IFFR 2017: Black Power der Black Rebels & Kontrastprogramm

Sich auf das 484 Filme umfassende Programm des International Film Festival Rotterdam 2017 einzulassen, erfordert Geduld mit dem Katalog, Mut zur Lücke, gezielte Entscheidungen und Improvisation. Die vier Sektionen des Festivals bergen konzise kuratierte Programmschwerpunkte und versprechen Orientierungshilfen: Bright Future umfasst Erstlingswerke, Voices konzentriert sich auf neue Arbeiten etablierter Filmemacher_innen, Deep Focus taucht u. a. mit Retrospektiven in die Filmgeschichte der Cinephilie, Perspectives bringt Programme zu aktuellen, gesellschaftspolitisch relevanten Themen. Letztere Sparte beinhaltet in der diesjährigen Ausgabe einen Schwerpunkt, der mit Black Rebels: Navigating the Cultural Divide betitelt ist und historische wie zeitgenössische Arbeiten versammelt, die in Filmgesprächen und Rahmenprogramm diskursiviert werden.

Es ist mein erster Besuch des IFFR, obgleich ich es schon eine Weile im Visier hatte, ebenso wie Rotterdam, das mit seinen faszinierenden Neubauten so manchen Frust über architektonische Entscheidungen in meiner Wiener Umgebung wachruft. „Welcome on Planet IFFR“ blinkt es bei meiner Ankunft aus allen Richtungen, nun gut. Ich beginne (retrospektiv) mit meinem eindrücklichsten Kinoerlebnis. Der Film war mir nicht mal unbekannt, kein neuer Stern, aber mit anhaltender Strahlkraft, gedreht 1968 im Londoner West Indian Student Centre. James Baldwin und Dick Gregory sprechen vor großteils schwarzem Publikum über ,black experience‘ in den USA und in Großbritannien, filmisch dokumentiert auf 16mm von Horace Ové. 48 Minuten lang lässt Baldwin’s Nigger am Ereignis dieser brennenden Rede und der folgenden lebhaften Diskussion teilhaben und knapp fünfzig Jahre später die Aktualität der verhandelten Fragen von Rassismus und Exklusion spüren. „I’m not really talking about colour, I’m not talking about race. I don’t really believe in race, I don’t really believe in colour. But I do know what I see.“ Mit Witz und Nachdruck, zigarettenrauchend am Tisch mal stehend, mal sitzend zieht Baldwin das Auditorium in den Bann, zuweilen mit Gregory schäkernd. Am Beginn steht eine Anekdote zu seinem ersten Londonaufenthalt, als er bei einem Besuch im British Museum mit der Frage konfrontiert war, woher er sei. Born in Harlem, New York. Der Fragende ist nicht zufrieden, fragt nach seinen Eltern. In Maryland und New Orleans. „But before that, where were you born?“ Darauf Baldwins strahlendes Lachen angesichts der Absurdität.

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Gegen Ende des Films antwortet Baldwin auf die Frage eines Hörers „if there is any place for the white liberal in the black power movement“ (damit meint der Hörer seine eigene Position – protestierendes Raunen geht durch das Publikum) pointiert auf die allgemeine Ablehnung reagierend: „It’s not a matter of my liberation, for example. It is also a matter of yours. And if we’re working together it’s not because we’re gonna do something for the ,poor black people‘. We’re gonna do something for each other to save this really rather frightening world.“ Dick Gregory neben ihm bringt in einem abschließenden Statement das Problem von „white folks in the black movement“ auf den Punkt: „white is not a colour, it’s the attitude. Black is not a colour, it’s the attitude.“ Black power is black attitude.
Das Festival setzte mit Black Rebels ebenso Schlaglichter auf zeitgenössische Arbeiten. Spannend dabei fand ich etwa die Kurzfilme Bayard & Me von Matt Wolf und Kbela von Yasmin Thayná.  Vielversprechend auch der Einblick in die queerfeministische Webserie 195 Lewis. Etwas enttäuschend hingegen die gezeigten Kurzfilme von Barry Jenkins, dem mit der Präsentation von Moonlight und einer Masterclass ein prominenter Platz eingeräumt war. Bayard & Me – ein wärmender Film mit unspektakulärer filmischer Herangehensweise (klassisch narrativ, bebildernde Montage von Archivmaterial): Walter Naegele erzählt aus dem Off von seinem Leben mit Bayard Rustin, dem afroamerikanischen Aktivisten der Bürgerrechtsbewegung in den USA und Organisatoren des Marschs auf Washington mit der legendären Rede Martin Luther Kings, der ob seiner offen gelebten Homosexualität allerdings stets im Hintergrund agierte. Liebe auf den ersten Blick bei der ersten Begegnung 1977 in San Francisco. Die Schilderung von Rustins Einsatz für gewaltfreien Widerstand und die gewaltfreie Lösung politischer Konflikte, für die Rechte von Minderheiten, insbesondere für die LGBT-Bewegung und seiner daran geknüpften Kritik an der Identitätspolitik der black power-Bewegung fließt mit der Schilderung des gemeinsamen Alltags ineinander. Die Altersdifferenz des Paares von knapp vierzig Jahren ermöglichte zur rechtlichen Absicherung beider Lebenspartner die kreative Lösung einer Adoption angesichts der Unmöglichkeit einer Heirat. Kbela – ein stolzer, würdevoller, lärmender, dialogloser, lustvoller, bildgewaltiger, tanzender Film über (stigmatisiertes) Haar: „bad hair, static shock, bad hair, steelwool, nappy hair, kinky hair, mop head, unmanagable hair, worn out hair“. Das Haar wird grob bearbeitet, aus Ölkanistern und diversen Tuben begossen, das Haar wird zum schrubbenden Topflappen, das Haar wird liebevoll geschnitten und freudig bestaunt und befühlt, zu gemeinsamen Gesängen in Yoruba („Inaê painted the sea silver, On the sea she poured a river, On the sea, a fire giver – It thrills me to the soal. There’s so much love in it.“). Kraftvoller Beitrag zum brasilianischen natural hair movement gegen die Vormachtstellung glatten Haares, Rassismus und Sexismus.

Als Höhepunkt des umfangreichen Programmschwerpunktes zum politischen Filmschaffen der Black Rebels veranstaltete das Festival eine vier Stunden währende Talk Show: „Minding the Gap“. Parallel zu den Aktionen auf der Bühne waren Friseur_innen im Einsatz…Aufgrund des beharrlichen und effektiven Zeitmanagements des DJs, der aufdreht, wenn sich Gäste und Moderation nicht kurz genug halten, blieb leider zu wenig Zeit für die Talks. Schade! Ein etwas weniger geballtes Line-up hätte tiefere Einblicke und Diskussionen zulassen können. Geladen waren unter vielen anderen Ernest Dickerson, June Givanni und mit Charles Burnett ein Vertreter der L.A. Rebellion. Seine Filme Killer of Sheep und The Glass Shield waren auch Teil des Festivalprogramms, entstanden im Kontext des Filmschaffens einer Gruppe, die sich Ende der 1960er an der UCLA formierte um in Unabhängigkeit von der Unterhaltungsindustrie zu wirken. Retrospektiven hierzu lieferten jüngst das Courtisane Festival oder auch das Österreichische Filmmuseum. So weit, so gut.

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Eine Zielstrebigkeit der etwas anderen Art begegnet mir, als ich eine Pause brauche, die Show verlasse und planlos in einen beliebigen Kinosaal stolpere, in dem die Projektion bereits begonnen hat. Szenenwechsel: Auf der Leinwand ein Zeltplatz im Morgengrauen. Ein Mitt-30er, Roko, ist bemüht, schlaftrunkene auf Bodenmatten, in Hängematten und Zelten lagernde Mit-Mitt-30er zum Aufstehen zu bewegen und in einen Bus zu steigen. Die Nacht war ganz offensichtlich nicht zum Schlafen genutzt worden. Aufgeweckt wird auch der Protagonist und Ich-Erzähler, Stola, der sich ergeben aus dem Zelt müht. Seine Stimme begleitet das Geschehen aus dem Off. Eigentlich hat er keine Lust auf den geplanten Ausflug zum Kloster Gradina mitsamt seinen Fresken, aber am Zeltplatz bleiben will er auch nicht, also lieber der Bus und Schlaf während der Fahrt. Doch diese dauert nicht lange, da der Bus alsbald den Geist aufgibt und in der zusehends brütenden kroatischen Sonne am Straßenrand stoppt. Was tun? Roko findet, man könne den Rest des Weges auch zu Fuß zurücklegen. Eine kleine Gruppe entschließt sich zum Aufbruch. Stola findet zwar, den Busschatten sollte man nicht verschmähen, allerdings ist ihm die Gruppe, die bleibt, nicht sympathisch und so schließt er sich dem Wandertrupp an. Zielsicher schreitet Roko voraus, doch bald wird klar, dass er keine Ahnung vom richtigen Weg hat. Nach und nach reduziert sich die Gruppe (wobei die Gründe etwas beliebig gewählt erscheinen): Martina zieht irgendwann die Gesellschaft einiger Rinder am Wegrand vor, ein Kollege schließt sich einem kuriosen Trupp in Fabeltierkostümen an. Kaum konnte man noch daran glauben, aber am Ende finden Stola und Roko sich als einzig Verbliebene des strapaziösen Pilgertrips schließlich doch in den klösterlichen Gemäuern wieder (die allerdings keine Fresken preisgeben, was nicht der bereits hereingebrochenen Nacht geschuldet ist).

Porträts einer sich verirrenden Junggeneration, die sich am vermeintlich geringeren Übel orientiert, sind im zeitgenössischen Autor_innenkino zwar keine Raritäten, doch darauf zielt A Brief Excursion laut Regisseur Igor Bezinović nicht ab. Ob der Film nun Studie, Symptom oder apolitische Spielerei mit der gleichnamigen Romanvorlage von Antun Šoljan ist, sei dahingestellt. Ein Film, der mir in seiner Kurzweiligkeit als Kontrastprogramm nicht ungelegen kommt, eine Filmerfahrung, die einen leichtfüßigen Spaziergang im IFFR-Dickicht darstellt. Als Bright Future-Beitrag, Teil der „selection of discoveries for the future“ stellt sich mir jedoch nicht nur mit dieser Arbeit einmal mehr die Frage, welche Perspektiven das europäische Gegenwartskino öffnen, wo es einhaken, woran es rütteln, was es aufbrechen oder ob es auf der Stelle treten will. Was kann Kino hier und jetzt? Verirrungen illustrieren? Wo schimmern Auswege?