eine ungewisse Zukunft blicken, sagt der Mann noch verzweifelt: „Jachman will attend to it.“ Es folgt ein für diesen Film schneller Schnitt auf einen hastig durch die Straßen gehenden Mann. Er trägt einen Hut und einen Gehstock unter dem Arm geklemmt. Die Kamera fährt parallel, hängt allerdings ein wenig nach, sodass man das Gesicht des Mannes nicht sehen kann. Nach einer Sekunde hört man eine Stimme. Sie ruft nach „Jachman“, aber der Mann, dem die Kamera folgt, reagiert nicht. Das ganze wiederholt sich und schließlich kommt ein zweiter Mann ohne Schnitt ins Bild gelaufen und berührt den laufenden Mann am Arm. Jetzt schneidet Borzage in eine Halbnahe der beiden. Der Mann, dessen Gesicht wir nun sehen können, lächelt mit dem falschen und überzeugenden Charme eines Verbrechers. Er leugnet, Jachman zu sein. Sein Name wäre Hermann Kranz. Er wundert sich über die Frage des anderen Mannes, aber als dieser sich als Polizist zu erkennen gibt, reicht er ihm einige Briefe aus seiner Brusttasche, die zu bestätigen scheinen, dass es sich beim ihm um Herrn Kranz handele. Der Polizist gibt sich für Erste zufrieden, er holt eine Zigarre aus seiner Brusttasche, was Herrn Kranz, der natürlich Jachman ist zu einem beschwichtigten Klopfen auf die Schulter des Polizisten bewegt. Das wäre zu nett, alles sei gut, er wolle keine Zigarre. Dann huscht Jachman aus dem Bild und die Kamera korrigiert mit einem minimalen Schwenk das Framing, sodass man nun das Gesicht des Polizisten sieht, der ob des Verhaltens des Mannes den Kopf schüttelt und der natürlich noch einen Auftritt im Film haben wird.

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Eine Figur wird also eingeführt, indem sie leugnet, dass sie diese Figur ist. Ein famoser Schachzug von Borzage in einem Film, in dem es sehr viel um Schauspiel geht, das Schauspiel eines besseren Lebens, das man lebt und leben will, die Art und Weise wie man dieses Leben verkörpern könnte, die Anmaßung, die darin liegt und die kleinen Unterschiede, die entscheiden, ob man sich dieses Schauspiel erlauben kann oder nicht. Gemeinhin gilt John Ford als großer Filmemacher der Auftritte. Gerade weil er diese immer mit einer enormen Nonchalance präsentiert. Es geht auch darum, dass jeder noch so kleinen Nebenfigur ein Augenblick von Präsenz geschenkt wird, die über die narrative Bedeutung hinausreicht. Dadurch wirken viele Filme aus dem klassischen Hollywood weit mehr wie Dokumentationen, obwohl sie Figuren scheinbar sehr vereinfacht zeichnen. Die Kamera gibt den Figuren und sei es nur für diese eine, erste Szene einen Raum eine Person zu werden, eine Person unabhängig und gelöst vom Drehbuch. Es ist nicht so, dass es keine Auftritte mehr gäbe im Kino, vor allem bei großen Stars hat man schon noch das Gefühl, dass Filmemacher besonders darauf achten wie sie eine Figur zum ersten Mal zeigen. Was verloren gegangen ist, ist die Verdichtung einer Narration in einem solchen Auftritt, die Möglichkeit einer Erwartung, nicht indem man eine Tür filmt, durch die eine Figur kommen wird, sondern indem man die Figur selbst zu dieser Tür macht, die einem Wege öffnet und andere verschließt, deren Geschichte man irgendwie kennt, aber nicht genau weiß wie: Jachman will attend to it, so viel ist klar.

Never Let That Little Girl Alone: Bad Girl von Frank Borzage

Zwei Liebende stehen am Fuß eines Treppenhauses, eng, heruntergekommen, gelebt. Das Treppenhaus, nicht die Liebe. Die ist jung, unsicher, enthusiastisch. Er (James Dunn) zeigt nicht gern, was er fühlt. Fast immer äußert er gegenüber ihr das Gegenteil seines Seelenzustands, außer dann, wenn ihn nur die Kamera sehen darf. Er versteckt, was er hat und versteckt, was er nicht hat. Sie (Sally Eilers) ist unsicher, fast ängstlich. Ihr Bruder könnte wütend auf sie sein, weil sie so spät nach Hause kommt. So richtig glaubt sie nicht an Männer. Sie mag den Mann, weil er nicht flirtet. Sie flirtet. Die beiden stehen dort und flirten. Sie sprechen nicht, sie sprechen über alles, blicken sich nie die ganze Zeit an. Sie sind dort nach einer Ellipse gelandet, die das Gegenteil versprochen hat. Es wirkt eigentlich wie ein ironischer, recht üblicher Kniff: Frau und Mann sagen sich, dass sie sich hassen und im nächsten Bild sieht man sie in trauter Zweisamkeit. Aber der Grund für diese Ellipse in Bad Girl von Frank Borzage ist auch ein anderer, denn es geht dem Film weniger um das Entdecken einer Liebe, als vielmehr um das Nicht-Verlieren.

Die Kamera gibt den Liebenden eine Bühne mit sanftem Licht im Bildvordergrund, mit dem beginnenden Treppengeländer als Indikator für Nervosität, Distanz und Nähe. Für Unbeholfenheit auch. Und in der Tiefe öffnet die Kamera das Treppenhaus und den Flur. Das ist wichtig bei Borzage, denn er kann eine Liebe nicht ohne ihre Bedingungen filmen. Man könnte auch sagen, dass er eine Liebe gegen ihre Bedingungen kadriert. Die Illusion gegen ihre Dokumentation. Bei ihm ist das Melodram keine Frage des Décors, Kostüms oder der inneren Stimmungen, die durch äußere Farben, Formen und Lichter angezeigt werden, sondern eine Sache zwischen Geborgenheit und Gefahr, Intimität und Öffentlichkeit. Selten wird das deutlicher als in den beiden Treppenhaussequenzen in Bad Girl. Es ist schon überraschend, dass der Film von vielen als etwas schwächerer Borzage wahrgenommen wird, denn es findet sich eine solche Konzentration und Präsenz in den einzelnen Szenen, dass man jederzeit die Stärke und die Zerbrechlichkeit romantischer Ideale spürt. Die Stärke, das ist bei Borzage ein Glaube an die Liebe als Schutzraum. Die Zerbrechlichkeit, das sind die Umstände, in denen diese Liebe zu erblühen trachtet.

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Im Treppenhaus stehen also diese beiden Liebenden, Borzage gibt ihnen viel Raum und Zeit, sie stehen als Körper dort und als Seelen und während sie dort sprechen und sich näher kommen, werden sie immer wieder unterbrochen von anderen Bewohnern des Hauses, Lebenden und Sterbenden. Ein Betrunkener stolpert an ihnen vorbei, wirft ihnen vielleicht einen Blick zu. Eine Frau telefoniert, bricht fast weinend zusammen, man versucht ihr zu helfen, jemand ist gestorben. Man hört eine Frau schimpfen. Der Betrunkene stolpert wieder vorbei. Die spürbare Nähe wird aufgebrochen, muss sich wieder finden, wird unterbrochen, muss sich wieder finden. Man wird erinnert, dass das was man sieht, fragil ist. Ein Hindernislauf von Gefühlen, die sich etwas von sich selbst behalten wollen, aber immer im Inbegriff sind, mitgerissen zu werden vom Fluss des Lebens. In Bad Girl gibt es kein Abhängigkeitsverhältnis innerhalb der Beziehung, sondern die Liebe existiert hier in Reinheit innerhalb einer Welt der Abhängigkeiten, sie soll schützen und muss beschützt werden. Das ist wohl das, was Borzage zumindest hier zu einem Romantiker macht. Jedoch etabliert er nicht nur in Bad Girl auch ein anderes Verhältnis zu den Bedingungen der Liebe, zu dem, was den Schutzraum bedroht.

Dies geschieht über einen Austausch, der sich vor allem in der Figur der besten Freundin Edna (Minna Gombell) sammelt. Sie ist gewissermaßen die Antithese zu Jean-Paul Sartres „Hui clos“, denn sie ist das, was diesen Schutzraum mit den Abhängigkeiten verbindet. Sie ist die Dritte, die die Zwei brauchen, um zu überleben. Zu keiner Zeit wird sie als Bedrohung für das zweisame Glück gezeigt, sondern als Verbündete, Kupplerin und in sich Liebende. Sie ist auch von Anfang an diejenige, die vom Bild, der Illusion bevorzugt wird. Borzage rückt sie immer wieder in den Fokus der Aufmerksamkeit, in dem er mit ihren Bewegungen schwenkt, nach einer Szene auf ihr verharrt oder sie ins Bildzentrum stellt, sodass sich die Liebenden um sie herum aufhalten. Sie ist wie ein Rückzugsort aus dem Schutzraum, der versichert: Ja, es gibt diesen Schutzraum. Denn in Bad Girl meint es Borzage sehr ernst mit dem Schutzraum. So gibt der Mann sein ganzes Geld aus, um der Frau eine größere Wohnung zu ermöglichen, einen Schutzraum. Aber um diesen Schutzraum als solchen zu offenbaren, braucht er Dritte. Er organisiert eine Einweihungsparty bei der Freunde so tun, als wäre es ihre Wohnung, um seiner Frau, die aufgrund ihrer geheimgehaltenen Schwangerschaft sehr angespannt ist (denn auch ein Baby als dritte Person, so erklärt später ein „erfahrener“ Kinderzeuger im großartigen Wartezimmer einer zerbrochenen Männlichkeit, kann die Liebe bedrohen), die Wohnung vorzuführen und ihr am Ende in geselliger Runde zu verkünden: “It’s your home, baby.“ Die verträumte Vision einer beinahe zu humanen Bescheidenheit in der Figur des Mannes, der sich beim Preisboxen verprügeln lässt, um nicht sagen zu müssen, dass er nicht genug Geld hat, der vor dem viel zu teuren Wunschdoktor seiner Frau heulend zusammenbricht, um ihr gegenüber zu behaupten, dass sein Chef den Kontakt zum Doktor hergestellt hatte, erzählt auf der einen Seite von einer Süße, die man wahrlich nicht in allen Filmen jener Zeit vor dem Hays Code erkennen kann, auf der anderen Seite zeigt sie jedoch auf äußert konsequente, leidenschaftliche Weise, was nötig ist, um einen Schutzraum unter bestimmten Bedingungen zu verteidigen. Denn der Schutz steht hier nicht für einen Schutz vor etwas, sondern vielmehr dafür, dass etwas beschützt werden muss.

Könnte es für diesen Konflikt einen besseren Ort geben, als den Durchgangsort an der Schwelle zwischen einer Wohnung und der Straße? Das Treppenhaus verbirgt und offenbart, verspricht und verdrängt. Es ist der Anfang und das Ende einer Geschichte, je nach dem wann man in welche Richtung weitergeht. Egal für welchen Weg man sich entscheidet, es braucht eine gehörige Portion Naivität und Herz. Borzage vermag uns das Gewicht dieses Weges zu zeigen.