Filmfest München 2019: A Vida Invisível de Eurídice Gusmão von Karim Aïnouz

Dass am Ende von Lluís Miñarros Love Me Not eine Widmung für Douglas Sirk steht, ändert nichts daran, dass der nicht-existierende Sirk-Preis in München an A Vida Invisível de Eurídice Gusmão von Karim Aïnouz gehen würde. Das liegt vor allem an der vor Farben und organischer Sensibilität pochenden Kamera von Hélène Louvart, die mitsamt der starken Schauspieler (allen voran Carol Duarte, Julia Stockler und Gregório Duvivier) aus einem konventionellen Melodram eine fiebrige Emotion werden lässt. Der Film basiert auf dem gleichnamigen Debütroman von Martha Bathala und ist im Brasilien der 1950er Jahre angesiedelt.

Nur selten geht das Narrativ über das hinaus, was man erwartet, wenn zwei Schwestern auf brutale Art und Weise von ihrem Vater getrennt werden. Die sinnliche Dekonstruktion der patriarchalen Strukturen, die Empathie für die „unsichtbaren“ Frauen und ein beinahe an Pixar-Filme erinnerndes Ende samt der traurigen Vorstellung eines verpassten Lebens erzeugen selten jenes Momentum mitreißender Überwältigung, das von den Tönen und Bildern des Films ausgeht. Darin liegt dann aber auch ein Herzstück des Films, denn das was die Kamera sieht, ist deutlich weniger spannend, als wie sie das tut. A Vida Invisível de Eurídice Gusmão ist ein Film, der seine haptischen Qualitäten vor sich herträgt und dabei zum Beispiel an einen Film wie Days of Being Wild von Wong Kar-wai erinnert.

Louvart, die etwa auch Alice Rohrwachers Le Meraviglie und Lazzaro felice fotografierte, erzeugt einen faszinierenden Sog zwischen sumpfiger Trance (durch die Dunkelheit brechende Überbeleuchtungen, schimmernde Oberflächen, dunstige Halblichter) und dahinfließenden Auflösungserscheinungen, die man für gemeinhin als Melancholie bezeichnet; Melancholie als Frage der Bildsprache. Auch Kostümbildnerin Marina Franco sollte nicht unerwähnt bleiben, denn die Kleider im Film sind schlicht spektakulär und ihre Farben tanzen ganz von selbst mit den Gefühlen der Figuren.

Warum so viel Enthusiasmus für das, was man von einem gewöhnlichem Melodram erwarten kann? Zum einen, weil es nicht viele klassische Melodramen gibt im internationalen Festivalkino. Zum anderen, weil Aïnouz mit seiner Adaption deutlich macht, dass das Unsichtbare entscheidend für das Melodramatische ist. Diese Lücke zwischen den Oberflächen eines gesellschaftlichen Lebens (Hochzeit, Kinder, Familie) und einer darunter liegenden Individualität wird immer von etwas angetrieben, das man gar nicht sieht. Indem der Film eine Schwester aus diesem „geordneten“ Leben verschwinden lässt, aber im Titel das Leben der anderen Schwester (die eigentlich und versteckt als Klavierspielerin lebt) als unsichtbar benennt, verbündet er sich mit den empathischen Mechanismen melodramatischer Erzählkunst.

Es ist schade, dass so viel formales Verständnis auf die unfertige Beobachtung trifft, dass eine Hinwendung an Frauenfiguren zwangsläufig mit einer Dekonstruktion von Männlichkeitsbildern einhergeht. Auch wenn insbesondere die Szenen mit Duvivier äußerst gelungen, bisweilen hochkomisch sind, fragt man sich doch, ob die bisweilen fehlende Ambivalenz wirklich notwendig ist, um diese Gefangenschaft zu erzählen. Es stimmt zwar, dass auch die Männer ihre zärtlichen Momente haben, unter dem Strich aber sind sie despotische Monster ohne Einfühlungsvermögen. Dadurch verkommt der Ausbruchsversuch der Eurídice Gusmão zu einer Heldinnengeschichte. Der Konflikt ist überdeutlich und entfernt sich von der im Film erzählten Realität.

Man kann die Tränen, die man heute im Kino vergießt, an einer Hand abzählen. Eher findet man die vertrockneten Tränen früherer Jahre auf den Kinositzen. Manchmal erinnert sich wer an eine Kinoszene, die Augen beginnen zu glänzen. Oft schämt man sich, wenn man doch überwältigt wird, weil die Mechanismen, die einem zum Weinen brachten allzu billig manipulierten. Wozu weinen, wenn man zynisch sein kann? Wie viel Tränenmittel muss ein Filmemacher in seine Filme streuen, damit die Augen der Zuseher etwas bemerken? Und wie weint man überhaupt? Muss man da pressen oder kommt es einfach so? Kann man leise weinen oder schluchzt man laut auf? Wie stark muss man den Filmemachern vertrauen, um vor ihnen zu weinen, um allein mit ihnen, vor dem Film, im Kino zu sein? Kann man weinen, wenn einen leuchtende Displays, das hungrige Rascheln einer Chipstüte oder eine penetrante Klimanalage die ganze Zeit daran erinnern, wo man sich befindet? Menschen, die über Filme schreiben, schreiben sie auch, weil sie nicht mehr weinen können?

Filmfest München 2019: Kyrgios VS Nadal

Zufällig vor dem Fernsehgerät statt im Kino gelandet. Konnte mich nicht mehr lösen. Dort zu sehen das Wimbledon-Zweitrundenspiel zwischen Rafael Nadal und Nick Kyrgios. Die beiden Kontrahenten, zwei Seiten nicht mal der gleichen Medaille, haben eine Geschichte. Wie viele Geschichten im Sport ist sie eine der Gegensätze, die in diesem sonnigen Donnerstagabend in London ihre würdige oder unwürdige Fortsetzung bekommen sollte. Kyrgios, der unkonventionellste Spieler seines Talents, hatte Nadal 2014 völlig überraschend aus ebendiesem Turnier geworfen. Seine Spielweise, die jeder klassischen Beschreibung dieses klassischen Sports spottet, vermag den bisweilen bewundernswert maschinell agierenden Nadal zu brechen. Nadal, dessen Spielweise einer Uhr gleicht, wirkt im Angesicht von Kyrgios wie ein Queen’s Guard, dem nicht erlaubt wird sich zu bewegen, während ihm eine wildgewordene Wespe um die Nase fliegt. Wenn Tennis, wie man bei Serge Daney lesen oder in Julien Farauts L’Empire de la Perfection sehen kann, etwas mit der Beherrschung der Zeit im Raum zu tun hat, dann verhindert dieser Kyrgios mit seinen Einlagen, Mätzchen und Extravaganzen, dass der spanische Matador, seines Zeichens einer der größten Herrscher über Raum und Zeit, diese Kontrolle behält.

Das Vorspiel zum bemerkenswerten Duell auf dem heiligen Rasen lieferte ein Aufeinandertreffen in Acapulco. Dort besiegte der Australier Kyrgios Nadal in drei Sätzen und verunsicherte diesen vor allem mit wiederholten Aufschlägen „von unten“. Also nicht der gewohnte Schwung über den Kopf, sondern die geschaufelte Variante, die zwar erlaubt ist, aber als respektlos gilt. Legendär ist ein solcher Aufschlag von Michael Chang gegen Ivan Lendl 1989 in Paris geworden. Mit Krämpfen kämpfend verunsicherte der US-Amerikaner den Rhythmus seines tschechischen Kontrahenten. In einem French Open Finale der Damen erntete die Schweizerin Martina Hingis für zwei solche, in ihrer Landessprache „uneufe“ genannte, Aufschläge Pfiffe und Buhrufe. Diese Schläge sind wie eine mentale Unterbrechung des Spiels, indem sie an das Spiel (den nichts anderes ist Tennis) erinnern, auf dem die scheinbare Realität (denn nichts anderes ist Tennis) dieses Hin-und-Hers gründet. Gegen Nadal, der für gewöhnlich weit hinter der Grundlinie stehend auf seinen Einsatz wartet, ist das ein probates Mittel, aber es kommt eben im von aristokratisch verseuchten Ethikprinzipien im Tennis einer Majestätsbeleidigung gleich. Nadal beschwerte sich im Nachklang des Spiels über die Respektlosigkeit seines Kontrahenten. Es kam zu einigen Wortgefechten. Wenn es nur diese Aufschläge wären, könnte man beinahe uneingeschränkt auf der Seite von Kyrgios stehen.

Aber dann sieht man ihm im Fernsehbild. Umhertigernd, mit gebeugter Haltung, beinahe an Quasimodo erinnernd, sein Handtuch hält er wie ein Hund in seinem Mund. Böse flackert das Licht einer Unberechenbarkeit in seinen Augen, man hat das Gefühl, dass das grüne Gras unter seinen Füßen braun wird. Seinen Kragen hochgestellt, lässt er immer wieder lässig den Schläger um seine Finger kreisen wie ein Revolverheld. Zwei Ohrringe glänzen an seinem linken Ohr. Am Vorabend, so berichtet man, war er am späten Abend noch in einem Pub und Burger-Restaurant gesichtet worden. Nadal versucht nicht hinzusehen. Er versucht seinen Ritualen zu folgen. Wasser, Banane, Elektrolyte. Im Laufschritt betritt er zu spät das Feld. Vor seinem Aufschlag tippt er den Ball zigfach auf den Boden, wischt an allen erdenklichen Stellen den Schweiß aus seinem Gesicht, von seinen Armen und Fingern. Immer wieder greift er zum Handtuch, die Mundwinkel verzogen, die Augen eine einzige Falte der Anspannung. Am Vorabend, so weißt man, ist er früh ins Bett gegangen.

Im ersten Satz wirkt es noch so, als würde sich der stoische Nadal nicht beirren lassen. Früh legt er ein Break vor und lässt sein Uhrwerk rattern. In diesem Spiel, das war allen vorher klar, würde es darum gehen, ob die Uhren von Nadal aus der Zeit fliegen oder ob er sie in dieser halten kann. Kyrgios, über den der Kommentator später sagen wird, dass er alles und nichts könne, besitzt einen ganzen Beutel voller Störungen, die er nach und nach in das Spiel wirft. So tanzt er wie ein beschwipster Gene Kelly auf dem Rasen bevor Nadal serviert, links und rechts, hoch und runter, sodass sich vor Nadal kein festes Bild aufbauen kann. Natürlich wagt er auch mit Erfolg den Aufschlag von unten. Er spuckt sichtbar seinen Speichel in die Londoner Abendluft, führt lamentierende Monologe und schließlich entdeckt er so etwas wie die Mutterzelle des spanischen Rhythmus’. Denn Nadal, man kennt es, lässt sich unheimlich viel Zeit. Er lässt seine Kontrahenten warten, während er unbeirrbar seinen Ritualen folgt. Kyrgios beginnt sich darüber zu beschweren. Er diskutiert die ersten zwei Sätze praktisch in jeder Unterbrechung laut mit dem Unparteiischen. Man weiß nicht, ob er es wie John McEnroe für sich selbst tut oder ob er nur Nadal brechen will. Nadal schlägt so gute erste Aufschläge in diesem Spiel wie ganz selten. Auf Rasen und gegen jene, die den Rhythmus brechen wollen, ist ein guter erster Aufschlag das beste Mittel. Für die Qualität dieses entscheidenden Schlages findet die Vorbereitung sozusagen außerhalb des eigentlichen Spiels statt. Es sind die offiziell 25 Sekunden, die der vor Schweiß tropfende Nadal Zeit hat, um aufzuschlagen. Er überspannt den Bogen immer wieder sanft. Der Schiedsrichter lässt ihn gewähren, Kyrgios nicht. Ein ähnliches Bild bei Aufschlag des Australiers. Dieser will einfach schlagen, aber Nadal ist noch nicht so weit. Ein entsetztes Schulterzucken, ein Kommentar in Richtung des Schiedsrichters, irgendwann muss Nadal es hören.

Tatsächlich wirkt er beeindruckt im zweiten Satz, den Kyrgios recht dominant für sich holt. Diese Zeit, in der gar kein Tennis gespielt wird, ist entscheidend für dieses Spiel. Sie entscheidet darüber wie gespielt werden kann. Im Film fände sie ihr Pendant wohl räumlich mit dem Off-Screen, in der Literatur ist es womöglich das, was zwischen den Zeilen geschrieben steht, in der Musik sind es die Pausen, im Leben jene Augenblicke, in denen man kurz Luft holt. Was passieren kann beim Luftholen: Man bekommt Luft, man erholt sich, man konzentriert sich, man hustet, man verspürt ein Kratzen im Hals, man spürt das Gewicht der Welt oder eben man verschluckt eine Wespe. Die Geschichte dieses Spiels ist eine Arbeit gegen die Zeit. Die bessere, weil unnachgiebigere Uhr hat Nadal. Er ist der komplettere Spieler, was nicht heißt, dass er talentierter ist. Kyrgios erinnert auch Kraft seines Namens an eine Figur aus der griechischen Mythologie. Jemand, der unter der Erde gegen Steine schlägt, damit es Beben gibt, die die Welt von ihrem Weg abbringen. Nadal ist der muskulöse, strahlende Held in dieser Geschichte, er versucht die Erde auf Kurs zu halten. In der Mitte des ausgeglichenen dritten Satzes fällt Kyrgios nichts mehr ein, also schießt er Nadal mit einer Art Baseballschlag auf den Körper gezielt ab. Nadal war ans Netz gegangen, um einen Punkt zu machen, Kyrgios, der in diesem Spiel einige außergewöhnlich gefühlvolle Schläge in die Landschaft streicht, feuert rücksichtslos auf seinen Körper. Die Fernsehbilder zeigen nicht, ob es eine Entschuldigung gab, aber der lange, böse Blick von Nadal über seine Schulter lässt vermuten, dass es keine gab. Dieser Aktion folgt ein Doppelfehler. Nadal wankt.

Hier auf dem heiligen Rasen hat der Spanier „nur“ zweimal gewonnen (in Paris auf Sand hat er 12mal triumphiert) und generell wirkt die Spielfläche, wenn er spielt, in Paris immer deutlich größer als in London. Auf Sand beherrscht er Raum und Zeit ohne Einschränkung, wogegen das schnellere Spiel auf Rasen mitsamt der größeren Unberechenbarkeit ihm Schwierigkeiten bereitet. An dieser Stelle versteht Nadal, der für gewöhnlich einer der größten Sportsmänner in diesem Zirkus ist, dass er dieses Spiel nicht allein auf dem Platz gewinnen wird. Er muss auch die Zeit außerhalb des Spiels beherrschen. Hier gewinnt Nadal dieses Spiel. Er beginnt zu schreien, das Publikum zu animieren, zu sprechen, zu springen. Wie angestachelt wirkt er, ob der Provokationen seines Gegenübers. Er rettet sich aus der Situation und landet in einem Tie-Break. Einen solchen hat er in sechs Duellen mit Kyrgios noch nie für sich entschieden. Aber inzwischen ist Kyrgios verhältnismäßig ruhig geworden. Er zeigt sich beeindruckt, denn Nadal ist stärker geworden.

Plötzlich steht eine andere Frage im Raum: Kann man seinen Rhythmus verlieren, wenn man den Rhythmus der anderen bricht? Eine politische Frage, wenn man an das offensive Vorgehen mancher Oppositionsparteien denkt. Diese ewige Frage, ob Kritikerinnen und Kritiker eines Systems, eines Werks oder eben einer Regierung es „besser“ machen könnten. Können aus destruktiven Impulsen eigene Zeitrechnungen entstehen? Indem Nadal beginnt (zugegeben äußerst moderat, aber immerhin) diesen Impulsen eigene Störungen entgegenzusetzen, bricht er die Selbstverständlichkeit der extravaganten Protesthaltung von Kyrgios. Dieser macht entscheidende Fehler. Nicht nur in diesem dritten Satz, den Nadal für sich entscheidet, sondern auch im finalen vierten Satz, der wieder in einem Tie-Break endet. Dort macht Kyrgios die Fehler, die er in Nadal provozieren wollte. Er schlägt einen einfachen Ball ins Netz und kann sich davon nicht erholen. Er verliert, obwohl er nicht schlechter war. Nadal, ein großer Champion wie man so sagt, hat die Zeit zurückerobert. Er hat es geschafft, weil er seine eigenen Handlungen außerhalb der eigentlichen Zeit gefunden hat. Statt nicht auf Kyrgios zu reagieren oder ihn zu imitieren, hat Nadal eine eigene Sprache in der Zeitzone des Australiers gefunden. Er hat ihm den Stolz und die Wut einer dem Spiel und seiner Ästhetik zugewandten Position entgegengestellt. Dadurch hat er Kyrgios nicht nur verlieren lassen, sondern ihn auch zu einem guten Verlierer statt schlechten Gewinner gemacht. Still war er am Ende. Die einzige wirkliche Störung im vierten Satz ging von einer Bachstelze aus, die das Spielfeld beflog. Mit ihr flog der Schläger des Australiers, aber nicht weit genug, um auf der anderen Seite des Netzes hörbar zu sein.

Eine Stippvisite beim Filmfest München

Ich war heuer beim Filmfest München. Genauer gesagt: Ich habe mir heuer einen Film beim Filmfest München angeschaut – einen einzigen. Stimmt nicht ganz, einen Vorfilm gab es auch – aber es war nur ein einziges Filmprogramm. Besucht habe ich das FFM, um ein paar Interviews zu führen. Nebenher, so meine Hoffnung, würde ich vielleicht auch ein bisschen ins Festival reinschnuppern können und mir einen kursorischen Einblick ins örtliche Ambiente verschaffen. Leider wurde aus diesem Vorhaben nichts, uninteressanter Gründe halber. Beziehungsweise wurde schon was draus, aber eben nur diese eine Vorstellung. Zumal von einem Film, den ich ohnehin schon kannte: Zama von Lucrecia Martel.

Kann man von einer einzigen Filmvorführung auf ein ganzes Festival schließen? Wahrscheinlich nicht. Trotzdem wage ich hier diese unangemessene Extrapolation, im Guten wie im Schlechten: Schließlich wurde mir für die Zama-Vorstellung eine Pressekarte gewährt, und ich empfinde darob eine moderate Textbringschuld.

Was mir noch vor Filmbeginn auffiel, war die Stimmung im Kino. Jedes Filmfestival hat eine Grundstimmung, die dem Großteil seiner Vorführungen eignet. In Cannes ist diese feierlich, angespannt und dabei trotzdem auf eine erschöpfte Art ausgelassen. Bei der Viennale befindet sie sich meist auf der Schwelle zwischen Gemütlichkeit und Pietät. In Bologna wirkt sie in erster Linie angenehm. In Berlin eher gestresst. Hier in München, namentlich in einem kleinen, vollgepackten Saal der City Kinos gegen 19:30, hat sie etwas Heimeliges, wohlig Aufgeregtes – schön, wir sehen jetzt einen Film!

Was gleich klar ist, als die beiden Moderatoren auftreten: Ein cinephiles Privatissimum wird das hier nicht. Die kurzen Einführungen sind niederschwellig, ein bisschen schwärmerisch, weisen das Publikum sachte darauf hin, doch bitte etwas genauer als womöglich üblich auf Bildsprache und Sounddesign zu achten – als würden sie im Wohnzimmer den Freunden erstmals ihren etwas exzentrischen Lieblingsfilm zeigen. Im Zuschauerraum sitzt, so scheint es mir zumindest, viel Laufkundschaft, nicht nur Pressevertreter und Festivalroutiniers. Ob sie ahnen, was auf sie zukommt?

Gehen tut jedenfalls kaum jemand. Ob sich wer langweilt, kann ich nur bedingt beurteilen. Hie und da scheinen Leute jedenfalls mit dem Film mitzugehen, lachen auch stellenweise oder geben ein nachdenkliches „Hm!“ von sich. Als die Vorstellung dann zu Ende ist – bzw. eben noch nicht ganz zu Ende – erstmal ein kleiner Schock: Keine zwei Sekunden nach Beginn des Abspanns (und der Zama-Abspann ist kein japanischer Schluss-Aus-Rockmusik-Abspann, sondern ein behutsam von der langen, musikalisch verträumten Einstellung eines langsam aus dem Bild driftenden Kanus zum Ausklang überleitender, farblich ausgestalteter Hier-Ein-Name-Nach-Dem-Andern-Abspann) wird der Ton abrupt gekappt, und Florian Borchmeyer, Leiter des internationalen FFM-Programms und einer der bereits erwähnten Moderatoren, läuft vor die Leinwand und ins weiterstrahlende Projektorlicht, um sichtlich erfreut bekanntzugeben, dass die Regisseurin wider Erwarten zugegen ist und sich zu einem Publikumsgespräch bereit erklärt hat.

An diesem Punkt wären bei mir normalerweise schon die Luken dicht. So brutal in eine Sichtung reinzuschneien, bei der sich noch keinerlei Aufbruchsstimmung breitgemacht hat, und damit die Integrität des Films zu unterhöhlen, tut in meinen Augen keinem Festival gut. Aber ok: Dass Martel da ist, weiß hier ja noch niemand, und wenn man nicht gleich Bescheid gibt, sind am Ende wirklich alle weg. Außerdem scheint sich die Filmemacherin selbst, die auch schon vorne steht (und bei der man dann doch annimmt, dass sie das Kino als Kunstform ernst nimmt), in keinster Weise am Prozedere zu stören. Vielleicht ist mein Schreckimpuls ja überhaupt nur cinephile Eitelkeit. Also mal schauen.

Tatsächlich bleiben jetzt nicht alle, aber doch viele Menschen, um Martel zuzuhören und ihr Fragen zu stellen. Sie, die in etwaigen Videointerviews einen etwas eigenbrötlerischen Eindruck auf mich gemacht hat, wirkt hier in persona gar nicht so, sondern sehr umgänglich, locker und gut aufgelegt, mit Menschen zu reden – auch mit solchen, die mit ihrer Art von Kino vielleicht kaum was am Hut haben. Zwar sagt sie dann schon Sachen wie: Ein Film muss erstmal gar nichts. Aber das klingt aus ihrem Mund weder herablassend noch eingebildet noch apodiktisch. Sondern genauso, wie es klingen sollte – nach Wahrheit. Sie holt auch weiter aus, erzählt (mit Übersetzung von Borchmeyer) von der Entstehungsgeschichte des Films, der Inspiration durch eine Odyssee gegen die Strömung des Paraná-Flusses (das Boot kam nur so langsam vorwärts, dass sie auch zu Fuß hätte gehen können, scherzt Martel), der ungewöhnlichen Musikauswahl – und mit wenigen Ausnahmen, die irgendwann den Saal verlassen, scheinen die Zuschauer dankbar für ihre Ausführungen.

Als ich dann hinaustrete in den Gastgarten der City Kinos, einer lauschigen Bobo-Enklave im sonst eher lebenssatt ungebärdigen Bahnhofsviertel Münchens, denke ich mir: War doch eigentlich ganz nett. Hier haben eben gar nicht mal so wenige Menschen, die, wie ich anzunehmen wage, nicht allzu oft ins Kino gehen und dort nur selten etwas vorgesetzt bekommen, was sie wirklich herausfordert, mehr oder weniger aufmerksam und enthusiastisch einen Film gesehen, der zwar zugegebenermaßen nicht ganz so „schwierig“ war, wie ich ihn ursprünglich in Erinnerung hatte, aber doch in jeder Hinsicht ungewöhnlich und von klassischen Erzählkinomustern meilenweit entfernt. Diese Menschen sind mehrheitlich gebannt bis zum Ende geblieben und haben ihre hoffentlich spannende und/oder sinneserweiternde Erfahrung überdies per Augenhöhenbegegnung mit der Filmemacherin abgerundet/konsolidiert und insofern im Idealfall als positiv und wiederholenswert abgespeichert. Das kann (nicht nur, aber heutzutage vor allem) ein Filmfestival leisten, und vielleicht ist eine einladende, „Achtung, Kunst!“-Barrieren abbauende „Nettigkeit“, die ich im filmischen Mehrheitsbespaßungseventkontext sonst eher ablehnen würde, ganz einfach notwendig für diese Leistung.

Aber dann fällt mir der Artikel aus einer FFM-Beilage der Süddeutschen Zeitung wieder ein, den ich vor Zama gelesen habe, und in dem steht, dass das Filmfest bald budgetär aufgestockt und „zum Medienfestival umgebaut“ werden soll. Dann sollen hier „neben Filmen und Serien“ auch „Games, Animation und Virtual Reality“ eine Rolle spielen. Keine Sorge: „Film bleibt der Nukleus“, zitiert der Text Festivaldirektorin Diana Iljine, um dann euphorisch zu schließen: „Das Filmfest macht sich fit für die Zukunft – und nur die Pessimisten und Verweigerer sagen vielleicht noch: ‚Braucht’s das?‘“ Auch das ist ein Resultat besagter Nettigkeit, die sich hier als Anpassungsbereitschaft an Gegebenheiten äußert, die die Spezifität der Kinoerfahrung verleugnen. Und plötzlich bin ich mir doch nicht mehr so sicher, ob es wirklich sinnvoll ist, von einer einzigen Filmvorführung auf ein ganzes Festival zu schließen.

Echoing Eyes: Arabian Nights von Miguel Gomes

In Miguel Gomes’ Arabian Nights geht es vielmehr um die Relation von Narration und Realität oder Aktualität und Fiktionalität, als darum, ob wir es hier mit einem gelungenen Film zu tun haben. Es ist die Machart und Konstruktion des Films selbst, die hier – und das ist selten genug – von Bedeutung ist. Die bis zum Anschlag geöffneten Schleusen der Inspiration, der Politik, der Natur, des Kinos treten beständig in den Weg eines Versuchs, eine Geschlossenheit beim Sehen zu konstruieren. Gomes gibt am Anfang jeder seiner gut zwei Stunden langen Teile (1. Teil: The Restless One, 2. Teil: The Desolate One, 3.Teil: The Enchanted One) eine kurze, schriftliche Einführung in sein Vorgehen und seine politische Agenda. Der Film würde lose von der Struktur der Arabischen Nächte ziehen. Allerdings wäre das Geschehen in das zeitgenössische Portugal, ein Land in einer erheblichen ökonomischen und sozialen Krise verlegt worden. Die unterschiedlichen Episoden, die Scheherazade dem König erzählt, werden in zahlreiche Rahmen verpackt und erzeugen ein schier unendliches Wechselspiel aus dokumentarischen und fiktionalen Elementen, weitaus wilder und dennoch verwandt mit Gomes‘ Our beloved month of August.

Ob man den Film nun als ganzen betrachtet oder mit Pausen scheint relativ unerheblich. Gomes selbst äußerte sich, dass er zu Pausen raten würde, es aber prinzipiell möglich und in gewisser Weise „echter“ sei den Film am Stück zu sehen und vor allem in der richtigen Reihenfolge. So ganz scheint er sich also auch bezüglich der Präsentation nicht festlegen zu wollen. Ähnliches gilt für seine Ästhetik und seine Dramaturgie. Es ist nicht nur so, dass Arabian Nights ein Film wäre, bei dem man nicht sagen könnte, was als nächstes passiert, nein, vielmehr entsteht der Eindruck, dass es der Filmemacher selbst auch nicht weiß. Ähnlich wie Albert Serra praktikziert Gomes ein wortwörtliches Verschwinden des Regisseurs, es geht ihm vielmehr um das Treiben in einer filmischen Welt. Bezeichnend, dass Gomes sich relativ zu Beginn seiner Märchen und Dokumente selbst als Flüchtenden inszeniert. So sitzt er einsam zwischen seiner Crew, zieht eine Kapuze auf und rennt dann zum Schrecken des Filmteams davon. Es ist dies auch einer dieser humoristischen Zwischentöne, denen sich der Film nie ganz entziehen kann, die auf der einen Seite dann doch den Regisseur spürbar machen, aber sich auch immer dagegen wehren müssen, dass sie nicht das Gewicht des Films stören.

Arabian Nights Miguel Gomes

Doch was ist dieses Gewicht des Films? Ist es dieses Gefühl einer Geschichtlichkeit im Moment einer Realität? Oder ist es vielmehr die bloße Länge, der schiere Wahnsinn des Unterfangens? Ist es gar die Größe und flirrende Zerbrechlichkeit einer Kraft der kinematographischen Bilder, die hier sehr viel mit Kameramann Sayombhu Mukdeeprom zusammenhängen, einem Künstler, von dem wir auch dieses avancierte Spiel mit unterschiedlichen Formaten (die „Baghdad-Sequenzen“ wurden in 35mm gedreht, die „Portugal-Sequenzen in 16mm) und Stilen kennen, da er sie schon häufiger in seiner Zusammenarbeit mit Apichatpong Weerasethakul anwenden durfte, wohl am überzeugendsten in Uncle Boonmee who can recall his past lives? Man kann es nicht eindeutig sagen, aber ständig gibt es da dieses Gefühl, dass einem etwas entgeht, ein Film, den man nicht gewachsen sein kann, der sich mehr oder wenig selbst zur Geschichte oder besser zum fantastischen Zeitzeugen erklärt und es somit dieser überlässt, etwas mit ihm anzufangen. Aber einige Gedanken regen sich dann doch beim Sehen und Erinnern, Gedanken, die sich sicherlich mit der Zeit und mit wiederholten Sichtungen weiter transformieren.

The Restless One

Arabian Nights3

Ruhelos scheint auch Gomes. Immerzu auf der Suche nach einer filmischen Verwandlung, einer Überraschung, einem Rhythmuswechsel, alles ist jederzeit möglich. Das Gefühl einer angsteinflößenden Freiheit kehrt mit Arabian Nights zurück in das Kino. Schon im ersten Teil des Gesamtprojekts wird dies klar. Dieser ruhelose Film erinnert am meisten an Our beloved month of August, denn Gomes praktiziert hier am deutlichsten die verspielte Vermischung von dokumentarischen und fiktionalen Momenten. Auch Szenen wie jene mit dem Akkordeonspieler (den man bereits aus Gomes vorletzten Film kennt) oder das wiederholte Feuerwerk in Resende sowie eine Geschichte rund um Brände erinnern an Gomes‘ in ein Melodrama kippende Dokumentation. Wir hören die Stimmen der Betroffenen wie eine ewige Mahnung und beständige Poesie aus dem Herzen dieses Landes am Meer, diese Melancholie und dieser Humanismus von Gomes, scheinen wirklich aus dem Land und seinen Blicken geboren zu werden. Andernorts wurde der Film vielleicht auch deshalb als Liebesbrief an Portugal verstanden, obwohl es doch ein sehr wütender Liebesbrief ist. Bis der Film zu seiner Struktur um die arabischen Nächte findet, dauert es einige Zeit, Gomes ist ein Meister darin, seinen kreativen Findungsprozess filmisch festzuhalten. In diesem Findungsprozess stößt man auch zum ersten Mal auf einen Zweifel, einen Zweifel am Geschichtenerzählen, an der Geschichte, der Geschichtlichkeit. Kann man einer Idee und ihrer Realität beziehungsweise der Realität und ihren Ideen gerecht werden filmisch? Kann man filmisch überhaupt festhalten, was man sich vornimmt? Gomes zweifelt, aber obwohl er in seinem eigenen Film als Feigling vor seiner Aufgabe flüchtet, stellt er sich eben jenem Unterfangen in der Realität seines Films umso heftiger, mit einer immensen Palette an filmischen Sensationen, Explosionen und Möglichkeiten. Nicht nur eine Art SMS-Dramaturgie, in der Kurznachrichten als Text auf den Bildern erscheinen, sondern auch satirische Vulgarität, Schockeffekte wie die Explosion eines Wals oder der bereits angesprochene Meta-Blick in den Spiegel seiner eigenen Crew, in der ich auch endlich meinen Lieblingstonmann/Schauspieler Vasco Pimentel wieder sehen durfte. Um nochmal zurück auf das zu kommen, was ich eben eine satirische Vulgarität genannt habe: Gomes scheint eine Lösung hinter den komplexen Problemen und großen Katastrophen seines Landes immer wieder in äußerst banalen und animalischen Verhaltensweisen zu finden. Bei den großen Politikern geht es letztlich wie man schon immer gewusst hat um Erektionen, während anderswo im zweiten Teil Fahrstühle blockieren, weil man in einer Silvesternacht in sie hinein gepisst hat. In dieser Banalität kann man auch an Landschaft mit dem Sturz des Ikarus nach Pieter Brueghel denken. Oder vielleicht an den Spruch, dass man vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht. Verloren in der Einfachheit und Komplexität jeder einzelnen Geschichte, man verheddert sich in einem Netz wie das Genie am Ende des dritten Teils, man ist gefangen in den Strukturen einer Politik und einer Fiktion zugleich. Unfähig das große Ganze zu erkennen und letztlich geht es in Arabian Nights genau darum: Um unsere Unfähigkeit die Gegenwart zu erfassen und die daraus resultierende Notwendigkeit von Fiktionen.

In fast jeder Episode spielen Tiere eine dominante Rolle und Gomes stellt ganz bewusst am Anfang seines Films die Frage nach dem metaphorischen Potenzial solcher parallelen Ereignisse. Dabei geht es ihm um ein Problem mit Insekten in der Gegend, in der er die Geschichte(n) des Hafens erzählt. Doch eine Metapher, das wird klar, ist genauso einer Krise unterzogen, weil eine Metapher Teil einer narrativen Struktur ist, die mit Arabian Nights nicht mehr greifen kann. Im Verlauf des Films treffen wir auf tote Wale, Hunde, einen berühmten Hahn, singende Vögel, Kamele, einen Esel und vieles mehr (etwas enttäuschend, dass es nicht wie in Tabu ein Krokodil gibt, ich liebe Krokodile). Das Fantastische kann hier weder autonom existieren, noch kann es als Fluchtpunkt oder Kontrapunkt zur Realität betrachtet werden. Vielmehr existiert das Fantastische in der Krise, es ist zugleich diese Krise, ihr Ausdruck, als auch völlig unabhängig von ihr. Das Reale ist immer Teil der Imagination und die Imagination Teil der Realität. Man denke an die Märchen, die uns Politiker erzählen, Legenden in unserer Geschichtswahrnehmung oder diese ewigen Sehnsüchte, die die Realität erst als solche konstituieren und erträglich machen. Indem Gomes das Fantastische (Arabische Nächte) und das Reale (die Krise in Portugal) auch örtlich und in seiner Bildsprache trennt und es uns dennoch nicht erlaubt sie emotional zu trennen, zeigt er uns zugleich die Kraft und das Versagen des Kinos, das immerzu nur aus Fragmenten bestehen kann, aber diese wie von selbst in unseren Augen zusammensetzt.

The Desolate One

Arabian Nights

Der zweite Teil ist der hypnotischte in Arabian Nights. Große, langsame Bilder, die mit zarten Bewegungen von einer Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit erzählen, eröffnen die erste Episode im Stil eines Westerns. Hinter diesen anfänglich sehr willkürlich scheinenden Ergüssen, entpuppt sich früher oder später immer eine philosophische, moralische oder politische Wahrheit. Es ist in diesem Teil, dass Gomes am Offensichtlichsten aus dem Imaginären etwas Wahres und Reales schöpft. In einer langen Gerichtsverhandlung, die stark an das Kino des verstorbenen Manoel de Oliveira erinnert, geht es um die Frage der Schuld. Gomes bewegt sich mehr und mehr auf abstraktes Terrain und dieses Terrain ist durchsetzt von einer Sinnlichkeit, die sich in Tränen, Blut und Körpern wiederfinden lässt. Es liegt ein Delirium der Würde in der Kriminalität und reichen Armut dieser Bilder. Ein Vorhang weht aus einem offene Fenster. Haben die Bewohner Selbstmord begangen? Das desolate ist die Ausweglosigkeit, die Undurchschaubarkeit und die absurde Tragweite dieser Verzweiflung. Aus diesem Grund ist Teil 2 auch der emotionalste Film der Arabian Nights. Musikeinlagen von Lionel Richie oder Rod Stewart inklusive (natürlich nicht zu vergessen, die gefühlt 20 verschiedenen Variationen von Perfidia, die wir im Film hören, wodurch die Musik zu einer eigenwilligen Hommage an Wong Kar-wai wird). Das Spielen ist Gomes ein wenig vergangen im zweiten Teil. War es im ersten Teil noch der Exzess eines Geschichtenerzählens in der Krise, in einer dieser Krisen, in der es immer so viele Geschichten gibt, so ist es jetzt ein Bewusstwerden der Unendlichkeit dieser Geschichten und ihrer Härte. Die Arbeitslosen, Diebe, Menschen an der Armutsgrenze, Verbrecher, sie alle, so abgedroschen das natürlich klingt, sind Menschen und sie sind Menschen Portugals.

Das Spirituelle und Erhabene ist bei Gomes trotzdem nicht sicher vor dem Zynismus. Zwar erscheinen die Bilder in diesem Teil hier und da tatsächlich wie aus einem Film von Weerasethakul, aber immer wieder wirft Gomes die sinnliche Wirkung mit seinem Intellekt und seiner Ironie über Bord. So ganz will er an keine Wahrheit glauben, so ganz vertraut er keinem Gefühl. Es ist so als würde man sich immer wieder in einem surrealen Meer verlieren und dann von Brecht oder Gomes gezwickt werden. Sie sagen uns: Träume, aber nur, um aufzuwachen. Doch für ein mögliches und sicher nicht nötiges agitatorisches Potenzial fehlt Arabian Nights letztlich der Ausweg, die Klarheit und die Erkenntnis. Wenn es eine Erkenntnis gibt bei Gomes, dann dass es keine Erkenntnis gibt. Wenn wir also wieder zurückkommen auf die Relation von Fiktion und Realität, dann kann man sagen, dass Gomes sie auch immer wieder gegeneinander ausspielt. Man kann sich nie sicher sein, wann uns eine Lüge erzählt wird und wann wir die Wahrheit hören. Ob das Kino die Wahrheit oder eine Lüge 24mal in der Sekunde ist, spielt bei Gomes keine Rolle, das Kino ist einfach 24mal in der Sekunde. Und immer, wenn wir romantisch glotzen, wird uns die Realität ermahnen und immer, wenn wir eine Art soziales Bewusstsein entwickeln, wird uns die Fiktion erheben. Der zweite Teil bietet auch die strengsten Gegensätze zwischen dem Theater des Kinos, der Musikalität des Kinos und der Kinematographie des Kinos. Das Theater liegt im Gericht, der Darstellung einer Schuld, die Musik in der Melancholie und Poesie und die Kinematographie in der Zeugenschaft und Konstruktion und diese Gegensätze markieren wohl auch die politischen Konflikte um Portugal (oder aktueller auch Griechenland). Und Gomes ist hier wirklich desolat, denn das Theater findet keine Antworten, die Musik ist nur mehr eine Erinnerung, ein Sterben und das Kino kann nicht eingreifen. Gomes greift nicht ein. Doch es gibt einen Hoffnungsschimmer, Vasco, ein junger Mann, ehemaliger Drogenabhängiger, er lebt mit seiner Freundin in einem Wohnblock und züchtet einen Buchfink für Gesangswettbewerbe. Seine Figur kommt nach dem zweiten Teil auch im dritten Teil vor. Nicht nur findet Gomes in ihm eine Narration, nein, er findet auch eine Dokumentation und eine Schönheit des Gegensatzes.

The Enchanted One

Arabian Nights2

Dieser Gegensatz ist Faszination eines eigenen Films im Film, einer Dokumentation (kann man in Arabian Nights davon sprechen?) über einen Buchfink-Gesangswettbewerb, der von Kriegsveteranen und Kriminellen durchgeführt wird. Die Schönheit des Gegensatzes. Einer dieser Vogelzüchter ist eben Vasco, der allerdings von einem Schauspieler gespielt wird (so schnell ist es vorbei mit der Hoffnung der Realität). Hier gibt es ganz plötzlich die Einfachheit eines Vogelzwitscherns, die Schönheit dieses Gesangs. Aber – und das wird auch gesagt – vor lauter singen, kann man sterben. Ist die Poesie Portugals gleichzeitig sein Untergang? Immer wieder gibt es in Arabian Nights die Musik, die Poesie, das Fantastische und immer wieder gibt es auch das Sterben. Nun erklären die Vögel, dass diese Ko-Existenz auch auseinander hervorgehen kann und es ist äußerst konsequent, dass Gomes in seinem dritten Teil die Ton- und Bildebene so extrem wie sonst nie in seinen Arabian Nights trennt. Einmal hören wir die Geschichte einer Asiatin und sehen Bilder einer brutalen Polizeidemonstration. Erst spät werden die beiden Ebenen kurz zusammengeführt, es ist ein wenig wie in einem Film von Gerhard Friedl. Sinn machen viele Geschichten sowieso erst oft in ihrem Abklang, aber das kennen wir bereits von Gomes aus seinem Redemption. Aber Gomes geht noch weiter mit den Gestaltungsebenen, denn Schrift spielt plötzlich eine enorme Rolle im dritten Teil. So liegt die Erzählung von Scheherazade ständig über den Bildern der Vogelzüchter und wird gleichzeitig zu einer Fiktionalisierung und Hintergrundinformation. Gomes zwingt den Zuseher zum Lesen, er nimmt seinen Bildern damit endgültig ihre Bedeutung, ja ihre Glaubwürdigkeit im Bezug zum Realen. Aber gleichzeitig ist auch diese Schrift im Bild ein Kino. Die Ebenen klaffen meilenweit auseinander, den Geschichten fehlt ihr Ton, ihre Sinnlichkeit, sie können nur noch nüchtern und gegen die eigene Ermüdung und das Schwinden der Inspiration entstehen. Sie werden jedoch durchgezogen, weil sie erzählt werden müssen, um das Volk zu retten. Dieses Vorgehen ist äußerst ungewöhnlich und hat mich ein wenig an Hou Hsiao-Hsiens zweite Episode seines Three Times erinnert, ohne dass Gomes auf irgendeine Art Stummfilmästhetik zurückkommen würde. Einen solchen, an Tabu erinnernden Moment, gibt es wenn dann am Ende des ersten Teils, als in im fröhlichen Rausch eines Neujahrsschwimmens plötzlich der Ton aussetzt und eine tragische Tragweite in das Geschehen haucht. Aber zurück zum tödlichen Gesang, der auch eine Warnung an der Abkehr von der Realität sein könnte oder aber anzeigt, was sich unter oder hinter dieser Fröhlichkeit und Illusion verfangen hat. Denn ein Lied wird auch gesungen, um Schmerzen zu vergessen, es wird auch gesungen, um Panik zu vermeiden, es wird auch gesungen, um Gefühle vorzutäuschen. Ist es nicht erstaunlich, dass diese Lieder, die uns oft erst ermöglichen, etwas zu fühlen, genau dieses Gefühl im Kino vortäuschen können? Die Lüge einer Wahrheit, Perfidia:

To you my heart cries out, Perfidia,
For I found you, the love of my life, in somebody else’s arms
Your eyes are echoing perfidia,
Forgetful of our promise of love, you’re sharing another’s charms…
With a sad lament my dreams have faded like a broken melody
While the gods of love look down and laugh at what romantic fools we mortals be…
And now I know my love was not for you
And so I take it back with a sigh, perfidious one,
Goodbye…

Arabian Nights set2

Die Träume, die wie eine gebrochene Melodie ausklingen. Und im dritten Teil setzt Gomes auch seine Scheherazade in eine Krise. Eine wunderschöne Krise im Rausch einer Schönheit am Meeresufer und in Riesenrädern. Hier geht es auch um das Privileg des Geschichtenerzählers und die Lücke zwischen der Erzählerin und ihrem Stoff. Es ist eine Ermüdung, das Verschwinden der Inspiration, eine Verkrampfung ganz ähnlich zu jener, die Gomes selbst im ersten Teil heimgesucht hat. Scheherazade, die im vollen Leben steht, kann keine Geschichten mehr erzählen. Die Traurigkeit des Kinos, die Kamera muss immerzu weinen bei all dem Leiden, das sie fotografieren kann, das Stocken bevor man wieder und wieder vom Grauen erzählt. Gomes scheint hier zu sagen, dass es keinen Eskapismus in die Geschichten geben kann, sondern nur eine Flucht vor den Geschichten. Und daher ist Arabian Nights auch eher ein Liebesbrief an das, was die Amerikaner eine Story nennen, als an Portugal. Aber Portugal ist auch eine Fiktion und die Fiktion ist auch eine Realität, Realität des Kinos, das hier im Moment seiner Geburt ein Zeuge ist und uns zu Zeugen macht, wie das Echo in deinen Augen.

Was also zunächst bleibt ist ein Gefühl, dass mehr bleiben wird. Darüber hinaus aber befindet man sich mit diesem Film in einer Welt, die sich im Moment ihrer Krise selbst betrachtet, die sich selbst vergisst, die es selbst nicht schafft. Wir befinden uns in einer Unmöglichkeit der Fiktion und der Realität zugleich. Gomes hat einen Film gemacht, indem sich alles aufgehoben hat und genau in diesem Vakuum hat er wieder das Kino gefunden. Er findet dort unter anderem die Frage nach dem Geschichtenerzählen selbst. Die Bedeutung von Geschichten, aber auch ihre Ästhetik, ihre Möglichkeiten und Limitierungen. Was ist die Ästhetik einer Geschichte, warum ist es wichtig, ob etwas wahr oder erfunden ist? Wir, die im Kino noch nach dem Kino suchen, fragen uns an einer solchen Stelle viele Dinge. Und genau das wollen wir.

Filmfest München: Trois souvenirs de ma jeunesse von Arnaud Desplechin

Arnaud Desplechin kehrt mit Trois souvenirs de ma jeunesse nicht nur zurück zu bereits bekannten Figuren, sondern vor allem zurück zu seiner alten Lebendigkeit. Dieser Film, der eine Vorgeschichte zu Comment je me suis disputé… (ma vie sexuelle) erzählt und dennoch völlig eigenständig funktioniert, beinhaltet eine Energie, die man als die dynamische Melancholie einer Jugend bezeichnen kann, die ständig im Begriff ist, sich aufzulösen und die dennoch bis in die Augen und den Schmerz der Gegenwart pulsieren. Anders könnte man formulieren: Trois souvenirs de ma jeunesse ist der Proust-Film, den Olivier Assayas schon immer drehen will. Nun hat Desplechin das für ihn übernommen. Ein Film, in den man sich verlieben muss.

Im Zentrum steht die Figur des Paul Dédalus, den wir hier in unterschiedlichen Phasen seines Lebens begleiten. Vor allem eine als eine Art Agententhriller aufgemachte Episode in der Sowjetunion und die Liebesgeschichte zu Esther bekommen hier eine große Bedeutung. Paul ist jemand, der sich selbst immerzu beobachtet, der sich falsch einschätzt, in dem man eine Kraft und eine Angst zugleich spürt. Nicht nur in dieser Hinsicht kann man durchaus von Desplechins Antoine Doinel sprechen. Ein Mensch, der Geheimnisse behält und Geheimnisse nur mit dem Zuseher teilt. Im ruhigen Blick dieser Figur herrscht eine verliebte Panik und in seiner Wut eine wissende Gelassenheit. Dennoch ist er eine einsame Figur. Zwischen ihm und seiner Umgebung ist ein unsichtbares Glass, das sich wiederum hin in den Zuschauersaal erstreckt. Dieses Glass ist auch eine fehlende Fähigkeit zu lieben, zu fühlen. Paul ist ein Ausgestoßener, ein junger Mann, der im wahrsten Sinne des Wortes seiner Identität beraubt wird. Die Position zum Leben und die Thrillerkomponente erinnern oft gar mehr an La sentinelle denn an Comment je me suis disputé… (ma vie sexuelle). Wie in La sentinelle werden politische Ereignisse, wie der Fall der Berliner Mauer umgehend auf ihre persönliche Bedeutung überprüft. Politik bestimmt hier ein Leben, zu dem es keinen Zugang hat.

My Golden Years

Mathieu Amalric in seiner Rolle als Paul Dédalus

So oder so, Desplechin bleibt ein Soft-Spot Catcher, einer der wenigen, die es schaffen großes Kino zu machen, ohne dass sie sich in einer Krise der Repräsentation befinden. Man kommt nicht umhin, so besetzt und schwierig ein solcher Begriff ist, diesen Film als lebensnah zu bezeichnen. Wie in den besten Filmen von Desplechin bekommt man dieses Truffaut-Gefühl, diese Freiheit in der Kontrolle der kinematographischen Sprache. Als herausragendes Beispiel dient dafür die vielfältige Art und Weise, in der hier die zahlreichen Briefe vorgetragen werden. Das kennen wir auch schon von Desplechin, aber in Trois souvenirs de ma jeunesse herrscht eine Monikaesque Leichtigkeit in der Traurigkeit, wie bei Bergman und Harriet Anderson liegt die Vernichtung gerade in dieser Lockerheit der Jugend und dadurch, dass uns diese jungen Gesichter immer wieder ansehen, wenn sie ihre Briefe vortragen, können wir ihr Verlangen und ihre Zeitlichkeit in einer berührenden Direktheit erleben.

Ein Kuss in diesem Film ist die einfachste Schönheit, die man sich vorstellen könnte. Er passiert einfach und doch so unendlich kompliziert. Die Tiefe von Gefühlen läuft hier an den Figuren vorbei und erst in der Erinnerung an ihre Jugend wird die Tragweite ihrer Liebe bewusst. Darin liegt das Melodramatische, für das man aber kaum Zeit hat, weil das Leben bei Desplechin immer weiterläuft, unaufhaltsam und geheimnisvoll. Und so mag man ihm romantische Einstellungen mit dem Eiffelturm nicht nur verzeihen, nein, sie sind sogar absolut notwendig, weil sie gleichzeitig von der Erinnerung wie von der Wahrnehmung durch die Augen der Jugend sprechen, etwas aufgeladenes, das man trotzdem nicht festhalten kann, die unglaublichsten Momente huschen hier nur vorbei, dort wo andere Filmemacher in Liebesfilmen die Unendlichkeit eines Augenblicks festhalten, weil sie mehr sehen als ihre Figuren, da fliegt Desplechin schon weiter und greift somit nach der wahren Essenz dieser verlorenen Schönheiten. Zu seinem und unserem Glück ist diese Flüchtigkeit prädestiniert für das Kino und so entfalten sich bei aller proustianischen Romanhaftigkeit der Erzählung, filmische Kräfte, die weit darüber hinausreichen. Kleine Gesten, die sich wiederholen, Handlungen am Rand der Bilder, die von einer Sehnsucht erzählen oder die äußerst energetische Verquickung von Musik und Bild.

My Golden Years

Desplechin vermag das Gefühl einer ersten Liebe, zu einer lebendigen Schönheit der Verunsicherung zu machen und dadurch wirkt der Film eher wie eine Dokumentation über die Erinnerung an eine Jugend als eine Fiktionalisierung irgendwelcher Ereignisse. Desplechin haucht Leben in Persönliches und lässt sich dann ins Treiben seiner Welten sinken oder besser, er lässt sich vom Strom dieser jugendlichen Lebendigkeit mitreißen und erzeugt so erst in dieser Differenz zwischen der Erzählperspektive und der Kraft von Bildern und Musik jene Melancholie, die andere in die Bilder und Töne selbst legen. In diesem Sinn ist Trois souvenirs de ma jeunesse sicherlich verwandt mit US Go Home von Claire Denis und – der Filmemacher nannte diesen Film selbst als Einfluss – Superbad von Greg Mottola. Erwachsenwerden als Gefühl, als Bedauern, als Leichtigkeit, als Schönheit, als Grauen, als Vergangenheit.

Filmfest München: La tierra y la sombra von César Augusto Acevedo

Land and Shade

Umgeben von den vernichtenden Flammen des Rohrzuckers erzählt der vibrierende La tierra y la sombra von César Augusto Acevedo vom Sterben, dem Lernen, dem Verzeihen und der machtlosen Bewegung in einer politischen Verdammnis. Ein Film aus einer inneren Hölle, der dem jungen Filmemacher prompt die Camera d’Or für das beste Erstlingswerk in Cannes einbrachte. Es ist diese bewegte Kamera, die immerzu ihre Fühler ausstreckt, um nach den einsamen Momenten zu suchen und es ist dieser Kampf um Würde und Liebe, der hier in jedem Bild stattfindet und immerzu nicht nur vom Scheitern, sondern von der völligen Auflösung bedroht wird. Es geht um die Rückkehr eines Landbesitzers. In der ersten Einstellung geht er zwischen zwei Rohrzuckerfeldern auf die Kamera zu. Hinter ihm erscheint ein Lastwagen. Er stellt sich an den Straßenrand und als das Fahrzeug ihn passiert, verschwindet er im Staub. Erst nach vielen Sekunden können wir den Mann wieder erkennen. Im Haus warten sein sterbender Sohn und dessen Frau und Sohn. Außerdem lebt seine Ex-Frau dort. Sie lehnt seine Rückkehr ab. Es beginnt eine zärtliche Annäherung der Familienmitglieder, die nicht aus irgendwelchen Motivationen entsteht, sondern von der Existenz als solcher bedingt wird. Ihr Landbesitz steht inmitten der Zuckerrohrplantagen, wegen der Brände regnet es Asche, der schönste Ascheregen seit Hiroshima, mon amour, aber auch er ist tödlich. Neben dem Haus steht ein Baum, alles hier ist ganz einfach und so unendlich reich und grausam. Das Haus, die Plantagen, der Baum, Arbeiter, geschlossene und geöffnete Fenster. Der Wind, weiße Tücher und Dunkelheit, Drachensteigen und Vogelgezwitscher, ein Spiel, drei Generationen, Tränen.

Land and Shade

Es geht um das Überleben und Sterben und um den wenigen Schutz, die wenige Nähe, die wir uns geben können. Später läuft der Großvater mit seinem Enkel wieder auf dieser schmalen Straße zwischen den Pflanzen. Wieder erscheint ein LKW. Diesmal sehen wir in einer Nahaufnahme, wie der Großvater seine schützenden Hände um den Jungen und dessen Essen legt. Durch die schwebenden Bilder treiben mehr als nur leichte Spuren des Kinos von Carlos Reygadas. Wie beim Mexikaner, so schwingen auch beim Kolumbianer Acevedo biblische Töne eines spirituellen Kinos mit. Es ist eine Reinheit, die allerdings mit deutlich weniger Härte und Provokation als bei Reygadas präsentiert wird. Das bedeutet nicht, dass La tierra y la sombra ein weicher Film wäre, ganz im Gegenteil, aber die Figuren sind moralischer, sie reagieren nicht mit Gewalt oder übermäßiger Sexualität auf die philosophische und politische Ungerechtigkeit ihres Daseins, sondern sie fügen sich in ihren letzten Regungen, völlig wehrlos und voller Anstand ihren Verlusten, ihrer Zeitlichkeit. Ihrer Hoffnung? In diesem Sinn ist womöglich Stellet Licht der Film von Reygadas, der hier am ehesten herangezogen werden kann.

Geht es bei Reygadas aber oft um den Gegensatz von Licht und Schatten, so wählt Acevedo schon im Titel jenen zwischen Erde und Schatten, Land und Dunkelheit. Die Erde wird als Heilmittel verwendet, sie wird bedroht, sich zeichnet sich in allen Furchen ab, jeder Gebärde dieses Films, das Land muss verstanden werden, die Erde muss beschützt werden. Der Schatten ist zunächst die Dunkelheit. Aufgrund der Krankheit des Vaters dürfen die Fenster im Haus nicht geöffnet werden, eine Finsternis, die im Sterben ihre Endgültigkeit finden könnte, aber vielleicht auch eine Hoffnung bereithält. Schon vorher liegen der kranke Vater und sein junger Sohn auf der Rücklade eines Kleintransporters unter einem weißen Tuch, lichtdurchflutet, glücklich und nah und von der Erde geschützt. Vielleicht ist die Erde also der Schatten, der dann als Asche am Himmel seine Bestimmung findet.

Land and Shade

La tierra y la sombra ist ein fragile Atmen im Angesicht des Todes. Wie in Mother&Son von Alexander Sokurov liegt in der Reduktion und Konzentration auf die Essenz eines Verlustes von Leben jene Nähe, die genau dadurch entsteht. Nur in einer bemerkenswerten Sequenz, in der ein Pferd durch das Haus huscht, verlässt Acevedo seine Nüchternheit und tauscht sie gegen einen poetischen Anfall im Stil von Andrei Tarkowski aus. Aber er tut dies nur, um uns zu zeigen, dass auch die Träume Teil dieser Welt sind, Teil dieser Vergänglichkeit. Plötzlich hört man jedes Geräusch und erkennt die Bedeutung dessen an, was man nicht wahrhaben will, den Schatten, der über der Erde fliegt. Nebenbei geht es auch um die Ausbeutung von Arbeitern auf den Plantagen. Wütende Proteste der verdreckten Arbeiter, die mit dem selben Gespür für sanfte Bewegungen in der Tiefe des Bildes empfangen werden, aber sie sind nicht agitatorisch, nein fast schon im Ansatz vergeblich, vergessen, man bleibt an diesen Orten, um zu sterben, man geht ins Kino um dieses Sterben zu leben.

Trailer oficial – LA TIERRA Y LA SOMBRA dirigida por César Acevedo from Burning Blue on Vimeo.

Filmfest München: How not to present Andy Warhol

Es ist ein einigermaßen milder Abend in München. Irgendwo ist eine Party, man hört Beats, die Straßenbahn fährt. An der Filmhochschule, die während des Festivals zwei Kinosäle zur Verfügung stellt, soll das sogenannte Velvet Underground Programm der Andy Warhol Retrospektive auf dem Filmfest München präsentiert werden. Eine äußerst bizarre Ansammlung roter Plastikteile simuliert einen roten Teppich. Es fühlt sich mehr nach dem Eingang zu einem Strandbad an. Ich stolpere tatsächlich als ich den „Teppich“ betrete. Innen stehen ein paar auffällig gut gekleidete Menschen. Ich kenne den Ort, bin mir sicher, dass dort der Film gezeigt werden soll, vieles deutet daraufhin, dass ich mich täusche, aber ich werde Recht behalten. Die Ticketkontrolleure an diesem Abend in der Filmhochschule scheinen allesamt Bodyguards und Türsteher zu sein. Sie stehen da in schwarzen Anzügen mit weißen Hemden und roten Krawatten, einer von ihnen steckt gerade sein Hemd in die Hose. Harte Gesichter. Ich komme mir noch dünner vor als ich bin. Ich gehe auf den Eingang zum Kino II zu, es sind noch 12 Minuten bis zum Filmbeginn. Ein glatzköpfiger Mann mit Brille, er könnte der Anführer sein, stellt sich vor mich und bellt mir etwas zu. Ich verstehe nicht. Er sagt, dass sich der Einlass etwas verzögert. Ich setze mich also auf die Treppen dieses widerwärtigen Gebäudes. Ein Betonklotz, der schon architektonisch dabei hilft, dass sich querdenkende Individualität schwer durchsetzen kann. Es wirkt immerzu ein wenig wie in einer grausamen Parallelwelt, in der Ehrenhallen für die verdienten Nationalsozialisten des Landes erbaut wurden. Im Winter durfte ich dort auch einen eigenen Film zeigen. Doch an diesem Abend sind es nicht Nachwuchsmöchtegerns, sondern ein großer Künstler, Andy Warhol, dem die Leinwand gehört. Es wird die kleine Leinwand des Kinos II sein, indem normal eher Testscreenings von Studenten stattfinden. Eine Frau mit Champagnerglas lacht. Das Echo im Foyer lässt keinen Zweifel: Es ist Kunst.

Lou Reed Screen test

Warhol, das ist scheinbar absolut trendy, wenn man dem Filmfest glauben soll. Die wunderbare Festivaltasche, die coolen Sonnenbrillen und die erschreckende Programmierung von Filmen wie Fight Club, Spring Breakers oder The Bling Ring als Begleitung zum Werk von Warhol machen das völlig klar. Hier geht es um vieles, aber nicht um Film. Es geht um einen Lifestyle, Starappeal und den größeren Kunst- und vielleicht Themenkontext des Mannes. Es geht, wie so vieles hier, um den Verkauf. Erstaunlicherweise hat das niemand davon abgehalten, die Filme von Warhol zu zeigen. Nun findet man unter einem Link auf der Homepage des Festivals durchaus einen einigermaßen leserlichen Text zu Warhol von Collin McMahon. Dieser ist aber sehr kurz und eher geschichtlich als analytisch und so vermag man über einige Stichworte hinaus als unschuldiger Filmfestbesucher in München tatsächlich sehr wenig über das filmische Werk des Mannes herausfinden. Dies ist für sich genommen nicht schlimm, denn Kino findet nach wie vor auf der Leinwand statt, die Begegnung mit Warhol kann, muss und wird auch ohne Anleitung Reaktionen hervorrufen. Das Problem ist eher, dass der Rahmen einer Vorführung durchaus etwas mit der Einschätzung und dem Respekt vor einem Künstler zu tun hat. Und leider bestimmt er auch, welches Publikum sich letztlich in die Filme bewegen wird. Nicht, dass es ein falsches Publikum gäbe, aber es gibt – und das werden meine weiteren Ausführungen zeigen – ein bedauernswertes Publikum. Nun entsteht diese Schau in Kooperation mit dem Brandhorst Museum in München und sicherlich ist Warhol mehr als nur sein Kino. Darauf einen Fokus zu legen ist zwar nicht unbedingt notwendig im Rahmen eines Filmfestivals, aber sicherlich, insbesondere in der heutigen Zeit, möglich. Die medienübergreifende Auseinandersetzung mit einem Künstler bedeutet in München allerdings nicht, dass man sich tiefergehend mit dem Mann auseinandersetzt. Vielmehr – vielleicht ist das bei Warhol auch eine Strategie – bewegt man sich an den Oberflächen und geht lieber nicht tiefer, denn tiefer gibt es vielleicht keinen Champagner. Und so nennt man die Schau auch eine Hommage.

Goldbehangen betritt vor dem Screening in diesem nicht ganz ausverkauften Testkino Katja Eichinger den Raum. Sie ist für die Begleitschau zu Warhol verantwortlich. Ich muss googlen, in welcher Relation sie zu Bernd Eichinger steht. Sie verkündet, dass der eigentliche Kurator der Warhol-Schau, Glenn O’Brien, sich am Rücken verletzt habe un daher nur per Telefon zum Publikum sprechen könne. Ein bizarres, irgendwie amüsantes Spiel beginnt, denn Eichinger spricht ins Mikrofon, was O’Brien ihr über das Telefon mitteilt. Es geht vor allem wieder um den Mythos und in diesem speziellen Fall über The Velvet Underground und Nico. Natürlich, dafür ist man ja gekommen. Die Tatsache, dass es ein Filmfestival ist, kann und muss hier jederzeit ausgeblendet werden. Nochmal zwickt mich mein Relativierungsdrang. Schließlich ist Warhol nun mal Pop. Warum sollte es also falsch sein, ihn auch so zu präsentieren? Vielleicht, weil Pop und lange Einstellungen im Kino nicht zusammen gehen? Die Filme von Warhol sind oft eine Schule des Sehens, sie machen einem gerade durch ihre scheinbare Einfachheit bewusst, wie und was man im Kino sehen kann. Sollte sich ein Filmfestival nicht fragen, was da filmisch passiert? Sollte es sich nicht fragen, warum Warhol heute auch für das Kino Relevanz hat? Wäre es so abartig, Image und Kunst gleichermaßen zu betrachten? Was bringt es dem Zuseher oder dem Kino, wenn ständig darauf verwiesen wird, dass es sich um eine Kooperation mit dem Museum handelt, was bringt es ihm vor Chelsea Girls, wenn er eine Sonnenbrille trägt und sich denkt: Wow, Andy Warhol, cooler Typ. Keine Frage, Glamour und Spektakel sind Teil der Filmwelt, aber auch keine Frage: Sie lenken vom Wesentlichen ab. Und was das bedeuten kann, hat man dann an diesem Abend gesehen.

The Velvet Underground and Nico

Irgendwann beginnt dann auch der Film, The Velvet Underground and Nico. Er beginnt auf dem Gesicht von Nico, das der Film immer wieder wie ein Magnet suchen wird. Nach einiger Zeit öffnet sich der Raum mit einem Zoom-Out und wir sehen das Bild, das uns in der ersten Hälfte des Films als Spielfläche für Schwenks und Zooms dienen wird: Nico steht zwischen den vier Musikern der Band und gemeinsam wird gespielt. Ihr eigenes Kind kniet zu ihren Füßen. Der Ton ist, wie man das so kennt aus Warhol-Filmen, jenseits von Gut und Böse, aber der Rhythmus und der Rausch transportieren sich dadurch umso mehr. Es ist äußerst spannend zu sehen, wie die Zooms den filmischen Raum immer wieder explodieren lassen und wie sie sich gleichzeitig selbst im Takt oder gegen den Takt der Musik verlieren. Nach einer gewissen Zeit kommt die Polizei und versucht das kleine Konzert abzubrechen. Es wird verhandelt und diskutiert und nach und nach hören Lou Reed und Konsorten mit dem Spiel auf. Die Kamera läuft immer weiter, sie dreht sich zum Geschehen, dann interessiert sie sich wieder für den Bildhintergrund, ein Licht, ein Schatten, eine Unschärfe. Ich glaube, dass man bei Warhol sehr gut verstehen kann, wie sich Erscheinung und Bedeutung unter den Blicken einer Kamera transformieren können. Bei Warhol können wir Gesichter schmecken und uns immer von ihnen distanzieren oder in ihnen verlieren. Es ist ein Kino der Relationen zwischen dem Blick, der Sprache, der Realität und der Kamera. Damit hat Warhol weniger, wie das Filmfestprogramm vermitteln will, Youtube vorausgeahnt, vielmehr hat es Lumière nachgeahmt. Die Einfachheit als Spektakel, Menschen in einem Raum, die Entfaltung ihrer Tätigkeit oder Nicht-Tätigkeit in der Zeit. Kino als Blick in der Zeit, als Konfrontation mit Menschen, bis man kein Material mehr hat.

Im Publikum wird von der ersten Sekunde an laut gesprochen, alle sind wahnsinnig unruhig, unzufrieden mit dem Ton, unzufrieden mit dem Bild. Im 3-Minuten-Takt verlassen Zuschauer das Gebäude. Eine junge Frau vom Filmfest kommt in den Saal, spricht mit einem Zuseher, sie bewegt sich umständlich vor der Leinwand und verdeckt kurz das Bild. Nach der Hälfte verlangt jemand laut und besonders lustig nach einem Bier. Fast jeder spricht regelmäßig mit dem Sitznachbarn, ich wüsste nicht, wen ich um Ruhe bitten könnte. Die Frau neben mir unterhält sich beispielsweise (während des Films) über From Dusk Till Dawn, irgendjemand sagt, dass er auch die Polizei gerufen hätte. Eine Flasche rollt über den Boden. Nach dem Film kommen noch einige stumme Screen-Tests von Warhol mit den Mitgliedern der Band. Noch mehr Leute verlassen den Saal im Angesicht dieser wunderschönen, traurigen Zeitbilder vor ihren Augen. Der starrende Lou Reed, wie von den Toten zurückgekehrt als ewiges Bild vor unseren Augen, er versucht nicht zu blinzeln, seine Augen füllen sich mit sanftem Wasser. Er ist halb im Schatten, halb im Licht, aber voller Wärme. Anderswo ein plötzliches Lächeln, wir bekommen Zeit, Gesichter zu studieren, Gesichter von Stars, Gesichter von Menschen. Es ist eine entrückte Direktheit. Die Bildqualität ist wunderbar, aber im Saal herrscht nicht eine Sekunde die gebührende Ruhe. Jemand sagt laut: „Ich habe gelesen, dass der Hauptgrund für Schlägereien in Kneipen ist, wenn jemand sagt: Schau mich nicht so bescheuert an.“, ein anderer sagt: „Wecke mich, wenn etwas passiert außer Blinzeln.“ Noch mehr verlassen das Kino. Vor mir wird ein Handy mit Familienfotos herumgereicht. Vielleicht hätte Warhol das alles sogar gefallen.

Nico

Aber – trotz mancher gegenteiliger Behauptung – sollte man sich bewusst sein, dass Warhol mit seinem filmischen Werk unbedingt in ein Kino gehört. Wenn ein Publikum und eine Präsentation 2015 nicht mehr damit umgehen kann beziehungsweise womöglich noch nie damit umgehen konnte, dann lässt sich nach wie vor sehen, wie weit das Kino von dem entfernt ist, was es ist. Dann ist es eigentlich wunderbar, dass das Festival seine Chance und Aufgabe zur Vermittlung von Film zumindest bezüglich des angeregten Diskurses versäumt, denn nur dann kann ein solches Screening wirklich verstören. (Man könnte sich vorstellen, dass Tristan Tzara diese Art der Präsentation gewählt hätte, um ein falsches Publikum anzulocken und dieses dann anzugreifen.) Nur gibt es ein richtiges Publikum? Gibt es ein gutes Publikum? Wohl kaum. Also zielt mein Ärger vielleicht ins Nichts, obwohl ich glaube, dass er ins Alles geht. Einen Tag später äußert sich ein junger Kunststudent nach dem Screening von Cavalo Dinheiro von Pedro Costa beim Publikumsgespräch. Er fragt Costa, warum er sich nicht in Visual Art versucht und nach Nachfrage des Filmemachers, dass der Film für ihn ein wenig „too much“ fürs Kino gewesen sei. Costa hat darauf viel zu sagen, aber mit einem Satz bringt er es wahrscheinlich auf den Punkt: Too much? No, there is too less in cinema…Und genau deshalb muss Warhol auch heute noch im Kino gezeigt werden, weil er too much ist. Aber ein Film kann nur bei entsprechenden Rahmenbedingungen zur vollen Entfaltung kommen. In München, so hat man zumindest das Gefühl, wird das Ganze von oben herab als Kuriosität abgetan. Damit wird klein gehalten, was zu groß sein sollte.

In meiner Welt würde der Mann vor mir sich nicht trauen, sein Handy aus der Tasche zu holen, weil ihm klar ist, dass dort etwas passiert, was er nicht verpassen sollte, weil er neugierig und offen ist. Ich weiß, dass es nicht der Fehler eines Festivals ist, wenn es solche Menschen gibt. Aber es ist die Mitschuld des Festivals, dass sich dieser Mensch in diese Veranstaltung verirrt, dass um ihn herum nicht zehn Menschen sitzen, die ihm das Handy aus der Hand schlagen und dass er sich nach dem Kino nicht eine Sekunde fragen muss, ob es an ihm oder dem Film lag, dass er nichts damit anfangen konnte.

Der eingeschränkte Blick in Fontainhas

Die Idee, dass man etwas nicht filmen kann, wenn man es nicht ganz versteht oder besser die Frage, wie man etwas filmen kann, was man nicht ganz sieht oder noch besser, die Antwort auf die Frage, wie man das Limit der eigenen Wahrnehmung zu einem ästhetischen Prinzip erheben kann, steht im Zentrum von Pedro Costas Fontainhas-Trilogie, die ich in den vergangenen drei Tagen im Münchner Filmmuseum begleiten durfte. Es war meine erste Gelegenheit, diese Filme auf Film projiziert zu sehen. Ein Unterfangen, das sich natürlich absolut lohnt, sei es alleine deshalb, weil dieses absolute Sehen, das von Costa gefördert wird, dieses Sehen, das nicht auf das nächste Bild wartet, sondern das gegenwärtige Bild in seiner Gegenwärtigkeit begreift und somit erst zur Entfaltung in der Zeit gelangen lässt, von den Texturen filmischen Materials extrem profitiert. Dabei spielt es keine Rolle, ob das Ausgangsmaterial Film ist wie im Fall von Ossos oder digital, wie im Fall von No Quarto da Vanda und Juventude em Marcha.

Die eingangs geschilderte Idee ist ein ästhetisches und ethisches Problem und Costa scheint sich diesem in seinen Antworten sowohl filmisch als auch intellektuell jederzeit bewusst. So versteht er Ossos als eine Annäherung an Menschen und Orte, die er zu diesem Zeitpunkt noch nicht kannte, noch nicht verstand. Hier agiert der Filmemacher als Außenstehender und dementsprechend oft sind es Türen und Fenster, die vor unserer Nase zugehen, die uns die Sicht versperren, manchmal ganz (wie bei Mizoguchi oder Haneke), manchmal halb. Innen und Außen oder in den Worten von Costa: „Secrets and Revelations“.

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In No Quarto da Vanda sind wir dann tatsächlich in Vanda’s Zimmer. Das bedeutet auch eine Einschränkung der Beweglichkeit, ein Ausgeliefertsein der Kamera an alles, was sich vor ihr bewegt. Keine Macht über die Figuren, sondern eine tatsächliche Nähe. Nun befinden wir uns oft in völliger Dunkelheit, weil die geschlossenen Türen und Fenster kein Licht mehr in die Barracken und vom Abriss bedrohten Wohnungen in Fontainhas lassen. In einer Art Montagesequenz wird Fenster um Fenster vor uns geschlossen. Wir bleiben innen. Es wird völlig dunkel im Kino. Still wird es dagegen nie, denn die Abrissgeräusche und das beständige Hämmern bedrohen die Türen und auch das Innen, das Intime, das Private, das Eigene. Und so beginnen schon in No Quarto da Vanda, die Türen ihre Funktion zu verlieren. In einer Szene wird eine Gartentür aus den Fugen gehoben und davongetragen. Es ist also nicht nur eine Frage der Positionierung von Filmemacher und Kamera, die hier an den Türen und ihren Schwellen hängt, sondern zur gleichen Zeit, wenn auch unter völlig anderen Vorzeichen eine Frage für die Protagonisten selbst. Auf den Gipfel wird diese Bedeutung der Funktion von Türen dann in Juventude em Marcha getrieben. Eine fast Modern Times-artige Automatik, scheint hier die Türen heimzusuchen. So hören wir nicht nur auf der Tonebene ständig das Knarzen von Türen, sondern diese bewegen sich auch im Bild wie von alleine. Vor allem in einer Szene, mit dem von Costa als brechtianischen Verräter bezeichneten Wohnungsvermieter, zeigt sich dieses zum Teil absurde Eigenleben der Türen. Man kann also sagen, dass aus dem Außen, ein Innen wurde und aus dem Innen eine Fehlfunktion. Das Verschwinden der Türen, das Verschwinden von Innen und Außen ist auch ein Kommentar auf die Situation der Bewohner des ehemaligen Fontainhas. Aber darin verstecken sich auch die Mechanismen des Kinos. Der limitierte Blick, der sich im zeitgenössischen Kunstkino oft seiner Eingeschränktheit bewusst ist.

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Es gibt Gegenbeispiele wie Gaspar Noé, die voller Innbrunst das Gegenteil erklären, die ihre Kamera entfesseln und bei aller Faszination daran muss man doch früher oder später feststellen, dass man nicht alles sehen kann. Was man allerdings sehen sollte, ist die Essenz. Nur wenige Filmemacher gelangen zu ihr und Costa gehört sicherlich dazu. Und wie Cristi Puiu in seinem Aurora oder Robert Bresson in seinem L’argent gelangt Costa zur Essenz, indem er uns auch ständig zeigt, was wir nicht sehen können. Dabei handelt es sich nicht zwangsläufig um den Off-Screen, denn wenn eine Tür im Bild ist, ist sie ja strenggenommen im Bild. Und wenn man sich die Türen in Juventude em Marcha ansieht, dann wird man feststellen, dass Costas eigene Feststellung, dass die Türen in Filmen von Charlie Chaplin die schönsten Türen sind, ein Ansporn für ihn ist, den großen Meister zu übertreffen. Die Rahmung selbst wird das Bild und man spürt dadurch auf der einen Seite den Filmemacher, aber eben nicht auf dieser intellektuellen Meta-Ebene, sondern eher wie bei Chaplin: Im Vertrauen darauf, dass man sich in einem Film befindet, kann man diesen völlig vergessen, die Fiktion von Costa ist dokumentiert, die Illusion liegt in der Desillusion, es ist als würde jemand seine Unsicherheiten und seine Fehlbarkeit zu seiner großen Stärke erklären. Gefilmter Zweifel.

Dabei nutzt Costa vor allem Licht, das durch löchrige Türen dringt. Wieder heben sich Innen und Außen auf und wer sich mit der Funktionsweise einer Kamera beschäftigt hat, sieht plötzlich eine ganz neue Relation zwischen dem Kino und den Türen, schließlich ist es eine Tür, die den Eingang zur Kamera/dem Zimmer versperrt und diese Tür muss sich öffnen, damit wir etwas sehen. Sie darf sich aber nicht zu weit öffnen. Jeder Millimeter verändert das Kino. Und daher ist es so fatal, wenn die Türen ein Eigenleben bekommen, ein Eigenleben, das von einer Industrie verlangt wird, die auf Gleichheit und Glättung aus ist. Wie soll man noch interessante Bilder machen, wenn man keine Macht mehr über die Türen hat, wenn es gar keine Türen mehr gibt?

In Vandas Room4

Es geht natürlich auch um die Türschwellen auf denen sich sowohl Costa als auch Ventura immer wieder bewegen. Was ist diese Schwelle? Ein Übergang zwischen dem Innen und Außen, ein Zweifel, in dem der Mensch oft am hoffnungslosten und hoffnungsvollsten zugleich ist. Hier drücken sich sein Verlangen und seine Angst aus. Bei Costa zählt selten, wohin jemand geht oder woher er gekommen ist. Vielmehr geht es um den Augenblick des Schwellenzustands selbst, der sich wie in Cavalo Dinheiro oder Juventude em Marcha zwischen verschiedenen Zeiten abspielen kann oder wie in Ossos zwischen dem Filmemacher und den Figuren. In der Schwelle stehen, heißt auch, Respekt zu haben. Hier wird niemand überfallen oder den Blicken preisgegeben. Es ist eine vorsichtige Annäherung, deren Zärtlichkeit sowohl in der Vergangenheit, der Gegenwart (der Schwelle), und der Zukunft (dem Raum) liegt, es entstehen also Bilder, die in sich derart stark leben, weil sie Schwellenbilder sind. Sie oszillieren zwischen ihrer absoluten Präsenz im Kinoraum und den Blicken, die auf etwas anderes zielen. Bei Vanda ist dieser Blick oft nach vorne gerichtet, auf etwas außerhalb des Bildes. Sie wirft sich dafür regelrecht in Pose, dreht ihren Kopf und starrt mit wachsamen Augen ins Off. Bemerkenswert allerdings, dass sie am Ende von Juventude am Marcha einmal umdreht, sich umblickt und an einer verschlossenen Tür lauscht, eine verschlossene Schwelle, in der sich die Sorge und Hoffnung, also die Liebe von Vanda verbirgt. Sie überprüft, ob Ventura sich um ihre Tochter kümmert. Dann verschwindet sie hinter einer benachbarten Tür und ist bis heute nicht mehr zurückgekehrt ins Universum von Costa. Ventura dagegen blickt in die Ewigkeit und nach Innen, also nach hinten. In seinen Augen scheint die Vergangenheit immer genauso präsent zu sein, wie die Gegenwart. Vielleicht fangen die Türen auch deshalb an, sich in Venturas Gegenwarten wie von selbst zu bewegen. Sie schließen und öffnen Räume der Erinnerung. Und in dieser Hinsicht ist auch Ventura eine Tür für Costa, oder besser: Ventura ist 10000 Türen in einem Lavahaus. Costa kann diese Türen nicht kontrollieren, er kann nur warten bis sich eine öffnet und sich dann vorsichtig auf die Schwelle stellen und sehen was passiert. Es ist seine große Kunst, dass er nicht mehr macht, denn darin entfaltet sich erst die Sinnlichkeit, Poesie, Direktheit und Dringlichkeit seines Kinos.