Diagonale-Dialog 4: Wahrnehmungen

Da man auf einem Festival besonders viele Filme sieht, beginnt man früher oder später auch über die eigene Wahrnehmung von und mit Film nachzudenken. Was sieht man eigentlich? Wie sieht man eigentlich? Warum sieht man eigentlich? Dabei zeigt sich auch wie Film und im Besonderen ein Filmfestival zu einer persönlichen Entwicklung beitragen kann, die nicht weltfremd ist sondern mitten hinein in die Welt zielt. Und das bedeutet bei Rainer und Patrick wie schon im vergangenen Jahr auch oft: Konflikt.

Patrick: Wie war das Michael Glawogger Memorial?

Rainer: Weniger deprimierend als ich erwartet hatte. Sich diese frühen Filme anzusehen ist in mehrerer Hinsicht spannend. Es zeigt wie sich langjährige künstlerische Kollaborationen gebildet haben (anders formuliert: wie die österreichische Filmszene miteinander verbandelt ist) und natürlich wie sich die Formsprache eines Filmemachers entwickelt hat. Glawogger hat in den 80er Jahren sehr interessante Dinge gemacht: das poetische Bildgedicht Haiku und die frühen Experimentalfilme aus seiner Zeit in den USA haben es mir besonders angetan. Diese Filme zeugen von einem irrsinnig feinen Gespür für visuelle Gestaltung.

Patrick: Inwiefern feinsinnig?

Rainer: Farben, Komposition, Licht und in weiterer Folge Rhythmus und Musikalität – nicht dass schon alles in jeder Hinsicht perfekt wäre, aber man sieht wo es hinführt. Du hast parallel das neue Werk eines anderen großen österreichischen Autorenfilmers gesehen, hast du darüber etwas zu berichten?

Patrick: Ja ich war in Ludwig Wüsts (Ohne Titel). Manche Bilder waren schön. Der Film hält für mich aber weder konzeptuell (wir haben eine Frau mit einer Kamera und sehen die Bilder dieser Kamera, aber wir sehen trotzdem immer genau das, was wir sehen sollen), noch rhythmisch (alles wirkt abgehackt und dieses Unabsichtliche wirkt so merkwürdig absichtlich, Szenen finden sich selbst zu gut und bleiben daher stehen ohne tieferen Grund), noch narrativ (Film spielt mit krassen Themen, aber macht nichts damit), noch bezüglich der Stimmung (durch die Verspieltheit in der Form wird das Drückende im Film unterwandert), noch ästhetisch (Oberflächen werden gefilmt, aber mit Material, das die Konturen gar nicht hervorbringt) zusammen. Ich war enttäuscht.

Ohne Titel

Rainer: War überhaupt ein krasser Slot gestern früh. Bo Widerbergs Ådalen 31 wurde ebenfalls zur gleichen Zeit gespielt – dafür habe ich um 16 Uhr gar nichts von Interesse für mich gefunden. In Zeiten, wo man von VOD und vollen Festplatten verwöhnt ist, finde ich solche Entscheidungen und Überlegungen sogar sehr erfrischend.

Patrick: Welche Entscheidungen meinst du?

Rainer: Einerseits die kuratorischen, andererseits die des Zusehers (also von mir selbst). So wie du gestern argumentiert hast, dass du nicht in die Glawogger-Filme gehst, weil du auch nicht gegangen wärst, wenn er nicht verstorben wäre. Dieses Entscheidungen und womöglich noch die Begründungen dazu.

Patrick: Jetzt wirft du aber viele Dinge durcheinander? Was hat denn das mit Festplatten zu tun? Da hast du doch auch die Qual der Wahl? Und außerdem ist ein Festival schon im Kern so verschieden davon, dass ich das einen sehr bizarren Vergleich finde. Und ich habe meine Entscheidung nicht damit begründet, dass ich nicht in das Glawogger Programm gehe, weil ich nicht gegangen wäre, wenn er nicht verstorben wäre. Das klingt ja gefährlich einseitig. Also deine Frage zielt ja ein bisschen darauf: Wie trifft man eine Entscheidung auf einem solchen Festival. Ich glaube, dass man eine Entscheidung immer für einen Film trifft und nie gegen einen anderen. So sollte es zumindest sein. Ich habe lediglich geäußert, dass mir das immer suspekt ist, wenn Filmemacher usw immer sichtbar werden, wenn sie verstorben sind. Das ist etwas, was mich traurig macht. Dann bekommen sie plötzlich Programme und Interesse als würde der Tod ihre Arbeit aufwerten. Daher machen mir solche Programme oder Events immer etwas Angst.

Rainer: Naja, aber die Filme auf der Festplatte verschwinden ja nicht. In diesen Fällen ist es eher ein Aufschieben, auf Festivals hat es etwas Endgültiges – das ist doch schon was anderes.

Patrick: Du findest also, dass eine solche Entscheidung zum einen eine endgültige ist und zum anderen, dass das eine kluge Sache aus kuratorischer Sicht ist? Ich habe das Gefühl, dass ich jeden Tag eine Auswahl habe und dass selbst bei Streaminganbietern Angebote verschwinden und ich eine Wahl treffen muss. Schon die Existenz der Zeit an sich, zwingt mich zu dieser Auswahl.

Rainer: Ja sicher gibt es das auf anderer Ebene auch, aber bei einem Festivals tritt es stärker ins Bewusstsein (zumindest bei mir) und ich mache mir dann Gedanken darüber und ich frage mich dann auch, was die Kuratoren zu diesen Programmen bewegt.

Patrick: Aber ist das, was man als sehenswert einschätzt nicht sowieso subjektiv? Also wie kann das eine kuratorische Entscheidung sein. Du behauptest jetzt, dass das lauter Highlights waren (gleichzeitig lief noch Wie die anderen), aber jemand anderer empfindet das vielleicht an einem anderen Slot so?

Rainer: Ja das ist ja gerade der Punkt. Dann überlege ich mir: Wie kann der Kurator das nicht auch so empfinden, dass das alles Highlights sind? Beziehungsweise, ob meine Vorlieben so anders sind. Für wen kuratiert der Kurator eigentlich. Das sind schon auch Fragen, die mich beschäftigen.

Patrick: Aber da stecken doch auch oft ganz praktische Überlegungen dahinter? Du vereinfachst gerade die Aufgabe des Kurators und reduzierst sie etwas, oder?

Rainer: Ich möchte mit meinen Überlegungen nicht das Berufsprofil des Kurators herabwürdigen. Ehrlich gesagt, glaube ich, dass du meine Äußerungen etwas überinterpretierst. Ich wollte ganz einfach darauf hinweisen, dass ich den Entscheidungsprozess bezüglich der Filme, die man auf einem Festival ansieht sehr interessant finde – auch aus der Sicht des Kurators, der sich ja bestimmt ebenfalls mit solchen Fragen und Prozessen konfrontiert sieht.

Patrick: Ich mag den Gedanken des „Verpassens“ im Bezug zu Filmen nicht. Ich glaube nicht, dass man einen Film verpassen kann. Man kann ihn nur sehen. Natürlich gibt es auf einem solchen Festival einen Eventcharakter. Aber so ein Film besteht sowieso nur dann, wenn ich dort bin, wogegen ich zum Beispiel bei Ausstellungen oder Installationen das Gefühl habe, dass sie ohne mich weitergehen.

Black Rain White Scarfs

Rainer: Ich habe das Gefühl wir diskutieren schon zu lange über das Thema. Reden wir lieber über Lukas Marxt.

Patrick: Über den Trailer oder seinen Film im Programm?

Rainer: Beides?

Patrick: Beides sind sehr schöne Spiele mit der Wahrnehmung und dem Tondesign. Aus einfachen Set-Ups entstehen da Dinge, die man so nicht erwartet und ich glaube, dass das viel mit dieser Krise der Realität zu tun hat, die wir fast in allen Filmen des Innovativen Kinos beobachten können und auch in dokumentarischen und fiktionalen Programmen. In diesem Sinn ist Marxt wohl am Puls der Zeit, denn es scheint schon fast normal, dass aus einem Hochhaus ein Raumschiff wird, wie das vereinfacht in Black Rain White Scarfs passiert.

Rainer: Ok, diese Raumschiffanalogie habe ich so nicht wahrgenommen. Ich bin da vielleicht naiver und sehe „bloß“ ein phallusähnliches Hochhaus im Nebel und achte mehr darauf was der Film mit mir als Betrachter macht, als was im Film selbst stecken könnte.

Patrick: Du fragst dich nicht, was du siehst? Also ich behaupte nicht, dass das ein Raumschiff ist, aber natürlich überlege ich mir, was dort passiert.

Rainer: Ich sehe Häuser und später Nebel, lasse den Blick schweifen und versteife mich schließlich auf irgendein Detail oder bemerke, dass ich mit meinen Gedanken schon ganz woanders bin. Das ist eine schöne Form von Freiheit, die Marxt mir da ermöglicht. Der Trailer funktioniert für mich etwas anders. Da frage ich mich „Moment mal, irgendetwas stimmt da nicht im Zusammenspiel von Bild und Ton“. Mehr als eine solche Frage kann man von einem Einminüter wohl nicht verlangen.

Patrick: Aber du denkst an einen Phallus?

Rainer: Eines dieser angesprochenen Details.

Patrick: Ist das keine Interpretation?

Rainer: So tiefgehend ist es nicht, eher: „Oh witzig, das sieht aus wie eine Eichel.“ Ich integriere das ja nicht in eine feministische Filmanalyse. Was ich sagen will, ist dass ich bei Avantgardefilmen sehr viel stärker vom Bild an sich ausgehe und das perzeptive Stadium gar nicht verlasse – ich denke da nicht und das intensiviert meine Seherfahrung.

Patrick: Und wie kommst du dann damit klar, wenn Lurf in Embargo Waffenfirmen filmt? Glaubst du, dass das egal ist für den Film?

Rainer: Das wusste ich im Vorhinein nicht und es wurde durch den Film selbst auch nicht sichtbar. Dazu mache ich mir natürlich auch Gedanken, aber erst im Nachhinein. Ich fand den Film aber auch ohne dieses Zusatzwissen sehr meisterhaft – also rein viszeral.

Patrick: Ich verstehe das und ich glaube, dass das unglaublich faul ist. Ich glaube, dass man als Zuseher arbeiten sollte an einem Film. Sei es mit seinen Gefühlen, mit seinen Gedanken und vor allem mit der Auseinandersetzung mit dem, was man da sieht. Insbesondere für den Avantgarde-Film gilt das doch. Natürlich lädt da vieles und manches ein zum Abdriften, aber selbst das hat ja schon eine Bedeutung (zum Beispiel bei Lurf), weil man sich durchaus fragen kann (wie du richtig gesagt hast „im Nachhinein“), warum das mit einem passiert ist und so weiter. Film hat etwas mit Sehen und Hören zu tun. Sich hinzusetzen mit der Erwartung, dass man einfach Treiben kann, ist fatal. Dazu empfehle ich dir eine Massage. Das bedeutet nicht, dass gute Filme nicht solche Wirkungen erzielen. ganz im Gegenteil. Aber ein guter Film ist immer eine Form der Partizipation. Ich sehe, dass deine Art der Auseinandersetzung durchaus auch partizipativ ist. Aber wenn du solche Dinge sagst wie, dass dir wichtig ist, was der Film mit dir als Betrachter macht, dann fehlt mir da etwas. Du bist dann ja mehr mit dir selbst als mit dem Film beschäftigt. Und dazu musst du nicht unbedingt ins Kino, obwohl das Kino natürlich erst solche Reflektionen ermöglicht. Aber dann verwendest du diese Filme halt nur als Mittel, um über deine Wahrnehmung etc nachzudenken und denkst nicht intensiv an das, was sie machen, was sie sind.

Rainer: Genau die Frage was sie machen und was sie sind kann ich doch umso deutlicher ergründen, wenn ich mich zunächst einmal voll auf den Film einlasse und mich nicht sofort frage was das alles soll und welche Geschichte da dahinter steckt. Ich meine ja nicht, dass ich mich faul berieseln lasse, sondern dass ich mich voll auf den Film einlasse und ihn für das nehme was er ist: Licht, Schatten, womöglich Farben und Ton. Gerade ein Avantgarde begrüßt so einen Zugang, da man gewöhnlich keiner Handlung folgen muss. In einem weiteren Schritt kann ich mich dann aus dieser Immersion lösen und darüber nachdenken was nun eigentlich passiert ist und warum ich den Film so wahrnehme. Wenn ich dann vom Konzept erfahre und von den Ideen die dahinter stecken, kann ich danach noch immer darüber reflektieren und viele Filme profitieren zweifelsohne davon aber diesen ersten jungfräulichen Zugang, der oft ganz überraschende Dinge mit mir macht, würde ich nicht missen wollen.

Patrick: Das ist interessant. Du weißt ja, dass ich da ganz bei dir bin. Also mit dem Einlassen und so weiter, mit dem jungfräulichen Zugang. Aber warum erscheint es dir dann so fremd, dass ich da ein Raumschiff sehe? Warum glaubst du, dass ich deshalb mir weniger unschuldige Gedanken mache? Das passiert doch gleichzeitig, oder nicht? Ich kann doch nicht sehen und gleichzeitig ignorieren, was ich dazu fühle oder denke?